Zurzeit sind 544 Biographien in Arbeit und davon 324 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 202




Die Koffer sind gepackt; voller Erinnerungen, Träume und Sehnsüchte.
Meine autobiographische Reise steht bevor, ich folge der Landkarte meiner Erinnerungen und vertraue dem Kompass meines Herzens. Kapitel für Kapitel reise ich zuerst nach Afrika, zurück in die Schweiz und…lasst euch überraschen! Aus meiner Schatzkiste der Erlebnisse aus einem bewegten Leben möchte ich das Kostbarste und Prägendste hervorheben. Anfangs weht mir eine kühle Brise der Zweifel und Ängste entgegen; dieser kann ich mit Entschlossenheit begegnen, sodass die Freude am Erzählen überwiegen darf.
Dankbar für die Liebe, die mich trägt.
Im Herbst 2023

Unsere Kinder sind nicht «unsere» Kinder. Es sind die Söhne und Töchter unserer Sehnsucht des Lebens nach uns selbst. Sie kommen durch uns, «aber nicht von uns», und obwohl sie mit uns sind, «gehören sie uns doch nicht…»
Wir dürfen uns bemühen, sie zu beraten und ihnen eine Stütze sein im Aufbau ihrer eigenen Zukunft. Aber wir versuchen nicht, sie uns ähnlich zu machen, denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es beim Gestern.
Wir Eltern freuen uns, die Kinder begleiten zu dürfen und mit viel Liebe und Toleranz ihnen einen Ort des Vertrauens und der Harmonie zu bieten.
Henri René Hänggi, Mai 2004, Papa

Meine Eltern erzählten immer wieder, wie schwer mein Start ins Leben war im März 1967. Als Rhesus-Kind einen Monat zu früh geboren, musste ich die kritische Phase sechs Wochen im Brutkasten überstehen.
«She looks beautiful» soll Omama, meine Grossmutter väterlicherseits gesagt haben beim Anblick ihrer ersten Enkeltochter.
«She’s very sick», die ernüchternde Diagnose der Ärzte.
Eine Nonnenschwester im Marymount Hospital in Kensington, Johannesburg soll sich sehr fürsorglich um mich gekümmert haben. Meine Mutter erinnert sich noch daran, wie die Schwester mir am Entlassungstag ein speziell hübsches Kleidchen angezogen hatte und mich zum Abschied auf die rosigen Wangen geküsst.
Im gleichen Jahr gelang es einem Südafrikanischen Herzchirurgen erfolgreich, die weltweit erste Herztransplantation durchzuführen.
Sandra - meine Mutter schenkte mir diesen Namen, den sie deshalb so schön fand, weil Sandra sie an Sand, Meer, Sonne, Strand und das Wärmende auf dieser Welt erinnerte. Als in der Schweiz Geborene, zu Beginn am Zugersee in ihrem Elternhaus namens «Johannesburg» Aufgewachsene, sah sie ihre Erfahrung in Südafrika als in sich schliessenden Kreis, der von Anfang an einer Bestimmung folgte; jedoch ohne zu ahnen, welch stürmische, hohe Wellen sie erwarteten.
"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"
Maria Magdalena - MAMA ist natürlich die Wunderschönste. Eine wirklich atemberaubend schöne Frau mit ebenmässigen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen, vollen Lippen, unschuldig wirkenden, dunkelblauen Augen umrahmt von einer hellen, schmeichelnden Haarpracht. Sie war sich ihrer Schönheit durchaus bewusst und konnte ihre Vorzüge mit ihrem ausgesprochenen Sinn für Ästhetik optimal zur Geltung bringen. Kein Wunder wirkte sie wie ein Magnet auf unzählige Verehrer - doch Papa konnte sie erobern und damit bewies er exzellenten Geschmack.
Sie heirateten sehr jung in Oberwil/ZG im Jahr 1963, um daraufhin im Wiesenbeetli/ZH einzuziehen und alles für die Geburt ihres ersten Kindes vorzubereiten. Mein Bruder Fernand wurde im August geboren. Zwei Jahre später hiess es Koffer packen und auswandern! Im Dezember 1965 begann mit dem Flug nach Südafrika das grösste Abenteuer ihres Lebens zu Dritt.
