Login für bereits registrierte Autoren. Neuregistrierungen erfolgen auf der Seite "Autobiographie schreiben". (Im Schreibfenster auf "Zur Registrieren" klicken.)
 
Von René Krebs Ein Sterben in Zürich
Es werden nur Texte von über 10 Internet-Seiten publiziert.
Zurzeit sind 519 Biographien in Arbeit und davon 290 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 176
 
René Krebs
Info Biographie
Info Autor
CV Autor
Abo
Mit eigenem Mail-Programm empfehlen
Letzte Aktivität
14.
Blumas turbulentes Wohnen / 26.01.2024 um 20.37 Uhr
15.
Notdürftige Unterkünfte / 26.01.2024 um 20.59 Uhr
16.
Froschaugasse 1943 / 26.01.2024 um 21.11 Uhr
17.
Weite Gasse 1948 / 26.01.2024 um 21.15 Uhr
18.
Kurzaufenthalt vor Israel 1948 / 01.02.2024 um 9.49 Uhr
19.
Fassbaracke im Kibbuz Gvat 1949 / 08.03.2024 um 9.11 Uhr
Zoom -
wysiwyg
Zoom +
nav read

Aktuelle Seite drucken
Aktuelles Kapitel drucken
Alles drucken
nav read
Print

nav read
Verzeichnis

<
rückwärts blättern
vorwärts blättern
>
1.
Alltägliche Begegnung mit meiner Mutter Bluma
2.
Die Zelle Appartement als Wohnung
3.
Der Beginn des Endes
4.
Bluma`s Wesen
5.
Zweite Begegnung mit Bluma
6.
Telefonischer Erstkontakt mit Notfallarzt Dr. A.L.
7.
Am nächsten Tag
8.
Notfallarzt Dr. A.L. leibhaftig
9.
Wieder einen Tag später
10.
Bluma`s Lebensende im Spital
11.
Vor der Beerdinung
12.
Die Beerdigung
13.
Juristisches Nachspiel
14.
Blumas turbulentes Wohnen
15.
Notdürftige Unterkünfte
16.
Froschaugasse 1943
17.
Weite Gasse 1948
18.
Kurzaufenthalt vor Israel 1948
19.
Fassbaracke im Kibbuz Gvat 1949
20.
Haifa 1949
21.
Zürich Schipfe 1953
22.
Rindermarkt 1950
23.
Rosengartenstrasse 1970
24.
Urheberrecht
Meiner dahingegangener Mutter Bluma Krebs-Schapiro, die ich mit diesen Zeilen ein wenig wieder auferleben lasse.
Alltägliche Begegnung mit meiner Mutter Bluma
Seite 1
Seite 1 wird geladen
1.  Alltägliche Begegnung mit meiner Mutter Bluma

«Hallo, darf ich reinkommen?», fragte ich, nachdem ich den Knopf der Sonnerie kurz gedrückt hatte und dessen vibrierendes Schnarren im ellenlangen, dunklen Tunell-Korridor dieses Appartementhauses gehört wurde.
«Hallo, ich bin`s…! Der René…!» machte ich mich nochmals bemerkbar.
Das war unbedingt nötig, denn meine Mutter war eine sehr verängstigte Person.

Hallo, war unsere umgangssprachliche Begrüssung -und Anredefloskel. Gegenseitig, lebenslänglich. Die, die Beziehung charakterisierenden Begriffe und Kosenamen wie etwa `Mama`, `Mami`, `Mom`, `Mutti` etc., sind mir nie über die Lippen geflossen. Sagte ich in irgendeinem Zusammenhang «meine Mutter», stockte es noch auf der Zunge und im Gehirn begann ein turbulentes, widerwilliges Suchen nach meiner wahren Vergangenheit. Dort angekommen vernebelte sich der Begriff und löste sich auf. Nur dort akzeptierte ich den Begriff Mutter, wo dieser als administrative oder verwaltungstechnische Vorgabe erwartet und vorgeschrieben wurde. Dasselbe beim Kommunizieren mit dem Vater. Kein `Papa`, `Papi`, `Vati`, `mein alter Herr`, etc.`, nur ein `Du`. Doch auch mir war es bis erst vor Kurzem nicht vergönnt, weder in familiärer noch in anderen Beziehungen, mich eines lieblichen Kosenamens zu erfreuen.

Vorsichtig öffnete Bluma, so hiess sie zum Vornamen und das war noch eine weitere Umgangsanrede, die Türe mit dem Türbullauge im vierten Stock des Appartementhauses im Seefeldquartier im Zürcher Kreis acht im Jahr 1996.
«Komm rein, ziehe die Schuhe aus, dieses Mal habe ich für dich (auch das `uns` war kein selbstverständlicher Begriff in unserer Beziehung) die `Fleischtätschli` mit Knoblauch, Brotkrümel und Eier gebraten, dazu Spinat und Salzkartoffeln gekocht», sagte sie und fuhr fort: 
«Das nächste Mal gib es dann wieder `Läberli` mit Nudeln und Gemüse», dabei machte sie eine einladende Geste, die einiges offenbarte.

Wau`, dachte ich, was für prächtig hängende Brüste sie bekommen hat, die sie etwas zu freizügig und provozierend durch ihren Morgenrock erblicken liess. Doch sofort verbannte ich diesen etwas schlüpfrigen Gedanken zuhinterst und zuunterst in meinem Gehirn, nämlich im hintersten Rayon direkt über dem Halswirbel Atlas. Dort, wo alle meine fäkalischen Gedanken versammelt sind. Freudig begrüssten diese stinkenden Gedanken auch den «Neuen Bekannten» und sprachen: «Sei willkommen, Du bist unter uns. Weisst du, wir sind die Familie der schmutzigen Gedanken, quasi die intellektuelle Jauchegrube vom Chef und je älter der Knacker wird, desto mehr vermindern wir uns, denn er wird vergesslich. Daher freuen wir uns auf jeden noch so dreckigen Neuling» «Ja, ja,» erwiderte der neue Gedanke, «hier stinkt es ganz ordentlich.»

Doch der intensive Geruch von angeröstetem Knoblauch bremste etwelches, weiteres Reflektieren über die Polsterungen meiner Mutter. Ich hatte ein Loch im Bauch und freute mich wie immer auf die braungebratenen `Tätschli`.
Meine Mutter beäugte mich, um festzustellen in welcher Verfassung ich sei. Auch, wenn sie es nicht so recht zeigen konnte, so spürte ich, dass sie sich auf meinen Besuch, der immerhin etwas Abwechslung in ihren so ziemlich monotonen Alltag brachte, freute. Sie war 82jährig, schrullig, vereinsamt und eingeschüchtert. Ich 55jährig.

 

Die Zelle Appartement als Wohnung
Seite 2
Seite 2 wird geladen
2.  Die Zelle Appartement als Wohnung

Dieses Appartement war eine klitzeklein bessere Zelle. Immerhin verfügte es, entgegen den üblichen Gefängniszellen, über eine Toilette mit Sitzbadewanne und einer winzigen Kochnische, sowie grossen Fenster ohne Gitter, dafür mit Sonnenstoren. Allerdings, wiederum entgegen den Strafvollzugsräumchen, musste man für diese Bleibe einen ordentlichen Batzen hinblättern und hatte nur bei einem vernünftigen und nicht allzu geldgierigen Hausbesitzer eine gewisse Garantie, dass man nicht gekündigt wurde. Den heutigen, relativ strengen Kündigungsschutz kannte man damals nicht. Die Häftlinge hingegen logieren gratis und werden kostenfrei verköstigt und mit frischer Wäsche versorgt. Zudem kannten die Mörder oder sonst welche Verbrecher und Verbrecherinnen mehr oder weniger genau ihren Kündigungstermin und wussten, wann sie sich auf Wohnungssuche machen mussten. Die Dauer ihres Aufenthaltes wurde nämlich schon bei der Urteilsverkündung festgelegt. 
Meine Mutter konnte den unverschämten Mietzins von CHF 920 (ohne Nebenkosten) nicht aufbringen, deswegen, aber auch aus anderen Gründen, wurde sie von der Öffentlichkeit mit Ergänzungsleistungen, man kann auch von Armengeld oder Almosen reden, unterstützt.

Ich betrat das Vorplätzchen, ca. 1,5m2. Rechts, eine kleine Garderobe für höchstens vier Kleider, daneben ein Kleiderschrank mit Oberschränke für Kleider, Wäsche und Diverses. Links befand sich die Türe zum WC mit der erwähnten Sitzbadewanne, einem Lavabo, darüber ein kleiner Spiegelkasten und einer WC-Schüssel. Gerade noch fand ein runder Plastik-Wäschekorb seinen Platz. Zwei Schritte weiter und ich befand mich im ca. 15m2 kleinen Räumchen, darin geschlafen, gekocht, zur Not gebügelt und gegessen wurde.  Die Wände und die Decke in Weiss, der Boden belegt mit blaugrünem Spannteppich. Möbliert war der Raum mit einem Bett, zwei, mit weissem Plastik überzogenen, Sitzquader, einem hölzernen Clubtisch und einer Kommode mit Glastürchen. Die Kochnische beherbergte eine freistehende Einzelkochplatte, darunter ein kleiner Kühlschrank, einen Ausguss mit Wasserhahn und ca. 40cm Arbeitsfläche. Auf der rechten Seite, neben der Kochnische stand noch ein Einbau-Kleiderschrank mit einem Hochschrank, der auch über der Kochnische ragte.
«Setzt dich, es ist parat und erzähl mir, wie es dir so geht. Doch lass deine Frauengeschichte aus dem Spiel, die interessieren mich wahrlich nicht mehr. Jedes Mal eine andere».
Regelmässig, einmal im Monat, besuchte ich meine alte Dame, um zu berichten, aber auch, um Einblick in ihre Lebensumstände zu bekommen.

Der Beginn des Endes
Seite 3
Seite 3 wird geladen
3.  Der Beginn des Endes

Bis dann das unheilbringende Telefon kam:
«Mir geht es schlecht», flüsterte sie in den Hörer.
Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, denn ich ahnte Aussergewöhnliches, Unglückliches und Dramatisches. Es war sehr ungewöhnlich, dass sie sich beklagte.
«Ich komme sofort, sobald die Unterrichtsstunde vorbei ist».

Zu dieser Zeit war ich Musiklehrer an der Musikschule Zürich Oberland und lebte in Uster.

Bluma`s Wesen
Seite 4
Seite 4 wird geladen
4.  Bluma`s Wesen

Doch bevor ich Weiteres über die folgenden, dramatischen Ereignisse berichte, muss ich einiges zum Wesen meiner Mutter offenlegen.
Bluma Schapiro, so hiess sie mit vollem Namen, war in ihrer Jugend eine schlanke, attraktive und gutproportionierte Frau aus jüdischem Haus.
Allerding war sie mehr an den Kommunisten und Marxisten mit dem dazugehörenden Rudel von Künstlern und Künstlerinnen, interessiert, denn der jüdischen Religion. Sie verkehrte mehr in den Beizen und Spunten rund ums Niederdorf, dem damaligen Sündenpfuhl von Zürich, wo sich rauchende und trinkende Existenzialisten, aufmüpfige Studenten und Kommunisten tummelten, denn in den jüdisch-orthodoxen Kreisen, gar in Synagogen.



(1) Bluma in jungen Jahren

Bluma in jungen Jahren

Dass sie eine attraktive Frau war, ist mir zum einen im Gedächtnis geblieben und zum anderen, aus alten Fotos ersichtlich. Sie besass ein weiches und ebenmässiges Gesicht, mit wohlgeformten Lippen, die Oberlippe etwas schmaler, die Unterlippe üppiger, sinnlicher. Die Nase war gerade mit zwei feinen Flügeln. Daneben Backen, die zum Oval des Gesichtes beitrugen und grossen graugrüne Augen, die pure Unschuld und Verhaltenheit ausdrückten. Geschminkt hatte sie sich nie. Sehr selten ein Lächeln und wenn, dann ein Erzwungenes; Geschweige denn, dass aus ihr ein breites, überbordendes, oder befreiendes Lachen brach. Sinn für Humor hatte sie ebenso wenig, wie etwelche künstlerische Begabungen. Die Zähne behielt sie, scheu wie sie war, für sich. Sie sprach leise bis hin zum Flüstern, vernuschelte sich oft und klare Gedankengänge, die von A nach B führten, kannte sie nur in bescheidenem Masse. Damit man nicht sah, dass sie ein Gebiss trug, hielt sie später beim Sprechen ihre Hand vor den Mund (Ein Gehabe, welches heutzutage bei Spitzensportler, insbesondere bei Tennis-Doppel-Spieler:ìnnen, gang und gäbe ist. Nicht etwa, will diese Stars Gebisse tragen, sondern, weil sie sich und ihr Tun sehr wichtig nehmen und Angst haben, ihre Gegner könnten ihre strategischen und taktischen Spielzüge von den Lippen ablesen).
In ihrer Jugend hatte Bluma dunkelbraune, gekräuselte Haare. Einen sanften Afrolook, der das Gesicht zusätzlich verfeinerte. Um ihre Zugehörigkeit zur linken Szene zu dokumentieren, trug sie oft ein Perret. Dieses machte sie jünger, spontaner und zugänglicher. Alles in Allem eigentlich eine begehrenswerte Frau, mit der man sich durchaus hätte sehen lassen können und mit der man auch einige erotische Spässe hätte haben müssen. Apropos Erotik, respektive Sexualität: Das war ein Thema, worin sie sich unwohl fühlte, in der sie keine Handhabung fand. Nichts Praktikables, Handfestes, geschweigen denn Schwelgerisches, Geniesserisches. Und weil sie zur animalischen, lustbetonten Sexualität, ob mit Männern oder mit Frauen, in ihrer Jugend keinen Zugang fand, beschäftigte sie sich, älter geworden, mit diesem Thema eingehender, bis hin zu sogenannten antiken Perversionen. Griechisch-römische Pornografie. Diese entdeckte sie bei den Satyrn mit ihren übergrossen, steifen Schwänzen und den wackelnden, üppigen und breitwilligen Hintern von Frauen der griechisch-römischen Mythologien.  
Gerade, weil sie von Kindheit an ein Mäuschen von einem weiblichen Menschen geworden wurde, konnte sie die Früchte ihres Outfits nicht annehmen, wahrhaben, nutzen und geniessen. Ihre Kindheit und Jugend, nicht ihre einigermassen weltoffene Erziehung, führten dazu, dass sie sich in paranoide Vorstellungen flüchtete. Für sie war das gesamte gesellschaftlich Brimborium eine teuflische, haarsträubende, aufgeplusterte Katze mit scharfen Krallen, lüstern, fressfreudig starrenden Augen und offenem, geiferndem Rachen mit spitzen Reisszähnen. Stets kurz vor dem Zuschlage. Nur Fliehen. Nur entsetzlich Angst. Die Riesenkatze Gesellschaft, lauerte vor einem winzigen Mäuschen und zwang es, sich zu verstecken, davonzurennen, umherzuirren: Ein Versteck da, ein Unterschlupf dort, eine Nische hier.
Deswegen fand Bluma ein Leben lang keine Heimat, keine sozialen Gruppierungen und wärmende Bindungen. Vertrauen hatte sie zu niemanden, nie. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter eine mehr oder weniger feste Beziehung hatte, weder einen Mann noch eine Frau. Weder in Zürich und noch viel weniger im Kibbuz Gvat in Israel. Eine gesellschaftliche Einbettung konnte sie nicht eingehen. Weder wurde sie getragen, noch bemühte sie sich, um mitzutragen. Mit ein Grund, weswegen sie in diesem Loch vereinsamte. In dem Loch, worin noch Entsetzliches geschehen sollte.
Bluma wurde 82 Jahre alt, dann ging sie dahin. 82 Jahre lebte sie, nein, 82 Jahre überlebte sie. Sie hat es verstanden 82 Jahre unauffällig zu sein, sich zu verstecken, möglichst nirgends anzuecken und der grossen Katze zu entfliehen. Erlebt hatte sie sicher vieles, doch daraus Schlüsse zu ziehen, die zeigen, dass auch sie jemand war, dass sie Standpunkte vertrat, dass sie gesellschafts-politisch, oder auch privat, eine dezidierte Meinung hatte, konnte sie nicht. Ein Mäuschen eben.

