Zurzeit sind 537 Biographien in Arbeit und davon 304 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 183
Bin schon da!
Der Morgen des 15. Mai 1957 ist noch jung und dunkel, wie ich mir den Weg in die Welt bahne. Meine Mutter und ich sind allein. Mutterseelenallein. Die Hebamme wird nicht kommen, sie ist mit einer anderen Geburt beschäftigt. Mein Vater hängt ein Stockwerk tiefer verzweifelt am Telefon, um Hilfe zu holen. Endlich bemüht sich eine Ärztin her. Aber da bin ich schon da. Ich bin allein zur Welt gekommen. Kann sein, dass mich das fürs Leben geprägt hat. Ich mag die Menschen, ich habe ungezählte Freundinnen und Freunde. Doch ich brauche auch das Für-mich-Sein – und empfinde es nie als Alleinsein.
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Brei, Butter und Glück.
Im Esszimmer brennt Licht. Warmes, orange-gelbes Licht. Draussen ist es winterlich dunkel. Ich sitze im Kinderstühlchen, das an die Tischplatte geklemmt ist. Vor mir steht ein tiefer Teller, gefüllt mit heissem, satt grünem Gemüsebrei. In dessen Mitte zergeht ein Stück Butter. Ich brauche nur den Mund zu öffnen, und schon schiebt mir meine Mama einen Löffel voll hinein. Bis der Teller leer ist und ich wohlig satt bin. Diese meine früheste Erinnerung ist bildlich nicht belegt. Und wenn ich überhaupt schon sprechen konnte: Präzis benennen konnte ich noch nichts. Doch es war das Gefühl reinen Glücks.
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An einem Morgen im Jahr 1962.
Es war eine Heldentat. Jeder und jede vollbringt sie – und vergisst sie. Ich denke gern an jenen Morgen im Jahr 1962, als ich im Kindergarten erstmals die Bändel meiner Schuhe zu öffnen wagte und zwei Stunden später eigenhändig band. Ich brauchte den Schuhlöffel nicht mehr, den mir meine Mama ins Znünitäschli gesteckt hatte. Seither habe ich noch ein paar grössere Taten vollbracht. Aufzählen mag ich sie nicht. Aus den Talenten, die ein Mensch erhalten hat, das Bestmögliche zu machen und für andere Positives zu bewirken, ist der Sinn des Lebens, glaube ich. Der meine hat sich erfüllt.
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Weihnachten auf dem weichen Sofa.
Weihnachten. Einige Tage vor Heiligabend schloss Mama jeweils die drei Türen ab, die vom Büro, vom Korridor und vom Esszimmer ins Wohnzimmer führten. Meine Schwester und ich, wir schauten wieder und wieder durchs Schlüsselloch. Die Umrisse des Baums konnten wir erkennen – und dann Engelshaar, das sich an den Ästen verfangen hatte, irgendwann auch Kugeln und Kerzen. Von Weihnachten 1963 gibt es ein Familienbild: wir zu viert auf dem nierenförmigen Sofa, ich auf Papas Knie. Er umfasst mein Handgelenk, hat mich stets vor Unbill bewahren wollen und deshalb nie losgelassen.
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Die Vögel.
Wie sich das anfühlte, weiss ich nicht mehr. Doch meine Schwester und ich, wir hatten beide den Keuchhusten. Einen ungefährlichen Impfstoff gegen diese potenziell tödliche Infektion gab es noch nicht. Unsere Mama liess nichts aus, um uns zu heilen. Und vielleicht entdeckte ich dabei meine Vorliebe für Schwarz: Wir gingen, tatsächlich, in den riesigen Kohlekessel der Stadt, wo wir wie auf einem schwarz schimmernden Sandberg spielen durften. Wir fuhren, welch kühner Kontrast, auf den Säntis, wo die Bergdohlen bedrohlich tief flogen. Dieses Schwarz, glänzend und flatternd, kann ergreifen.
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Die Angst hat einen Geruch.
Ich ging in einem massig grossen Jugendstilbau in die Primarschule. Mein erster Lehrer verhaute die Buben mit einem Bambusstock und band meine Freundin mit ihren Zöpfen an Stuhllehne und Sprossenwand. Ich hatte ständig Angst, nicht zu genügen. Wie schreibt man „Wandern“ und „Marschieren“? Ich wusste es nicht und weinte, aus Angst vor dem ersten Diktat. Die Angst hatte einen Geruch. Er wehte von der nahen Brauerei herüber. Auch heute riecht es dort nach Hopfen – und für mich nach Diktaten und Leistung. Ich fühle mich geprüft. Leistungsmässig lebenslänglich.
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Geh hin zur Ameise, du Fauler!
Ich weiss nicht mehr, was ich zu diesem Aufsatzthema schrieb, das uns der zweite Lehrer stellte. Ich mochte ihn sehr. Ab der vierten Primarklasse erkundeten wir mit ihm die Welt, die allmählich über das Schulhaus und den Ameisenhaufen hinausreichte. Nur ängstigte ich mich stets, die Wege dieser Welt nicht zu finden. Die Sechs, die er unter meinen Ameisen-Aufsatz schrieb, liess mich innerlich jubeln. Warum machst du dir denn Sorgen, du kannst es doch, sagte ich mir. Anton Egger starb, als ich 59-jährig war. Als ich meine Ängste endlich ablegte, näherte ich mich bereits der Pensionierung.
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Das vergessene Abendgebet.
Was nur soll ich ihm sagen? Der alte Mann sass in seinem barock beschnitzten Eichenkasten in der Kathedrale. Ich musste, nachdem ich hinter den grünen Samtvorhang geschlüpft war, vor ihn hinknien, zwischen ihm und mir ein hölzernes Geflecht. Und nun? Abendgebet vergessen? Geflucht? Gestritten? Ich wusste regelmässig nicht, was ich Übles getan haben sollte und nun beichten müsste. Meist war es dann doch das unterlassene Abendgebet. Ich holte es mit zwei „Vater unser“ nach. Danach war ich, welch Hochgefühl, frei von allem Bösen – und für vier Wochen die unausweichliche Frage los.
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Boom-Jahre.
Was sind schon zwölf Jahre! Als ich ein Kind war, sprach niemand vom Zweiten Weltkrieg. Dabei war er bei meiner Geburt gerade einmal seit zwölf Jahren vorbei. Als ich ein Kind war, wurden viele Kinder geboren, und es herrschte Hochkonjunktur. Mein Vater legte die Erträge aus der Drechslerei gleich an – nochmals Gewinn bringend. Dass sich unser deutscher Nachbar aus den Trümmern aufrichten und entnazifiziert werden musste, wurde mir erst bewusst, als ich erwachsen war. Von den sechs Millionen jüdischen Menschen, die umgebracht worden waren, erfuhr ich früher. Allerdings nicht in der Schule.
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Draussen ists so still.
Das muss ein DAF gewesen sein. Und das nun ist sicher ein VW. Ihm folgt, was hör ich denn da, ein NSU Prinz. Ich erkannte praktisch alle Automarken an deren Motorengeräusch. Immer bevor ich einschlief, hörte ich hin, was auf der Durchgangsstrasse vor dem Haus so kam und ging. Doch dann, es war der letzte November-Sonntag des Jahrs 1973, kam und ging nichts mehr. Es blieb still. Beklemmend still. Die Erdölkrise mit ihrem autofreien Sonntag setzte dem Boom ein Ende. Mir raubte die Krise die innere Ruhe – weil ich nicht an die äussere Ruhe gewöhnt war. Ich konnte nicht einschlafen.
Jedes Mal, wenn ich von der Ostschweiz nach Bern fahre, warte ich darauf. Kurz vor dem Berner Hauptbahnhof schiebt es sich in den Rahmen des Zugsfensters: ein kubisches, mehrstöckiges Gebäude mit dem blauen, etwas angejahrten Schriftzug der Leinenweberei Schwob.
Ich kenne die Leinenweberei Schwob nicht. Aber ich kenne Herrn Levy. Oder genauer: Ich kannte Herrn Levy.
Herr Levy arbeitete als Vertreter, wie sich dieser Beruf damals nannte. Heute wäre Herr Levy zumindest ein Aussendienstmitarbeiter. Noch wahrscheinlicher ist es, dass er ein Account Manager oder ein Key Account Manager wäre, vielleicht sogar ein Business Developer. Auf jeden Fall war es die Aufgabe von Herrn Levy, das feine Tuch aus der Leinenweberei zu verkaufen.
Herr Levy ging etwas vornübergebeugt. Er war nicht gross und wurde durch seine Haltung noch etwas kleiner. Mit seinen dunklen Augen schaute er jeden und jede leicht melancholisch an. Sein Blick hatte etwas Entschuldigendes und Nachsichtiges, auch etwas Leidendes, etwas Unausgesprochenes. Und: Herr Levy lächelte fast ununterbrochen. Er lächelte jeden Menschen an, wie wenn er sagen wollte: Sie können nichts dafür, dass es so gekommen ist.
Ich war vielleicht sieben Jahre alt, als ich Herrn Levy erstmals begegnete. Jedes Jahr kam er für elf Tage nach St. Gallen, an die Olma, um am Stand der Leinenweberei Schwob Kunden zu empfangen, neue Kontakte zu knüpfen, Geschäfte einzufädeln. Jeden Morgen, wenn meine Mutter den schräg gegenüberliegenden Stand unserer Drechslerei öffnete, grüsste Herr Levy herüber, indem er ihr kurz zunickte und ein freundliches, gedämpftes „Guten Morgen“ zurief. Seine Geste war so, wie wenn er in Gedanken den Hut zum Gruss heben würde.
Herr Levy war ein freundlicher Herr, kein Zweifel. Ich dachte damals nicht weiter über ihn nach, und wir sprachen in unserer Familie auch nie über ihn. Erst mit den Jahren ging mir auf, dass Herr Levy auch ein geprüfter Mann gewesen sein musste.
Als meine Mutter ihrem hundertsten Lebensjahr entgegenging und ich sie auf Herrn Levy ansprach, wusste sie sofort, von wem die Rede war. Was gestern oder vorgestern gewesen war, das konnte sie nicht mehr so genau sagen. Aber was sich früher zugetragen hatte, das wusste sie in aller Klarheit und Abgeklärtheit. Sie denke sich schon, sagte sie, dass Verwandte von Herrn Levy im Zweiten Weltkrieg in Konzentrationslagern umgebracht worden seien.
Überhaupt, fuhr ich fort, sei der Zweite Weltkrieg in unserer Familie nie ein Thema gewesen. Als meine Eltern 1952 heirateten, hatten in Deutschland noch die Besatzungsmächte das Sagen. Das Land war am Boden, und die Deutschen mussten sich neu finden. „Wir hatten damals anderes zu tun, als an den Zweiten Weltkrieg zurückzudenken“, erwiderte meine Mutter. Sie und mein Vater, sie hätten sich voll und ganz auf die Familie und auf den Aufbau der Drechslerei konzentriert. Mein Vater hatte sich kurz vor der Heirat selbstständig gemacht. Meine Eltern waren ihrerseits Nachkriegskinder gewesen – meine Mutter wurde vier Jahre, mein Vater fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg geboren. Ich glaube nicht, dass sie sich darüber je den Kopf zerbrochen hätten. Das Leben stellte an sie seine eigenen Anforderungen, und es hatte einige materielle Verlockungen parat. Für einen Blick zurück war da nicht viel Raum, dafür umso mehr für den Blick nach vorn.
Mein Vater arbeitete ständig. Auch nach dem Nachtessen ging er meist nochmals in die Werkstatt, die er im Sockelgeschoss des Hauses, in dem wir wohnten, eingerichtet hatte. Bis meine Schwester und ich schlafen gingen, tauchte er nicht wieder auf. Und wenn wir am Morgen aufstanden, war er in der Regel bereits wieder in der Werkstatt. Das Geld, das er mit seinen zwei Arbeitern und dem Lehrling verdiente, brachte er zur Bank. Schliesslich war Hochkonjunktur, die Zinsen und Renditen bewegten sich teils auf zweistelligem Niveau. Die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre lag für die Erfolgreichen der fünfziger Jahre weit, sehr weit zurück. Warum noch daran zurückdenken oder an den Zweiten Weltkrieg, wo doch jetzt mit Schaffenskraft und Erfindergeist grosses, gutes Geld zu verdienen war.
Zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, sind wiederum zwölf Jahre vergangen – zwölf Jahre seit der Finanzkrise 2008. Was sind schon zwölf Jahre, wo die Welt doch gerade stillsteht. Das Coronavirus schliesst Menschen ein und Wirtschaft aus. Die Zeiten des scheinbar grenzenlosen Wachstums und der jubelnden Wachstumseuphorie sind vorbei. Es ist eine Welt der Verinnerlichung und zugleich der Ernüchterung, die ich erlebe, eine Welt, die sowohl ökonomisch als auch ökologisch einer neuen Bescheidenheit entgegengehen muss.