«Mama, schtumpe bone, i lov yu », kaum konnte ich schreiben, kritzelte ich ihr meine erste Liebeserklärung mit Bleistift auf ein zerknittertes, kariertes Stück Papier.
«Schtumpe bone», so nannte sie mich in einem liebevollen Ton; was auch immer das bedeutete, es fühlte sich zärtlich an. Zeit mit meiner Mama zu verbringen war kostbar, denn sie war damals nicht sehr präsent in meinem Leben.
Wir wohnten in unserem ersten Haus in Highlands North, JHB. Mein Vater hatte in einer Zementfabrik eine Anstellung als Elektroingenieur gefunden. Im Rahmen eines Neubauprojekts war er verantwortlich für die elektrischen und regeltechnischen Installationen.
Ich bewunderte seinen scharfen Verstand und seinen Mut, sich besonnen immer wieder neu zu orientieren sowie sein Bestreben, für das Wohl der Familie zu sorgen. Nicht immer war unsere Beziehung einfach, umso intensiver erlebte ich die Augenblicke, in denen seine Zuneigung spürbar war. Wenn er mich küsste, kitzelten und kratzten mich seine Bartstoppeln; ich liebte es, wenn er mich neckte und mir zu spüren gab, dass ich ihm wichtig war. Am innigsten verbunden fühlte ich mich mit ihm, wenn er im Swimming Pool mit mir plantschte; mich in die Luft warf, um mich wieder aufzufangen. Spielerisch übten wir Kunststückchen, dabei traute er mir, dreijährigen, so einiges zu - so durfte ich grätschend auf seinen Schultern stehen, während er abtauchte, Schwung holte, um mich daraufhin hoch hinauf fliegen zu lassen, bevor ich ins Wasser zurück platschte. So hoch zu fliegen, um dann in die Tiefen hinein zu tauchen fühlte sich berauschend an. Mein Herz pochte jedes Mal wild vor Aufregung, Spannung und Glücksgefühlen; ich saugte diese unbeschwerten Momente auf wie ein Fisch im Ozean, der in seinem Element ist.
Meine Eltern konnten es sich leisten, eine Nanny für die Betreuung ihrer Kinder anzustellen, und so kam Jeneva Mabote schon einige Wochen vor meiner Geburt zu uns. Die erst Achtzehnjährige war aus ihrem Stamm in Tswana Homeland geflohen, nachdem ihr gesunder Junge infolge einer Steissgeburt des Teufels erklärt und diesem Aberglauben zufolge getötet worden war. Ich wurde vor allem von Jeneva betreut und durch die ersten, prägenden Jahre meiner Kindheit begleitet. Sie pflegte und hegte mich wie ihr eigenes Kind. Meine erste bewusste Wahrnehmung von tiefer Liebe und Verbundenheit assoziiere ich mit Jeneva. Ihre Haut war samtig-weich mit einer dunkelbraunen Farbe überzogen und schmeckte salzig-blumig. In ihren braunen Augen sah ich nur Sanftheit. Sie konnte schon auch bestimmend und streng zu mir sein, jedoch immer mit einem liebevollen Unterton. Ihr schwarzes, fein gekräuseltes Haar bedeckte sie mit einer Haube, die zu ihrer Arbeitsbekleidung passte. Ihr Frohsinn war so ansteckend, dass ich nie lange traurig sein konnte. Wir lachten und tanzten viel zusammen. Ich liebte es, wenn sie mich in ihren Armen wiegte und so beschwingt mit mir zu den Songs von Boney M. tanzte. "Rivers of Babylon" war Jeneva's Lieblingslied - immer wenn ich es höre, denke ich an sie und sehe sie lächeln.
Unser zweites Haus befand sich an der Loch Avenue, Parktown West, JHB.