Zweite Begegnung mit Bluma
Seite 5
Seite 5 wird geladen
5.  Zweite Begegnung mit Bluma

Nachdem ich der Trompetenschülerin ordentlich Aufgaben zum Üben gegeben hatte, sie vorzeitig nach Hause entliess, machte ich mich subito auf, schwang mich in meinen grünen Mitsubishi Galant und fuhr durch Wind und Wetter im Eiltempo zu meiner Mutter. Fast hätte ich Mutters Haus -und Wohnungsschlüssel vergessen. Den Klingelknopf zu drücken war überflüssig. Die Türe war nur angelehnt. Mit drei Schritten stand ich vor ihrem Bett und erschrak. In diesem Zimmerchen hatte es noch nie besonders gut gerochen, doch jetzt stank es nach Kot, Urin und Erbrochenem. Meine Mutter lag, schon leicht im Delirium, kaum ansprechbar im aufgewühlten Bett. Ihr Gesicht war grauweiss. Sie war nur halbseitig zugedeckt. Die weissen, losen Schamhaare wiesen Blutspuren auf. An den Innenseiten der Oberschenkel klebten Kotstriemen.
Sie hatte Tränen in den Augen, die sie nicht trocknen konnte, das Gebiss lag auf dem Boden. Deswegen war ihr schmaler Mund eingefallen. Ihre eine Hand und Arm lagen erlahmt über den Bettrand, ebenso das eine Bein. Die eine Brust war entblösst, die Kopfhaare vertschuddelt, der Mund halb offen, Speichel floss über ihr Kinn. Neben dem Bett stand ein emaillierter Blechnapf, der halbvoll mit Erbrochenem war.
Und sie wiederholte sich:
«Mir geht es schlecht", keuchte sie.
Mit dem Öffnen des Fensters fragte ich sie:
«Was, um Himmelswillen ist den Geschehen. Hast Du Schmerzen?»
«Hilf mir», flüsterte sie.
«Komm, steh auf. Ich helfe Dir zur Sitzbadewanne, dann rufe ich den Notfallarzt. Der überweist Dich bestimmt in einen Spital.»
«Ich kann nicht…»
«Komm schon, ich helfe Dir!»
Sie drehte sich, versuchte sich aufzustützen, konnte nicht und gab mir ihre Hand. Sanft, aber bestimmt, zog ich an ihrer Hand und hielt sie, sobald sie einigermassen stand, unter der Achsel so, dass sie sich auf sehr wackligen Beinen zur Wanne schleppen konnte. Mit warmem Wasser duschte ich ihren ganzen, bereits sehr fülligen Körper und trocknete sie mit einem Frottiertuch ab. Apathisch liess sie dieses Prozedere über sich ergehen. Dann goss ich noch den grässlich stinkenden Inhalt des Blechnapfes in die Toilette und reinigte die Schüssel.
«Du bleibst jetzt für einige Minuten hier sitzen, bis ich Dein Bett frisch gemacht habe, dann rufe ich den Arzt.»
«Die Bettwäsche ist in den Oberkasten, im Korridor», flüsterte sie und weiter:
«Das Nachthemd ist im Kasten im Zimmer».
Nachdem ich die klebrigen und stinkenden Bettlaken, sowie das blutig bekackte Nachthemd sorgfältig, um möglichst keine Spuren zu hinterlassen, in die Sitzbadewanne hingelegt hatte, nachdem ich den Matratzenschutz, ein gummierter Molton, über die bereits leicht verfleckte Matratze hingelegt und das Bett frisch eingebettet hatte, holte ich die Mutter, half ihr beim Anziehen vom ungebrauchten Nachthemd und legte sie ins Bett.
«Hast Du die Nummer vom Notfallarzt?» fragte ich sie. Sie wirkte jetzt etwas lebendiger, das Gesicht bekam Farbe, zudem hatte sie den Verstand wieder gefunden.
«Ja, dort auf der Kommode, der Zettel mit verschieden Nummern. Zuoberst die Nummer vom Dr. A.L. Er hat mich schon einmal besucht.»
Auch ihre Stimme war nun klarer.

Telefonischer Erstkontakt mit Notfallarzt Dr. A.L.
Seite 6
Seite 6 wird geladen
6.  Telefonischer Erstkontakt mit Notfallarzt Dr. A.L.

«Hallo, hier ist Krebs, ich bin der Sohn von Frau Krebs. Sie wissen im Appartementhaus».

Stille...,

unerträgliche...., gefühlte Endlosigkeit..., endlich:
«Ja, und?»
«Bitte kommen sie so rasch als möglich, meiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie muss ins Spital.»
«Ob sie eingewiesen wird, das entscheide immer noch ich. Und ihre Mutter ist eine gute Schauspielerin. Da muss ich aufpassen, ich kenne das, die alle versuchen einem über den Tisch zu ziehen. Zudem habe ich momentan einen Patienten. Ich schaue, was sich machen lässt. Vielleicht in zwei Stunden. Bleiben sie bei ihr und wenn es schlimmer wird, rufen sie mich nochmals an.»
Ich war paff, doch ich hatte nicht die nötige Ruhe, Gelassenheit, Geistesgegenwart und Zeit, um über diese Reaktion zu reflektieren.
Die blut- und kotdurchtränkte, stinkende Wäsche musste gewaschen werden. Sorgfältig legte ich sie in den Wäschekorb mit dem Deckel und ging mit dem heimlichen Wunsch, dass mir niemand von den Mitbewohnern begegnete, zum Lift, hinunter zur Waschküche. Hinein mit der Sauerei in die unbenutzte Waschmaschine, die Klappe zu und das 90Grad-Programm. Den Einfränkler, den Bluma stets parat hatte, in den Schlitz und das Spritzen und Wirbeln der Maschine begann.
Zurück bei meiner Mutter. Sie döste, schnarchte. Die saubere Wäsche und die frische Luft hatten ihr gut getan. Ich schloss das Fenster, stellte es auf Kippmodus und setzte mich hin. Sie erwachte.
«Ich mache dir einen Tee. Übrigens, hast du schon etwas gegessen?»
«Ich kann nichts zu mir nehmen, es wird mir sofort übel…»
«Du musst! Vielleicht einen Brei?»
«Nein. Übrigens, hast du die Blechschüssel zum erbrechen wieder neben dem Bett hingelegt?»
«Okay, dann Tee mit Zwieback!»
«Danke, ich versuch`s"
Bluma trank den Tee und ass eine halbe Zwieback-Tranche.
Nach ungefähr eineinhalb Stunde ging ich hinunter zur Waschküche und schob die saubere, jedoch nasse Wäsche in den Tumbler, Programm: Trocken.
Zurück setzte ich mich neben dem Fenster und schaute sie an.
Zugedeckt bis auf den Kopf lag sie mit geschlossenen Augen vollkommen regungslos da. Wieder kollerten vereinzelten Tränen die Wange herunter. Nichts bewegte sich in ihrem Gesicht, nur die Tränen verrieten, dass sie noch lebte.
«Der Doktor A.L. hat vorhin angerufen. Er könne nicht kommen. Er werde morgen Mittag vorbeischauen. Er habe beim letzten Besuch ein Rezept erstellt. Ob ich die Medikamente genommen habe, hat er gefragt.»
Wieder flüsterte sie, wie von weit weg, wie durch einen Nebel, wie aus dem Jenseits.
«Und?» fragte ich.
«Wie denn, ich konnte ja gar nicht mehr aus dem Haus. Kannst du mir die Medikamente holen?» sagte sie ruhig und
«Bitte, René, sei so lieb und wasche mir das Gebiss und gib es mir dann. Ich möchte normal reden.»
«Okay, tue ich und gehe dann zur Apotheke. Wo ist das Rezept?»
«Auch auf dem Korpus, neben dem Zettel mit den Nummern.»

Es war so gegen fünf Uhr. Die Läden waren noch offen. Zurück mit den Medikamenten, die ich nur nach heftigem Insistieren bekam, braute ich nochmals einen Krug Tee.
«Hier sind die Tabletten, Bluma, um zu trinken musst du dich aufstützen. Warte, ich helfe dir.»
Sie nahm die Tabletten und trank einige Schlucke Tee.
«Geh nach Hause, René, ich glaube, dass ich nun schlafen kann und lieben Dank.»

Am nächsten Tag
Seite 7
Seite 7 wird geladen
7.  Am nächsten Tag

Die Musikschüler, denen ich nachmittags Unterricht hätte geben sollen, habe ich vorsorglich umdisponiert. Und tatsächlich klingelte das Telefon so gegen zwei Uhr.
«Entschuldige, René, mir geht es wieder schlecht.»
Wieder dieses zerbröckelte Hauchen.
«Ich bin schon unterwegs!»
Und als ich ankam und eingetreten war, wieder dasselbe Bild wie am Vortag.
«Herr Doktor», sagte ich dem Herr Doktor A.L., als er nach mehrmaligem Klingeln endlich den Hörer bediente, dezidiert:
«Hier Krebs, sie sollten unbedingt so rasch als möglich kommen. Meiner Mutter geht es sehr schlecht, sie ist im Delirium, sie muss ins Spital, so schnell als nur möglich!!»

Stille...

«Unmöglich jetzt. Ich komme vielleicht in zwei Stunden. Hat ihre Mutter die Tabletten genommen, die ich ihr verschrieben hatte?»
«Ja, ich habe sie ihr eigenhändig in den Mund gegeben.»
«Ach, ja? Also, dann bis später.»
«Ich werde den Notfalldienst anrufen!» beharrte ich.
«Das werden sie nicht tun und wenn, die können ihre Mutter ohne eine Einweisung von mir nicht mitnehmen...» knurrte er in den Hörer.
Notdürftig richtete ich meine Mutter her, wiederum in der Meinung, dass sie noch am gleichen Tag ins Spital eingeliefert würde.

Im Nachhinein ist man immer klüger. Es war ein grober Fehler, dem Arzt und den Notfallmänner den Anblick zu ersparen, in dem ich sie vorfand.

Ich sass da und wusste weder ein noch aus. Eine Weile später rief ich kurz entschlossen den Notfall an, gab ihnen die Koordinaten und wartete auf ihr Erscheinen. 20Minuten später erschienen zwei Männer in Weiss, der Eine mit grosser Ledertasche.
«Grüezi, wir sind von der Sanität, sie sind Hr. Krebs und haben uns angefordert?»
«Grüezi. Ja, es geht um meine Mutter, Frau Krebs, sie liegt hier im Bett», erwiderte ich.
«Okay, eine ärztliche Einweisung haben sie nicht. Wir prüfen kurz, ob wir sie mitnehmen, oder hier lassen müssen!"
Zu Bluma gewandt:
"Frau Krebs, können sie mich hören?», fragte der Eine höflich, während der Andere die Tasche öffnete und einige Geräte herausnahm.
«Ja.» flötete meine Mutter und wollte unbedingt tapfer sein. Es zieme sich nicht krank zu sein…
«Gut, dann heben sie den Arm, ich untersuche ihren Blutdruck und ihren Puls. Haben sie Fieber? Ach, was, wir kontrollieren sowieso, ob sie fiebrig sind. Kollege, gib mir noch den Fiebermesser. Danke.»
Bluma stützte sich auf, die Bettdecke fiel vornüber und entblösste ihre eine Brust. Der Sanitäter war verdutzt, schaute seinen Kollegen an, der nickte, dann deckte er sie zu, kontrollierte und sage anschliessend:
«Eigentlich nichts Verdächtiges. Blutdruck und Puls normal für ihr Alter und Fieber haben Sie auch nicht.»
«Aber schauen sie doch die mit Blut und Kot durchtränkten Betttücher in der Toilette an!» rief ich.
«Ja, ja, das sieht nicht toll aus, doch ist das in erster Linie ein hygienisches Problem und nicht unbedingt ein Zeichen schwerer Krankheit. Doch Frau Krebs, bitte stehen sie kurz auf und machen sie einige Schritt. Wir helfen ihnen!»
Bluma stemmte sich schwerfällig auf, die Männer unterstützten sie bis sie stand und liessen sie dann einige Schritte gehen.
«Lassen sie mich los, ich bin selbstständig», schnauzte sie die freundlichen Männer an und wackelte zwei drei Schritte vor und wieder zurück, drehte sich und knickte aufs Bett. Die Matratze stöhnte. Es musste für ihr vereinsamtes Herz ein Glücksmoment gewesen sein, von zwei kräftigen Männern angepackt zu werden. Mit Sicherheit sind es einige Dekaden her, dass ihr ähnliche passiert war. Das Mäuschen bäumte sich nochmals auf und wollte eine Löwin sein.
«Und jetzt, Frau Krebs, heben sie die Arme, seitlich und dann nach vorne, bitte!»
Bluma tat, wie ihr geheissen, schlaff und schwach allerdings, doch sie bewegte die Arme.  
«Sehen sie, Herr Krebs, auch laufen kann ihre Mutter und erst noch sich bewegen. Gesund ist sie bestimmt nicht, das sehen wir an den Laken, doch ohne ärztliche Einweisung, können wir sie nicht mitnehmen. Wir müssen sie unverrichteter Dinge verlassen. Wohin soll die Rechnung gesendet werden? Und schauen sie zu, dass….

Notfallarzt Dr. A.L. leibhaftig
Seite 8
Seite 8 wird geladen
8.  Notfallarzt Dr. A.L. leibhaftig

In diesem Moment klopfte es an der noch offenen Wohnungstüre. Ohne abzuwarten, betrat ein mittelgrosser, verlaust angezogener, unrasierter Mann die Bleibe von Bluma.
«Aber was macht Ihr Beiden hier. Habe ich Euch angefordert? Ich bin der diensthabende Notfallarzt, A.L. Also gibt`s einen Befund?» giftete der Herr Doktor die beiden Sanitäter an.
«Guten Abend Frau Krebs. Und Sie sind der Sohn von Frau Krebs?»
Verlegen und eingeschüchtert standen die Notfallmänner im Vorplatz:
«Entschuldigen Sie uns, doch der Herr Krebs hat so insistiert, dass wir geglaubt haben, Frau Krebs sei schwerstens krank und bräuchte dringend Hilfe. Und zudem hat Herr Krebs mitgeteilt, dass Sie, Herr Doktor, verhindert seien, um zum Rechten zu sehen. So haben wir uns entschlossen, sicherheitshalber vorbeizukommen.» erwiderte der eine der beiden Notfallhelfer etwas kleinlaut.
«Gut meine Herren,» er nahm sie bei Seite und sprach leise, so dass Bluma sie nicht hören konnte, zu ihnen:
«Sie ist einsam und braucht sozialen Beistand, nicht medizinische Hilfe. Deswegen simuliert sie und schauspielert. Ich kenne das.»
Laut und deutlich dann:
«Sie können gehen, ich schaue mir Frau Krebs nochmals an.»
Und nachdem die Männer verschwunden waren, wandte er sich an mich:
«Ich habe Ihnen doch gesagt, Herr Krebs, dass Ihre Mutter, ohne meine Anordnung nicht hospitalisiert wird.»
«Ja, ja, Herr Doktor, doch schauen Sie meine Mutter an. Ihr geht es schlecht. Im WC sind die mit schwarzem Blut und Kot durchtränkten Laken. Das müssen Sie anschauen!»
«Was ich anschauen muss, überlassen Sie gefälligst mir. Und könnten Sie nicht Lüften, hier ist die Luft viel zu dick.»
Natürlich wollte er sagen und da hatte er wohl auch recht, dass es im Zimmerchen ganz ordentlich stank, aber auch, dass ich mich zu wenig um Bluma kümmere. Er mochte mich nicht. Durch meine Anwesenheit fühlte er sich beobachtet und gestört. Doch auch ich hatte kein besonders gutes Gefühl, ihm gegenüber: Diese lausige Ankleide und erst noch unrasiert …
Er setzte sich auf einen Hocker neben dem Bett und fragte in süssem, jovialem Ton:
«Gute Frau, wie geht es Ihnen?»
Eine blöde Frage, dachte ich: Auch ein Blinder sieht sofort, dass es dieser Frau alles andere als gut ging. Doch…
Bluma, rappelte sich zusammen, stützte sich auf und flüsterte, die eine Hand vor dem Mund. Wir hatten das Gebiss vergessen:
«Besser…»

Mutter hatte eine devote Hochachtung vor Akademiker. Alle, die irgendeinen studierten Titel vorweisen konnten, waren für sie unfehlbare Götter. Das Mäuschen schlotterte vor ihnen. Es frass ihnen aus der Hand. Es hob sie auf den Olymp. Hätte die gesellschaftlich hochdotierte Katze gesagt: Komm in meinen Schlund, sie wäre gejuckt und hätte sich verschlingen lassen.

«Na, also», sagte der Herr Doktor und weiter:
«Haben Sie die Tabletten, die ich Ihnen verschrieben habe, regelmässig genommen?»
«Ja, Herr Doktor», flüsterte Bluma und schaute mich etwas vorwurfsvoll an.
«Und essen Sie regelmässig. Zum Beispiel Gemüsesuppe?»
«Kann nicht. Muss erbrechen»
«Oder Bouillon mit Buchstaben und Zahlen?»
«Kann nicht»
«Wenigstens einen Milchreisbrei?»
«Mir wird schlecht. Kann nicht.»
«Im besten Fall nimmt meine Mutter Tee mit Zwieback», warf ich dazwischen.
«Okay, Frau Krebs, ich untersuche Sie jetzt nochmals und verschreibe Ihnen ein weiteres Medikament. Ihr Sohn wird sich darum kümmern.»

Der Herr Doktor wiederholte genau dasselbe Prozedere, wie die beiden Notfallmänner zuvor, kritzelte ein weiteres Rezept und verabschiedete sich:
«Frau Krebs, es wird in ein paar Tagen alles wieder gut werden, essen Sie so gut es geht und nehmen Sie die Medikamente. Sie können sich wieder hinlegen, Frau Krebs.»
Das Bett ächzte.
«Aber, Herr Doktor, Sie haben die mit Blut und Kot durchtränkte Bettwäsche im Badezimmer noch gar nicht angeschaut!» empörte ich mich.
«Wissen Sie, Sie Klugs….,»
Klugscheisser hat er im Gaumen verschluckt. Immerhin war ich zu jener Zeit bereits fünfundfünfzig.
«Meine Diagnose, dass es Ihrer Mutter in einigen Tagen wieder gut gehen wird, beruht auf meine Kenntnisse und Erfahrungen und nicht auf den Anblick von verunstalteter Wäsche. Wie gesagt, in ein paar Tagen, haben Sie wieder eine gesunde Mutter!... Adieu»
Seine Prognose sollte sich nicht erfüllen. Einige Tage später hatte sich Bluma von den Lebenden verabschiedet.