Herrn Levy habe ich später in meinem Leben nie mehr gesehen. Er ist in seinem Leben verschwunden. Vielleicht hätte er zum Abschied kurz den Kopf geneigt. Wie wenn er den Hut ziehen würde, die neue Bescheidenheit vorwegnehmend.
Ferien waren kein Thema für den Familientisch. Eines Tages war der Entschluss einfach da, und wir Kinder nahmen ihn zur Kenntnis: Wir fahren ins Berner Oberland. Andere fuhren nach Italien, nach Spanien. Oder noch weiter weg. Auch in andere Himmelsrichtungen. Walter und seine Familie zum Beispiel. In jenem Sommer, noch bevor wir verreisten, schrieb er mir eine Karte: „Heute habe ich den Eisernen Vorhang gesehen.“
Walters Aussagen nicht wörtlich zu nehmen, dazu hatte ich keinen Grund. Wir spielten oft miteinander. Um zu ihm zu gelangen, musste ich eine stark befahrene Durchgangsstrasse überqueren. Entweder wartete ich am Strassenrand, bis jemand kam, der ebenfalls über die Strasse wollte, oder ich geduldete mich, bis sie irgendwann für einen kurzen Moment leer war. Autos hatten Vortritt damals. Immer und überall. Und dann, nach ein paar Schritten, stand ich vor dem Haus, in dem Walter mit seiner Familie wohnte. Ich drückte den Klingelknopf neben dem Messing-Türschild und stieg, nachdem ich eingelassen worden war, in den ersten Stock. Im Erdgeschoss hatte Walters Vater seine Arztpraxis. Seine Mutter arbeitete auch dort. Walter und ich, wir waren uns selbst überlassen. In der Küche stand Sirup für uns bereit. Wir setzten uns in die weichen Sessel im Wohnzimmer, die mit hellem, zart geblümtem Stoff überzogen waren, und wir hörten uns die Schallplatten seiner Eltern an. Darunter war auch eine mit Cabaret-Nummern. Die mochten wir besonders, und die legten wir immer wieder auf, bis wir die Texte auswendig mitsprechen konnten. Wir taten das auch, um die Pointen immer besser zu verstehen, was wir uns gegenseitig natürlich nicht eingestanden. Und wenn wir trotz mehrmaligem Hinhören einen Witz nicht begriffen, rollten wir in den weichen Polstern kichernd hin und her. Wir benahmen uns fast wie die Erwachsenen, die ja auch nicht immer alles verstehen, es aber vorgeben.
Und nun also hatte Walter den Eisernen Vorhang gesehen: Dunkel mattes Metall stellte ich mir vor, schwer und gleichzeitig so leicht, dass es sich scheinbar endlos über Hunderte von Kilometern wie weicher Stoff wellte. Zur Frage der Aufhängung machte ich mir keine Gedanken. Der fliessende Fall des undurchdringlich düsteren Vorhangs bestimmte mein Bild. Dass man ihn zur Seite schieben oder gar entfernen könnte, zog ich nicht in Betracht. Auch sonst schien niemand einen Gedanken an diese Möglichkeit zu verschwenden.
Und wir: Berner Oberland. Bis zu unserer Abreise blieben noch etliche Tage. Eines Morgens, als ich erwachte, war es plötzlich da: ein Gefühl von Glück. Wir werden verreisen, und es wird schön werden. Ich ahnte es, weil ich mir nichts Schöneres vorstellen konnte, als im Auto hinter der Sitzbank zu stehen, hinter meinem Vater, der am Steuer sitzen würde. Ja, ich würde stehen, denn die Fenster im Fond des Ford Taunus liessen sich nicht herunterkurbeln, und so würde ich mich an der Rücklehne der Bank aus hellgrauem Kunstleder festhalten und am Nacken meines Vaters vorbei aus dem meist offenen Fenster schauen. Nicht das Stehen würde mich anstrengen, sondern das Sehen. Nur nichts verpassen, was da an uns vorbeiziehen würde. Nur nichts übersehen während der mehrstündigen Reise. Der Fahrtwind würde mich wachhalten.
Das würden meine Glücksmomente sein auf der Fahrt ins Berner Oberland. Und jeden Morgen, gleich beim Erwachen, freute ich mich darauf. Hin und wieder fragte ich mich noch, ob Walter am Eisernen Vorhang gezupft oder eine Lücke zum Durchschauen entdeckt hatte.
Es brauchte nicht viel. Neugier vielleicht oder einfach die Gewissheit, demnächst Neuland zu betreten, im wörtlichen oder im übertragenen Sinn. Dann schoss mir als Kind das Gefühl von Glück wie eine zarte Stichflamme ins Herz und brachte es zum Pochen. Jedenfalls setzte es ein, noch bevor ich beim Erwachen den ersten Gedanken gefasst hatte.
Die Sommerferien im Berner Oberland waren wunderbar – alles Neuland. Bald danach kam jene Schwere zurück, die mir am Morgen, noch bei geschlossenen Lidern, ganz dumpf und übel in den Magen fahren konnte. Sie krallte sich im Bruchteil einer Sekunde so tief in die Magenwand, dass mich die Diagnose einer unheilbaren Krankheit nicht erstaunt hätte. Jedenfalls nahm diese Schwere meinen ganzen kindlichen Körper und den etwas weniger kindlichen Kopf in Beschlag. Das Aufstehen – überhaupt der Tag und das Leben – wurden zum zeitweiligen Kampf.
Nein, weiter zur Schule gehen wollte ich nicht. Ich wollte nicht mehr zusehen, wie der Lehrer die Buben vor sich hinknien liess, um sie mit dem Bambusstab zu verdreschen, und wie er meine Freundin mit ihren langen, zu dicken Zöpfen geflochtenen Haaren an der Rückenlehne des Stuhls festband, damit sie zum Schreiben aufrecht sass. Überdies, und das wog fast noch schwerer, war mir das Rechnen mehr als zuwider. Am Frühstückstisch erklärte ich meiner Mutter, ich würde ab sofort nicht mehr zum Unterricht gehen. Ich könne nun lesen und schreiben, und mehr bräuchte ich nicht, um durchs Leben zu kommen. Meine Mutter blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Das könne nicht sein, meinte sie. Doch, doch, das könne sehr wohl sein, erwiderte ich. Ja und Nein wechselten sich ab, ohne dass sich eine allgemein gültige Erkenntnis abzeichnete. Schliesslich holte meine Mutter das Auto aus der Garage, das sonst mein Vater fuhr, und es kam zu einer wenn nicht handgreiflichen, so doch äusserst dezidierten Zwangsversetzung in die Schule. Wir erreichten gerade das Schulhaus, als die Glocke den Beginn des Unterrichts ankündigte.
Derart also war meine kindliche Betrübnis. Und sie sollte so schnell nicht zu Ende sein. Die Sorge, einer Erwartung, einem Anspruch, und sei es ausschliesslich dem eigenen, nicht zu genügen, lauerte mir mein ganzes Berufsleben lang auf. Ich fragte später einmal meinen Vater, ob er diese Schwere am Morgen auch kenne. Nein, sagte er. Aber ganz allgemein die Schwere der ständigen Sorge, die kenne er sehr wohl. Ein vererbter Zug also? Ein wortlos vorgelebtes Verhalten und ein natürliches Abschauen? Mag alles sein. Der hohe Anspruch spornt an, das ist klar. Und er lastet schwer, auch das ist klar.
Man müsse spielen mit der Schwere und so tun, als sei es leicht, soll der Schriftsteller Martin Walser einmal gesagt haben. Mit den Jahren habe ich genau das gelernt: mit der Schwere zu spielen. Ich habe auch gelernt zu unterscheiden.
Da gab es also über Jahrzehnte diese Schwere, die aus nichts wuchs und aus der nichts wuchs. Sie schleppte mit grosser Vorliebe ein übel geschneidertes Kleid aus schrecklich gemustertem Stoff an und stülpte es mir ungefragt über den Kopf: das Kleid der Hoffnungslosigkeit, das Kleid der Sinnlosigkeit, das Kleid der Angst. Es auszuziehen, verlangte, eben weil es schlecht geschnitten war, einiges an körperlicher, emotionaler und geistiger Ausdauer. Manchmal, aber längst nicht immer, gelang es mit Spielen. Sich selber gegenüber so tun, als sei es leicht. Sich selbst nicht zu ernst und schon gar nicht zu wichtig nehmen, sich beschwichtigen und sich gut zureden. Anderen gegenüber so tun, als trage man dieses Kleid gar nicht. Sich bewegen und weiterkommen, selbst wenn das Kleid einengte. Sich freistrampeln. Immer wieder. Das ging alles. Doch das Kleid endgültig zu entsorgen, das war dann doch alles andere als Spiel.
Aber da gab und gibt es auch die Schwere, die dunkel und warm ist. Sie lässt mich ganz ruhig werden und tief eintauchen. Dorthin, wo aus ihr, wie ein Spross aus feuchter Erde, die Kreativität quillt. Wo aus innerster, auch genussreicher Düsternis Fragen auftauchen, wo Antworten sich bilden, Gedanken und Ideen entstehen. „Wenn alles still ist, geschieht am meisten.“ Sagt Søren Kierkegaard.
Abzusinken in den wohlig warmen inneren Humus, aus dem Neues ans Licht stösst, hat sogar an Reiz gewonnen. Ich heisse diese Schwere als Glücksmoment der Erkenntnis willkommen. Als stillen Moment, der in seiner Tiefe kaum mehr Worte braucht. Als Moment der Zufriedenheit, der, manchmal auch lautlos, in die Weite des Seins hallt.
Funkelnde Faszination.
Altgriechisch oder Englisch im Gymnasium? Keine Frage: Altgriechisch. Wo ich doch schon in der Sekundarschule Latein lieben gelernt hatte. Doch mit wem würde ich mich auf Altgriechisch unterhalten können? Also doch Englisch. Die Sprache gefiel mir zuerst nicht, sie bot mir nichts, um mich darin wohlzufühlen. Dafür wurde der Englischprofessor zu meinem Glücksfall. Ich sah seine Augen blitzen, wenn er etwas erklärte. Der Funke seines Schalks und seiner Faszination, die ihn selber rührte, erhitzte mich. Das Stück „A Streetcar Named Desire“ löste Glücksschübe aus, als ich es 1975 las.
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Tränen am Tor zur Welt.
Meine Schwester weinte heisse Tränen, als ich 1974 in Basel den Bus zum Flughafen bestieg. Dabei war ich es, die wegging. In völlig fremde Gefilde. Bei der Einreise in England wusste ich nicht, ob ich auf dem Formular bei „Sex“ das F oder das M ankreuzen sollte. Sex? Dachte ich. Hatte ich noch nie! In der Gastfamilie lehnte ich einen Schauer ab, weil ich keinen Regen wollte. Und dann stieg ich in den Sportwagen eines unbekannten Mannes. Er brachte mich am ersten Tag zur Schule. Ich hatte mich verlaufen und kam dank ihm gerade noch pünktlich. Mir standen erfahrungspralle Wochen bevor.
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Was fällt dir ein!
„Hello Ööörs!“ Mein Landlord an der Spring Road 122 in Bournemouth stand meist auf einer Leiter, einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, und werkelte am Haus, wenn ich von der Schule kam. Einmal, als niemand sonst zuhause war, überraschte er mich mit Spaghetti aus der Büchse, drapiert auf Toastbrot. Ööörs lächelte, ass tapfer, lächelte nochmals und ging dann, wie fast jeden Abend, in die Disco. In langer Schlaghose natürlich und in Plateauschuhen. Als ich aus England zurückkehrte, stand mein Vater am Bahnhof. „Was fällt dir ein, so herumzulaufen.“ Ööörs bekam sofort heftiges Heimweh.
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In der Grossstadt.
Ich kannte die Stadt nicht. Am Hauptbahnhof musste ich mir zuerst einen Stadtplan kaufen. Auf dem städtischen Wohnungsamt suchte ich mir aus Karteikästchen die Adressen leerer Studentenzimmer heraus. Und dann marschierte ich kreuz und quer durch die Stadt. Das Tram zu benützen wagte ich nicht. Bis zum Abend hatte ich meine Strumpfsocken durchgescheuert und meine Bleibe gefunden: eine grau-braune Mansarde an der Steinentischstrasse 17 in Zürich-Enge, möbliert mit Bett, rundem Tischchen, zwei Stühlen. Für alle sechs Zimmer gab es ein WC mit kleinem Lavabo. Ich war glücklich.