Ich erinnere mich noch gut an unsere Nachbarn, die Themelis, die mich immer sehr geduldig auf ihrem Klavier herumklimpern liessen. Mit vier gab ich dort schon die verrücktesten Konzerte - es muss sich schrecklich angehört haben, umso mehr bin ich ihnen dankbar für ihr grosses Herz, meinem frühkindlich-musikalischen Ausdruck Gehör und Platz verschaffen zu haben. Dass sich bei den Themelis zwischen hohen und tiefen Tönen der Nebel allmählich zu lichten begann und eine erste bewusste Wahrnehmung von Raum und Zeit, dem ganz-bei-mir- und doch in-der-Welt-Sein einspielte, bleibt mir bis heute in klarer Erinnerung. Wohl auch deshalb, weil das Erwachen des Bewusstseins meiner Selbst in einem Raum, erfüllt von Musik, Akzeptanz und Natürlichkeit genau zur richtigen Zeit an diesem friedlichen Ort entstehen durfte. Ich schwelgte mit den Klängen in Harmonie und Leichtigkeit und fühlte mich in etwas Grösserem aufgehoben. Diese beflügelnde Kraft trug mich in eine noch nie erlebte Freude, während meine Finger schwungvoll über die Tasten glitten.
Die Themelis, die kinderlos waren, belohnten meine Darbietungen mit leckeren Süssigkeiten aus ihrem Heimatland Griechenland.
Irgendwann zwischen dem impulsiven Tanz mit Jeneva und den Klaviersonaten bei den Themelis wurde ein zweites Frühchen geboren.

Am Tag von Henri's Geburt wurde es hektisch im Haus. Jeneva erklärte mir, meine Mama sei im Spital, um mein Geschwisterchen zur Welt zu bringen. Sie hatte einen Anruf erhalten, wonach der behandelnde Arzt die sofortige Einweisung – acht Wochen vor dem Termin – verlangte, um das stark gefährdete Frühchen per Kaiserschnitt zu entbinden. Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich mir als Dreijährige ein Schwesterchen wünschte, das ich behüten und umsorgen konnte und wie stark sich mein Sehnen anfühlte, während ich darauf wartete.
Die Zeit des Wartens, bis es zu uns nach Hause kam, schien unendlich lang.
Henri hatte einen noch dramatischeren Lebenskampf hinter sich als ich. Im Florence Nightingale Nursing Home in Hillbrow, JHB wurde er medizinisch intensiv betreut. Mama erzählte mir Jahre später, wie überaus kräftezehrend und fordernd sie das erste Jahr mit Henri erlebte; da er noch so zerbrechlich und anfällig war für Keime, Bakterien und Viren, musste alles steril und sauber sein.
Die 24/7 - Betreuung des Säuglings teilten sich meine Eltern so gut es ging unter sich auf, wobei meine Mutter schon den grössten Part zu stemmen hatte.
Die vielen schlaflosen Nächte und ihre aufopfernde Pflege des Jüngsten sowie all die Sorgen und Ängste um ihn zerrten an ihren Kräften - ihr Körper geriet völlig aus dem Rhythmus. In ihrer Verzweiflung fing meine Mutter an, sich Schlaftabletten verschreiben zu lassen.
Ich freute mich riesig auf meinen kleinen Bruder, auch wenn er keine Schwester war. Ich weiss noch genau, wie ich ihn auf meinem Schoss halten durfte und wusste, dass ich immer ganz gut auf ihn aufpassen würde. Einmal hätte ihm meine Fürsorge fast das Leben gekostet, wenn nicht unsere Nanny im genau richtigen Moment dazugestossen wäre.
Ich erinnere mich nicht mehr selbst daran; der Erzählung meiner Eltern nach war ich so mütterlich um Henri bemüht, dass ich dem Baby meine Banane füttern wollte. Stück für Stück legte ich ihm die klebrige Frucht in seinen winzigen Mund, bis er blau anlief. Jeneva konnte gerade noch das Schlimmste verhindern.