Wieder lag sie bewegungslos und bis auf den Kopf mit den verstrudelten, grauweissen Haaren zugedeckt im Bett. Doch in den Augen hatte sie keine Tränen. Nur eine feine Andeutung eines Lächelns in ihren Mundwinkeln.
«Ich werde wieder gesund, René» hauchte sie.
Eine ganze Weile sass ich da und war restlos verwirrt. Hatte sie mir etwas vorgegaukelt? War das Ganze nur eine Inszenierung, damit sich jemand um sie kümmerte? Damit sie endlich nicht allein war? Hat der Dr. A.L. vielleicht doch recht, dass sie eine Schauspielerin sei? Ratlos blieb ich eine Weile sitzen.
«Es ist Tee-Time und die Tabletten müssen geschluckt werden.»
Dies war ein gescheiteter Versuch, die Situation etwas aufzulockern. Und weiter sagte ich:
«Sicher wirst Du wieder gesund, du musst nur daran glauben.»
Plattitüde. Ich jedenfalls glaubte nicht an ihre Gesundung. Damit sich Bluma nicht erkältet, schloss ich das Fenster.
«Gell, René, es wird alles wieder gut werden …» flüsterte sie nochmals. Mein Gefühl sagte mir, dass sie nicht mehr daran glaubte, aber auch, dass sie eigentlich auch nicht mehr so recht mochte. Ihr gebrochenes Flüstern, lies mich aufhorchen und signalisierte mir, dass sie sich aufgegeben hatte. Dass sie, im Grunde genommen, auch nicht mehr wollte.
Wie ein begossener Pudel blieb ich sitzen: indigniert, deprimiert, irritiert, desorientiert und desavouiert.
Zwei Fachmänner und ein Oberfachmann, gehen davon aus, dass Bluma schauspielere, dass sie simuliere, dass sie nur so tue, als ob sie schwerstkrank sei, doch mein Bauchgefühl sagt mir, dass es ihr miserabel ging. Die Vernunft kontra Emotionen. Das gab mir zu denken. Nicht nur wegen meiner Mutter, sondern vielmehr mich betreffend. Ich fragte mich: Wie weit kann ich meinem Bauchgefühl trauen? Oder hatte ich mich in ein Helfersyndrom gesteigert und verrannt? Wollte ich den Retter spielen, den Helden? Wie auch schon. Hatte ich nichts gelernt aus den vielen zwischenmenschlichen Ereignissen und Debakeln, die mir zugestossen waren? Doch ich handelte: Besorgte die Arzneien, verabreichte sie ihr, machte Tee und gab ihr Zwieback. Dann verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause, nach Uster.

Diese Nacht schlief ich kaum, ich tröstete mich mit Onanieren und trank anschliessend einen billigen Schnaps, um etwas Ruhe zu finden.
Wieder einen Tag später
Seite 9
Seite 9 wird geladen
9.  Wieder einen Tag später

Frühmorgens stand ich leicht verkatert auf, trank Kaffee, ass getrocknetes Weissbrot mit gelblicher Butter und Käse und eilte, ohne ihren Anruf abzuwarten, zu ihr.
Und wie erwartet, fand ich sie so vor, wie in den letzten beiden Tagen. Details erübrigen sich. Nur, dass ich jetzt entschlossen war, diesen, ihren Zustand ein für alle Mal zu beenden.
«Guten Morgen, Mutter, ich rufe sofort die Spitex an.»
Gesagt getan.

Zehn Minuten später kam eine mittelgrosse, rüstige Frau in die Wohnung von Bluma. Sah, und rief unverzüglich den Notfallarzt Dr. A.L. an.
«Hier ist Schwester X von der Spitex. Entweder kommen Sie, Herr Doktor, sofort vorbei und weisen Frau Krebs ins nächste Spital ein, oder ich tue es auf meine Verantwortung. So geht das nicht, diese Frau braucht dringend spitalärztliche Betreuung.»
Zehn Minuten später, stürmte der Herr Doktor in die Wohnung und nochmals zehn Minuten später wurde Bluma per Tü,tä,tü,tä, ins Spital Zollikerberg eingeliefert.

Bluma`s Lebensende im Spital
Seite 10
Seite 10 wird geladen
10.  Bluma`s Lebensende im Spital

Bevor ich ins Spital fuhr, um zu erfahren, wie der Stand der Dinge in Sachen Bluma war, wollte ich, nicht zuletzt, weil ich etwas zu Besinnung kommen musste, die Wohnung auf Vordermann bringen. Das bedeutete, die Wäsche, das Bad, die verfleckten Böden und Wände reinigen. Die Matratze zum Auslüften aufstellen. Nebenbei fand ich Mutters Gebiss unter dem Bett und packte es ein. Das gesamte Putzprozedere bei geöffnetem Fenster, so, dass sich der Gestank verflüchtigte. Dann dass Zimmerchen aufräumen.
Ob meine Mutter jemals noch hier wohnen werde, ging mir durch den Kopf, auch, dass ich der Spitex anrufen soll, um mich zu bedanken:
«Hier Spitex Zürich Seefeld, wie kann ich helfen?»
«Grüezi, Krebs hier. Bitte verbinden Sie mich mit der Schwester X»
«Schwester X hat schon Feierabend. Sie können sie am folgenden Morgen anrufen, oder kann ich etwas ausrichten?»
«Ja, sagen Sie ihr, dass Frau Krebs nun im Spital Zollikerberg liegt und, dass ich mich für ihren dezidierten Einsatz bestens bedanken möchte.»
«Gut, wird gemacht. Noch einen schönen Abend.»

Das Zimmerchen und das Bad waren einigermassen sauber und geordnet. Die frischgewaschene und getrocknete Wäsche so weit als möglich versorgt. In meiner Jackentasche Mutters Gebiss, verliess ich diese quasi Notfallunterkunft und fuhr zum Spital. Doch ärgerte ich mich noch kurz zuvor über einen amtlichen Bussenzettel, der mir unter dem Scheibenwischer geklemmt wurde. Dies, weil ich in der Eile des Gefechtes keinen Parkplatz fand und den Wagen halbwegs auf dem Trottoir parkiert hatte.

Es war abends, es dunkelte ein, die Strassen waren mit dem Feierabendverkehr verstopft. Ein wenig Gas geben, bremsen, wieder Gas und wieder Stoppen. Mir war`s recht. Die Fahrt mit meinem Galant zum Spital nahm ich gemütlich, ohne Stress. Erstens, weil ich mich immer noch erholen, und zweitens, weil ich mich innerlich auf das Kommende vorbereiten musste.
«Guten Abend, mein Name ist Krebs», begrüsste ich die Rezeptionistin im Spital Neumünster, so hiess das von Diakonissen gegründete Spital.
«Vor ein oder zwei Stunden ist meine Mutter, Frau Krebs, bei Ihnen eingeliefert worden. Ich möchte nur wissen, wie es ihr geht und ob ich sie besuchen kann?»
«Besuchen können Sie sie nicht mehr. Die Besuchszeiten sind von 14.00 bis 18.00Uhr und nun ist es schon 18.45Uhr, aber ich rufe die diensthabende Schwester an und erkundige mich nach Ihrer Mutter».
Nach ihrem Telefonat sagte sie zu mir:
«Herr Krebs, Ihre Mutter bekam ein Schlafmittel und schläft nun tief. Morgen wird sie eingehender untersucht. Doch eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen, ihr geht es nicht besonders gut».
«Danke, und gute Nacht. Äh, sorry, fast hätte ich es vergessen, hier ist das Gebiss meiner Mutter.»
Dann verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause. Unterwegs, der gröbste Feierabendverkehr war nun vorüber, versuchte ich Klarheit über die Situation im Allgemeinen und über die Meinige im Speziellen zu bekommen. Obwohl ich einen zehnjährigen Sohn und der eine Mutter hatte, so war diese Mutter nicht das Visavis mit der ich mich aussprechen wollte und konnte. Wohl war ich allein mit dem Geschehen, doch jetzt, da Bluma im Spital lag, hat sich für mich die Lage etwas entspannt. Ich wusste nun, dass für sie gesorgt wurde. So verschieben sich Verantwortungen.
Das Leben in unserer Gesellschaft ist eine stete Verschiebung von Verantwortlichkeiten: Ab Geburt liegen sie noch in den Händen der Eltern, danach werden diese von Krippe, Kitas, Kindergarten, Schulen, Lehre oder Gymnasien übernommen und erst so im Alter von um die zwanzig Jahren landen sie bei den nun volljährigen, geschlechtsreifen, leicht erwachsenen und stimmfähigen jungen Frauen oder Männer. Dieses und jenes ging mir durch den Kopf auf der Heimfahrt.

Ich nahm mir vor meine Mutter täglich zu besuchen.
Der vierte Tag nach dem unglückseligen Telefonat war dem Normalisieren des Alltags gewidmet. Zuerst musste ich meine Musikschülerinnen und Schüler wieder organisieren, danach übte ich mein Instrument, die Trompete, dann ging ich schwimmen, Mittagessen, Unterrichten und um fünf Uhr meldete ich mich im Spital an.
«Grüezi» sagte ich derselben Dame, wie am Vortag:
«Ich möchte meine Mutter, Frau Krebs, besuchen».
«Sie liegt in der Intensivstation im Zimmer Nummer Y, im ersten Stock links».
«Guten Abend» wurde ich von der zuständigen Schwester empfangen:
«Sie sind der Sohn von Frau Krebs?»
«Ja, kann ich sie besuchen und wie geht es ihr?»
«Herr Krebs», die Stimme der nicht mehr so jungen Schwester wurde ernst:
«Ihrer Mutter geht es leider nicht besonders gut. Da sie das normale Essen nicht verträgt, müssen wir sie künstlich ernähren. Der definitive ärztliche Befund liegt noch nicht vor, doch Sie müssen sich auf alles wappnen. Momentan schläft sie oft und ist nur kurz und vorübergehend ansprechbar. Treten Sie ein, Herr Krebs, hier ist Ihre Mutter».
Die Schwester öffnete mir die breite und schwere Türe. Der Grundriss wie die Grösse dieses Krankenzimmers entsprach in etwa der Wohnung von Bluma. Zuerst ein kleiner Vorplatz, links die Bad/WC-Anlage, ebenfalls mit einer Sitzbadewanne und geradeaus dann das Krankenzimmer in dessen Mitte das weisse, verstellbare Stahlrohrbett mit allen dazugehörenden Installationen stand: Handgriffe, Notglocke, durchsichtige Plastikschläuche, etc..
Gegenüber dann das milchig beschichtete Fenster. Alle Wände waren weiss. Der Boden, dunkelgraues Linoleum.
Noch stehend schaute ich mich vorsichtig im Zimmer um, bevor ich dann, meine in weissen Leintüchern und Decke liegende Mutter, besah. Auf einem Ablagekorpus stand ein Telefon, ein Glas Wasser darin das Gebiss.

(1) Bluma kurz vor ihrem Hinschied

Bluma kurz vor ihrem Hinschied

Ihr rundes Gesicht war friedlich, die Augen geschlossen, sie atmete ruhig. Sie wirkte entspannt. Beide Arme und Hände waren über der Decke gefaltet. Manchmal öffnete sie ihren Mund und hauchte einige Wörter, vielleicht ein einfacher Satz, danach blieb sie wieder still. Manchmal öffnete sie auch ihre Augen, doch hatte ich nicht den Eindruck, dass sie wirklich etwas sah, dass sie erkennen konnte, dass sie realisierte. Ganz selten, in den wenigen Tagen, in denen ich sie regelmässig besuchte, drehte sie mir ihr Gesicht entgegen und nur beim letzten Tag, vor ihrem Abschied, verstand sie meine an sie gerichteten Fragen.
Es klopfte und die Schwester trat ein:
«Guten Abend Herr Krebs, ihre Mutter liegt nun in der Agonie, das heisst, dass sie nicht mehr allzu lange leben wird. Es ist vielleicht gut, wenn Sie sie regelmässig besuchen können. Es tut ihr bestimmt gut, wenn sie spürt, dass sie nicht allein diesen Weg gehen muss. Es kann gut sein, dass sie Sie noch hört, wenn Sie mir ihr sprechen und wir gehen davon aus, dass sie spürt, wenn jemand anwesend ist. Das erleichtert vieles. Setzten Sie sich zu ihr und reden Sie mit ihr. Wir vom Spital können nicht mehr viel für sie tun. Genaueres teilen wir Ihnen später mit. Gute Nacht.»
«Ich werde mein Bestes tun, Schwester. Gute Nacht»
Sie verliess das Zimmer und ich setzte mich hin und begann mich zu orientieren. Es war still und es war ruhig und das war gut so. Das Beschwerliche war, dass ich nicht so recht wusste, was und woran ich denken sollte zum Abschied meiner Mutter. Solle ich mich deprimierenden Duseleien hingeben und einige Tränen vergiessen? Soll ich unsere gehabte Beziehung unter die Lupe nehmen?
Ruhig und sicher löste ich die eine Hand und nahm sie zwischen meine Hände. Sie war kühl, doch nicht leblos kalt. Sie hatte schöne Hände, lange, schmale Finger und auch lange Fingernägel. Ab und zu waren leichte Bewegungen oder reflexartiges Zucken zu spüren, während ich sie streichelte. Ein letzter Körperkontakt eines fünfundfünfzigjährigen, vergangenen Nebeneinanders, welches nie wirkliche Nähe, Vertrauen und Zugehörigkeit kannte.
Ihre eine Hand in meinen Händen, begann ich darüber nachzudenken und zu reflektieren, was eigentlich eine Beziehung ausmachte. Warum sitze ich da und streichle die Hand einer sterbenden Frau, mit der mich eigentlich nichts weiteres verband als ein Schriftstück, das besagt, dass diese Frau meine Mutter sei? Wir hatten nie zusammen gelacht, gestritten, Differenzen ausgetragen, geschweige denn, dass wir uns umarmt, gar wangengeküsst hätten. Auch kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir persönliche Angelegenheiten miteinander besprochen hätten. Zu meinem üppigen Liebesleben befragt, sagte sie lediglich «die ist eine nette», oder «die ist hübsch». Also, ein eingehenderes Gespräche, einen Erfahrungsaustausch gab es nie. Was bleibt dann übrig in Sachen Beziehung? Weder liebte ich sie, noch signalisierte sie mir, dass sie mit mütterlichem Herzen an mir hing. Sei es privat oder beruflich, ganz selten erkundigte sie sich danach. Meine Musik oder meine kulturellen Projekte interessierte sie überhaupt nicht. 
Ihre schlaffe Hand bewegte sich. Sie muss wohl mein Streicheln gespürt haben.
Unser Verhältnis war ein gesellschaftsbedingtes Nebeneinander mit, wenn überhaupt, vereinzelte emotionale Aufeinandertreffen.
Bluma muss wohl gemerkt haben, dass ich mich auf intellektuell-emotionalem Glatteis befinde: Sie öffnete kurz die Augen, schaute hinauf zur Zimmerdecke, lispelte Unverständliches und war wieder weg.
Das Thema Beziehungen beschäftigte mich auch am folgenden Abend, als ich sie wider besuchte. Ist Familie gleichzusetzten mit Beziehung ob innig, liebevoll und aufgehoben oder zerstritten, fremd und bösartig? Meine Beziehung zur Bluma, hatte weder das eine noch das andere. Wir waren weder eine Familie noch hatten wir familiäre Banden.

Wieder zuckte ein Finger von Bluma. Ihre Hand verkrampfte sich, die Finger bogen sich um meine Hand, ich erschrak.
Jetzt plötzlich erwachte Bluma, fixierte mich und flüsterte deutlich:
«Ich möchte im jüdischen Friedhof Friesenberg begraben werden»
Dann schloss sie ihre Augen. Der Mund war noch leicht offen und an den herunterhängenden Mundwinkel hat sich Weissliches gebildet.
Sie seufzte noch ein - zweimal.
Am daraufkommenden Morgen rief ich das Spital an und fragte nach meiner Mutter. «Guten Morgen, Herr Krebs, ich habe keine gute Botschaft für Sie. Der liebe Gott hat Ihre Mutter zu sich genommen.»
Sie sei diese Nacht verstorben, ich solle vorbeikommen, um mit einer Spezialistin die kommenden Prozeduren und das Bestatten zu besprechen und zu regeln, teilte mir die Abteilungsschwester mit und weiter:
«Wir haben Ihre Mutter etwas zubereitet.»
«Danke Schwester, ich werde gegen drei Uhr da sein.»

Pünktlich um Drei Uhr begrüsste mich die Fachfrau für Angehörige von Verstorbenen.

 

Vor der Beerdinung
Seite 11
Seite 11 wird geladen
11.  Vor der Beerdinung

«Grüezi, Herr Krebs, zuerst dürfen Sie Ihre verstorbene Mutter im Totenraum nochmals besuchen, um Abschied zu nehmen. In einer halben Stunde erwarte ich Sie im Büro, um das weitere Vorgehen zu bereden.»
In einem kleinen, Fensterlosen Raum, der in leicht rötliches Licht getaucht war, lag meine Mutter still, mit geschlossenen Augen, leicht geschminkt, zugedeckt in weissen Leintüchern auf einem Bett. Nur ihr Kopf war zu sehen. Friedlich, im Jenseitigen, das erfasste ich sofort. Die Altersfalten im Gesicht waren entweder geglättet oder ausgepolstert. Die Spur eines Lächelns? Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.
Ich blieb nicht lange. Ihre zugedeckten Hände konnte ich nicht mehr streicheln. Ein Kuss auf ihre Stirn und zurück zur Realität.
«So, das wär`s. Konnten Sie Abschied nehmen?» empfing mich die Schwester in ihrem Büro,
«Bitte setzten Sie sich. Ihre Mutter werden Sie nie mehr sehen. Ihre Leiche kommt nun in einem Sarg in den Leichenschauraum, um anschliessend nach Ihren Wünschen bestattet zu werden. Nun brauche ich noch einige Angaben von Ihnen, Herr Krebs.» Ich setzte mich.
«Hatte Ihre Mutter noch weitere Familienangehörigen, Schwestern, Brüder?»
«Ja, zwei Schwestern, doch die eine ist in Rio und die andere in Johannesburg. Zu beiden Schwestern hatte sie den Kontakt abgebrochen.»
«Haben Sie noch Geschwister, die informiert werden müssen?»
«Nein»
«Wie stellen Sie sich die Beerdigung ihrer Mutter vor, Herr Krebs?»
«Im jüdischen Friedhof Friesenberg.»
«Hm, das kann ganz schön kompliziert werden. War Ihre Mutter Mitglied einer jüdischen Gemeinde?»
«Nein, soviel ich weiss, doch sie ist eine geborene Schapiro aus Estland»
Dann zählte sie noch alle Vorgehensweisen, wie das Kündigen, das Auflösen, das Räumen, das Informieren etc. auf, gab mir den ärztlichen Totenschein, der als Schlüssel dient, um alles zu erledigen.