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Allein und ahnungslos.
Der Tag kam, da ich mein Elternhaus verliess, mit Plattenspieler im Gepäck. Mein Papa fuhr mich in seinem lindgrünen VW nach Zürich. Mama kam auch mit, sie hatte mich mit einer mobilen Herdplatte aus Papas Junggesellenzeit und zwei Pfannen ausgerüstet, auch mit Lebensmitteln. Und so sass ich an jenem Herbstabend 1976 allein in meinem Mansardenzimmer in der mir fremden Stadt. Ohne Telefon, ohne Ahnung, dafür mit Schallplatten. Ich ging jeweils zu Fuss zur Uni, eine halbe Stunde durch die Stadt. Von den 400 Franken, die mir Papa gab, gingen 150 fürs Zimmer drauf. Ich musste sparen.
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Diese Eleganz. Dieser Klang.
Nicht Deutsch. Aber eine Sprache musste es sein. Meine andere Hirnhälfte, die für Zahlen, ist ziemlich unterentwickelt. Vielleicht doch Englisch? Nach und nach hatte sich in mir ein Sinn entfaltet für die angelsächsische Trockenheit und die intellektuelle Eleganz der Sprache, auch eine Liebe zu ihrem Klang. Doch was würde ich nach dem Anglistik-Studium tun? Ein Leben lang an einem Gymnasium unterrichten? Mir graute, ich vertagte die Berufswahl. Da war eben auch Papas insgeheimer Stolz zu befriedigen: Niemand in den beiden Familien hatte es vor mir bis zur Matur und an die Uni geschafft.
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Ein Drittes würde es nicht geben.
Eine Kreuzfahrt im Mittelmeer: Meine Eltern erfüllten sich einen Traum. Während sie weg waren, wurde mir bang: Ich hatte gerade mein zweites Anglistiksemester abgeschlossen, und ein drittes würde es für mich nicht geben. Die Ferienjobs im Korrektorat des „St. Galler Tagblatt“ und auf der Redaktion der „Ostschweiz“, die Ende 1997 eingestellt wurde, gefielen mir weitaus besser. „Wa häsch?“ Ich höre meine Mama noch. Sie und Papa waren nachts aus Genua zurückgekehrt, am Morgen fand ich sie in der Küche. „Ich will nicht zurück nach Zürich.“ Ich weinte. Mama verstand, Papa später dann auch.
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Unverblümter Tadel zum Empfang.
In den ersten Wochen des dritten Semesters machte ich in Zürich Ferien. Ich hatte praktisch die ganzen Semesterferien hindurch gearbeitet. Die Vorlesungen besuchte ich nur noch formhalber. Dafür organisierte ich mir die erste Stelle: Ich wurde für die „Ostschweiz“ von der Praktikantin zur Mitarbeiterin. Am 1. Dezember 1977 empfing mich unverblümter Tadel auf der Redaktion: Der beste aller Schriftsetzer und Metteure konnte nicht begreifen, dass ich die Chance eines Studiums nicht packte. Er hatte sie nicht. Ich jedoch war neugierig auf jeden Redaktionstag, wie stressig er auch werden mochte.
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Ein Knie spielt Schicksal.
Wie hast du denn zum Journalismus gefunden? Ganz einfach: Weil mein Papa 1975 ein kaputtes Knie hatte. Im gleichen Spitalzimmer lag ein leitender technischer Mitarbeiter des „St. Galler Tagblatt“. Dank ihm kam es, dass ich in jenem Sommer, während andere ans Meer fuhren, in der Zeitungskorrektur Schicht arbeitete. Klar, alles noch Bleisatz. Ich lernte die Schrift spiegelverkehrt zu lesen, ich lernte die Korrekturzeichen, ich mochte den Geruch von Druckerschwärze, und ich wischte sie bei Schichtende nachts um elf nicht ab. Die Arbeit machte mich stolz, und sie wies mir den Weg.
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Ausgerechnet Sie! Nicht zu fassen!
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Sie in den Journalismus gehen würden! Der Deutschlehrer der Mittelschule konnte es nicht fassen, dass ich 1979, mit 22 Jahren, bereits zeichnende Redaktorin war. Beim „St. Galler Tagblatt“, der grössten der damals drei Tageszeitungen. Meine Antwort: Solange ich zu Ihnen in die Deutschstunden ging, hätte ich das auch nicht gedacht. Äusserlich hätte Herr Professor Schmitter glatt als der damalige DDR-Staatschef Walter Umbricht durchgehen können. Über das Deutsch jenseits der Mauer und des Todesstreifens sprachen wir nie. Sein Unterricht war unterirdisch.
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Und die IRA schaute zu.
Er hob den rechten Arm und deutete weit hinaus auf den Atlantik: Amerika. Seine Geschwister waren alle ausgewandert. Einmal hatte er es gewagt, einmal hatte er sie besucht. Ein Mann mit zwei Streifen am Ärmel – speziell die erwähnte er – hatte ihn vor der Landung geweckt. Fliegen war nur mit Alkohol zu überleben. Darum war er heilfroh, zurück zu sein. Allein zwar, aber daheim in Irland, County Sligo, im Spätsommer 1979. Lord Mountbatten war wenige Tage zuvor in der Nähe ermordet worden. Nordirland, die IRA und die Troubles schauten dem friedlichen Sonntagnachmittag zu. Glück in Reinstform.
Im Haus, in dem mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich lebten, gab es kein Bücherregal. Aber es gab Zeitungen. Meine Eltern hatten gleich deren zwei abonniert: die der Christdemokraten und die der Liberalen. Die dritte Tageszeitung, die in der Stadt mit ihren rund 70‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern erschien, kam von den Sozialdemokraten. Ganz normal damals, dass die Printmedien parteigebunden waren.
Ganz normal auch, dass der Vater mittags um halb eins, während wir assen, den Knopf am Radio herunterdrückte, für das er eine Konsole aus Nussbaumholz gefertigt hatte und das seither über unseren Köpfen in der Ecke des Esszimmers thronte. Mittags um halb eins war es still draussen. Die Landessender Beromünster, Sottens und Monte Ceneri strahlten auf Mittelwelle die Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur aus.
Zum Ende der Nachrichten und dann auch des Mittagessens griff mein Vater, bevor er wieder einen Stock tiefer in die Werkstatt ging, nach einer der beiden Zeitungen. Egal ob es die der Christdemokraten war, die sich zu jener Zeit katholisch-konservativ nannten, oder die des politischen und konfessionellen Gegenspielers: Mein Vater las jede Zeitung stets von hinten nach vorn. Das wiederum war so normal, dass ich ihn nie nach dem Grund fragte.
Was mir dagegen immer wieder auffiel, war der Geruch: Sie rochen gut, die Zeitungen. Sie rochen nach Druckerschwärze, Arbeit und Intelligenz.
Mein Blick auf und in die Zeitungen änderte sich, als ich beim Blatt der Liberalen in den Schulferien Schicht arbeitete. Jetzt schaute ich mir die Artikel, die ich tags zuvor als Korrektorin auf Tippfehler durchsucht hatte, sehr genau an. Jetzt war ich, wenn auch noch nicht Teil der Intelligenz, so doch Teil der Arbeit.
Das Korrigieren war so spannend und faszinierend, dass ich nach fünfwöchigem Sommerjob gleich fragte, ob man mich denn in der Zeitungsproduktion auch weiterhin gebrauchen könne. Die Antwort war abschlägig, denn die Korrektoren – ja, alles Männer – waren ausnahmslos aus den langen Sommerferien zurückgekehrt, und so war niemand mehr nötig, der sie vertrat. Aber nach der Matura, während des Studiums, wenn ich dann Semesterferien hätte, könne ich mich gern wieder melden.
Noch nicht ganz zwanzigjährig, klopfte ich vor meinen ersten Semesterferien gleich doppelt an: bei den Christdemokraten und bei den Liberalen. Die Christdemokraten überboten sich selbst: Nein, zum Korrigieren würden sie niemanden suchen, aber wenn ich wolle, könne ich auf der Redaktion schnuppern.
Und wie ich wollte!
Am zweiten Tag meines Volontariats– ich würde 200 Franken in der Woche verdienen – schickte mich der Leiter des Stadtressorts an eine Presseorientierung: In einer Häuserzeile der Altstadt, hinter historischen Fassaden, sollte ein kleines Einkaufszentrum entstehen, die Bauherren wollten das Projekt vorstellen. Ich hatte keine Ahnung, wie so eine Presseorientierung oder Pressekonferenz ablaufen würde. Ich hatte auch keine grosse Ahnung, wie ein Zeitungsartikel strukturiert und geschrieben wurde. Du gehst da jetzt einfach einmal hin, sagte mein Chef – und ich gehorchte.
Immerhin hatte ich ihn bereits beim Schreiben beobachtet: Er brachte zuerst alles handschriftlich zu Papier, dann setzte er sich an die mechanische Schreibmaschine, spannte ein Blatt ein und begann, auf die Tasten einzuhacken, beim Abschreiben gleichzeitig den handschriftlichen Entwurf redigierend. Dass er die erste Fassung weiter verfeinerte, das schloss ich aus seinem gelegentlichen Innehalten. Und dass das Artikelschreiben eine nervenaufreibende Arbeit war, schloss ich aus dem Zahnstocher, auf dem er herumkaute. Andere Redaktoren hatten eine Zigarette im Mundwinkel.
Ich machte es meinem Chef gleich, verzichtete aber auf den Zahnstocher. Zuerst schrieb ich den Artikel über das geplante Einkaufszentrum von Hand, dann setzte ich mich im Redaktionsbüro mit seinen sechs Arbeitsplätzen an die gleiche resedagrüne Schreibmaschine und griff so behände in die Tasten, wie ich nur konnte. Wer, was, wann, warum und wie – die fünf W waren mir zumindest schon ein Begriff.
Dann legte ich das Manuskript auf sein Pult und erwartete bang sein Urteil. Mein Chef indessen ging mit keinem Wort auf mein Erstlingswerk ein. Er kritisierte nicht, er rühmte nicht – und ich wagte nicht zu fragen. Am Folgetag – es war im Frühling 1977 – erschien mein allererster Zeitungsartikel. Vielleicht kam zu meiner Arbeit nun doch so etwas wie Intelligenz.
Mein Chef war in der Stadt ein bekannter Mann: bekannt für seine stilvolle Feder, bekannt für seine volkstümlich edle Persönlichkeit. Jedem Artikel, den er schrieb, stellte er ein grosses B voran, den ersten Buchstaben seines Familiennamens. In den folgenden Tagen und Wochen entwickelten B und ich ein Ritual: Gosch emol, machsch emol, schriibsch emol, sagte er. Und ich ging, machte, schrieb, legte ihm das Manuskript auf das Pult und schaute tags darauf in der Zeitung nach, ob er an meinen Texten noch etwas geändert hatte.
B lehrte mich wortlos, wo wir doch täglich mit Wörtern und Worten hantierten. Er liess mir den Freiraum, um den Journalismus für mich neu zu erfinden. Und B wurde mein grosses Vorbild, mein Lehrmeister in Beruf und Menschlichkeit, mein Wegbereiter. Er kam ohne Lehrbücher und ohne Theorie aus, auch ohne Schelte und ohne Lob und liess stattdessen ein warmherziges, deswegen aber nicht unkritisches Wohlwollen walten. Er drängte niemandem seine Meinung auf, er gab – auf Grund seiner Erfahrung und seines Wissens – lediglich Ratschläge. Was die anderen damit anfingen, war nicht mehr seine Sache.
Am Ende meiner zweiten Semesterferien, die ich mehrheitlich arbeitend verbracht hatte, wusste ich, wo mein Platz war. Zum zwanzigsten Geburtstag, der unterdessen hinter mir lag, hatte ich mir die verheissungsvollste berufliche Perspektive geschenkt, die ich mir vorstellen konnte.
Manchmal, wenn die Sonne schien, war Mutter traurig. Unser Haus lag immer im Schatten. Wir Kinder würden nicht genug wachsen, glaubte sie. Um Wachstum im Schatten kümmerte ich mich nicht. Ich holte mein rotes Trottinett aus der Remise, fuhr die Strasse hinunter, schob es wieder hoch, fuhr wieder hinunter. Möglichst ohne auf die Bremse zu treten. Das war mein sportlicher Zeitvertreib. Dem hatte ich schon mit meiner Schwester gefrönt, als das Trottinett noch ihr gehörte und mein Kinn gerade knapp über die Lenkstange reichte. Meine Schwester stand hinter mir auf dem Trittbrett und stiess mit dem Fuss noch ein paarmal kräftig ab, um Tempo zu gewinnen. Wir hatten rasendes Vergnügen – und stets noch alle Zähne im Mund, wenn wir das Trottinett zurück in die Remise stellten.