«Merrily, merrily, merrily, merrily - life is but a dream», ich summte Henri ein Kinderlied vor und wiegte meinen nach Milch und Honig riechenden, kleinen Bruder in meinen Armen. Er schien sich wohl zu fühlen, denn seine Augenlider fielen zu – das Bild von Henri, das in meiner Erinnerung auftaucht, gleicht dem Gesicht eines Engels mit rosigen Bäckchen und Stupsnäschen. Ein feiner, heller Flaum bedeckte sein Köpfchen. Ich beschloss, ihn von nun an zu beschützen: Wehe dem, der ihm auch nur ein Härchen krümmte!
Fernand, unser älterer Bruder, wirkte mit seinem lieben Lächeln eher still und schon als Siebenjähriger sehr souverän – sein sensibles Wesen hatte eine beruhigende, sanfte Art. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich in seiner grauen Schuluniform und den auf Hochglanz polierten Schuhen stolz für seinen ersten Schultag in der Deutschen Schule bereit machte – der helle, blonde Schopf schön ordentlich zurechtgekämmt. Mein stolzer grosser Bruder trat nun in ein neues Abenteuer ein; dies strahlte er so stark aus, dass ich am liebsten mit ihm gegangen wäre. Es war genau an dem Tag, als meine Mutter so hastig zur Entbindung von Henri ins Spital gebracht werden musste. Im «hustle and bustle», der ganzen Aufregung, kam er mir damals wie ein Fels in der Brandung vor.

Unser letzter Umzug in Südafrika nach Steepways, Linksfield Ridge, JHB eröffnete uns als Familie völlig neue Dimensionen. Omama und Opapa, meine Grosseltern, wohnten von nun an bei uns auf einem herrlichen Grundstück mit Haupt-, Neben- und Bediensteten-Haus. Ein anfangs wild wachsender afrikanischer Garten mit riesigem Umschwung wurde im Verlauf der Jahre gepflegt und gezähmt. Dafür hatten wir auch einen Gärtner angestellt. Unsere Angestellten mussten separat in einem Haus wohnen und durften nur zu Dienstzwecken bei uns Weissen gegenwärtig sein. Ich begriff lediglich Jahre später, warum diese klare Trennung so konsequent umgesetzt werden musste. Was das Apartheid-System in Südafrika bedeutete und wie tief verwurzelt die Rassentrennung war, erlernte ich erst eingehender in der Schweiz im Geschichtsunterricht. Erlebbar war sie schon in den ersten Jahren meiner bewussten Wahrnehmung; sie überschattete meine emotionale Bindung zu Jeneva, weil sie eine ungezwungene Beziehung erschwerte.
Frühmorgens klopfte Jeneva jeweils an die Eingangspforte. Ich sprang aus dem Bett, hastete die Treppen hinunter, drehte den Schlüssel im Schloss, riss die Tür auf und fiel ihr in die Arme. Jeden Morgen erlöste uns das Klacken der Entriegelung aus der Sehnsucht nacheinander. An ihrem Herzen fühlte es sich so an, wie wenn die kleine Sandra wie ein Kängurujunges in die Beuteltasche des Muttertiers hineinschlüpfte, um alles einzuatmen, was es an Vertrautheit, Geborgenheit und Nähe aufzusaugen gab. Ich hörte ihr Herz pochen und klammerte mich noch mehr an sie; sie roch so wunderbar nach dem, was mich glückselig erfüllte.
Ich konnte und wollte nicht begreifen, warum Jeneva nie zusammen mit uns am Tisch speisen, nie mit uns gemeinsam einen Ausflug unternehmen, picknicken oder mit uns zusammen in meinem Lieblingsrestaurant Chinesisch essen durfte. Ich flehte meine Eltern an, ihr ausnahmsweise an meinem siebten Geburtstag zu erlauben, dabei zu sein. Das wäre das grösste Geschenk für mich gewesen. Aber stets hiess es, der Kontakt ausserhalb ihres Dienstplanes sei untersagt; an eine einleuchtende Erklärung, die ich hätte verstehen können, besinne ich mich bis heute nicht. Vielleicht muss es so sein, dass sich mein Vorhang des Vergessens über dieses dunkle Kapitel gelegt hat. So schnell gab ich aber nicht auf; Jeneva und ich fanden einen Weg, uns öfter als erlaubt zu treffen, an einem Ort, der von meinem Vater derart vehement zum Sperrgebiet deklariert wurde:
«ES ISCH SCHTRÄNGSCHTENS VERBOTE DEET ANE Z’GAH!».