Wenn man alleiniger Nachkommen ist, keine Geschwister, keinen Vater, weder Onkel noch Tanten hat, ist man beim Tod eines Angehörigen einem enormen administrativen und organisatorischen Ballast ausgesetzt: Absprachen mit der Jüdischen Kultusgemeinde, Vorbereitung, Lagerung, Transport der Leiche. Wahl des Schreins. Daten, Kosten, Information der Behörden, der kostenpflichtigen Institutionen (Wohnung, Banken, Telefon, Radio, Zeitungen, etc.).

Die Beerdigung
Seite 12
Seite 12 wird geladen
12.  Die Beerdigung

Die Israelische Kultusgemeinde Zürich (ICZ) hatte gar keine Freude, als ich ihnen den letzten Wunsch von Bluma Krebs-Schapiro mitteilte, der darin bestand, im jüdischen Friedhof Friesenberg begraben zu werden.
«Guten Tag, hier ist X von der ICZ», drang eine smarte Herrenstimme von der Telefonmuschel in meine rechte Ohrmuschel hinein,
«Wie kann ich dienen?»
«Ja, und hier ist René Krebs-Schapiro», mit dem Erwähnen von Schapiro wollte ich darauf hinweisen, dass es sich um eine jüdische Angelegenheit handelte.
«Schalom Herr X», was für ein Schlaumeier ich mir einbildete zu sein,
«Meine Mutter, Frau Bluma Schapiro-Krebs geborene Benzel, ist gestern gestorben und ihr letzter Wunsch war es, im Jüdischen Friedhof Friesenberg bestattet zu werden.»
«Hm, meine Kondolenz, Herr Krebs»
Herr X holte mich auf den Boden der Realität zurück,
«Doch ist mir der Name Ihrer Mutter unbekannt. Gehörte sie einer jüdischen Gemeinde an und wenn, welcher?»
«Nein, sie lebte ein unscheinbares Leben, sehr zurückgezogen.»
«Nun, so einfach wird es wohl nicht werden. Ich musss mich mit meinen Leuten beraten. Sie bekommen baldmöglichst Bescheid. Geben Sie mir doch bitte Ihre Daten.»
Und nur mit einem sehr vorbehaltlichen Schreiben liessen sie es dann zu, dass Bluma, entsprechend ihrem letzten Wunsch, im israelitischen Friedhof bestattet wurde. Und dies auch nur unter der Bedingung, dass sie als Zweitbestattung, im Anschluss einer Erst- und Hauptbestattung, beerdigt würde. Es sei nicht möglich, den Gabbai (Assistent des Rabbiners) und die gebetsmurmelnde, heilige Bruderschaft und Mitbestatter, extra für Bluma antreten zu lassen. Der Bestattungstermin wurde von der Kultusgemeinde so festgelegt, dass zuvor ein Hauptbegräbnis stattfand und danach, so nebenbei, Bluma auch noch versenkt wurde. Und da dieser Termin schon in zwei Tagen sein musste, hatte ich praktisch keine Zeit mehr, um Angehörige oder Bekannte zum Abschiednehmen einzuladen oder zu informieren. Geschweige denn, dass ich rechtzeitig eine Trauer- oder Todesanzeige in den örtlichen Zeitungen hätte aufgeben können. Für mich jedoch galt die telefonische Benachrichtigung der nächsten noch auffindbaren Verwandten und möglichen Bekannten. Zudem sollte man ja auch noch trauern…
Kam hinzu, dass mich der Rabbiner, der die Abschiedszeremonie durchführte telefonisch bat, einen Text über Bluma zu schreiben. Denn, so seine Begründung, er habe überhaupt keine Ahnung, wer Bluma Krebs-Schapiro gewesen sei. Es genüge ihm etwa zwei A4-Seiten. Auch das musste noch einigermassen vernünftig untergebracht werden.
Das ganze Drum und Dran der Verabschiedung war eine Zeit, bei der mein Herz nicht so recht ins Trauern kam. Zum einen, weil mich viel zu viel administrativer und organisatorischer Kram in Beschlag nahm und zum andern, weil da ein Mensch von dannen ging, zu dem ich ein sehr gespaltenes Verhältnis hatte und vielleicht noch immer habe. Jemand, der mir irgendwie nahestand, mir jedoch selten Freude, Lust, Trost und Behütetsein gab. Jemand, der mich mit Vertrauten und Sicherheit fundierte. Jemand, die zutiefst zweifelte und mir diesen Zweifel unterschwellig einflösste. Jemand, der ich einer emotionalen Kälte ausgeliefert war, ohne je Wärme, Liebe und somit Sinn bekommen zu haben.

Der eher unfreundlicher Raum der jüdischen Friedhofskappelle mit Holzbänken, einer Glasfront und einem nüchternem, abweisenden grau Licht, vermittelte keine Abschiedsfreude. Zumindest die Bestattungszeremonie meiner Mutter war auf jeden Fall sachlich und nüchtern. Einzig eine brennende Kerze strahlte etwas Wärme aus. Es war eine Notfallbeerdigung, ohne Ehrfurcht, ohne Respekt, ohne Trost, die zum Leidwesen der jüdischen Gemeinde auch noch erledigt sein musste. Im Raum für die rituelle Waschung (Tahara) waren wir dann zu fünft: Der Gabbai, Käthi (eine Schulfreundin von mir und Bekannte von Bluma), Katharina (die Mutter von Fabian), Fabian (ihr und mein Sohn) und ich. Nachdem der Gabbai Allgemeines zum jüdischen Sterben und meinen Text vorgetragen hatte, immer mit dem dazu gehörenden Gemurmel seiner heiligen Bruderschaft, wurde die Bahre, die auf einem Handwagen lag, zur bereits ausgegrabenen Gruft gefahren und in die Grube gelegt. Danach einige Handvoll Erde und einige Blumen auf den Sarg geworfen und Schluss war’s mit der eher leidvollen Geschichte Blumas.

Später dann, nach einigen Jahren, als es der Jüdischen Kultusgemeinde das im Kopfbereich der Grabstätte jämmerlich dastehende Holzkreuz, welches mit dem Namen und den Jahreszahlen von Bluma versehen und bereits verwittert war, bei weitem nicht mehr genügte und sie mich deswegen drängten, einen ordentlichen, steinernen Grabstein aufzustellen, bekam Bluma den angeforderten, schlichten, betonierten Grabstein, der mich noch einen ordentlichen Batzen gekostet hatte. Stolze 27 Jahren steht er nun da, hat sich nur ein bisschen nach vorne geneigt. Der Einzige, der sich vor Bluma etwas verneigt hat.
Doch inzwischen, zwischen der Beerdigung und dem setzten des Grabsteins, musste ich mich noch durch einige juristische Kuriositäten durchwühlen, die mich schlussendlich locker zehn Mal mehr kosteten als der oben erwähnte Grabstein.

Juristisches Nachspiel
Seite 13
Seite 13 wird geladen
13.  Juristisches Nachspiel

Und das spielte sich folgendermassen ab.

(Alles, was nun folgt hat sich so ereignet und entspricht den Tatsachen, doch hatte ich in einem Anfall von Entsorgungswut das Dossier Dr. AL fortgeworfen. Vielleicht wollte ich diese für mich schmutzige Sache nicht mehr unter meinem Dach haben. Quasi eine Reinigung meiner Habe. So, dass Belege auf schwarz/weiss leider nicht mehr vorhanden sind und ich die Geschehnisse aus meinem Hirn rekonstruieren muss).

Wenige Wochen nach der Bestattung holte mich so etwas wie Trauer ein. Irgendwie überdachte ich das Geschehene rund um den Abschied meiner Mutter und fand, dass es doch reichlich komisch war, dass der Herr Doktor AL einige Tage bevor Bluma starb, ihr beste Gesundheit prognostizierte und sie als quasi Simulantin abqualifizierte. So lausig darf man doch nicht mit älteren Menschen umgehen und ich setzte mich hin und schrieb ein Fax an die Kantonale Gesundheitsdirektion. Bewusst schrieb ich keine Anschuldigung, sondern legte den genauen, realen Ablauf der Ereignisse dar. Sie wollen der Angelegenheit weiter nachgehen beschied mir die Verwaltung, sie werden mich auf dem Laufenden halten. So weit war für mich dann die Sache gegessen. Ich hatte etwas Dampf abgelassen und konnte mich nun den üblichen Tagesgeschäften widmen. Tagesgeschäfte, die darin bestanden, meinen Sohn zu einem rechten, gesellschaftsfähigen Mann zu erziehen, meinen Blechblasinstrumentenschülerinnen und Schüler das Blasen ebendieser Musikinstrumente beizubringen, selbst fleissig zu üben, den Haushalt auf Vordermann zu halten und mein Liebesleben zu pflegen.
Bis dann eines Tages eine Vorladung zu einem Gerichtsverfahren auf meinen Tisch flatterte.
Der Anwalt von Dr. AL bezichtigte mich der Rufschädigung seines Mandanten.
Jäh aus meinem Alltagstrott herausgerissen, war ich nun hellwach und zog alle mir zur Verfügung stehenden Register, um herauszubekommen was da ohne mein Wissen vor sich gegangen war. Es stellte sich nun heraus, dass das Gesundheitsamt auf Grund meines Faxes ein Verfahren gegen den Herr Dr. AL eingeleitet und durchgeführt hatte mit dem Ziel ein Berufsverbot für Dr. AL zu erwirken. Dr. AL aber hatte einen ganz schlauen Anwalt, so raffiniert war der, dass das Verfahren eingestellt werden musste, und Dr. AL beauftragte seinen Schlaumeier damit, mich wegen Rufschädigung und Verleumdung einzuklagen.

Alle Beschwerdestellen und Verbände, die ich um Rat aufsuchte, betätigten mir, dass ihnen die Person Dr. AL bestens bekannt sei, und deswegen können sie mir nur empfehlen, selbst einen gewitzten und profunden Anwalt zu nehmen. Das tat ich dann auch. Es zogen Wochen gar Monate in die Lande. Friedensrichter, Bezirksgericht, dann Obergericht das mich schlussendlich als schuldig befand und mir eine Strafe von CHF 7000.00 zuzüglich Gerichtskosten von CHF 3000.00 aufbrummte. Dazu musste ich die Anwaltskosten von Dr. AL und die meines Anwaltes im Betrag von rund CHF 10 000.00 bezahlen. Also alles in Allem so um die CHF 20 000.00.
Wahrlich ein sehr kostspieliges und aufreibendes Fax.

Das ist die Geschichte vom Sterben von meiner Mutter Bluma Schapiro-Krebs in Zürich, welches ich mehr als Chronist, denn als Sohn faktengetreu aufgezeichnet habe.

Es folgt: "Bluma`s turbulentes Wohnen". Diese Beschreibungen sollen aufzeigen, dass Bluma nie die Wahl hatte, so zu wohnen, wie sie es vielleicht klammheimlich für sich gewünscht hätte. Nein, ich denke, dass es noch tiefer geht: Auf Grund ihrer Lebensstationen getraute sie sich gar nicht Wünsche zu haben, wie sie wohnen wollte. Unrealisierbares, daher überflüssiges Träumen, liess sie gar nicht erst zu. Auch die Wohnsituationen waren so desaströs, wie ihr Leben und ihr Sterben.
Blumas turbulentes Wohnen
Seite 14
Seite 14 wird geladen
14.  Blumas turbulentes Wohnen

In Memoria und als Nachlass ist es wohl angezeigt Näheres zum Leben von Bluma auszuführen:
Über Bluma, meiner Mutter, zu erzählen ist nicht ganz so einfach. Vieles muss ich vom Gehörten und vom Gelesenen kombinatorisch zusammenfügen. Einiges ist Vermutung und Hypothese. Und einiges ist, weil konkret erlebt, wahrhaftig. Und alles, was irgendwie psychologisch daherkommt, entspringt meinem entsprechenden Halbwissen. Trotzdem versuche ich, Bluma aufleben zu lassen.
Bluma wurde 1914 in Zürich als Tochter einer jüdischen Flüchtlingsfamilie geboren. Also im gleichen Jahr, als der Erste Weltkrieg mit all seinen Gräuel ausgelöst wurde. Bluma war die jüngste von drei Töchtern einer Familie, die Ende des Neunzehnten Jahrhunderts aus dem baltischen Russland, aus Riga, in die Schweiz flüchtete. Flüchtlinge? Ich weiss es nicht genau, doch ich denke, dass sie im Zusammenhang mit den Pogromen, also der Judenverfolgung durch Stalin, ihr Land verlassen mussten. Die ganz Familie Benzel-Schapiro bekamen den damals üblichen Nansen-Pass. Einen Legitimationsausweis für Geflüchtete.
Der Nansen-Pass wurde von der Behörde des Staates erstellt, in dem sich der/die Flüchtling aufhielt. Im Falle meiner Mutter und ihrer Familie, der Schweiz. Dieser persönliche Ausweis war ein Jahr gültig und musste dann verlängert werden. Er war ein ausgesprochener Reisepass, der die Rückkehr in das die Urkunde ausstellende Land ermöglichte und war dem gewöhnlichen Pass eines souveränen Staates bei Weitem nicht gleichwertig. Trotzdem war er für Migranten wichtig. 
Wikipedia über den Nansen-Pass:
"Vladimir Nheimokov schildert seine Erfahrungen mit dem Nansen-Pass als einem höchst minderwertigen Dokument von kränklich grüner Farbe. Sein Inhaber war wenig mehr, als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher und hatte die grössten Strapazen auf sich zu nehmen, wenn er etwa ins Ausland reisen wollte. Je kleiner die Länder, desto mehr Umstände machten sie. Und die Schweiz ist ein kleines Land…
Zu den bekanntesten Besitzer des Nansen-Passes gehörten Marc Chagall, Igor Strawinsky, Aristoteles Onassis und Anna Pawlowa."

Bis sie 1940, also 26jährig, Rhino (Peter-Paul Krebs, einem Stiefsohn der Familie Rudolf und Elisabetha Krebs-Gubbi) heiratete, war Bluma staatenlos
Über ihre Kindheit, Schulzeit, Pubertät und ihre Ausbildungen ist mir nichts bekannt. Ebenso wenig weiss ich, an welcher Adresse die Familie Schapiro gewohnt hatten. Nur, dass sie im Zürcherischen Kreis 4, dem Chreis-Chaib, gelebt hatten, ist mit vage bekannt. 
Obwohl Bluma in jungen Jahren eine attraktive Frau war, hatte sie in der Liebe wahrlich kein Glück gehabt. Es war ihr ihr Leben lang nicht vergönnt gewesen, glücklich oder zumindest zufrieden zu sein. Ihre Attraktivität konnte sie einfach nicht einbringen. Und weitere Vorzüge, wie beispielsweise, Haushalten, Kochen, Konversation betreiben, breites und tiefes Wissen, beruflicher Ehrgeiz, Humor und gar Leidenschaften aller Art, etc. konnte sie aus ihrer Jugend nicht schöpfen. Dazu fehlte es ihr an gemachten und durchlebten Erfahrungen, an Forschheit, an Intelligenz und an bodenständiger Beschlagenheit. Vermutlich hat der frühe Tod ihres Vaters und der Analphabetismus ihrer Mutter ihre Spuren hinterlassen. Sie war Zeit ihres Lebens eine sehr eingeschüchterte, verängstigte Person. Schüchtern und verängstigt zu sein sind die besten Voraussetzungen, um sich mit Unglück und Pech zu paaren. Bluma hatte Pech, war schüchtern und das Glück stand ihr ebenfalls nicht zur Seite. Diese hängend-passive Konstellation führte dazu, dass sie keine Frohnatur war.
Erwartungsfroh sich auf das Kommende freuen, war ganz und gar nicht ihr Stil. Im Gegenteil: Veränderungen, Erneuerungen waren ein wahrer Gräuel für Bluma. Nur in grösster Not wagte sie, mehr gezwungenermassen den frei-oder mutwillig, ihrem Dasein eine Wendung zu versuchen. Eine dieser wenigen und überraschenden Wendungen war, dass sie unverhofft und relativ spontan und mich vor sich her stossend, aus ihrem zürcherischen Mief ins gelobte Land Israel auswanderte. Quasi flüchtete. Um dann, nach kurzen drei Jahren mich hinter sich her zerrend, wieder nach Zürich zurückzukehren.
Zeit ihres Lebens hatte sie keine tieferen Kontakte und damit einhergehende, gespürte Verwurzelung zum Dasein.
Ihr Vater hingegen, Favius Benzel-Schapiro, der ein typischer Ostjude war, war ein kluger und tüchtiger Geschäftsmann, der es innert kurzer Zeit immerhin zum Besitz von einigen Häusern und einem Kohlengeschäft im zürcherischen Kreis vier gebracht hatte. Stolz präsentiert er auf einem Foto seinen Spitzbauch, seinen schwarzen Bart mit breitem, austragendem Schnauz. Darüber glänzt eine Glatze und mit kleinen verschmitzten Augen kuckt er zufrieden in die Linse des Fotoapparates. Doch hatte seine Frau, unsere analphabetische Grossmutter, den ganzen Besitzstand, nachdem Favius an Schwindsucht gestorben war, verprasst. Die verbleibende Familie Schapiro, Grossmutter, Bluma und ihre drei Schwestern wurden armengenössig und Empfängerinnen von sozialer Unterstützung. Sie lebten nun in einer zürcherischen Notwohnung. Die eine Schwester starb als geistig Behinderte mit epileptischen Anfällen in der Irrenanstalt Burghölzli; genannt auch `Idiotenfabrik, alias Spinnwinde`. Die anderen beiden Schwestern wanderten aus, gründeten Familien, vernetzten sich in ihren sozialen Kreisen und etablierten sich als geachtete Mitglieder ihres Milieus. Die eine emigrierte nach Rio de Janeiro und die andere nach Johannesburg.