Am Morgen jedoch, und zwar an jedem Morgen, hielt sich unser Vergnügen in engen Grenzen. Neben der Tasse Ovomaltine standen ein dunkelbraunes Fläschchen und ein kleines Henkelglas, halb gefüllt mit Wasser. Daneben lag ein Teelöffel. Zehn dunkelbraune Tropfen aus dem dunkelbraunen Fläschchen auf den Löffel, rein damit, und mit Wasser nachspülen. Jeden Tag, auch am Sonntag. Mutter schwor auf die stärkende, wachstumsfördernde Wirkung des Elixiers, und wir machten brav mit, allerdings ohne Zeichen ausserordentlichen Wachstums an den Tag zu legen. Andererseits, wer weiss, wären wir ohne Tropfen vielleicht noch kleiner geraten.
Die Tropfentherapie war noch nicht alles. Wir Kinder mussten in die Hochkolonie. Dreieinhalb Wochen verbrachten meine Schwester und ich in einem Bündner Bergdorf, in einem grossen Haus, mit einer Schar weiterer, angeblich schwächlicher Kinder. Ich war acht, meine Schwester zehn Jahre alt. Mich packte jeden Abend das Heimweh, und ihr erging es fast noch schlimmer. Ich sehnte mich nach unserem Haus im Schatten. Ich sah den neuen, blauen Spannteppich vor mir, der seit einigen Wochen unter unserem Esstisch lag. Ich sah Vater, der am Tisch sass und Zeitung las. Abend für Abend musste ich die Tränen herunterschlucken und schaffte es fast nicht, meine Kehle war wie zugeschnürt. Unser Haus im Schatten, unsere Mutter, unseren Vater – ich vermisste sie so sehr, und dreieinhalb Wochen waren eine Ewigkeit.
Zehn Jahre später verliessen wir das Haus. Wir zogen in ein anderes Quartier, auf der Sonnenseite der Stadt. Sie kommen, rief Mutter, als sie den Umzugswagen vorfahren hörte. Aus ihrer Stimme klang eine seltsame Bange. Ich konnte gar nichts mehr sagen. Abends, nach der Schule, war der Heimweg nicht mehr der gleiche. Heimweh nach dem Haus im Schatten hatten wir wohl alle. Nur wagte es niemand zu zeigen.
Weitere sieben Jahre später verliess ich die Stadt. Ich fuhr aus ihr heraus, ohne Weh. Ich wollte ausbrechen aus dem Kreis, der immer derselbe war. Die Grossstadt lockte – und dazu neue, spannende Arbeit. Himmel, war das aufregend! Zürich hatte aber auch, das stellte ich schnell einmal fest, seine schwierigen Seiten. Kein bekanntes Gesicht mehr auf der Strasse, kein Lächeln, keine Zeit. Selbst wenn ich ohnmächtig umfallen würde, so befürchtete ich, würde niemand davon Notiz nehmen. Himmel, war das öd! Und wie war der erste Sommer heiss, den ich in Zürich verbrachte. Die Hitze stand zwischen den Häusern, und nicht das leiseste Lüftchen näherte sich, um sie zu vertreiben.
Da gab es nur eines: weg von Zürich, immer wieder und wann immer möglich, und zurück nach St. Gallen. Zurück in meine geliebte Heimatstadt. Doch sie verfuhr grausam mit mir. Sie holte mich nur zurück, so schien mir, damit ich ihren Wandel bemerkte.
Meine Stadt machte mich zur Voyeurin. Bei jeder Rückkehr die Frage, was sich diesmal – zum Schlechteren wohl – gewendet habe. Darauf richtete sich mein Blick ein, und er wurde selten enttäuscht. Und wenn, dann zweifelte ich an meiner Aufmerksamkeit. Dann warf ich mir vor, mich nicht genau genug umgesehen zu haben.
Meine Heimatstadt machte mich zur Unzufriedenen, die immer etwas auszusetzen hatte. Ich beschimpfte sie, fuhr über sie her – und war froh, sie jeweils wieder verlassen zu können.
Zürich wurde deswegen nicht heimatlicher. Die Grossstadt blieb für mich der Ort des Scheins, wo sich die Leute elegant kleideten, um nie und niemandem zu zeigen, welchen emotionalen Stoff sie darunter trugen. Zürich blieb überdies die Stadt des Geldes, mit dem die Leute um sich warfen, selbst wenn es nicht ihr eigenes war. Zürich hat alles, was du zum Leben nicht brauchst. Der Spruch aus den unruhigen achtziger Jahren traf zu.
Das Haus im Schatten steht noch. Es ist etwas in die Jahre gekommen, und der jetzige Besitzer hat das mit etwas Farbe sehr gut übertüncht. Wer heute darin wohnt, weiss ich nicht. Doch wenn ich vorbeigehe, blicke ich stets zu den beiden geschlossenen Fensterläden im ersten Stock hoch, wo ich zur Welt gekommen bin.
Meine Stadt. Meine Heimat. Hätte ich sie in jungen Jahren nicht verflucht, würde ich sie heute nicht lieben. Hätte sie mich nicht weggewiesen, wäre ich nicht zurückgekehrt.
Jener hohle Schein.
Ich raffe es nur mit Mühe, wenn ich heute durch Zürich gehe: In dieser Stadt habe ich rund 17 Jahre meines Lebens verbracht. Es waren, ab 1981, manchmal wilde, manchmal graue Zeiten. Im ärgsten Wohnungsmangel ergatterte ich eine 2-Zimmer-Wohnung an der Scheuchzerstrasse 66. Nach den Jugendunruhen 1980 begannen sich am Platzspitz die Drogensüchtigen zu sammeln. Aids steigerte ihr Elend noch. Zürich, jene nur auf Schein bedachte, kalte, drogenpolitisch repressive Stadt, hatte keine Liebe. Wenn ich heute dort bin, hält sie mir heiter vor, keine Wurzeln geschlagen zu haben.
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Berufliche Offenbarung.
Schöntalstrasse. Im schönen Tal in Zürich-Wiedikon gab es ein Fleckchen Heimat: die Redaktion der Zeitschrift „Schweizer Familie“. Ich hatte mich spontan beworben, und Werner Ehrensperger, der neue Chefredaktor, hatte für mich, fast so spontan, eine neue Stelle geschaffen. Wir hiessen nicht nur so, wir waren es auch: eine Art Familie. Und ich war ihr jüngstes Mitglied. Der Wechsel vom Tages- zum Wochenjournalismus und zu langen Erzählformen: eine wohltuende Offenbarung. Ich konnte mich entfalten, erfand neue redaktionelle Gefässe – und hatte, fern von der Familie, mein eigenes Leben.
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Strahlende Zukunft.
Flug gebucht, Fotograf auch. Frühling 1986 wars, und die Reportage-Reise nach Budapest war organisiert. Doch dann, keine Woche davor: die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Ich flog trotzdem. Der Fotograf und ich machten uns an die Arbeit, während sich Westeuropa immer rigoroser vor drohender Radioaktivität zu schützen begann. In Deutschland durften die Kinder nicht einmal mehr im Sandkasten spielen. Wir verzichteten auf Früchte und Gemüse, immerhin. Die Marktfrau verstand das nicht: so süsse Erdbeeren, und wir lehnten sie ab. Meine Stadt-Reportage aber, die wurde ziemlich geniessbar!
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Eiserner Vorhang, ganz in Weiss.
Die Nacht war eisig klar. Auf dem Perron glitzerte dünner Schnee. Am 30. Dezember 1986, kurz vor Mitternacht, bestieg unsere Gruppe in Moskau den Zug nach Leningrad. Der Schlafwagen war wohlig warm und mit Teppichen ausgelegt. Aus einem Samowar gab es Tee. Dann Silvester im Komsomol-Hotel Sputnik. Eine Flasche Krimsekt gegen ein Paar Damenstrümpfe. „Ich Lehrer, du mich heiraten“, raunte mir ein Bulgare beim Tanz zu. Ich lächelte nur. Am 1. Januar 1987 stand ich auf dem schönsten Platz, den ich je gesehen hatte: auf dem Schlossplatz. Im Schnee. Und allein in glücklicher Weite.
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Klang der Heimat.
Zürich war und wurde nicht meine Stadt. 1988 zog ich, nach rund sechseinhalb Jahren, nach St. Gallen zurück. Am Abend vor dem Karfreitag packte ich an der Linsebühlstrasse 101 Umzugskartons aus. Die Kathedrale ist von dort nicht weit. Und dann läutete die tiefste ihrer neun Glocken, und dann weinte ich. Kein Glockengeläut der Schweiz klingt tiefer, und keines dringt tiefer in mein Herz. Einige Monate zuvor, über den Jahreswechsel 1987/88, war ich auf einem Kamel durch das Tassili n’Ajjer in der Sahara geritten. Und was hatte ich nachts in der Sternenstille der Wüste gehört? Kirchenglocken.
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Die Wüste und die Welt riefen.
Überhaupt die Sahara. Ich wollte in die Wüste, weil es dort ganz sicher keine Postkarten zu schreiben geben würde. Der Kameltreck startete in Tamanrasset und wurde zu meiner grossen Erweckungsreise – ich war 31 Jahre alt: Wir schliefen bei Minus-Temperaturen im Freien – das funkelnde Kreuz des Südens und die unendliche Weite des Alls über uns. Wir erlebten Regen, der in der Wüste für ein paar Stunden zum Fluss wurde. Und wir gingen und ritten durch die Steinwüste des Tassili n’Ajjer, bis wir an einem Fels namens Yuvi Haket ankamen und mich ein Tuareg fragte, wie denn Schnee aussehe.
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Sprechen statt schreiben.
Bleiben und aufsteigen – oder gehen und absteigen. Ich hätte Textchefin der „Schweizer Familie“ werden können. Aber ich ging, der Neugier halber. Und fing im Studio Ostschweiz von Schweizer Radio SRF neu an. Ich wurde zur Anfängerin im Radiojournalismus. Nach drei Wochen wusste ich, dass mir das Sprechen weniger lag als das Schreiben. „Halte ein Jahr durch“, riet mir mein Papa, und ich folgte ihm. Ein Jahr hart und lustlos erarbeitete Erfahrung: Ich ahnte nicht, wozu diese Pein noch gut sein würde. Nach meiner letzten Radiosendung verlor ich, erstmals in meinem Leben, die Stimme.
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Dieser Abend leuchtete ins Innerste.
Und immer wieder brannten sich Erlebnisse und Ereignisse in mein Gedächtnis ein, die mir zum Zeitpunkt des Erfahrens gar nicht so wichtig erschienen waren. Nach und nach wurden mir viele dieser Momente – die einen kurz, die anderen länger – zu Eckpunkten des Lebens. Im Frühling 1988 fuhr ich zusammen mit anderen Medienleuten auf der Fähre Finlandia von Stockholm nach Helsinki. Wir sassen beim gediegenen Nachtessen, als hinter den Schären die Sonne gross und dunkelrot im Meer versank. Dieses Licht, die Stimmung, auch die Chancen meines Berufs leuchteten in mein Innerstes.
So um Mitternacht herum, wenn der Sonntag zum Montag wurde, ging ein kleiner Ruck durchs Gebäude: Die Druckzylinder begannen zu drehen. Die Tiefdruckmaschine lief jeweils durchgehend bis weit in den Montagnachmittag hinein. Die Schweiz, oder zumindest ein Siebtel ihrer Bevölkerung, wollte am Mittwoch mit der „Schweizer Familie“ versorgt sein, der damals beliebtesten Wochenzeitschrift.
Am Dienstagmorgen hatten wir in der Redaktion die ersten Exemplare auf dem Tisch. Zeit für die wöchentliche Redaktionssitzung. Sie begann um neun und konnte gut und gerne drei Stunden dauern. Drei Stunden, in denen wir nicht nur Blattkritik übten, sondern vor allem über Monate hinaus planten.
Niemand stellte diese weiten Horizonte in Frage. Niemand störte sich am Zigarettenrauch im Sitzungszimmer, der, je länger wir sassen, umso dichter und beissender wurde. Der Rauch liess uns in die Ferne blicken, von Reportagen träumen, von exotischen Punkten auf dem Globus zum Beispiel, die niemand von uns je wahrhaftig zu Gesicht bekommen würde.