«I will meet you at the house, after lunch» - flüsterte ich Jeneva am Mittagstisch ins Ohr; sie blinzelte mir zustimmend zu. Das Kribbeln unter der Haut bei der blossen Vorstellung unseres geheimen Treffens brachte mich elektrisierend in die Wirklichkeit zurück. Während Jenevas freier Zeit nach dem Lunch sollten wir Kinder jeweils einen Mittagsschlaf machen, der mir überflüssig vorkam, da ich zu dieser Tageszeit sowieso nicht mehr schlafen konnte. Ich war ja schon gross genug, mich auch anderweitig zu beschäftigen. Oft langweilte ich mich während diesen zwei längsten Stunden des Tages - es war eine Qual, zumal wir unser Zimmer nicht verlassen durften. Mit Spannung lauschte ich den Geräuschen im Haus; sobald diese verstummten, schlich ich barfuss nach unten, spähte um die Ecke, um nicht doch noch ertappt zu werden, huschte hinaus und rannte so schnell mich meine Füsse tragen konnten zum Haus unserer Angestellten. Alle Häuser waren aus massivem Stein gebaut, auch das der Bediensteten. Ich erinnere mich an den intensiven, nach Fleisch, scharfen Gewürzen und Meali-Pap riechenden Eingang, der nicht hell und einladend wirkte, sondern dunkel und kühl. Ich tastete mich leise den düsteren Flur entlang zu Jenevas Zimmer. Es war sehr bescheiden eingerichtet – möbliert mit nicht viel mehr als einem Holzschrank, kleinem Tisch, zwei Stühlen und einem Bett, das auf Backsteinen höher gestellt war. Das wunderte mich sehr, deshalb fragte ich sie:
«Why is your bed on bricks?»
«To keep the Tokoloshi away – so he can’t climb on my bed at night», antwortete Jeneva mit Furcht in den Augen.
«Who is the tokoloshi?», wollte ich wissen.
«The devil that comes to kill at night.»
«Why kill you?», ich erschrak und wollte es genauer wissen.
«Because he hates grown-ups.»
Das Schreckgespenst, das sie eben beschrieben hatte, war ihrem Aberglauben zufolge ein schwarzer, haariger, kleiner Teufel - nicht grösser als einen Fuss - der sich nur in der Nacht heranschlich, um die erwachsenen Menschen grausam herzurichten. Deshalb stellte sie ihr Bett höher auf die Backsteine, damit er nicht hinaufklettern konnte. Die Kinder mussten keine Angst vor ihm haben, denen gegenüber war er freundlich gesinnt, erklärte mir Jeneva. Trotzdem wurde ich das mulmige Gefühl nicht los, dieser Tokoloshi könne auf mein Bett krabbeln und uns im Schlaf Böses antun. Vor dem Einschlafen bückte ich mich von nun an immer wieder, um unter meinem Bett nachzuschauen, ob sich dieses kleine Ungeheuer nicht doch hier versteckte und Mörderisches ausheckte. Erst als ich nach einer Weile immer noch nichts entdeckte, konnte ich meinen kleinen Bruder und mich wieder in Sicherheit wiegen.