Aus einem erhaltenes, an den Rändern leicht vergilbtes Foto von Bluma aus der Zeit als sie so um fünfundzwanzig Jahre alt war, wird ersichtlich, dass sie hübsch und einnehmend war. Sie hatte ein ebenmässiges, nicht allzu aufregendes, ovales Gesicht mit feinem, leicht blässlichem Teint, fein modellierte Lippen, darüber eine gerade, nicht allzu lange Nase.  grossen, dunklen Augen, darüber geschwungene, markante Augenbrauen, eine hohe Stirn und wiederum darüber eine Pracht von gekrausten, dunklen Haaren. Quasi den ersten Afro-Look in Europa. Sie lächelte sibyllinisch, unverbindlich. Ein Lächeln wie dasjenige von Mona Lisa. Vielleicht auch scheu und leicht verängstigt. Und ein anderes Foto aus jener Zeit zeigt auf, dass sie eine gute Figur hatte: Sie war nicht speziell gross, so um die 1.65 m. Unter einem schlanken Hals und zierlichen Schultern trug sie einen beachtlichen Busen, darunter eine schmale Hüfte und wiederum darunter schlanke Beine mit feingliedrigen Fersen. Ausgerüstet mit diesem Aussehen hätte sie, wäre sie nur ein wenig raffinierter, erfahrender und selbstbewusster gewesen, dem Leben einiges mehr an Glück, an Wohlstand, an Anerkennung und entsprechender innerer Zufrieden- und Sicherheit abgewinnen können. Ein `Hüh und Hot` bestimmten Blumas Jugendzeit und ein `Hüh und Hot` war ihr ganzes Leben. Ebenso waren ihre Handlungen und ihre Unterlassungen geprägt von Unsicherheit, Ziellosigkeit und Ratlosigkeit. Sie wagte sich kaum an die Öffentlichkeit, duckte sich wo immer es nötig war und liess umgekehrt niemanden in ihre Privatsphäre hinein. Meine Mutter war nicht religiös und hatte auch keinen weltanschaulichen Fundus. Vielleicht leider…Kurzum, die wenigen Begebenheiten, die Bluma mit Männern hatte und die mir irgendwie geblieben sind, waren fortlaufende, sich wiederholende Debakel. Und gegenüber Frauen war sie viel zu konservativ, misstrauisch, verängstigt und schüchtern, als dass sie sich ihnen anvertrauen und sich von ihnen beraten lassen, geschweige denn, dass sie sich in eine Beziehung mit ihnen eingelassen hätte. Sie hatte im ganzen Leben keine Bezugspersonen. Von da her habe ich auch so etwas wie Mitleid mit ihr und urteile eher etwas milde, vielleicht zu milde über sie.
Spätestens mit ungefähr vierzig Jahren schloss sie intime, sexuelle Kontakte mit Männern aus. Den Schalter zur Körpernähe, Zärtlichkeiten und Sexualität mit dem anderen Geschlecht, stellte sie auf `off`. Mögliche Freundschaften zu Frauen waren schlicht kein Thema. Doch auch kulturell war sie nirgends beheimatet. Gesellschaftliche, politische, berufliche, sportliche oder andere Ambitionen hatte sie keine. Kurz, Bluma hatte es nicht leicht im Leben. Vor allem jedoch kannte sie keine glücklichen Momente, Stunden, Tage, Monate oder gar Jahre. 
Weder war sie eine richtige Mutter noch eine engagierte Berufsfrau. Obwohl sie mit dem aufkommenden Feminismus liebäugelte, war sie keine Frauenrechtlerin, die an die Front ging oder die auf die Barrikaden stieg. In der Politik war sie in jungen Jahren eine Mitläuferin und pendelte zwischen den Kommunisten und den Existentialisten. Den Zugang zu diesen Gruppierungen hatte sie, weil sie im Kreis 4, also in eher linken Proletarier- und Künstlerkreisen der Stadt Zürich, aufgewachsen war. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der vermutlich noch ein streng praktizierendes Mitglied des jüdischen Glaubens war, hatte Bluma nie ein enges Verhältnis zum Judentum. Ich mag mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass sie jemals in eine Synagoge gegangen war, oder dass sie sich mit jüdischen Glaubensgenossen traf. Wo immer wir zusammen wohnten: Nie zierten jüdische Symbole oder Hinweise wie etwa Davidsterne, siebenarmiger Kerzenleuchter oder Gebetskästchen Mesusa (Pergamentrollen) Türrahmen oder Räume. Geschweige denn, dass Bilder, Plakate, Fotografien mit Motiven von beispielsweise Golda Mayer, Chaim Weizmann oder Ben Gurion an den Wänden hingen. Auch legte sie keinen Wert darauf, dass ich ein Käppchen (Kippa) oder einen schwarzen Hut zu tragen hätte. Nie bat sie mich, Schläfenlocken (Peyots) wachsen zu lassen. Nie hatte ich mit ihr eine Synagoge von innen betreten und ebenso wenig machte sie mich mit Mädchen der jüdischen Kultusgemeinde Zürich bekannt. Ein Versäumnis, welches ich ihr bis zum heutigen Tag nicht verzeihen kann, denn man muss wissen, dass jüdische Mädchen und später dann jüdische Frauen aussergewöhnlich intelligent, vital, lebenslustig, durchsetzungswillig, hübsch und sexy sind. Nein, im Gegenteil: Alle Indizien, die irgendwie auf ihr Judentum hätte hinweisen können, hatte sie versteckt und unterschlagen. Sie bestand darauf, dass sie mit Frau Krebs angesprochen wurde und ja nicht mit Frau Schapiro. Und auch ihren Vornamen hat sie zeitweise in `Bella`, anstelle von Bluma, geändert. Trotzdem sind wir dann für drei Jahre nach Israel emigriert und auf dem Sterbebett legte sie dezidiert Wert darauf, jüdisch bestattet zu werden. Es war eine späte Rückkehr zu ihren Wurzeln, welche von der jüdischen Gemeinde Zürichs dann eben auch nicht besonders goutiert wurde.

Ob sie wohl eine Rabenmutter gewesen sei?
Diese Frage stellte ich mir oft und finde eigentlich keine schlüssige Antwort darauf. Ich weiss es einfach nicht. Auch wenn viele Fakten von aussen gesehen darauf hinweisen, habe ich da so meine Hemmung, sie als Rabenmutter zu verurteilen. Auch im Bösen wäre sie schlicht viel zu wenig raffiniert und gedrängt gewesen. Summa Summarium ereigneten sich in ihrem Leben zu wenig bösartige, giftige Ereignisse, die Emotionen wie Hass, Wut, Eifersucht, Neid, Missgunst etc. in ihr auslösten. Ihre Geschichte war auch nicht diejenige einer Prinzessin. Wie immer sie sich durch den Pfuhl des Lebens durchwühlte, sie eckte unverdrossen an oder fand sich steckengeblieben in einer Sackgasse. Sie hatte keine Leitplanken und keine, oder sagen wir einmal nur wenige, verbindliche Vorbilder, geschweige denn unterstützende und helfende Hände.
Diese Manko hat sie mir teilweise vererbt. Denn erst mit ungefähr fünfzig Jahren bekam so etwas wie festen Boden unter den Füssen und eine Ahnung, wie weiter in meinem Leben. 

Wie schon erwähnt, in jungen Jahren war sie attraktiv und hatte bestimmt einige Verehrer. Trotzdem wusste sie nie so recht, wie sie mit ihrer, in einem ansprechenden Körper eingebetteten, Muschi umgehen soll. Eines wusste sie jedoch ganz genau: Ohne Muschi, keine Kinder. Und doch musste sie einige Auskratzungen über sich ergehen lassen. Auskratzungen: Ein grässlich brutales Wort, welches jedoch genau darauf hinweist, mit welchen Schmerzen damals Aborte durchgeführt wurden, wenn man zur Kaste der Armenleute angehörte.

Wohl war sie Jüdin und wuchs in einer typisch jüdischen Familie auf. In einem Milieu also, wo das Handeln, das Tauschen und das Geben und Nehmen durchaus zum Alltag gehörte und eine Überlebensstrategie sein musste. Erst recht dann, wenn man sich als Einwanderer hier in Zürich assimilieren wollte. Dies war bei ihrer Familie, den Benzels–Schapiros tägliche Realität.
Übrigens ist das Tauschen, das Nehmen und Geben keine explizit jüdische Eigenheit. Es ist eine fundamentale Voraussetzung für schlicht alles, was auf diesem runden Planeten entsteht und vergeht. Ob Pflanzen, Tiere oder Menschen, ohne ein Mindestmass an Tauschen und Austauschen, gibt es kein Überleben. Es waren soziale, wirtschaftliche und religiöse Gegebenheiten, die die Juden zwangen etwas raffinierter und erfolgsversprechender zu tauschen.

Doch erinnere ich mich nur an einen einzigen, wirklichen Deal, den meine Mutter in ihrem Leben abschloss: Zwei halbelektrische Pfaff-Nähmaschinen tauschte sie in zwei Reiseticket nach Israel ein. 


 

 

Notdürftige Unterkünfte
Seite 15
Seite 15 wird geladen
15.  Notdürftige Unterkünfte
Insbesondere möchte ich darauf eingehen, wie Bluma im Laufe ihrer Jahre gewohnt hatte. Dabei gehe ich davon aus, dass ihre Lebensumstände und ihr Wohnen wichtige und aufschlussreiche Hinweise auf ihre Wesensart sind. Auch ihre Wohnsituationen zeigen auf, dass sich ihr Leben deutlich mehr im Schatten, denn im Licht, abgespielt hatte. 
In Zürich, wo sie, mit Ausnahme eines dreijährigen Aufenthaltes in Israel, immer gelebt hatte, war ihre Art sich unterzubringen exemplarisch. Immer lebte sie in Unterkünften, die nie, auch nur ansatzweise, so etwas wie Luxus kannten.
Das Maximum an Wohnkomfort, welches ihr die Umstände ermöglichten, war ein Minimum an möglicher und nützlicher Wohnausstattung. Nützlich war: In der Küche ein Gas- oder Elektroherd mit mindestens zwei Heizflächen, ein Ausguss mit Tropfteil aus Holz, Metall oder Steingut, ein kleiner 50ltr. Kühlschrank und Schränke für die Lebensmittel, dem Geschirr und der Putzausrüstung. In der Stube ein einfacher Tisch mit zwei bis vier Stühlen, darunter, wenn’s gut ging, ein Kunststoff-Spannteppichen. Im Schlafzimmer ein Bett und ein Kleiderkasten. Im Bad/WC eine Badewanne, ein Lavabo und eine WC-Schüssel mit einem Klappring aus Holz. Darüber der Spülwasserbehälter, dessen Inhalt durch Ziehen an einem Handgriff sich in einen wahren, rauschenden Wasserfall wandelte. Alle Installationen konnten entweder «Aufputz» oder "Unterputz" sein.
Nie, soviel ich mich erinnere, und ich erinnere mich an erstaunlich vieles, zierten Blumen, Bilder, Bücher, Fotos, Nippsachen, Souvenirs oder sonstige Gegenstände ihr Lebensumfeld. Gegenstände, notabene, die einen Hinweis auf ihr Seelenlebens aufzeigen könnten.  

Ebenso wenig konnte sie sich die Lage des Wohnortes aussuchen. Ihr inneres Ich und ihre äusseren Umstände zwangen sie zu den jeweiligen Orten und Arten ihres Wohnens. Ihre soziale Einbettung, ihre Vereinsamung und ihr gedemütigter Selbstwert, sowie ihre Unliebe zu sich selbst, platzierten sie zum entsprechenden Wohnen.

Auch in den drei Jahren, die wir in Israel verbrachten, wohnte sie in absolut katastrophalen Unterkünfte.
Ein Dach über dem Kopf ist das Eine, das unverzichtbar Notwendige - Die Kleider und der Schmuck auf dem Leib, das Andere, das Charakterisierende, der Ausdruck des Inneren. Suche ich in meinem Gedächtnis nach Bildern, die meine Mutter in fröhlichen, bunten, aufreizenden, eleganten oder sonst wie auffallenden Kleidungen zeigten, so finde ich lediglich braune, schwarze, graue, im besten Fall beige Farben vor.

Ja, und das mit den Gerüchen und den Düften von Aux de Cologne, von Parfüms, von Schweiss oder anderen Körperausdünstungen, die einem bis ins Alter begleiten, keine Spur, weder in meiner Nase noch in meinem Gehirn. Dass ich seit meiner Mannwerdung auf süsse, blumige Düfte hochsensibel, munter und auch erregend reagiere, ist das Resultat von einigen intimen Momenten in meinem Leben, die jedoch nichts, aber auch gar nichts, mit Bluma zu tun hatten.
Froschaugasse 1943
Seite 16
Seite 16 wird geladen
16.  Froschaugasse 1943
Als Bluma etwa dreissigjährig-und ich zweijährig war, wohnten und überlebten wir damals an der Froschaugasse. Wie und wo sie kurze Zeit zuvor, als sie noch mit Rhino, meinem Vater, zusammengelebt hatte und sich dann scheiden liess, konnte ich nicht eruieren. 

Etwas Altstadt Zürich anno 1943

Die Froschaugasse befindet sich im Zentrum des damaligen Sündenpfuhles von Zürich, also im Niederdorf. Quasi eine verdünnte Reeperbahn von Hamburg. Eine Gasse, die Tagsüber, im Winter keine und im Sommer, wenn es nicht gerade regnete, nur wenige Stunden Sonne erheischte. Alte, teilweise baufällige, vier-bis fünfstöckige Häuser standen dieser dunklen, grauen Gasse Spalier. Ca. vier Meter breit war sie und gepflastert mit Kopfsteinpflästerung. In den engen Gassen des damaligen Sündenpfuhles von Zürich gab es noch keine Trottoirs. Hin und wieder kam es daher vor, dass Nutten, aber auch Damen, die mit Stögelischuhen ihre körperlichen Vorteile hervorheben wollten, auf der wässrig glatten, abgerundeten Pflästerungen, ausrutschen und im besten Fall barfuss nach Hause eilen mussten. Ärgerlicher allerdings war es dann, wenn die Spazierenden, Herumlungernden oder Eilenden ein Hundehäufchen übersahen, ausrutschen, hinfielen, fluchten, schrien, sich der grässlich stinkenden Kleider nach Möglichkeit entledigten und nach Hause eilten, um sich zu waschen und frisch einzukleiden.
Auf den Strassen: Katzen und Hunde hüben und drüben. Auf den Dächern: Tauben, Spatzen und Elstern, dass einem Hören und Sehen vergingen.
Ja, und der Gassenlärm war dannzumal ganz schön beträchtlich.
Die Altstadt von Zürich war damals alles andere als verkehrsfrei und dies im doppelten Sinn. Nachts boten Professionelle mit ihrer Entourage Geschlechtsverkehr, nicht selten auch Geschlechtskrankheiten, an, was Rüppel und anderes, laut gestikulierendes Volk anzog. Dazu gesellten sich grölende, fluchende, restlos betrunkene Taglöhner von Nah und Fern, die die engen und dunklen Gassen des verruchten Niederdorfes dazu benutzten, ihre Frustrationen auch mit Schlägereien und dem dazu obligaten schreiend und krächzend, loszuwerden. Gelegentliche Schlägereien waren an der Wochenendordnung. Nicht selten auch, dass das Nachtvolk die dunklen Ecken der Gassen als Toilette benutzten, oder sich sonst wo erbrachen. Und dunkle Ecken gab es hüben und drüben, denn noch immer herrschte der 2. Weltkrieg und die Stadt Zürich musste sich ab und an restlos verdunkeln. Zeitweise wurden die Gas-Strassen-Kandelaber erst gar nicht entflammt. Es herrschte allgemeine Dunkelheit in den Strassen und Gassen von Zürich, wie in den Herzen und Köpfen der dort lebenden. 
Um den Duftvielfallt noch zu vervielfältigen, standen damals die üblichen, nicht verschliessbaren «Ochsnerkübel» auf den Strassen und es waren gute Zeiten, wenn sie nicht umgekippt wurden. Was noch fehlt für das Komplettieren des rüden Sounds in der Häuserschlucht Froschaugasse, war die akustische Einschwemmung der dumpfen, nachhallenden und ohrenbetäubenden Kirchglockenschläge der Predigerkirche nebenan. Ja, ja, schon um 5.00Uhr morgens polterten sie durch die Gassen und Strassen und nichts hielt sie auf.
Und tagsüber tobte in den Gassen und Strassen des Niederdorfes ein grosses Tohuwabohu:
Was diese ruppigen Pflästerungen alles über sich ergehen lassen musste: Der Kaminfeger mit seinem Holzwägelchen schepperte; der Glaser geschultert mit diversen Scheiben zum Reparieren schrie; der Bauer mit Gemüse und Salate empfahl lautstark; der Bäcker mit frischen Broten klingelte; auch der Milchmann mit Frischmilch in grossen Kübeln wollte sein Getränk loswerden; der Pferdewagen mit Steinkohle zum Heizen schüttete krachend die schwarze, staubige Ware in die Kohlenkellerschächte; das Fuhrwerk mit der Eisladung blockierte für alle anderen Fahrenden die Gasse, bis die Eismänner mit ihren Ledergewänder die Eisbalken hinunter in die Keller von Kneipen getragen hatten.
Die Public Relations für die Güter des täglichen Gebrauchs erfolgte damals auf den Strassen und Gassen durch lautes Schreien und Rufen. Es war die Zeit der «Kehlkopfwerbung». Zudem peitschten und schellten sich die Kutscher durch das Gewühl.
Dazu noch das Hupen von Taxis und anderen Personenwagen, die sich durchschlängelten, dabei die Leute in die Hauseingangstüren pflügten und eine Unmenge von stinkenden Gasen in die Gassen pusteten. Daher waren es die Vorfenster, die im Winter den Gestank, den Lärm und die Kälte milderten , so, dass man doch einigermassen gewärmt und in Stille schlafen konnte.