Die Zeitschrift, damals die meistgelesene der Schweiz, mit mehr als einer Million Leserinnen und Lesern, stiess immer wieder spektakuläre Fenster zur Welt auf. Sie entführte nach Papua Neuguinea, in den Jemen, in den Sudan. Wir bereiteten die Publikation der Reportagen – sie stammten häufig von freiberuflichen Journalisten – mit langer Hand vor. Gemeinsam mit ihnen und mit dem Grafiker beugte ich mich stundenlang mit dem Vergrösserungsglas über den Leuchttisch und über Hunderte von Dias. Wir selektionierten das Auftaktbild und definierten die weitere Bildabfolge. Mit dem Autor – an eine Autorin kann ich mich nicht erinnern – besprach ich auch den exakten Inhalt der Reportage, redigierte sie dann aufs Sorgfältigste, schloss allfällige inhaltliche Lücken, eliminierte Unklarheiten.
Vor allem die Farbstrassen wollten sehr früh bestimmt sein, meist auf ein oder zwei Jahre hinaus. Durchgängig in Farbe wurde aus Kostengründen noch nicht gedruckt. Immerhin aber waren viermal im Jahr Farbstrassen möglich mit bis zu vier oder fünf Doppelseiten Farbe hintereinander. Das war ein kolossales publizistisches Ereignis, das in der Tat seine Vorlaufzeit erforderte.
Auch schweizerische Themen hatten das Zeug zur Farbstrasse. Die erste Postkutsche, die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder über den Gotthard verkehrte, natürlich zu touristischen Zwecken, fuhr auf einer Farbstrasse in die Zeitschrift ein – exakt ein Jahr nach der tatsächlichen Premiere. Doch der zeitliche Verzug kümmerte niemanden. Dafür waren die Fotos aus der Schöllenenschlucht und von der Tremola prächtig. Die Postkutsche in dieser grandiosen, von Strassen zerfurchten Bergwelt war genau richtig für eine Farbstrasse.
Das alles fiel mir wieder ein, als ich am Valentinstag 2020 nach Lausanne fuhr. Ich erinnerte mich auch, wie eines Tages der Schriftsteller Hugo Loetscher und der Fotograf Willy Spiller auf der Redaktion aufgetaucht waren. Sie hatten guten Stoff im Angebot: eine Reportage aus dem Nordosten Brasiliens, den Hugo Loetscher damals häufig bereiste. Ich machte innerlich einen Bückling, zerfloss fast vor Bewunderung und wagte es dann kaum, ein fehlendes Komma in Hugo Loetschers Text einzufügen.
Die Fahrt nach Lausanne allein war es nicht, die mich in die achtziger Jahre zurückversetzte. Der Schweizer Fotograf René Burri war es, dessen Ausstellung ich im Musée de l’Elysée in Lausanne besuchte und der mich an die Zeiten der klassischen Reportage und der analogen Fotografie erinnerte. Da hingen sie, ausgesuchte Bilder aus seinem Nachlass, den das Musée de l’Elysée verwaltet. Auch Kontaktbogen mit Schwarzweiss-Aufnahmen, die auserwählte oder die auserwählten mit rotem Wachsstift eingerahmt. Das Bild von Che Guevara, das René Burri weltberühmt gemacht hat, ohne dass die Welt seinen Namen kennen würde, ebenfalls mit rotem Wachsstift auf dem Kontaktbogen eingerahmt.
Ich fuhr von Lausanne zurück, etwas nostalgisch, ich gebe es zu, und nahm zuhause die Reportagen hervor, die ich selber einst für die „Schweizer Familie“ recherchiert und geschrieben hatte. Und ich war enttäuscht. Diese Bilder, vor allem die schwarzweissen: etwas schwammig und die farbigen schleierhaft gedämpft. Die Erinnerung indes gestochen scharf. Die frühere Leidenschaft schillert. Immerhin.
Es war keine Zeit für Literarisches. Ab und zu, das dann doch, fiel mir ein Satz zu, der vielleicht literarische Qualität haben mochte. Er stand immer am Anfang. Der Einstieg in eine Reportage, so dachte ich, sollte das Weiterlesen zum zwingenden Bedürfnis machen. Der Einstieg war ebenso zwingend als Fundament für den weiteren Aufbau der Geschichte: Hatte ich die Anfangsworte nicht richtig zusammengefügt, kam ich danach nicht voran.
Im Herbst 1988 fuhr ich mit dem Auto nach Crésuz zu Erhard Loretan. Wir kannten uns von einer früheren Reportage: 1987 war er an der Nordwand des Mönchs in ein Schneebrett geraten und über zwei Felsköpfe 400 Meter in die Tiefe gestürzt. Kurz danach sprach ich erstmals mit ihm und schrieb über ihn, der sich nicht abschrecken liess und eisern seine Grenzen immer weiter hinausschob. Nun steckte er in den letzten Vorbereitungen, um auf einer neuen Route den Makalu zu besteigen. In drei Tagen würde er aufbrechen. Zuerst aber würde er noch einen Tag lang erzählen, wie er drei Monate zuvor als Erster die Ostwand des Trango-Towers im Karakorum durchklettert hatte. Erhard war ein Mensch aus Muskeln und Knochen, drahtig und hungrig. Aus den dunklen Augen unter seinen markanten Brauen loderte unablässig ein Feuer. Seine Leidenschaft für die Grenzen des menschlich Machbaren kannte keine Grenzen. Er war unheilbar bergsüchtig.
Wir sassen auf dem Balkon seines Freiburger Chalets. Ich notierte jede Einzelheit, während Erhard aus seinem Tagebuch zitierte, mir Techniken erklärte und Zusammenhänge aufzeigte. Alles musste ich aufnehmen, denn fragen konnte ich ihn nach seiner Abreise nicht mehr. Die Sonne wärmte gerade noch. Und der Herbst warf Gold auf den Lac de Montsalvens. Sein Wasser weit unter uns glitzerte durch den Tannenwald.
Jener Herbst, der Gold warf auf den Lac de Montsalvens, jener Satz, er stand am Anfang meiner Reportage. Ich habe ihn, vielleicht etwas selbstverliebt, nie vergessen.
Der Gold werfende Herbst kam mir auch in den Sinn, als ich 25 Jahre später, im Oktober 2013, mit meiner Mama nach Disentis und weiter über den Lukmanier ins Blenio-Tal fuhr, um den 70. Geburtstag eines Verwandten zu feiern. Erhard Loretan war zu jenem Zeitpunkt bereits seit zweieinhalb Jahren tot, er war am 28. April 2011, an seinem 52. Geburtstag, auf einer vergleichsweise einfachen Klettertour in der Schweiz zu Tode gestürzt.
Kurz nach Disentis kam ein Bild auf uns zu, das uns im Auto in hellen Aufruhr versetzte: Lärchen leuchteten sonnenbeschienen und orangefarben aus erstem, nassweissem Schnee. Und daneben harrten die dunklen, scharfkantigen Schatten des Herbstes. Wir konnten kaum an uns halten, so irdisch schön war das Bild.
Bis Curaglia waren es nur noch wenige Kilometer. Doch die kurze Strecke genügte, um aus dem äusserlichen Aufruhr einen zutiefst innerlichen zu machen. Curaglia: Der Name war mir seit frühester Kindheit geläufig, doch ich kannte das Dorf nicht. In Curaglia war Mamas älteste Schwester als junge Erwachsene tödlich abgestürzt. Sie hiess Marie, wie ihre Mutter, doch alle nannten sie Mareli – das A betont und das E kurz. Mareli war gesundheitlich angeschlagen und hätte sich erholen sollen. Auf einer Wanderung gab der Boden unter ihr nach. Mein Grossvater, ein in sich ruhender, gutmütiger und gescheiter Mann, reiste nach Curaglia, um seine tote Tochter nach Hause zu holen. Er liess am Absturzort eine kupferne Gedenktafel anbringen, die von Schmugglern wenig später des kostbaren Metalls wegen gestohlen wurde.
Als Mareli starb, war meine Mama erst zwölf Jahre alt. Seither waren also fast achtzig Jahre vergangen. Doch Mareli war immer noch präsent. Auch ich wusste genau, wie sie aussah, denn im Haus meiner Grosseltern, genauer: in der Stube, zwischen den beiden Fenstern, die zur Strasse hinausgingen, hatte ein grosses Porträt von ihr gehangen: Über ihre leicht abgewandte rechte Schulter hatte sie in die Kamera des Fotografen geschaut. Mareli hatte dunkle Haare, dunkle Augen, ebenmässige Gesichtszüge, und um ihren Mund ein zartes, sanftes Lächeln. Oberhalb von Marelis Bild hatte ein Kreuz gehangen.
Mareli war mir auch vertraut, weil Mamas jüngere Schwester Helen ihr sehr ähnlich sah. Tante Helen war für mich Tante Mareli, und Tante Mareli war Tante Helen. Ich habe es verpasst, Tante Helen zu ihren Lebzeiten danach zu fragen, wie sie mit dieser augenfälligen Ähnlichkeit umging.
Für meine Grossmutter indes war die Ähnlichkeit ihrer ältesten und ihrer jüngsten Tochter kein Trost. Meine Grossmutter war eine hagere, verzagte, leidende Frau. Ich kann mich nicht erinnern, sie je lächeln gesehen zu haben. Und zu lachen hatte sie, wenn sie das denn je überhaupt gekonnt hatte, mit dem Unfalltod ihrer ältesten Tochter komplett verlernt. Ihre Mutter, sagte meine Mama, habe nach Marelis Tod nur noch Schwarz getragen. Ihre grauweissen Haare hatte sie stets am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden.
Der Herbst wirft Gold. Auf den Lac de Montsalvens, auf die Lärchen, ins Herz. Das Gold zu sehen und für die Erinnerung einzufangen, schützt nicht vor dem Tod. Aber es wärmt in der Wehmut über alles Vergehen das Herz.
Kopf oder Zahl.
Der Anruf kam aus heiterem Himmel, aber genau zum richtigen Zeitpunkt: „Die Swissair sucht für den Pressedienst eine Person wie dich.“ Ich stellte ein Bewerbungsdossier zusammen, wurde eingeladen – und musste nach einer Stunde nur noch Ja sagen. Traumstelle, präsentiert auf dem Silbertablett. Rational sprach alles dafür, emotional alles dagegen: Zurück nach Zürich? Weg vom Journalismus? Schwerer Entscheid. Ich hätte eine Münze werfen können. Ein Freund gab mir den letzten Schubs. Im Mai 1989, nach lediglich 14 Monaten in St. Gallen, fand ich mich mit Sack und Pack in Zürich wieder.
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Höhenflug.
Ich fiel, ahnungslos, in eine komplett neue Welt, und mir schlug eine Welle des Mitleids entgegen: Schon 32 und von Luftverkehr noch keine Ahnung! Dafür beherrschte ich die Klaviatur der Kommunikation und gab, unerschrocken, bald schon Radio-Interviews. Wenige Monate nur, und ich war in den Höhen der Swissair zuhause. Auserwählt zum Mittun, zusammen mit 20‘000 Kolleginnen und Kollegen weltweit. Mein ganzes Leben, auch das private, spielte sich fortan in der Swissair ab. Andere sahen es als Verrat am Journalismus. Und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, je wieder woanders zu arbeiten.
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Heisse Jahre.
Es waren wirtschaftlich und politisch heisse Jahre. Ich erlebte sie alle durch die Swissair-Brille: Der Luftverkehr in Europa wurde liberalisiert, und die Swissair begann als Erste mit anderen Fluggesellschaften zu kooperieren. Die Mauer fiel, die Sowjetunion kollabierte. Ab 1991 flog die Swissair nach St. Petersburg. Ich war verantwortlich für den Eröffnungsflug. Wir brachten Alphornbläser und Käse mit nach Russland – und ich kehrte, staunend, ins Grand Hotel Europe zurück. Im Januar 1987 hatte ich dort gespeist – damals war es düster und unbeheizt. Und St. Petersburg hiess noch Leningrad.
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Heisse Tränen.
Bei allem Glanz und Thrill: Etwas fehlte mir. Ich war zu häufig am Organisieren und zu selten am Schreiben. Das liess eine Lücke entstehen – zuerst im Kopf, dann auch im Herzen. Doch die Idee, die Swissair zu verlassen, schmerzte genauso. Was tun? Ich konnte meinem Vorgesetzten kaum in die Augen blicken, als ich ihm nach fast fünf Jahren ankündigte wegzugehen. Ich verschickte 500 Abschiedsbriefe weltweit und vergoss, nicht nur heimlich, heisse Tränen. Zugleich wuchs die Neugier auf die Kommunikation eines Medienkonzerns. Kaum dort, sehnte ich mich zurück.
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Die Drohung.
„Mach das nie wieder!“ Sie raunte mir den Satz beim Hinausgehen zu. Sie war seit wenigen Wochen meine Vorgesetzte – und ich neu bei Tamedia. Beim Probelauf zur Bilanzmedienkonferenz hatte ich den CEO darauf hingewiesen, dass er einen kritischen Satz so nicht sagen könne, die Medien würden sich sofort darauf stürzen. Er bedankte sich im Nachhinein schriftlich, mein Einwand habe ihm imponiert. Alles kein gutes Omen für die weitere Zusammenarbeit mit meiner Chefin. Ein Jahr später versuchte sie es mit Mobbing, scheiterte und wurde freigestellt. Ab 1996 war ich Kommunikationschefin.