Ich erzählte Henri nichts vom Tokoloshi, er sollte weiterhin ruhig in meinem Bett schlafen können. Eigentlich hätte er – inzwischen vierjährig – in seinem eigenen Zimmer übernachten sollen, doch jeden Abend schlich er sich zu mir unter die Decke. Dabei nahm ich eine Strafe von Papa in Kauf, sollten wir entdeckt werden. Henri genoss noch den Schutz seiner Mutter, die es ihrem Ehemann untersagt hatte, ihn mit Gewalt zu erziehen. Unser Vater zog seine strenge Linie stets durch - Gott bewahre denjenigen, der seiner strikten, militärischen Disziplin Widerstand und Ungehorsam leistete oder, noch schlimmer, keine Beachtung schenkte. Da kannte er keine Gnade und liess mich mit jedem Peitschenhieb leibhaftig spüren, wo ich Grenzen überschritten hatte. Ich litt anfangs sehr unter dieser Zucht und Ordnung, später switchte mein Körper unbewusst automatisch auf Standby, um dem körperlichen Schmerz zu entkommen. Mein Bewusstsein und Empfinden waren nicht mehr an meinen Leib gebunden. Sobald sich die Bedrohung anbahnte, «entglitt» ich meinem Körper, sodass er empfindungslos blieb.
Nein, niemals würde er das gemeinsame Zubettgehen erlauben; da war jedes Flehen und Betteln vergeblich. Jeder hatte in seinem eigenen Zimmer zu schlafen, und so war unser urmenschliches Bedürfnis, beisammen zu sein, erneut stärker als die Angst vor den harten Konsequenzen.
Es gab Nächte, da konnten wir nicht einschlafen, was unseren Erfindergeist belebte. Eines Nachts waren wir so übermütig, dass wir beschlossen, ein Konzert einzuüben. Ich sang inbrünstig zu den Melodien, die Henri auf seiner Kinder-Gitarre zupfte. Anfangs musizierten wir ganz leise, mit einem Ohr lauschend, ob sich im Untergeschoss etwas regte. Irgendwann waren wir so leidenschaftlich in unserem Element, dass wir alles um uns herum vergassen und lauthals loslegten. Wir fühlten uns danach herrlich befreit, noch tiefer verbunden - eins durch die Musik, und die Welt lag uns zu Füssen. Ich erinnere mich auch noch an jenen Abend, an dem die Lust nach Süssem uns wachhielt. Ich kuschelte mich an Henri, merkte, dass er ebenfalls nicht schlafen konnte und knipste das Licht an; ich sah, wie er mich schelmisch angrinste. Wie so oft dachten wir in dem Moment genau dasselbe: Condensed milk! Wir schlichen uns nach unten in die Küche, durchstöberten so leise wie möglich die Schränke, bis wir fündig wurden. Eine Büchse mit gezuckerter, kondensierter Milch würde unseren «Gluscht» stillen. Es dauerte nochmals eine Weile, bis wir den Büchsenöffner in einer Schublade mit dem Besteck entdeckten. Ein kleine Öffnung auf der einen Seite, eine andere auf der gegenüberliegenden würde genügen, die süsse, klebrige Masse aus der Dose zu saugen. Wir schleppten die gelöcherte Büchse in unser Bett, wo wir in Ruhe genüsslich schlemmen konnten. Den Rest stellte ich unters Bett, falls wir morgen wieder Lust danach verspürten.
Am nächsten Abend war die kondensierte Milch nicht mehr an dem Ort, an dem ich sie hingestellt hatte. Zuerst verdächtigte ich den Tokoloshi, sie geklaut zu haben. Henri wunderte sich auch schon, warum die angefangene Dose nicht mehr unter dem Bett stand. Ich konnte ihm ja schlecht erklären, dass der kleine, schwarze Teufel vielleicht dahinter steckte, und so fiel mir spontan die Antwort ein: «Jeneva! Sie hett die büchs bim putze gfunde und versorget.» Henri nickte und nuschelte: «Sie darf em papa aber nüt sägä!» Ich wusste, dass Jeneva uns niemals verraten würde. Und genauso war es. Mein Vater erfuhr erst von unseren nächtlichen Eskapaden, als wir selbst erwachsen waren und es ihm erzählten. Er schmunzelte und meinte: «Ja, das isch ä liebi, treui seel gsi, die Jeneva.»