Im ersten Stock konnten wir zwei Zimmer einer grösseren Wohnung benutzen. Zwei Zimmer? Ach was! Eine Bruchbude von zwei Kammern. Die Küche mussten wir mit einer weiteren Partie, die ich nie zu Gesicht bekam, teilen. Badezimmer oder Dusche gab es damals für das proletarische Milieu, wenn überhaupt, dann höchst selten. Im besten Fall hatte man ein WC und eine Küche in der eigenen Wohnung zur Verfügung. Normalerweise musste man das WC mit anderen Hausbewohnern im Treppenhaus oder im Korridor teilen.
Einfach konnte das bestimmt nicht gewesen sein. Als Untermieter, war man auf Gut und Verderben, vom Goodwill der Vermietenden angewiesen. Bluma wohnte nicht, sie überlebte.
Meine Kindheit verbrachte ich mehr oder weniger nur in Kinderheimen, konnte allerdings meine Mutter sporadisch besuchen. Daher suchte sie Wohnmöglichkeiten mit zwei Zimmern, äh, Kammern. 
Es war 1943-1944 gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Zeiten waren hart. Wie und womit Bluma diese Jahre verbrachte, ist mir völlig unbekannt. Wie sie Geld aufbrachte und was sie für ihr Seelenleben unternahm: keinen blassen Dunst. 
Die eine der beiden Kammern-Bruchbuden, war eine kleine Stube, welche gleichzeitig das Schlafzimmer von Bluma war. Ausgestattet war es mit einem Bett, einem Tisch und zwei Stühlen, einem Kleiderkasten, sowie einem Holzofen. Daneben war eine winzige Kinderkammer für mich. Beide Zimmer besassen je ein einfach verglastes Fenster. Zweiflüglig. Im Winter wurden sie mit Vorfenster zum Schutz vor Kälte, aber auch gegen den Gassenlärm ergänzt. Die zwei Räumchen waren lediglich durch eine einfache Holzwand getrennt. Und da die Trennwand aus Tannenholz gezimmert war, verzog sie sich im Laufe der Zeit und es entstanden vertikale Schlitze. Durch die konnte ich hören und vor allem auch sehen, was sich im Zimmer nebenan zutrug. Und was sich da wiederholt abgespielt hatte, war schlicht und einfach traurig. Durch das Brüllen von Rhino, dem Klatschen seiner Schläge und durch das Schreien von Bluma aufgeschreckt, drängte ich meine Augen an den Spalt der Holzwand und musste zusehen, wie Bluma versuchte, den wuchtigen Schlägen von Rhino, meinem Vater, auszuweichen, wie sie stolperte, wie sie auf den Boden hinfiel und hilflos weinte. Wütend knallte Rhino die Türe zu, als er das Zimmerchen verliess.
Weite Gasse 1948
Seite 17
Seite 17 wird geladen
17.  Weite Gasse 1948
Etwas Altstadt Zürich anno 1948

Die `Weite Gasse` ist alles andere als eine weite Gasse. Es muss ein Missverständnis gewesen sein, als diese Gasse mit dem Namen `Weite` ins Register der zürcherischen Strassen- und Gassennamen eingetragen wurde. Da sie schmal und eng ist, hätte sie eigentlich mit dem Namen `Schmale Gasse` getauft werden müssen. Ebenfalls schmal waren die beiden seitlichen Trottoirs (Gehsteige) und schmal war auch die gepflasterte Strasse dazwischen. Eben eine Gasse, in der sich zwei Pferde-Fuhrwerke, deren Existenz sich allmählich lichtete oder zwei Autos, deren Existenz sich allmählich häufte, nicht kreuzen konnten. Später wurde diese Gasse ihrem Namen insofern gerecht, als dass die Strassenplaner der Stadt Zürich sie zu einer Einbahngasse degradiert hatten. Sie verband mit einer flachen Neigung die Oberdorfstrasse mit der tiefer gelegenen Schifflände. Im Mittelalter eine Hafenstrasse direkt an der Limmat, dem grossen Fluss, der die Stadt durchquert. Entlang der Gasse befanden sich seitlich vier- bis fünfstöckige Wohnhäuser, deren Fenster alle mit grünen Holzläden versehen waren. Im Parterre gab es einige Läden: Eine Schuhmacherei, einen Coiffeur und ein Milch- und Käseladen. Wann genau und für wie lange wir dort wohnten? Keine Ahnung mehr. Doch klimatisch war für mich die Weitegasse wesentlich freundlicher und sonniger als die Froschaugasse.

Wollte man sich bei Freunden, Bekannten oder Geliebten anmelden, musste man damals an einer mechanischen Vorrichtung mit Eisendrähten und einem metallenen, zapfenähnlichen Handgriff ziehen. Auf dem Eisenbügel, der die Drähte mit ihren Zapfen schützte, waren die Familiennamen der Bewohner angeschrieben. Platziert war das Gestänge neben der Haustüre auf einer Höhe, die für Kinder nicht erreichbar war. Neben dem Fenster der gesuchten Wohnung, im jeweiligen Stockwerk, gab es eine Glocke oder ein Gebimmel. Eine meist scheppernde Blechglocke mit Klöppel, welche durch das Ziehen an Drähten zum Scheppern gebracht wurde.
Handwerker, Dienstleister, aber auch böse Buben und Betrunken zogen an diesen Griffen und verursachten Tag und Nacht ein impertinentes Gebimmel. Wenn die, das Gebimmel auslösende Person willkommen war, umwickelte man den Hausschlüssel mit einem Lumpen oder stopfte ihn in einen ausgedienten, wollenen Socken und warf ihn hinunter auf die Gasse. Man war stolz, wenn der Gast den gepolsterten Schlüssel direkt von Hand auffangen konnte. Gut gezielt, gut reagiert. Schützen vor dem Gebimmel konnte man sich ganz einfach: Man stopfte denselben alten Lumpen oder gelöcherten Wollsocke in den Klangkörper, wenn man nicht gestört sein wollte.

Bluma und ich überlebten wiederum in Untermiete, ähnlich wie in der Froschaugasse. Zwei Zimmer, ohne Küche und WC/Dusche. Das WC war im Korridor und wurde mit anderen Mitbewohnern geteilt, ebenso mussten wir die Küche mit unseren Vermietern mitbenutzen. Wiederum keine eigentliche Privatzone. Wiederum Abhängigkeiten, sich ducken, sich auf Teufel komm raus anpassen. Wiederum betteln, schmeicheln und unterordnen. Regelmässig wurde ich in einem grossen Blechzuber gewaschen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, dass meine Mutter mein «Pfiffeli» nicht zu Gesicht bekam. Wir wohnten im dritten Stock. Also musste ich das Brennmaterial, wie Anfeuerungshölzer, Briketts und Steinkohle vier Stockwerke hinauftragen. Zudem durfte ich Turnusgemäss die Treppe und Korridore des ganzen Hauses wischen und feucht aufnehmen.
Die beiden Zimmer waren der Gasse zugewandt, mit je einem Fenster, jedoch ohne Vorfenster.
Kurzaufenthalt vor Israel 1948
Seite 18
Seite 18 wird geladen
18.  Kurzaufenthalt vor Israel 1948
Vielleicht einen Monat bevor wir Zürich verliessen, um nach Israel zu emigrieren, brauchten wir wegen dem Kündigungstermin noch eine vorübergehende Bleibe und die bekamen wir bei der Familie E. Einem Ehepaar mit einer niedlichen Tochter in meinem Alter. Das Töchterchen hiess K. Ihr Vater, ein tiefsinniger, ernster und charakterschwerer Mann, war, neben seinem Broterwerb als Chef der Dekorationsabteilung vom Jelmoli, auch ein malender Künstler und feinfühliger, engagierter Gitarrist. Vermutlich verdanken wir jedoch seiner Frau den vorübergehenden Aufenthalt in ihrer Wohnung, denn sie war gutmütig und warmherzig.
Allerdings, die gleichaltrige Tochter, K. war schlicht süss, lieblich und neugierig und da die Wohnung von E`s lediglich drei Zimmer hatte, schlief meine Mutter in der Stube, die E`s in ihrem barocken Schlafzimmer und K teilte das Bett im Kinderzimmer mit mir. Wir waren beide so um achtjährig und naturgegeben sehr neugierig und so spielten wir im Kinderbett die weitverbreiteten Ärztespielereien.

Was diese jungen Körper so hergaben, untersuchten wir akribisch und entdeckten dies und jenes.
Ein erstes Mal, dass ich eine Muschi berührte und ein erstes Mal, dass ich es zuliess, dass mein `Schnäbeli` ertastet wurde. Ein `Schnäbeli` übrigens, welches erst vor kurzer Zeit auf grausame Art beschnitten wurde. Noch immer hatten die Überreste der Vorhaut Blutverkrustungen. K machte grosse Augen. Ein erstes Mal auch, dass ich den Duft eines weiblichen Körpers tief einatmete.
Tagsüber half ich K, soweit ich das konnte, bei den Aufgaben und nach der Schule schaukelten wir wild und geradezu gefährlich auf einer Schaukel, die an der hohen Türe befestigt war.
Ein unbeschwerter Monat, der mir als Lichtblick meiner Kinderzeit geblieben ist.
Wiederum kann ich mich nicht daran erinnern, wie sich Bluma in diesem Monat die Zeit um die Ohren geschlagen hatte.
Es ist kurios, denn ich erinnere mich verhältnismässig exakt an viele Gegenstände, Situationen und Objekten aus jener Zeit, doch wie sich unser Alltag zwischen meiner Mutter und mir damals abspielte: keinen Dunst mehr.
Fassbaracke im Kibbuz Gvat 1949
Seite 19
Seite 19 wird geladen
19.  Fassbaracke im Kibbuz Gvat 1949
In Israel angekommen wurden wir nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in einem Zeltlager vor Haifa in den Kibbuz Gvat verfrachtet. Schon zu jener Zeit hatten auch die Kibbuzim ihre hierarchischen Organisationsstrukturen. Je länger man dort lebte und das seinige zum Wohle der Gemeinschaft beitrug, desto komfortabler durfte man wohnen. Kibbuzneulinge bekamen was noch irgendwie übrigblieb. Das betraf nicht nur den Wohnkomfort, sondern auch die Wohnlage. Je entfernter sich die Wohnungen vom Zentrum befanden, desto miserabler wurde deren Ausstattung.
Bluma, die immerhin zwei neue, moderne, teilelektrifizierte Nähmaschinen in den Kibbuz brachte, musste in einer verlotterten, komplett verschlissenen, am Rande von Gvats Zentrum gelegenen Holzbaracke Einzug halten.
Zum Schutz vor Ungeziefer stand diese Baracke auf mehreren, zirka zwei Meter hohen, leicht verrosteten Ölfässern. Wellblechtafeln anstelle von Dachziegeln schützten wohl gegen den Regen, doch bei Sonnenbestrahlung, und das war tagsüber die Regel, war diese Art der Bedachung ein purer Hitzereflektor. Duschen und sich waschen konnte man in der Gemeinschaftsduschanlage im Zentrum von Gvat. Dort befand sich auch ein Wäldchen mit jungen Bäumen in deren Schatten man sich etwas Kühlung verschaffen konnte.
Bis zur Fassbaracke hatte die Elektrifizierung noch nicht stattgefunden. Will heissen, dass die gluterhitzte Bude weder einen Ventilator zur Kühlung hatte noch, dass es einen Frigidär gegeben hätte. Bei Dunkelheit waren Kerzen und Öl-oder Karbitlampen angesagt. Dies in einem mehr als nur leicht brennbaren, ausgetrockneten Holzhaus. Die Luft war stickig und roch förmlich nach ausgetrocknetem Holz. Was wohl geschehen wäre, wenn diese Baracke in Brand geraten wäre? Weit und breit kein Hydrant, keine Feuerwehr, kein Wasseranschluss!
In dieser hochstehenden Baracke hatte es etwa sechs kleine Zimmerchen, die durch einen mittleren Korridor zugänglich waren. Diese Zimmerchen waren nur durch einfache Holzbretter voneinander getrennt. Furzte oder schnarchte jemand hier, jammerte oder weinte jemand dort, die Wohngemeinschaft war voll involviert. Jedes Zimmer hatte ein Fenster mit einem Mückengitter, ohne Fensterläden oder sonstiger Verdunklungsmöglichkeit. Eine provisorische, hölzerne, durchgetretene, sich biegende, gierende und schwankende Aussentreppe ohne Geländer, führte vom Sandboden zu diesem Korridor. Darunter befand sich die `Knebelscheisse` (Grubentoilette). Eine Holzkiste mit einem runden Loch, die über einem grossen Fass montiert war. Dieses wurde periodisch, kurz bevor es überquoll, ausgepumpt.
Das Empfangskomitee zu dieser Holzbaracke auf Fässern stellte einen gewaltigen Schwarm von Fliegen dar, sowie einer Wolke von ziemlich ätzenden Düften. Blies es einmal ordentlich bei Sturm und Wetter, so schwankte, gierte, polterte das Fass-Haus und läutete das Ende der Welt ein. Auch bei schöner und normaler Wetterlage verhiess diese Unterkunft tagsüber das Ende der Welt, denn darin wurden die Menschen bei lebendigem Leib ordentlich durchgeschmort und durchgebraten. Diese Unterkunft war das Vorzimmer zur Hölle. Fast schon ein Krematorium. Eine Hitze herrschte, dass Gott erbarm, und wollte Frau oder Mann sich kühlend erholen, musste man ins Zentrum des Kibbuzes. Die Zimmerchen waren lediglich mit einer Pritsche, darauf eine dünne und abgewetzte Matratze, die mit Sicherheit nicht befreit war von kleinen, schwarzen, stechenden und beissenden Mehrfüsslern,  möbliert. Diese Krabbelviecher nennen wir hier Flöhe und Wanzen, Fliegen und Tausendfüssler, Skorpione und Spinnen. Für Bluma musste es wohl doch ein erheblicher Unterschied zwischen dem Wohnen in einer einfachen, aber sauberen und sicheren, mit Frischwasser und Elektrizität ausgerüsteten Wohnung in Zürich und dem Überleben in dieser Holzhochbaracke in Gvat gewesen sein. Weshalb diese, ihr zugewiesene, alles andere als wohnliche Bleibe, für sie eine deprimierende Überraschung gewesen sein musste. Das gelobte Land hatte auch seine Schattenseite, der Bluma bestimmt einen Schock auslöste. Schon nur die Probleme in den Griff zu bekommen, die durch ihre Tage verursacht wurden. Und der Besuch der Toilette-eine Tortur für Frauen. 

Diese simple Bleibe erinnert mich an den Song `Das alte Haus von Rocky Docky`, welches Udo Jürgens oder Roy Black eventuell oder auch Rex Gildo anno dannzumal sangen: Songtext (Auszug)
Dieses Haus ist alt und hässlich
Dieses Haus ist kahl und leer
Denn seit mehr als fünfzig Jahren
Da bewohnt es keiner mehr
Dieses Haus ist halb verfallen
Und es knarrt und stöhnt und weint
Dieses Haus ist noch viel schlimmer als es scheint
Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt
Kein Wunder, dass es zittert
Kein Wunder, dass es bebt
Das Haus von Rocky Docky sah Angst und Pein und Not
Es wartet jeden Abend aufs neue Morgenrot....