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Das Flehen.
„Mach das bitte nie mehr!“ Ich hörte den Satz bei Tamedia nochmals. Doch beim zweiten Mal lag ein Flehen in der Stimme. Sie gehörte Mehmed Halilovi%u0107, dem Chefredaktor der bosnischen Zeitung Oslobodenje. Deren Gebäude war im Bosnienkrieg zerstört und Sarajevo von den Serben belagert worden. Tamedia unterstützte Mehmed Halilovic. Als er 1996 zu Besuch war, überquerte ich mit ihm wild die Strasse, wir mussten uns sputen. Das muss ihn an die Heckenschützen erinnert haben: Die Menschen rannten in Sarajevo, wenn sie ungeschützt waren. Ich habe es nie mehr gemacht, Mehmed!
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Der nahe Krieg.
Kein anderer Krieg war der Schweiz seit den Weltkriegen näher gekommen als der Jugoslawienkrieg. Der Bosnienkrieg war Teil davon. Man konnte mit dem Zug hinfahren. Wie der Schweizer Christian Würtenberg, der vom Journalisten zum Krieger wurde und tot zurückkehrte. Ich lernte diesen Krieg nach dem Dayton-Friedensabkommen von 1995 kennen. Als Mitglied einer Schweizer NGO, die unabhängige Medien unterstützte, kam ich in ein versehrtes Sarajevo, in ein misstrauisch düsteres Banja Luka, sah zerbombte Häuser, traf traumatisch ernüchterte Menschen – und fand keine Worte mehr.
Der Knoten löst sich.
Es musste, bei all meiner beruflichen Belastung, fast so kommen: In meiner linken Brust war ein Knoten gewachsen. Am 4. Mai 1998 wurde ich operiert, und tags darauf erfuhr ich, dass er nicht bösartig war. Erholung tat dennoch not, und nach drei Wochen wusste ich es: Ich musste weg – und hin. Weg von Zürich und von der Ausbeutung, die ich nicht stoppen konnte. Hin zu den Bergen und zu meinem Ursprung, dem journalistischen Schreiben. Die Wünsche schienen unvereinbar. Doch dann rückte Hilti mit seinen Publikationen in meinen Fokus. Sechzig Personen bewarben sich, ich machte das Rennen.
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Was mache ich hier?
Karfreitag 1999. Ich sass auf dem Sofa. Ohne Rat. Aber nicht ohne Hoffnung. Wenige Tage zuvor war ich von Zürich nach Mels gezogen. Alles neu und anders, alles unbekannt. Ich hätte genauso gut nach New York ziehen können. „What am I doing here?“, fragte einst der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin. Ich fragte mich das auch. Die Berge. Immerhin. Wie ich sie mir erträumt hatte. Bald schon fand ich die Antwort: Am Fuss des schützenden Gonzen schlief ich fest. Die Maikäfer brummten – ich hatte zuvor noch nie welche gesehen. Der Sommer duftete nach geschnittenem Gras, und der Winter wurde rau.
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Es gibt nichts Spannenderes!
Beige Seidenbluse, beige Jeans und ein schwarzer Blazer, locker über die Schultern geworfen: Ich ging federnden Schrittes vom Hotel zur U-Bahn-Station Sakuragicho in Yokohama. Himmel, war ich glücklich und stolz, zumindest für eine Woche in Japan arbeiten zu dürfen. Die Fahrt bis Nakamachidai dauerte etwas mehr als zwanzig Minuten. Dann noch ein paar Minuten zu Fuss zum Büro von Hilti Japan. Vier Jahre nach dem Erdbeben in Kobe recherchierte und schrieb ich 1999 wahre Geschichten zu erdbebensicherem Bauen. Ich konnte mir nichts Spannenderes und nichts Schöneres vorstellen.
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Jahrtausendwechsel.
Unfassbar, fand ich als Kind, dass ich zu Beginn des neuen Jahrtausends bereits 43-jährig sein würde. Wie würde ich dann aussehen, was tun? Nun, der Jahrtausendwechsel kam, die Nervosität stieg, weil niemand genau wusste, wie Computer und Strom von 1999 auf 2000 schalten würden. Meine Haare, noch mehr braun als grau, waren ultrakurz, meine Lippen knallrot. Ich trug ein dunkelgrünes Kleid. Damals in Berlin. Im Theater des Westens. Mit Freunden schaute ich mir das Musical „Chicago“ an und feierte lang. Das Feuerwerk in den Strassen tönte wie Krieg. Und die Computer liefen weiter.
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Auf dem Allerheiligensee.
Mit dem Schiff die Anden durchqueren: Das geht. Ich habe es im Dezember des Jahrs 2000 gemacht, habe den Lago Nahuel Huapi, den Lago Frias und dann, nicht mehr in Argentinien, schon in Chile, den Lago Todos los Santos befahren. In der Ferne, über dem Wasser des Allerheiligensees, in das die Nachmittagssonne blinzelte, tauchte der Vulkan Osorno auf, und aus den Bordlautsprechern ergoss sich Enyas „Orinoco Flow“. Wieder einer dieser Momente, die in der Erinnerung ihre eigene Art von persönlicher Ewigkeit entwickeln: als in sich ruhendes und doch vor Glück aufwallendes Sein.
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Kein Trost. Nirgends.
Weihnachten 2000 gingen vorbei, Regen und Nebel blieben. Wir warteten. Dann endlich lief in Puerto Montt die Puerto Eden ein: Der rostige Kahn nahm Fracht, Rinder und Passagiere auf. Nach drei graukalten Tagen, zwischen Inseln und auf stürmischer offener See, erreichten wir Puerto Natales, Hauptstadt der Provinz Última Esperanza in Chiles Süden. Doch Hoffnung, ein letztes Mal Hoffnung, gab es nicht. Ich rief zuhause an, Papa sei wieder im Spital. Ich ahnte, er würde sich nicht mehr erholen. Im Regen ging ich durch Puerto Natales, zu einer Kirche aus Wellblech. Kein Trost. Nirgends.
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Die Zärtlichkeit der letzten Tage.
Wie kann ein Mensch in wenigen Wochen aufholen, was er in einem ganzen Leben versäumt hat? Mein Papa hat das vollbracht: Er, der nie hatte zärtlich sein können, strich mir über die Wange. Er zerzauste mir, als er kaum mehr sprechen konnte, zum Gruss die Haare. Er, der mich nie für einen Text gelobt hatte, bat mich, seine Todesanzeige zu schreiben. Ich schrieb seinen Lebenslauf. Er, der niemandem vertraut hatte, hegte keinen Zweifel mehr, dass ich stets mein Bestes geben würde. Eines Nachts rief er nach Vater, Mutter und Bruder Karl. Am Folgetag, es war der 13. März 2001, starb er.
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Am Boden.
Ich stand hinter der Glasfront und weinte lautlos. In der Spitze des Fingerdocks am Flughafen Zürich wartete ich an jenem Morgen im Oktober 2001 auf den Abflug mit TAP Air Portugal nach Lissabon. Die Swissair würde mich nicht mehr hinbringen. Sie war am Boden. Zahlungsunfähig. Vor mir aufgereiht die Flugzeuge mit dem Schweizer Kreuz an der Heckflosse. Hätte mir ein Jahr zuvor jemand gesagt, die Swissair würde demnächst untergehen, ich hätte nur gelacht. Laut, ungläubig. 2001 war, auch mit Papas Tod, dem Terroranschlag in New York und dem Attentat in Zug, ein schwarzes Jahr.
***
Winkende weisse Hände.
Spät im Jahr 2001 flog ich erneut nach Japan. Die endlose Busfahrt vom Flughafen Narita nach Yokohama kannte ich bereits, die U-Bahn ins Büro auch. Das Glücksgefühl kam wieder. Diesmal ging es um den %u014Csanbashi Pier in Yokohama. Der Schiffsterminal – Origami in Stahl – hätte ohne Hilti kaum so gebaut werden können. Die Strassen vor dem Hotel waren frühmorgens regennass, leer und trostlos, und ich bestieg als Einzige den Bus zurück. Ein Mann mit weissen Handschuhen lud meinen Koffer ein. Dann, durch das triste Graubraun, winkten mir seine weissen Hände zum Abschied. Mir allein.
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Ewig flüchtige Glücksspur.
Einmal im Leben wollte ich auf einen Balkon treten und vor mir nichts als das Meer sehen. Aus dem Wunsch machte ich mir ein Geschenk zum Fünfzigsten. Am Flughafen Catania wartete Giovanni auf mich: klein, hager, proper. In seinem alten weissen Mercedes brachte er mich nach Taormina, zum Hotel Monte Tauro. Es klebt wie ein Adlerhorst am Fels über dem Meer. Tief unten am Ufer verläuft die Bahnlinie. Ein Zug mit offenen Fenstern und singenden Kindern fuhr vorbei. Klangfetzen flatterten sekundenkurz durch jener Tage Luft, die so blau war wie das Meer. Eine ewig flüchtige Glücksspur.
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Love it, change it, leave it.
Drei Möglichkeiten: Love it, change it, leave it. In Dubai stand ich auf der Baustelle für das weltweit höchste Gebäude, bei Johannesburg kroch ich durch die weltweit tiefste Goldmine. Burj Khalifa und Tau Tona – ich liebte diese Recherchen. Jedes Jahr war ich mehrmals für Hilti unterwegs. In der Schweiz, in Europa, in Übersee. Und wenn ich zurückkam, war es immer die gleiche Plackerei: zu viel Arbeit und zu wenig talentierte Vorgesetzte. Die konstante personelle Misere wurde zu meiner persönlichen. Ich litt an Leib und Seele. Am 22. August 2008 zog ich die Bürotür ein letztes Mal hinter mir zu.
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Die Arbeit kam zu mir.
Alles seit Monaten keine Frage mehr: Ich würde mich, mit 51 Jahren, selbstständig machen und nach St. Gallen ziehen. Mitten in der Finanzkrise 2008 kaufte ich eine 150 Quadratmeter grosse Jugendstil-Wohnung und liess sie nach meinen Wünschen renovieren. Die Kunden stellten sich von selbst ein – es waren Kollegen aus Hilti-Zeiten, die jetzt CEOs und Marketingleiter anderer Unternehmen waren. Spannende Arbeit fiel mir zu. Ich fühlte mich neu inspiriert und in meinem Mut bestätigt. Nur gab es keine Kantine mehr, kein Bad in der Menge bekannter Gesichter. Ich arbeitete allein und ass allein.
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Einsame Höhen.
Am frühen Morgen des 1. August 2014 – die Schweiz schien vorzuschlafen – kam ich in St. Gallen an. Ich war müde, traurig – und zutiefst beglückt. Das Flugzeug aus Delhi war bei Tagesanbruch gelandet, ich kehrte von der Reise meines Lebens zurück. In Ladakh in Indiens Norden, wo sich der Himalaya karg und hoch türmt, hatte ich die gelassene Heiterkeit buddhistischer Klöster und auf 4520 Metern die Magie des Moriri-Sees geschaut, auf dem Khardong-Pass mit 5602 Metern meinen geografischen Höhepunkt erreicht und war nachts in zweisam einsame Höhen gestiegen. Und alles war da zu Ende.
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Welch gekonnter Griff!
Wer eine ganze Menge und mehr auf sich hält, wohnt in Zürich und New York, pendelt zwischen der Côte d‘Azur und London oder sucht sich sonst zwei imponierende Orte aus. Meine beiden hören sich bescheiden an: St. Gallen und Mels. 2014 verliess ich meine Traumwohnung und meine dortigen alptraumartigen Nachbarn. Ich bezog eine Kleinwohnung auf der Schattenseite der Stadt – und richtete mir wieder die Melser Wohnung ein, nachdem die Mieter ausgezogen waren. St. Gallen zum Arbeiten, Mels zum Ausspannen: welch gekonnter Griff! Fünfzig Minuten Fahrt – und die Welt ist eine andere.
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Dunkler Schrei.
Es war Dezember. Dezember 2015. Und es war düster. Innerlich und äusserlich. Der Schmerz in mir war so tief, dass ich zeitweise zitterte. Aus den Eingeweiden heraus brach er sich als dunkler Schrei Bahn. Einfach davongemacht hat er sich, dieser Mann, der mich wollte, aber ich ihn erst nicht und den ich dann über alles liebte. Er war mein Fels in Mels, der zu Sand zerbröselte und in ein feiges Nichts zerrann. Meine Landschaft war öd, eine scheinbar endlose, platte Wüste, die einer Pflanze namens Vertrauen nicht die geringste Chance mehr liess. Nur das Heimweh wuchs und wucherte. Jahrelang.