An Weihnachten durften wir immer so lange aufbleiben, wie wir wollten. Meistens war Henri derjenige, der am längsten durchhalten konnte – wenn schon dann schon – das hiess für ihn die ganze Nacht durchmachen. Nach dem traditionellen Fondue Chinoise - Schmaus versammelten wir uns vor dem Tannenbaum, der mit bunten Kugeln, Gold- und Silberfäden aufwendig geschmückt war. Ein golden-glitzernder Stern ragte zuoberst auf der langen, schmalen Spitze des Baumes. Das weisse Engelshaar verlieh dem weihnächtlichen Zauber etwas Himmlisches. Es duftete nach Mailänderli, Zimtsternen, Anis-Chräbeli und dem Dattelpudding, der mit warmer Vanillesauce serviert wurde. Wir lauschten den vertrauten Liedern, währenddem ich Henri beobachtete, wie er auf Mamas Schoss ungeduldig hin und her rutschte und die Geschenke beäugte; seine grossen Kulleraugen wanderten von einem Päckchen zum anderen. Auf seinem Gesicht tanzten die Umrisse der flackernden roten Baumkerzen und seine Pfaus-Bäckchen glühten von der Hitze. In Johannesburg war es im Dezember sommerlich warm, was uns das grosse Glück bescherte, am 24. bis Mitternacht im Pool plantschen zu können. Das war für uns Kinder ein immer wiederkehrendes, tolles Erlebnis. Zudem wurden wir jedes Jahr grosszügig beschenkt. Meine Eltern schienen hellseherische Fähigkeiten zu besitzen, stets trafen sie ins Schwarze. Beim letzten Jingle Bells - Geläut war es dann endlich soweit - wir stürzten uns auf die Geschenke, die meine Mutter so wunderschön eingepackt und dekoriert hatte. An «Father Christmas» glaubte ich schon lange nicht mehr.
Meine Puppe nannte ich Rose. Als ich sie auspackte, trug sie ein hellblau-weiss kariertes Kleidchen mit einem breiten Kragen und kurzen Puff-Ärmelchen. Die weissen Söckchen mit gesticktem, elastischem Rüschelsaum waren bis über die Knöchelchen hochgezogen. Ich verliebte mich augenblicklich in Rose - sie war so gross wie ein echtes Baby, mit einem lieblich-lächelnden, menschlichen Ausdruck im Gesicht, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. «Solch ein zuckersüsses Kind möchte ich haben, wenn ich einmal gross bin», dachte ich mir. Ich schämte mich nicht, mit sieben noch mit «Bäbis» zu spielen. In dem Alter war ich immer noch sehr verträumt und liebte es, in die Mutterrolle zu schlüpfen. Unterdessen war bei meinen Brüdern der dritte Weltkrieg ausgebrochen - sie bekämpften sich gegenseitig mit ihren Spielzeugsoldaten. Das war nicht zu überhören, denn sie ahmten mit ihren Stimmen und Gesten die Geräusche der Maschinengewehre, Bomben und Kanonensalven nach. Eines nach dem anderen gingen wir zu Bett, nur Henris Soldaten - von seinen fuchtelnden Händen geleitet - kämpften bis in die frühen Morgenstunden. Als er sich zu mir ins Bett schlich, war ich schon wieder wach und trippelte die Treppe hinunter, um Jeneva die Tür zu öffnen. Ich wollte für Rose unbedingt eine Decke stricken, deshalb bat ich Jeneva, mir das Stricken beizubringen. Sie erfüllte mir diesen Wunsch, auch wenn sie improvisieren musste: Aus Zweigen schnitzte sie mir zwei Stricknadeln. Einen roten Wollknäuel konnte sie irgendwo auch noch auftreiben. Geduldig zeigte sie mir, wie man eine rechte Masche strickt. Ich übte so lange, bis ich diese Kunst beherrschte.
Es raschelte irgendwo im Gebüsch – ein schwarzer Schatten huschte durch den riesigen Garten hinter unserem Haus. Wie schon so oft war ich mit Rose im Arm Stufe um Stufe hinaufgestiegen, um sie an einem lauschigen Platz zu füttern.