Die Fassbaracke: Blumas trautes Heim.
Haifa 1949
Seite 20
Seite 20 wird geladen
20.  Haifa 1949
Nach ca. eineinhalb Jahren verliess Bluma Gvat und zog nach Haifa. Da sie sich mit dem Hebräischen schwertat, liess sie sich als Betreuerin von deutschsprachigen Kindern anheuern. Ihre Arbeitsstätte bestand aus einem ebenerdigen, einfach ausgestatteten Kinderspielzimmer in einem weiss verputzten Backsteinhaus. Hinter diesem Aufenthaltsraum befand sich ihr einfaches Schlafzimmer möbliert mit lediglich einem Bett. Die wenigen Kleider, die sie mitnahm, versorgte sie in einem grossen Bastkoffer. Vor dem Kinderspielraum hatte es ein eingezäunter Spielplatz. Geschlafen und gelebt hatte sie in dem erwähnten fensterlosen Hinterzimmer. Sie betreute ungefähr ein Dutzend Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren und da gab es noch eine Schäferhündin, die sich ebenfalls um die Kinder kümmerte. Dies, indem sie zum einen mit den Kindern spielte und sich streicheln liess, und zum andern das Areal bewachte. Eine Hündin voller Seele.
Zürich Schipfe 1953
Seite 21
Seite 21 wird geladen
21.  Zürich Schipfe 1953
Zurück in Zürich wohnten wir gemeinsam in einem Zimmer bei den Eltern von Rhino, meinem Vater. Doch habe ich keine Ahnung darüber, wie Bluma die Rückkehr in die Schweiz inszenierte, welche Hürden sie überspringen musste, wie sie die Rückfahrt finanzierte, welche behördlichen Anforderungen sie erfüllte, wie sie meine Grosseltern davon überzeugte, uns vorübergehend unterzubringen. Es ist allerdings anzunehmen, dass dies der Oma Elisabetha (Mutter von Rhino) zu verdanken ist. Ohne Geld in der Tasche und nur mit wenigen Kleidern ausgestattet, hatten sie gar keine Wahl. Sie musste die Bleibe annehmen, die uns notfallmässig angeboten wurde. Und diese Bleibe war das eine Zimmer neben der Stube von Rhinos Eltern. Das Zimmer war derart klein, dass nur ein Bett und ein Kasten darin Platz fanden. Bluma schlief im Bett und ich auf einer alten Matratze auf dem Boden neben dem Bett. Eine unmögliche Situation. Ich, nun zwölfjährig, musste in der Stube darauf warten, bis Bluma ihr Nachthemd angezogen hatte und im Bett lag. Und erst, nachdem sie mich gerufen hatte, konnte ich mich auf die Matratze zum Einschlafen hinlegen. Entsprechend schlecht konnten wir beide einschlafen. Durchschlafen war für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Weil die Matratze ausgeleiert war und nicht mehr isolierte und weil nur in der Stube geheizt wurde, hattest ich in den Nächten gefroren und war morgens vor Kälte fast schon erstarrt und gerädert.
Ganz besonders für Bluma war jene Lebensphase gewiss kein Zuckerschlecken. Alles war offen und musste neu geregelt werden. Es türmten sich ihr Fragen der Bewältigung des zivilisierten und zürcherischen Alltags auf: Ein eigenes Dach über dem Kopf? Eine Arbeitsstelle mit Entlöhnung? Wie wurde der Hunger gestillt? Wer sollte kochen? Und wenn, was und wie? Wer besorgte die Lebensmittel ? Mit welchem Geld? Wann wurde ins Bett gegangen? Wann aufgestanden? Wann gewaschen und gefrühstückt? Und was danach? Den lieben, langen Tag? Die Wohnsituation war äusserst prekär, provisorisch und überhaupt nicht geklärt. Daher war es ganz und gar nicht einfach, mich einem Schulhaus und einer Schulklasse zuzuweisen. Grossvater Rudolf schuftete den ganzen lieben Tag und kümmerte sich anschliessend fürsorglich, aber zeitaufwendig, um die schwer erkrankte Oma. Und nun sollte er zusätzlich auch noch für zwei weitere Personen sorgen. Zumindest für das Allernötigste. Auf diese beiden neuen Gäste war er nicht vorbereitet. Die kamen, so mir nichts dir nichts, direkt von Israel und hatten überhaupt nichts bei sich. Einfach nichts. Eine junge Frau und alles, was sie mitbrachte, war ein ungezogener, rotnasiger, pubertierender und aufmüpfiger Sohn. Es war eine Zeit, in der Bluma einiges zu bewältigen hatte. Um sich an den Alltagskosten beteiligen zu können, musste sie einen Job finden. Sie hatte keine eigentliche Ausbildung machen können und das erschwerte das Finden einer Anstellung. Als Hilfsarbeiterin wurde sie dann angestellt und verdiente immerhin 360 Franken pro Monat bei einem Neun-Stunden-Arbeitstag.
Die Grosseltern waren alles andere als begütert. Oft musste Bluma vom Rudolf zu hören bekommen, dass er es sich nicht leisten könne, ein Gratisarmenhaus zu sein. Dann musste und wollte sie so rasch als möglich eine neue Bleibe finden. Eine bezahlbare, bei ihrer bescheidenen Entlöhnung. Gleichzeitig musste sie im Haushalt der Grosseltern helfen: Einkaufen, Kochen, Putzen, Wäschewaschen und nach Möglichkeit auch noch die Oma medizinisch behandeln und hygienisch versorgen. Kommt hinzu, dass auch sämtliche behördlichen, amtlichen Schriften und Anmeldungen für das Wohndomizil, die Schule, die Krankenkasse und anderes geordnet sein mussten. Wie sie mir später, bei einem der wenigen vertraulichen Gesprächen mitteilte, hatte sie noch ein weiteres Problem. Rudolf begann sie sexuell zu bedrängen und zu nötigen. Noch war sie darauf angewiesen, in dieser für uns kostenlosen Wohnung bleiben zu können. Als Dank und Gegenleistung erwartete nun Rudolf, dass sie sich sexuell erkenntlich zeigte. Beim Rudolf hatte sich einiges an sexuellem Verlangen angestaut. Musste er doch, weil seine liebenswerte Frau seit Jahr und Tag schwer krank war, auf diese ehelichen Selbstverständlichkeiten verzichten. Er war katholisch und ein geregeltes Fremdgehen kam für ihn nicht in Frage. Zudem lebte er nicht in dem Milieu und Freundeskreis, in dem es gang und gäbe war, sich für die sexuellen Bedürfnisse und Erfüllungen, eine Geliebte oder eine Nutte zuzulegen. Das lag wohl auch finanziell nicht drin. Er war ein Prolet mit Prinzipien, durch und durch. Und welche Perspektiven boten sich ihm an, der nun kurz vor der Pensionierung stand und trotzdem noch einiges über Manneskraft verfügte? Der doch noch so seine Wünsche und Bedürfnisse hatte? Aus der Sicht von Rudolf gab es also einige, vermeintlich gute Gründe und Selbstverständnisse, sich an Bluma heranzumachen. Das war doch wohl ein Wink des Himmels, musste Rudolf gedacht haben, dass sie, die junge und vollbusige Bluma, mit der er ja nicht verwandt war, bei ihm einzog. Schliesslich und endlich gab es so etwas wie Geben und Nehmen und Dankbarkeit. Oder sowas, wie höhere Gerechtigkeit. Was da wohl nachts ablief, während Oma, vollgepumpt mit Schmerz - und Einschlafdrogen vor sich her schlummerte und ordentlich schnarchte, Bluma sich verängstigt mit mir im Zimmer verbarrikadierte und nur eines hoffte, nämlich, dass Rudolf sie in Ruhe liess. Opa aber mitten in der Nacht bei uns anklopfte und Bluma pro forma bat, ihm einen Tee zuzubereiten. Und sie, situationsbedingt, nicht nein sagen konnte und dann im Pyjama in die Küche musste . Auf Details ging sie nicht ein. Sie erwähnte nur, dass sie von Rudolf bedrängt wurde und dass dies den Neubeginn in Zürich zusätzlich erschwerte. Noch schwerer wurde der Alltag dadurch, wie Oma als Schwerstbehinderte ihre Notdurft verrichtete und danach gewaschen und gepflegt werden musste. Nun ja , durch eine runde Öffnung im Stuhl, auf dem sie sass, konnte sie in einen emaillierten Blechkübel urinieren. Dieser Napf musste regelmässig geleert werden, nicht nur weil er sich allmählich füllte, sondern auch, weil der Urin mit der Zeit so ziemlich zu riechen begann. Die Ärmste. Ihre verschiedenen Ausdünstungen waren alles andere als einnehmend: Ihre offene Wunde am Bein , die an den Rändern eiterte; ihr Körper der selten gewaschen werden konnte; ihre Kleider, die ebenfalls nicht allzu oft gewechselt wurden. Ein Sammelsurium von schlechten Düften umgaben sie und nur ihre warme und menschliche Ausstrahlung übertünchte den üblen Geruch, der von ihr ausging.
Das Stuhlen allerdings war erheblich schwieriger. Rudolf rollte seine behinderte Elisabetha mit dem Rollstuhl zur Toilette, die sich ausserhalb der Wohnung im Treppenhaus befand und musste ihr unter Einsatz all seiner Kräfte helfen, sich auf den Thron zu schieben. Wie er sie danach wusch und wieder so herrichtete, dass sie mehr oder weniger schmerzlos im gewohnten Sessel, halb liegend, halbsitzend, verweilen konnte, weiss ich nicht. Eine heutige «Spitex» , die professionell Kranke oder behinderte Menschen zuhause betreuten, gab es damals nicht. Vielleicht, dass der Hausarzt sie ab und zu besuchte, doch was konnte er machen? Die Wunde desinfizieren, salben und Oma Schmerzmittel verschreiben. Man stelle sich vor, dass diese bedauernswerte Frau ins Spital eingewiesen werden musste. Übergewichtig wie sie war, mussten kräftige Männer sie in ihrem Rollstuhl drei Stockwerke die steile Holztreppe hinuntertragen. Ein nicht ungefährliches Unterfangen. Die wenigsten Wohnhäuser hatten damals Lifte.
Als Oma später dann gestorben war, dasselbe Szenario, jedoch endgültig. Rudolf, ihr Gatte, musste zusehen, wie der Leichnam von Oma Stufe für Stufe hinuntergetragen und in den Leichenwagen gehievt wurde. Kein Wunder, dass Rudolf anfing durchzudrehen und sich schlussendlich das Leben nahm.
Der Alltag war kompliziert. Die Enge der Wohnung lastete auf uns allen. Zum Beispiel der Gang zur Toilette war ein Unterfangen, welches durchaus seine hässlichen Konsequenzen haben konnte. Dann nämlich, wenn Rudolf glaubte, endlich in Ruhe dort sitzen zu können, um sich zu entspannen und nun dadurch gestört wurde, dass auch Bluma oder ich gelegentlich ähnliche Bedürfnisse hatten. Die erlösende Ruhe war dahin. Oder: Fast immer hatten wir beim Essen ein schlechtes Gewissen. Rudolf sparte nicht mit Bemerkungen, die beinhalteten, dass wir eigentlich nicht willkommen waren und ihm den an sich schon schwierigen Alltag nur noch zusätzlich belasteten. Wir empfanden uns als Bettler und Almosenempfänger, die wir ja in Wirklichkeit auch waren. Oder begab ich mich in die Stube, so lag Oma halbsitzen und halbliegend auf ihrem Krankenstuhl und war vollkommen ihrer Krankheit ausgeliefert. Ein offenes Bein. Eine blutige, klaffende Wunde am viel zu fetten Unterschenkel. Trotz enormen Schmerzen versuchte sie zu lächeln und einige nette Worte zu sagen.
Es war kein herzliches Willkommen, welches Zürich Bluma bereitete. Nach einigen Wochen fand Bluma eine städtische Zweizimmerwohnung am Rindermarkt. Wir zogen dorthin und blieben dort ca. zwei Dekaden.
Rindermarkt 1950
Seite 22
Seite 22 wird geladen
22.  Rindermarkt 1950
Etwas Altstadt Zürich anno 1950

Ich, dreizehnjährig wohnte, eher besuchte nun meine Mutter in der erwähnten kleinen, abgewrackten Zweizimmerwohnung am Rindermarkt 5. Besuchte? Versorgt, gelebt und zu einem rechten Mann gedrillt wurde ich damals in einer Knabenanstalt für verwahrloste Jungs. Halbstarke und Halbkriminelle. 
«Zum Farren» hiess das Haus worin Bluma überlebte. Ein Name, der auf geschlechtsreife, männliche, aber auch weibliche Hausrinder hinweist, die ihrerseits Ursache für den  Strassennamen Rindermarkt verantwortlich waren. In dieser Gasse wurden sie zu Markt, nicht getragen, sondern zusammengepfercht. Hier wurde um die Viecher, die entweder zum Schlachten, die viel Milch versprachen, oder die Zeugungstüchtig waren, gefeilscht, verhandelt, gestritten und bezahlt.

Das Haus war etwa vier Meter breit und hatte fünf Stockwerke, zählte man die dreckige und verstaubte Zinne, die als Abstellraum, auch für schwere und sperrige Winter-Vorfenster und Sommerläden benutzt wurde, dazu. Es war eingeklemmt zwischen mehreren solchen zukünftigen Abbruch- oder Umbauhäusern. An der grauen Fassade bildeten sich bereits etliche Risse und abgeblätterte Verputzflächen. Wollte man von der Strasse her in die eine oder andere Wohnung hinauf, so musste man durch einen schmalen, dunklen Korridor zur steilen gewundenen Holztreppe gehen. In diesem Korridor, der durch eine einsame, elektrische Birne beleuchtet wurde, die ihrerseits an zwei losen Drähten hing, war das blanke Chaos. Gestapelte oder wild verstellte Fahrräder, deren Besitzer diesen Hauseingang als diebessichere Unterbringung benutzten, verengten diesen zusätzlich. Fahrräder, die alles andere als Merkmale von Luxus aufwiesen und heutzutage als Altmetall rasch möglichst entsorgt werden.

Unsere städtische Wohnung im zweiten Stock war eine, die den Namen Wohnung nicht eigentlich verdiente. Eine billige, abbruchreife Bleibe. Ganze 65 Franken kostete die Miete. Die Toilette, ausgestattet mit einem Klosett und Brille aus billigem Holz, hatte eine Grundfläche von höchstens siebzig mal siebzig Zentimeter. Sie befand sich im Treppenhaus auf halber Höhe zur unteren Etage und musste mit dem singenden, schwulen Paar des ersten Stockwerkes geteilt werden. Das konnte dann ordentlich nerven, wenn ich in den Hosen Hochdruck hatte und der schöne Blonde im WC wieder und wieder die Arie: «In diesen heil ‘gen Hallen», aus der Zauberflöte von W.A. Mozart, lautstark brüllte. Vor der Wohnungstüre war die Geissenglocke zum Läuten angebracht.
Betrat man die Wohnung, so befand man sich in einer langgestreckten, schmalen Küche. Links oben hatte es ein kleines Hochfensterchen zum Hof, dessen Fensterflügel man nur dann bedienen konnte, wenn man auf einen Schemel stieg. Daneben ein Besenkasten. Visavis, entlang der Wand dann ein Schüttsteintrog aus geschliffenem Sandstein mit einer tannenhölzernen Tropfablage. Unter dem Trog gab es Tablare für Geschirr, Pfannen, Putzmittel und so weiter. Dann stand da der weiss emaillierte, verschlissene Backofen und darüber der Dreiflammengasherd. Über diesem Herd war auf einem hölzernen Tablar ein kleines, metallenes, aber dickes Monster mit einem gefrässigen Bauch montiert: Der Münzautomat zum Bezug von Erdgas, dessen Zähler einem böse und herausfordernd fixierte und dessen genau bemessener Schlitz schamlos, frech und rücksichtslos befahl, Münzen im Format und Gewicht eines Einfränklers hineinzuwerfen, wollte man kochen oder auch nur heisses Teewässerchen zubereiten. Später dann hat Bluma die Ausstattung mit einem freistehenden 50ltr. Kühlschrank ergänzt, auf dem die Wäsche-Vakuum-Waschkugel, der damalige, neueste Hit in Sachen Wäschewaschen für Singels, stand. Oben, neben der Eingangstüre, war das zweite gefrässige Monster: Der Münzautomat der zürcherischen Elektrizitätswerke. Brauchte man Licht, wollte man bügeln, den Kühlschrank anschliessen, Radio oder Schallplatten hören, so hielt auch dessen Schlitz gnadenlos die hohle Hand zum Einwerfen von Einfränkler hin. Rechts dann, am Ende dieses Küchenganges, waren die beiden Zimmerchen. Dasjenige von Bluma mit Bett, Holzkohlenofen, Kleiderkasten und einem Esstisch mit zwei Stühlen.

Durch drei Fenster konnte man dem emsigen Treiben auf dem Rindermarkt zusehen. Daneben das noch kleinere Zimmerchen für mich. Der Boden und die Decke mit den schweren Holzbalken waren schief und durchhängend. Der kleine Holzkachelofen war ein ebenso hungriges und gefrässiges, zudem jedoch noch ein arbeitsaufwendiges und russverbreitendes Monstrum. Zuunterst hatte er eine Aschenschublade, über der ein drehbarer Rüttelgrill war. Damit auch die letzten Russpartikel in die Schublade fielen, musste man am Metallhebel des Grills heftig ziehen und stossen und dabei ordentlich aufpassen ja nicht die Finger zu verbrennen. Dieser Hebel konnte nämlich durch die noch glühende Glut der Kohle ungemein heiss sein. Bevor man die Asche in den «Ochsnerkübel» warf, lohnte es sich, wollte man einen Hausbrand verhindern, die nun gefüllte Aschenschublade ein ganzes Weilchen ruhen und erkalten zu lassen. Meistens nämlich war sie noch mit glühenden Partikeln durchsetzt, die sich leicht entzündeten. Ein gusseisernes Türchen, mit einem drehbaren Schlitz für die Zufuhr von Sauerstoff, schloss die Brennkammer. Hinter diesem Türchen hatte es noch ein Gusseisengitter, welches verhinderte, dass das voluminöses Feuergut (Holzscheite, Holzkohlen-Briketts oder Steinkohlenschotter), beim Öffnen herausfielen. Etwas weiter oben befand sich noch eine weitere Ofenklappe zum Einschieben von grösseren Holzscheiten oder Holzkohleneiern, Briketts und schlussendlich Steinkohlenbrocken. Am schwarzen Blechkaminrohr gab es noch einen Hebel mit dem man das Ausglühen der Glut verlängern konnte. Nach Rauch riechen tat es sowieso und die Brennware vom Kellerabteil in die Stube hinaufzutragen, war mühsam und beschwerlich. Die Farbe der Kacheln war ein gemustertes Grün und der Rahmen bestand aus schwarzem Gusseisen. Keine besondere Augenweide. Darauf kam es aber auch gar nicht an. An kalten Wintertagen war dieses Monstrum zum Heizen und, um so zu verhindern, dass wir erfroren, unentbehrlich.
Tages- und Nachtlicht bekamen wir durch drei Fenstern mit Sprossen, die rindermarktseitig platziert waren. Es waren einfachverglaste Fenster, deren Gläser mit sprödem Kitt, der nur noch teilweise vorhanden war, sowie mit eisernen Dreieckspickel gehalten wurde. Zum Verdunkeln und als Schutz vor der heissen Sommersonne gab es pro Fenster zwei saumässig schwere, dunkelgrün gestrichene, hölzerne Jalousieläden mit verstellbaren Lamellen, die im Winter durch ebenso schwere, sperrige und unhandlichen Vorfenstern vertauscht werden mussten.
Das Anbringen der Fensterläden und Vorfenstern war harte und nicht ungefährliche Arbeit. Wären mir die seitlich von den Fenstern in Dornen einzuführenden Jalousieläden aus den Händen gefallen, sie hätten durch ihr Gewicht Menschen und Tiere locker erschlagen können. Ich musste diese am richtigen Orte halten und mit aller mir zur Verfügung stehender Kraft in die Dornenhalterung einführen. Auch für einen erwachsenen, kräftigen Mann ist dieses Auswechseln der Jalousieläden kein einfaches Unterfangen. Eine Herausforderung in Sachen Manneskraft. Zum einen musste man diese Arbeit allein, also ohne Hilfe ausführen und zum anderen war es unerlässlich, um nicht mit samt dem Laden auf die Strasse zu fallen, höllisch aufzupassen, dass man nicht das Gleichgewicht verlor. Dann im Herbst ein zweites Mal ein ähnliches Prozedere: Auch wenn die Hände blau wurden vor Kälte, die Holzläden mussten aus der Halterung herausgehoben und ins Zimmer hinein balanciert werden. Jedes Mal delikate Schwerstarbeit, verbunden mit angstvollen Schweissausbrüchen und innigsten Gebeten.