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Mein persönlicher Brexit.
Ich sass dem Herrn von der Bank, der um einiges jünger war als ich, gefühlt keine zwei Minuten gegenüber, als er, Zahlen, Kurven, Diagramme präsentierend, einen kolossalen Satz aussprach: „An Ihrer Stelle würde ich Ende Monat aufhören zu arbeiten.“ Das war der Satz, der mich aus der Ratlosigkeit befreite, wie ich dereinst mein berufliches Leben abschliessen könnte. Tags darauf entschied das Vereinigte Königreich, aus der EU auszutreten. Es dauerte ab jenem 23. Juni 2016 noch etliche Jahre, bis ich meine zahlreichen und langjährigen Mandate zurückgegeben oder weitergereicht hatte.
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Innere Notwendigkeit.
Es war ein langer Weg, teils mit wehmütigen Passagen, teils von Erleichterung gesäumt. Das Telefon klingelte immer seltener – niemand mehr brauchte oder wollte etwas Berufliches von mir. Das Schreiben aber und das unbändige Bedürfnis zu schreiben, das ist geblieben. Es ist ein Schreiben aus innerer Notwendigkeit. Es hilft zu ordnen, es beruhigt und beschwichtigt. Und es hilft, loszulassen und gedanklich abzuschliessen, was mich sonst immer weiter behelligen würde. Als Kind sagte ich, Lesen und Schreiben würden mir zum Leben reichen. Ich hätte nie gedacht, dass diese Idee so wahr würde.
Dröhnen im Ohr.
Am Sonntag, 23. Februar 2020, gegen Mitternacht war ich physisch und psychisch am tiefsten Punkt meines einstweiligen Lebens angelangt. Meine Eigenständigkeit schien plötzlich beendet. Alles hatte Tage zuvor mit einem Dröhnen im Ohr begonnen. Ich bekam Pillen. In der Notfallaufnahme des Spitals Grabs wurde dann die unheilbare Menière-Krankheit diagnostiziert, nachdem ich, allein, einen sechsstündigen Schwindelanfall durchgemacht hatte. Tags darauf brachte mir eine Pflegerin Prospekte von Alarmsystemen fürs Handgelenk. Das kann nicht sein, sagte ich mir. Und begann zu kämpfen.
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Türen aufstossen.
Ich will in die Klinik Gais, eröffnete ich dem Assistenzarzt am Dienstagmorgen. „Dazu brauchen Sie ein psychologisches Gutachten“, erwiderte er. Beschaffe ich Ihnen, antwortete ich. Die telefonische Krisenintervention, zu der ich mir über meinen langjährigen Kunden Carelink verhalf, mündete in einen schriftlichen Rapport, und dieser öffnete mir in Gais die Kliniktüren. Fünf Wochen verbrachte ich dort – ohne Besuch: Wenige Tage nach meinem Eintritt ging die Schweiz in den Corona-Lockdown. Ich lernte, mit der Ungewissheit weiterer Schwindelattacken umzugehen und endlich zur Ruhe zu kommen.
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Über allem eine nie gekannte Stille.
Keine Kondensstreifen mehr am Himmel, keine Konzerte, keine Küsse. Über allem eine nie gekannte Stille, die Städte weltweit leer. Das Corona-Virus hielt das Getue der Welt an – und liess mich in mir selbst Heimat finden. Monat um Monat verging, ohne dass die Schwindelattacken zurückkehrten. Es wurde Frühling, Sommer, Herbst in jenem seltsamen Jahr 2020. War es am Ende gar nicht die Menière-Krankheit? Ein Sturz im Dezember 2019 könnte mein Innenohr beschädigt haben, das Dröhnen wäre dann eine Spätfolge gewesen, der Schwindel von Medikamenten verursacht. Ich glaube es gern.
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Kein Kreuzworträtsel. Oder doch?
Waagrecht 9 Buchstaben. Senkrecht 5 Buchstaben. Kein Kreuzworträtsel. Oder doch? Die Arbeit war mein Leben. Mehr als vierzig Jahre lang war es aufregend, anstrengend, beglückend, begeisternd, ermüdend, erschöpfend. Ich raste waagrecht durch die Zeit, und sie raste mit. Immer vorwärts, immer wieder Neues. 2020 wechselte ich in die Senkrechte des Lebens und entdeckte es neu: geistig erfüllend, beschaulich, emotional bereichernd. Seither reise ich in die Tiefe. Das Wort „Leben“ hat 5 Buchstaben. War das waagrechte kein Leben, also 9 Buchstaben. Doch, war es. Eines in Liebe und Not.
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Tausende Male verloren gegangen.
Wie viele Male bin ich mir in meinem Berufsleben abhandengekommen? Es müssen hunderte, vielleicht gar tausende Male gewesen sein. Ich stellte meine ureigenen Bedürfnisse permanent hintan – oder ich stellte sie sogar ganz ab. Ich liess mich ausbeuten. Meine Arbeitstage in der Kommunikationsbranche dauerten meist zehn und mehr Stunden. Und dann schleppte ich mich todmüde durch die Nacht nach Hause. 1990 – der Irak hatte gerade Kuwait erobert – sass ich nachts noch kurz auf der Bettkante und sagte mir, das sei doch kein Leben. Ich meinte nicht den Krieg – und machte weiter.
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Los einer Namenlosen.
Ich weiss nicht, wie vielen Menschen – mit einer Ausnahme alles Männer – ich zu Applaus und Anerkennung verholfen habe. Ich habe nicht gezählt, wie viele Reden, Ansprachen und Präsentationen, auch Artikel, Buchbeiträge und Kolumnen ich in meinem Leben für andere geschrieben habe. Mein Name stand da nirgends. Das betrübt Geist und Seele, macht dunkler, was eh zu Düsternis neigt. Irgendwann habe ich angefangen, mir eine öffentliche Existenz abzusprechen. Und jetzt, da ich nicht mehr berufstätig bin, muss ich mir eine neue aufbauen. Zeichnen und Malen können vielleicht helfen.
Gegen die vernichtende Vergänglichkeit.
Gerüche sind Heimat. Dort, wo ich aufwuchs, roch es stets nach Holz, manchmal auch nach Lack und Leim. Den Geruch verband ich mit meinem Vater. Er betrieb im Erdgeschoss unseres Hauses eine Drechslerei. Nach seinem Tod erlebte ich mit Schrecken, wie von seiner hohen Kreativität wenig bis nichts blieb. Dieser vernichtenden Vergänglichkeit wollte ich mich widersetzen. Mit 55 Jahren begann ich, mich für das Kurszentrum Ballenberg zu engagieren. Ich initiierte dessen bauliche Erweiterung und finanzierte sie auch grösstenteils. Den Geruch der väterlichen Werkstatt, den fand ich dort wieder.
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Meine grosse Liebe.
Das Glück. Das Gefühl des Glücks. Es kam ab und zu. Und es ging auch wieder. Mehrmals. Das Glück der Zweisamkeit zum Beispiel. 1983 spazierte ich mit einer Basler Freundin den Spalenberg hinunter. Ein Mann kam uns entgegen. Er nahm mir den Atem. Die beiden kannten sich, wechselten ein paar Worte. „An der Fasnacht wirst du ihn wiedersehen“, sagte sie. Der Mann und ich, wir sahen uns, wir fanden uns, wir wurden ein Paar. Lustvoll, kreativ, bunt. Er war meine Liebe – bis er, wie er später zugab, zum Männerschwein wurde und mich für eine andere stehen liess. Ich überlebte knapp.
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Verbale Bluthunde.
Ein Satz kann ein Leben lang nachhallen. Du sprichst ihn aus, einfach so, ohne nachzudenken. Und für dein Gegenüber ist nachher alles anders, ohne dass du dir dessen gewahr wirst. In meinem Kopf habe ich etliche solcher Sätze, die ich entgegengenommen habe. Einige waren ehrlich aufbauend, viele andere beissend, herablassend, vernichtend. Ich habe nichts unternommen, um die Bluthunde unter den Sätzen zu verjagen. Heute übe ich mich darin, mir neue vom Hals zu halten. Und vor allem übe ich mich darin, bewusst zu formulieren und behutsam zu sagen, was aus meiner Sicht wahr ist.
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Wolf spielt Fussball.
Ein Satz kann ein Leben lang bleiben. Marco, der ältere Sohn meiner Schwester und mein Patenkind, sprach einen aus, als er vierjährig war: Chunnt de Wolf no chli go tschutte? Ich war mit Rolf, meiner grossen Liebe, zu Besuch, Marco wagte ihn nicht direkt zu fragen. Ein zartes Kind war er, das sehe ich auf seinem Bild von früher, das ich aufgehängt habe. Jetzt ist Marco weit mehr als zehnmal so alt, selber Vater und grau, nicht nur an den Schläfen. Er kann immer noch scheu fragen – und weiss genau, was er damit will. Dafür, unter anderem, liebe ich ihn, aber das habe ich ihm bis jetzt nie gesagt.
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Keine Reue.
„Warum hast du keinen Mann?“, fragte mich mein Patenkind Franziska, als es etwa vier war. Ganz einfach: Diejenigen, die mich wollten, wollte ich nicht. Und diejenigen, die ich wollte, wollten mich nicht. Immerhin zeigten mir ihre Mutter, meine Freundin Marie-Theres, und meine Schwester Helen, was es damals hiess, Kinder zu bekommen: Die Frauen waren angebunden, über Jahre ohne Aussicht, sich beruflich zu verwirklichen. Und das wollte ich nun definitiv nicht. Kitas gab es noch keine, und die Grosseltern waren sonst beschäftigt. Ich habe nie bereut, keine eigenen Kinder zu haben.
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Sonne der Sehnsucht.
Ein kleines Bildchen nur in einer Zeitschrift. Kaum grösser als eine Briefmarke. Und in mir geht die Sonne der Sehnsucht auf. Die Sonne über der karg grünen Weite des Nordens. Am tief liegenden Himmel bauschig weisse Wolken. Das Meer ganz nah. Ein schmaler Weg führt zum Leuchtturm. Patricia wird kommen. Patricia, das Schiff, auf dem ich 2019 eine Woche mitgefahren bin. Die Crew wird den Leuchtturm warten. Und wenn Patricia dereinst nicht mehr ist, wird ein neues Schiff die Bojen und Leuchttürme in England und Wales ansteuern. Eine Brise Ewigkeit im persönlich flüchtigen Fernweh.
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Zauber der Melancholie.
Die Sonne, wenn sie untergeht, rührt mich an. Nirgends vollführt sie ein derartiges Lichtspiel wie in meiner Wohnung an der Ruhbergstrasse in St. Gallen. Es ist die zehnte Wohnung, die ich in meinem Leben bewohne. Sie liegt auf der Schattenseite der Stadt. Im Winter reicht während einiger Wochen kein einziger Sonnenstrahl dorthin. Dann aber beginnen die Strahlen am Abend durch die Wohnung zu tanzen, fulminant, betörend. Ein melancholischer Zauber ist das. Diese lichten Strahlen, die es, wie das Leben jedes Wesens, immer nur einmal gibt, zelebrieren sich selbst, bevor sie lautlos verklingen.
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Die heutige Jugend.
Es geschah an Ostern 2021, als eine Freundin erstmals mit dem Ausdruck daherkam: „Die heutige Jugend“, sagte sie. Ich erschrak. Die heutige Jugend wisse nicht mehr, was Anstand und Rücksicht seien. Erst wenn sie in die Schranken gewiesen werde, besinne sie sich darauf. Ach was! Bis jetzt war ich davon ausgegangen, wer diesen Ausdruck gebrauche, sei alt. War nun meine Freundin alt? War ich es, immerhin ein paar Jahre jünger als sie? Jedenfalls waren wir beide aus Sicht der Jugend alt. Ich empfand mich, immerhin, noch fast so anständig wie einst im Kindergarten – und erwiderte nichts.
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Von Timbuktu nach Ushuaia.
Was haben Timbuktu und Ushuaia gemeinsam? Ganz einfach: Ich war dort. Der Klang dieser Orte zog mich an. In der Wüstenstadt Timbuktu sah ich 1990 noch keinen Quadratmeter Teer. Das Ocker der Lehmhäuser und der sandigen Strassen kommt gern zu mir zurück, wenn der Wind Saharasand in die Schweiz trägt. Zehn Jahre nach Timbuktu reiste ich an das südlichste Ende der Welt. Von Ushuaia zum Südpol sind es aber noch fast 4000 Kilometer. Das hat mich genauso überrascht wie die garstige Hässlichkeit der Stadt. Sansibar? Kein letzter Grund. Der süsse Sound der Sehnsucht kann täuschen.