Die einzige Hilfe, die ich für diese Arbeit in Anspruch nehmen konnte, war die, dass zum Beispiel ein Nachbar unten auf der Gasse stand und die Passanten auf die andere Gassenseite umleitete. Dass ich, der ich noch nicht Mann, aber auch kein Bube mehr war, so schräg aus dem Fenster hinauslehnte, war ein sehr gewagtes Husarenstück. Die Gebete wurden erhört. Ich verursachte keine Leiden, keine Leichen, keine Knochenbrüche oder Kopfschmerzen durch herunterfallende, tonnenschwere Jalousien.

Nachdem die Läden entfernt worden waren, musste der Rahmen der Vorfenster aussen in das dafür vorgesehenen Gewände eingelegt werden und erst dann konnten die eigentlichen Vorfenster eingehängt werden. Auch die Montage der Vorfenster war ein Himmelfahrtskommando. Und die war unbedingt nötig, wollten wir zwei die Winterkälte einigermassen erträglich überstehen. Den sperrigen Holzrahmen in die für ihn vorgesehene Nut einzirkeln, um ihn dann rasch mit zwei seitlichen Winkelhacken in die bereits wackeligen Ösen zu sichern.  Die sechs Jalousieläden im Herbst demontiert, gewaschen, in die Zinne heraufgeschleppt und die drei Rahmen der Vorfenster heruntergetragen, befestigt und die Fensterflügel eingehängt waren. Uff…, jedes Mal ein tiefes Ausschnaufen, wenn diese Schufterei beendet war. Dasselbe Prozedere, jedoch in umgekehrter Reihenfolge, dann im Frühling.

Die Vorfenster waren auch ein zusätzlicher, nützlicher und notwendiger Schallschutz. So wohnten wir doch Visasvis der «Hudlibeitz», die ein steter Treff für brüllende Sauf- und Schlägerkumpanen war. Zuerst, während der Einsaufphase , grölten sie, dann schrien sie sich an, dann flogen die Fäuste, das Blut begann zu spritzen und zum krönenden Abschluss knallten sie sich Bier- oder Weinflaschen über die schon bereits geschundenen Häupter. Bat, schrie oder brüllte man um Ruhe, so begannen die Schläger erst recht auf sich einzudreschen. Ruhe bekam man erst dann, als entweder die Polizei einschritt oder einer der Streithähne jammernd oder fluchend und auf Rache sinnend, das Weite suchte.
Ich hatte da so meine exquisite, eigenständige Methode, dieses Mordio-Geschrei etwas zu dämpfen. So füllte ich entweder einen Plastik - oder einen Papiersack mit kaltem Wasser, öffnete im Sommer (der Sommer war die Hochzeit der Schläger) ganz vorsichtig einen Fensterladen (im Winter den beweglichen Fensterflügel) und schmiss die mit Wasser gefüllten Tüten schwungvoll über die sich balgenden Streithähne. Die waren meistens bass erstaunt und komplett irritiert, woher denn der Platzregen kam, war doch eine kalte Dusche überhaupt nicht im Programm. Bei einem Volltreffer wirkte das frische Wasser meistens und die verärgerten, durchnässten Schlägertypen beruhigten sich und suchten das Trockene und die Wärme auf. Unglücklicher war es allerdings dann, wenn die Tüten neben den Raufbolden auf der Strasse aufschlugen, pflatschten und eine wässrige Schweinerei hinterliessen. Die wutentbrannten Raufbolde, die die bösartige, jedoch verfehlte Absicht sofort erkannt hatten, solidarisierten sich und richteten ihr entfesselte Wut gegen den Absender des nassen Geschosses. Strafe musste sein. Der hinterhältige Störenfried hätte erst recht eine tüchtige Tracht Prügel verdient. Solch gemeines Handeln stachelte die Saufbolde noch mehr an und sie tobten gegen alles und jedes, was in unmittelbarer Nähe war. Dass dabei auch Schau- und andere Fenster in Brüche ging, gehörte dazu. Daher war es sehr klug von mir, dass ich, nachdem ich das wässrige Geschoss heruntergeschmissen hatte, blitzartig im Dunkeln verschwandst. «Weit vom Geschütz, hält alte Krieger», war mein Motto. Die Fensterläden geschlossen, die Fensterflügel zu und Finsternis im Zimmer waren das Gebot der Stunde. Schauten die tapfer kämpfenden Mannen wutentbrannt an der verdächtigen Fassade der Häuser empor, um den frechen Schlaumeier doch noch ordentlich zu verprügeln, so strahlten die Fenster im zweiten Stock völlige Unschuld aus.

Wie schon erwähnt: Die Wohnung von Bluma war ein ausgesprochener «Schlauch», nämlich langgezogen und schmal. Die Decke war sehr niedrig. Die Wohnung hatte die Länge von ungefähr zwölf Gehschritten. Für die Breite der Wohnung brauchte man in der Küche nur noch deren vier und vielleicht fünf Schritte im Bereich der beiden vorderen Zimmer. Die Höhe der Räume entsprach ungefähr zwei Schritten, also zirka zwei Meter. Der Boden neigte sich spürbar gegen die Strasse. Die Oberfläche des zu kochenden Suppenwassers war entgegen der Bodenschräge geneigt, was man beim Einfüllen des Topfes unbedingt berücksichtigen musste, wollte man, wenn das Wasser zu kochen und zu sprudeln begann, nicht immer wieder den Herd säubern. Noch viel aufmerksamer allerdings musste man sein, wenn Milch für den Kakao erhitzt wurde. Der Verputz an den Wänden der Küche war ursprünglich mit hellgrüner Ölfarbe gestrichen. Nun, im Prozess des Alterns allerdings, war diese weitgehend abgeschabt und grossflächig verschwunden, sodass nur noch der sandige Grundputz sichtbar war. Über dem Tannenholzboden, der da und dort durchgetreten und biegsam war, wurde ein gemustertes, dunkles Linoleum lose verlegt. Damals war die Auffassung verbreitet, dass Linoleum hygienisch und putzfreundlich sei. An der Decke hingen durchgekrümmte, gespaltene und gerissene, dunkelbraune Deckenbalken. Sie waren als Tragelemente für den Boden des nächsthöheren Stockwerkes verantwortlich. Die Wände in den beiden Zimmern waren mit hellgrünem, mattgestrichenem Täfer verkleidet. Eine einfache, zirka zweieinhalb Zentimeter dünne Holzwand trennte Blumas Zimmer von meinem. Eine Wand, die wegen ihres respektablen Alters da und dort Spalten aufwies. Ringhörig und sogar ringsichtig, wie diese Wohnung war, war es verständlich, dass Bluma Hemmungen hatte, Besuche, gar männlichen Besuch, einzuladen. An der hofseitigen Wand, im Innern der rechten Küchenecke waren sämtliche Leitungen sichtbar verlegt. So die Eisenrohre der Kaltwasserleitung und dem Erdgas, das Gussrohr für das Abwasser und den Fäkalien, wie auch die elektrischen Zuleitungen.
Das Sammelsurium sämtlicher flüssiger Abfälle, wie diejenigen von den Toiletten oder von den Schüttsteinen, waren an diesem gusseisernen Abfallrohr angeschlossen. Und getreu ihrer Aufgabe schwemmte es diese Brühe in die öffentliche Kanalisation. Die Fertigwindeln für Bébés gab es damals noch nicht und so hatte man selten Ungemach mit diesem Abfallrohr. Einen hörbaren Nachteil hatte sie allerdings dennoch: Spülten die Bewohner des obersten Stockwerkes ihre Notdurft herunter, so rauschte und klapperte es auch bei uns in der Küche. In diesem Haus hatten wir keine telefonischen Installationen.
Die Kaltwasser- und Gasleitung bestanden aus verzinktem Eisenrohr, ungefähr vier Zentimeter dick und hatten einen hellen, trockenen Klang, wohingegen das gusseiserne Abwasserrohr, welches weiss bemalt war und einen Durchmesser von zirka zwölf Zentimetern aufwies, eher dumpf und röhrig klang. Und da über uns der homosexuelle Herr Lutz, der schon etwas in die Tage gekommen war, und unter uns das junge, singende, schwule Pärchen wohnten, war es mehr als nur natürlich und gegeben, dass sie, mittels telegrammartigen Klopfens an den Rohren, miteinander kommunizierten. Vielleicht, dass, wenn es dreimal hell und trocken am Wasserrohr klopfte, dies eine Einladung an die untere Partie war, doch husch für einen `Dreier` nach oben zu kommen. Oder wenn es nur dreimal, aber kräftig, dumpf am Abwasserrohr polterte, dies eine Gegeneinladung der unteren Partie, zum möglicherweise gleichen Zweck, an die Obere war. Auch konnte es sein, dass, wenn sie an den Leitungen nur sanft schürften, es Liebes- und Freundschaftsbezeugungen sein mochten. Oder trommelte und wirbelte es an den Leitungen, dann hatten sie wohl Zoff miteinander: Eifersüchteleien, zu lautes und zu falsches Gebrüll, zu wenig eingekauft beim Lebensmittelgeschäft von Herr Lutz und so fort. Waren sie fröhlich und gutgelaunt, verärgert oder traurig: Das ganze Haus durfte an ihren Gefühlsausbrüchen teilnehmen. Den Rohren sei’s gedankt.
Das Haus war, wie schon erwähnt, bevor es in den Siebzigerjahren von einem renommierten Architekten renoviert wurde, ein schmaler, fünfstöckiger, altgedienter Schuppen, eingekeilt, wie viele seinesgleichen, in die linke Häuserzeile des Rindermarktes. Rindermarkt! Man stelle sich nur vor, wie hier vor einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten Rinder zur Paarung oder zum Schlachten zu Markt geführt wurden…
Rosengartenstrasse 1970
Seite 23
Seite 23 wird geladen
23.  Rosengartenstrasse 1970
Etwas Vorstadt Zürich anno 1970


Die Rosen-Garten-Strasse ist alles andere als eine Rosen-Garten-Strasse. Von Rosen keine Spur mehr und wenn Gärten, dann gut versteckt, so, dass Buntes quasi nicht sichtbar und erlebbar war und ist entlang dieser Strasse. Steil ist sie, die Verbindung zwischen dem Bucheggplatz und dem Escher-Wyss-Platz. Als eine der meistbefahrenen Strasse der Schweiz hat sie schweizweiten Ruhm erlangt. Entsprechend luftverschmutzt und lärmbelastet ist sie. Rauf und runter krochen und quälten sich rumpelnd, quietschend und hupend, tonnenschwere Lastwagen mit riesigen Anhängern, blaugrauen Rauch herauspustend, durch diese Strasse. Und zwar nonstop. Rauf und runter, Tag und Nacht, ob bei fliessendem Verkehr oder bei Stau, das Rollmaterial steht und rollt. Zwischendurch dann flitzten geile Sportboliden und heisse Zweiradstühle durch diese einst als Umfahrungsstrasse geplante Verkehrsberuhigungsverbindung und akzentuieren mit ihrem Geheul das Strassengewimmer. Mit Ausnahme einer Bäckerei gab es weit und breit kein Lebensmittelladen für den täglichen Einkauf. Nur eine verruchte, heruntergewirtschaftete Quartierkneipe zierte die Öde dieser Strasse. «Rosengarten» hiess sie und diente als Treff für hauptsächlich einsame oder unglücklich verheiratete Männer allen Alters. Kurz eine trübe, triste und graugrässliche Strasse.

An dieser Strasse wohnte ungefähr ab 1970 Bluma. Sie war nun in den Fünfzigern. Bei mir ging es gegen die dreissig zu und ich führte, nach der zweiten Scheidung, ein eigenständiges Dasein. Wie sie ihren Alltag verbrachte, ist mir nicht bekannt, weder welchen Beruf sie ausübte noch welche Beziehungen, wenn überhaupt, sie pflegte. Vage erinnere ich mich an den Besuch eines Deutschen Paares mittleren Alters, die einen grauenhaften Eiercognag als selbstgemachtes und hochgelobtes Geschenk mitbrachten. Eine gelbliche, dünnflüssige Masse die noch mit Schlieren von rohen Eiern durchsetzt war. Die Begegnung war derart banal und unverbindlich, dass sie nie wiederholt wurde, zumindest ohne mein Beisein. 

Über eine schmale Treppe erreichte man den Hauseingang, der hinter dem Haus war. Dann einen Treppenlauf und man stand vor der Wohnungstüre . Die Zweizimmerwohnung war genauso trist, wie die Rosen-Garten-Strasse. Grau in Grau. Nirgends etwelche Farbtupfer. Auch Hofseitig: Weit und breit keine Rosen , weder gelbe, rote oder gar weisse. Geschweigen denn rosige Düfte.
Betrat man die Wohnung, so befand man sich zuerst in einem keinen Vorplatz. Rechts dann die eine Türe zum WC/Bad und die zweite Türe zur einfach ausgestatteten Küche mit Gasherd, Kühlschrank, Ausguss und Warmwasserboiler, ebenfalls gasbetrieben. Beide Nasszellen waren gegen den Hof orientiert. Auf der linken Seite des Vorplatzes dann zwei Zimmertüren, eine zur Stube und die andere zum Schlafzimmer. Beide Zimmer waren gleich gross und hatten je ein Fenster mit Doppelverglasung und seitlichen Fensterläden. Machte man das Fenster auf, so schwamm man akustisch im Lärm der Diesel und Benzinmotoren und schnupperte man vorsichtig mit der gerade freigeschnäuzten Nase die Luft ein, so bekam man eine geballte Portion Abgase in die Bronchien. Unweigerlich führte das Schnuppern zu höllischem Husten und befreiendem Spucken.
Wieso Bluma in diese grauenhafte Wohnung zügelte, ist mir nicht bekannt. Das Schicksal musste sie wohl dorthin geschunden haben. Es ist schwer vorstellbar, dass sie freiwillig an diese stinkende und donnernde Strasse hinzog. Trotzdem: Dies Bleibe bot die beste Wohnqualität, aller ihrer Wohnungen.
 
Bluma lebte nicht lange an dieser trostlos, tosenden Strasse. Sie zog weiter an die Riesbachstrasse im Seefeldquartier in das Appartement, wie Eingangs beschrieben. 

Bis zu ihrem Lebensende wohnte Bluma ab ca. 1975 an der Riesbachstrasse. (siehe «Ein Sterben in Zürich» ab Seite 1)
Urheberrecht
Seite 24
Seite 24 wird geladen
24.  Urheberrecht
Das Copyright liegt bei mir. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne meine schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. 

Bezüglich dieser Publikation auf meet-my-life.net gelten die Bestimmungen
der AGB’s von meet-my-life.net.
René Krebs  11.Jun.2023
UNSERE FÖRDERER
Bearbeiten Inhaltsverzeichnis
Klicke das grüne Plus-Zeichen an. Du hast dann verschiedene Möglichkeiten, dein Inhaltsverzeichnis und deine Fragen zu bearbeiten. Z. B. Neue Kapitel kreieren, eigene Fragen "erfinden", Kapiteltitel und Fragen abändern.
Kleine rote Kästchen neben den Fragen bedeuten, dass zu diesem Text ein Leserkommentar abgegeben wurde. Du findest ihn oben im Funktionsmenü (neben dem Druckbefehl).
Das kleine Buchsymbol neben den Fragen zeigt dir an, dass du dazu schon etwas geschrieben hast und der Text gespeichert wurde.
Funktionsmenü
Über diese Buttons kannst du verschiedene Funktionen aufrufen: Speichern deines Textes, Drucken und Fotos oder Dokumente einfügen, die Kommentare deiner Leser anschauen und entscheiden, wie du mit ihnen verfahren willst. Oder die für dich angenehmste Schriftgrösse zum Schreiben einstellen. Über die Funktion Drucken kannst du deinen Text kapitelweise oder gesamthaft ausdrucken oder auf deinem PC zusätzlich in Word speichern (Befehl Export), was du regelmässig machen solltest. In den FAQ findest du Antworten auf Fragen, die dich vielleicht noch beschäftigen.
Mit diesen Buttons kannst du zwischen verschiedenen Ansichten wechseln. Schreiben, Lesen des aktuellen Kapitels, Lesen des ganzen Textes. Über Vorversionen erhältst du Zugang zur Backup Funktion. Damit kannst du für jede Frage einzeln auf frühere Versionen zurückgreifen oder diejenigen Versionen selbst speichern, die du vorerst behalten möchtest.
Schreibfenster
Klicke links im Scrollbalken auf eine Frage und schreibe in diesem Fenster was dir dazu einfällt, wie du das von "Word" kennst. Dein Text wird jeweils automatisch gespeichert, wenn du auf eine neue Frage wechselst.
143#0#1524#0#0