Ich erinnere mich gut an Raija: eine starke, gemütvolle Frau. Zusammen mit ihrem Mann Urpo bewirtschaftete sie einen einsamen Hof in der Nähe des nördlichen Polarkreises. Haus und Stall standen in der Weite der finnischen Landschaft, in der Nähe ein kleiner See. Gar viele Menschen kamen da nicht vorbei, schon gar nicht zufällig. Als ich Raija erstmals traf, schlossen wir uns wortlos ins Herz. Sie hatte Freunde im nächsten Dorf, die auch die meinen waren und die ich in jenen Tagen besuchte.
Es regnete, als ich etwa ein Jahr später wieder bei Raija vorbeischaute. Sie stand mit verschränkten Armen im Türrahmen, als ich mit dem Auto vorfuhr. Und wenig später sassen wir am Küchentisch und tranken Tee. Wir hätten uns viel sagen wollen, doch der grösste gemeinsame Nenner waren ein paar wenige Brocken Englisch. Aber wir verstanden uns auch so.
Nach einer Weile stand Raija unvermittelt vom Tisch auf und verschwand – um wenig später wiederzukommen mit einer grossen, schon etwas abgegriffenen Weltkarte. Sie breitete die Karte sorgfältig auf dem Küchentisch aus – die Welt als Tischtuch. Und dann begann unser Spiel: Augen schliessen, den Zeigefinger wild in der Luft kreisen und ihn dann irgendwo auf der Karte niedersausen lassen. Unsere Fingerkuppen, einmal die ihre, einmal die meine, landeten an den unmöglichsten Orten: häufig auf einer blauen Meeresfläche, manchmal auch im Eis der Pole, das zumindest auf der Karte noch sehr reichlich vorhanden war. Irgendwann schaffte es Raija nach New York: So weit weg war sie ihrer Lebtag noch nie gewesen. Sie ging durch die Strassenschluchten, stets an den Fassaden der Wolkenkratzer hochblickend, sie blickte von der Plattform des Chrysler Building über Manhattan, und sie speiste in einem eleganten Restaurant. Raijas Augen blickten weit, und der Traum rötete ihre prallen, runden Wangen. Draussen liess der Regen nach. Urpo zog sich unter der Tür die Gummistiefel aus, schaute kurz und wortlos auf die Welt als Tischtuch, trank im Stehen ein Glas Tee und verschwand.
Diese Sehnsucht nach fernen Orten. Manchmal bedarf es nicht einmal einer Landkarte. Allein schon der Klang kann die Sehnsucht wecken. Samarkand, Sansibar oder Surabaya zum Beispiel. Da öffnen sich ganze Welten im Kopf – farbig, lebhaft und nicht selten laut.
Timbuktu war für mich ein sehr lauter Klang: Einmal im Leben wollte ich hin. Unbedingt. Ich reiste in einer Gruppe. Zwei Tage zuvor erreichten wir das Felsmassiv von Bandiagara. Unser lokaler Reiseleiter, ein Mann aus dem Volk der Dogon, stellte sich an den Rand des Felsmassivs. Wenige Zentimeter neben seinem Fuss fiel es rund 500 Meter praktisch senkrecht ab. Er aber stand ruhig und unerschütterlich da, hob den rechten Arm und zeigte weit hinaus in die Ebene, die sich vom Fuss des Massivs ins scheinbar Unendliche erstreckte. Irgendwo dort, sagte er, in der Ferne, liegt Burkina Faso. Wir standen stumm, fast ehrfürchtig, weil wir uns schlicht nicht an solche Weiten gewöhnt waren.
Wir stiegen dann das Felsmassiv hinunter, auf schmalen, seit Jahrhunderten ausgetretenen Pfaden. Unterwegs, mitten in der Wand, trafen wir auf eine Gruppe Einheimischer. Wir hatten wohl unsere Wasserflaschen dabei. Doch sie boten uns Wasser an, das direkt aus dem Fels sprudelte. Zwar um die Gefahr wissend, nahm ich dankend an und freute mich über die einladende Geste.
Am folgenden Tag fuhren wir weiter nach Gourma Rharous direkt am Niger. Schon auf der Fahrt dorthin ging es mir nicht mehr so gut. Ich litt seit dem frühen Morgen an Durchfall und fühlte mich von Stunde zu Stunde schwächer. Während die anderen einen kurzen Rundgang durch ein Dorf am Weg machten, legte ich mich auf die Rückbank des Geländewagens. Dass sich ständig um das Auto herum die Kinder reckten, um durch die Scheiben einen Blick auf diese liegende weisse Frau zu erhaschen, hätte mich unter anderen Umständen peinlich berührt. Doch in meinem Zustand nahm ich die Dutzenden von Augenpaaren kaum mehr wahr.
Ich hoffte, Timbuktu wäre noch weit weg, um mich bis dahin zu erholen. Doch am folgenden Tag bereits trafen wir in der Wüstenstadt ein. Wir fuhren durch Strassen, die aus nichts als aus Sand bestanden, links und rechts ein- und zweistöckige Häuser, ockerfarben wie die Strassen. Unser Hotel lag am Rand der Stadt, es war umgeben von einer meterhohen Mauer: die wenigen Touristinnen und Touristen alle abgeschirmt von den Einwohnerinnen und Einwohnern der Oasenstadt. Die Kinder schienen stets irgendwo in der Nähe des Einfahrtstors herumzulungern. Und kaum schritt einer dieser seltsam weissen Menschen durch das Tor, war er umringt von Kindern.
Ein Teller Bouillon, wohl eine Rarität im Timbuktu jener Tage, brachte mich zumindest halbwegs wieder auf die Beine. Ich konnte und wollte mir den Ort meines sehnsüchtigen Wohlklangs nicht entgehen lassen. Vor allem dazu war ich letztlich nach Mali gereist. Etwas wacklig begab ich mich auf den Weg zum Tor. Ein Schritt noch, und die Kinder stürmten auf mich zu. „Ça va?“, riefen sie mir in schrillem Chor zu, ohne eine Antwort zu erwarten. Die weisse Haut meiner Hände zu berühren war für sie eine Sensation. An jedem Finger spürte ich ein raues Händchen, das sich daran klammerte. Ich versuchte die quirlige Menschentraube abzuschütteln. Was mich bisher als kleine Geste der freundschaftlichen Kontaktnahme amüsiert hatte, wurde mir nun zur Plage.
„Pourquoi est-ce que tu es venu en Afrique, si tu n’aimes pas les gens?“ Es war eine dunkle Stimme neben mir, die diesen Satz aussprach. Sie kam von einem vielleicht zwölfjährigen Jungen, und er schaute mich dabei ganz ruhig und offen an. „Warum bist du nach Afrika gekommen, wenn du die Menschen nicht liebst?“ – „J’aime les gens, mais je ne vais pas bien. – Ich liebe die Menschen, aber es geht mir nicht gut“, gab ich ihm ebenso ruhig und freundlich zur Antwort.
Und dann war es einfach still. Ich nahm keine schrillen Kinderstimmen und nichts anderes mehr wahr als reine Stille. Endlich, in diese scheinbare Ewigkeit hinein, sagte der Junge, und er liess das R dabei rollen: „Alors, je m’excuse. – Dann entschuldige ich mich.“
Ich schaute ihn in staunender Dankbarkeit an. Und ohne ein weiteres Wort zu wechseln, setzten wir uns beide in Bewegung. Der Junge – vielleicht hiess er Amadou, ich weiss es nicht – ging neben mir her. Er hielt fortan alle Kinder fern, die auf mich zustürmen wollten. Was er zu ihnen sagte, verstand ich nicht. Doch in seiner Stimme lag stets dieser dunkle, weiche und zugleich Autorität schaffende Klang. Mit Amadou an meiner Seite durchstreifte ich Timbuktu. Wir kamen am Haus des Afrikaforschers René Caillié vorbei, der 1828 als Araber verkleidet in die geheimnisvolle Stadt gelangt sein soll. Wir kamen auch an Strassenhändlern vorbei, und Amadou erkundigte sich, ob ich etwas trinken wolle. Ich gab ihm das Geld, und er kehrte mit einem Fläschchen Cola wieder, das er vor meinen Augen öffnete, den Flaschenöffner hatte er sich beim Händler ausgeliehen. Amadou brachte mich schliesslich auch zum Hotel zurück, und ich wusste nicht, wie ich ihm danken sollte.
Im April 2012, mehr als zwanzig Jahre nach meiner Reise, wurde Timbuktu temporär von islamistischen Kämpfern eingenommen. Ein Teil der alten, wertvollen Handschriften, die in der Bibliothek von Timbuktu lagerten, konnte unter grösster Gefahr aus der Stadt gebracht werden. In einem Dokumentarfilm über diese dramatischen Ereignisse sah ich einen Mann Auskunft geben. Es hätte Amadou sein können. Timbuktu wird für mich immer den Klang seiner Stimme haben.
Das Geräusch des Bleistifts.
Das Geräusch, wenn sich das dunkle Grafit des Bleistifts auf dem weissen Papier abschabt, macht den Fluss der Gedanken hörbar. Es ist eines der schönsten. Manchmal wispert es ruhig und zart, manchmal singt es im Stakkato, hektisch und rau. Das Geräusch des Bleistifts bleibt mir treu, über die Berufsjahre hinaus. Es baut Druck ab, indem ich dies und jenes aus dem Kopf entlasse und es doch festhalte. Es besänftigt die Ströme sowohl im Kopf als auch im Körper, damit sie sich wieder lautlos und Rinnsalen gleich ausbreiten können. Das Geräusch des Bleistifts erst macht mein Leben lebbar.
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100 Jahre in einem Satz.
Wer schreibt, kann das: 100 Jahre und mehr mit einem einzigen Satz verstreichen lassen. Oder ein Ereignis, egal wie krass, auf wenigen Zeilen umreissen. Das macht dann den Reiz des Lesens aus: Wer liest, fliegt in Sekunden durch ganze Menschenleben und Epochen, blickt ins Innerste von Katastrophen und Konflikten. Ein Konflikt aber bleibt verborgen: Wer schreibt, kann Qualen durchleiden. Des Anfangs Pein, des Fortschritts Suche, des Könnens Zweifel. Was sich letztlich lustvoll liest, fliesst nicht so leicht aus dem Kopf. Ich suchte diese Qual und fand mich. Mein Leben in diesem einen Satz.
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Weisse Geschichten.
Die Angst vor dem weissen Blatt. Zum Davonlaufen ist sie. Und packend. Sie hat mich oft geplagt, oder ich habe mich geplagt: Ohne passenden Einstieg kommt eine Geschichte nicht ins Rollen. Ohne spannenden Anfang gewinnt sie ihr Publikum nicht. Die Angst vor Weiss hat mich auch auf Ski befallen: Ein Tiefschneehang, unberührt, und jetzt bitte in der Falllinie losfahren, sonst kommst du nicht auf Tempo. Die unberührte Decke dezidiert durchschneiden konnte ich kaum. Sie war mir kostbar – wie danach die harmonisch hingelegte Spur. Alles weisse Geschichten, die ich ins Rollen bringen musste.
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Sprachlicher Goldstaub.
Waren es früher je mehr, so sind sie selten geworden. Aber es gibt sie immer noch: die Sekunden, in denen das Zeitunglesen dem Herzen einen Hüpfer verpasst und die zarte Saite des Glücks zaghaft erzittert. Ja, die Zeitung, dieses atemlose, dem Negativen ergebene Wesen, dieser erbarmungslose Sekundenzeiger der Geschichte, kann das! Ein paar Buchstaben, schnell, aber virtuos hingeworfen, können nachklingen. Genau lesen hilft: Die Natur sei perfekt unvollkommen, stand da – und ich musste vor Schönheit innehalten. Ein anderer, Journalist auch er, nannte das sprachlichen Goldstaub.
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Magischer Schall.
Worte sind nicht Hülsen. Worte sind Magie. Gekonnt gesetzt, klären sie auf, ordnen ein, fassen zusammen, definieren. Sie helfen, eine Logik, einen Weg, eine Meinung und Einigkeit zu finden. Worte halten auch Erfundenes und Erinnertes fest. Zogen Wolken vorüber? Roch die Erde nach Frühling oder nach Herbst? Worte geben Gefühlen, Gedanken, Gelebtem Gestalt. Und sie haben die Gabe, Schmerz und Freude in Sekunden aufflammen und gleich wieder sterben zu lassen. Dennoch kommen sie nie an das wahrhaft Innerste im Geist heran. Ein magischer Schall, unvollkommen schön.