Ich setzte mich hin, zog mein gestreiftes Oberteil hoch und gab Rose die Brust. Ich summte ihr ein Lied vor und wiegte meinen Körper hin und her im Rhythmus der Melodie. Ich war so traumversunken, dass ich nicht bemerkte, wie Salomon sich mir näherte. Plötzlich stand er vor mir, lächelte mich an und fragte, ob er sich neben mich setzen dürfe. Ich zögerte, denn obwohl ich unseren Gärtner kannte, erschrak ich, weil er mich so überraschend aus meiner Verzückung gerissen hatte. Ich legte Rose in meinen Schoss, bedeckte meine nackte Brust und strich ihr übers Köpfchen.
«Sweet baby», bemerkte Salomon, «what’s her name?»
«Rose».
«Good mummy», lobte er mich. Er setzte sich neben uns.
«Let me be the daddy of Rose»
Ich dachte nichts Böses, es war ja ein Spiel - eine Rolle, in die er hineinschlüpfte.
«Are you hungry?»
Ich nickte.
«Come with me, I can cook meali-pap for us.» Dabei strich er mir übers lange, blonde Haar und sagte: «We are family».
Ich liebte meali-pap, einen festen Brei aus Maismehl, aus dem man mit den Fingern kleine Kügelchen formen konnte, um sie in eine leckere, würzige Gemüse- oder Fleischsauce zu tunken, bevor man sie in den Mund schob. Die Afrikaner assen meistens am Boden in einem Kreis um die dampfenden Töpfe herum, was ich schön fand, weil es ein Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinschaft entstehen liess.
Salomon führte mich ins Bediensteten-Haus, den langen, düsteren Korridor entlang zu seinem Zimmer, das ich noch nie betreten hatte. Meine geheimen Besuche bei Jeneva waren mir jedes Risiko wert, dieses hier realisierte ich nicht einmal. Ich muss derart in dieser Vater-Mutter-Kind-Phantasie befangen gewesen sein oder so hungrig, dass ich nichtsahnend in die tiefste Erschütterung meines Kindseins hinein wandelte. Er legte Rose auf sein Bett, mich neben ihr und sich über mich. Ehe ich es begriff war der dunkelste Schatten in mir und riss den Vorhang meiner kindlichen Unschuld entzwei. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht schreien, nicht denken, nicht fühlen. Ich war wie gelähmt.

Nichts würde mehr so sein, wie es war. Dieser bewusste Gedanke schwebte in meinem Kopf, während ich benommen in die Welt hinaustrat; ans Tageslicht, das nicht mehr schien; in mein Zuhause, das keines mehr war; ins Schuldgefühl, das meine Sinne betäubte und in die Scham, die an mir haften blieb. Ich wollte alles wegwaschen, vor allem diesen aggressiven, intensiven Geruch nach salzigem Schweiss, der an mir klebte. Ich rubbelte meine Haut wund; duschte, badete, seifte meinen Körper ein, doch es half nichts. Ich fühlte mich schmutzig und zerschunden. Ich hatte etwas Böses, Schlimmes getan und durfte es niemandem sagen, dachte ich. Die Strafe, die ich dafür bekommen würde, könnte ich nicht verkraften. Also schwieg ich und versuchte unbewusst, mich irgendwie aus meiner Haut zu retten. Zuerst mussten die langen Haare weg. Ich folgte einem inneren Impuls, nicht mehr ein Mädchen sein zu wollen. Eines Abends - meine Eltern waren ausser Haus - nutzte ich die Gelegenheit, Fernand darum zu bitten, mir meinen Rossschwanz abzuschneiden.
Er fragte verdutzt:
«Du meinsch das nid ärnscht, oder?»
«Moll. Bitte, Äni, bitte schnyd mini haar ab», flehte ich ihn an.
Fernand zögerte, sein Blick schien mich zu durchleuchten, er konnte immer noch nicht fassen, dass ich es Ernst meinte. «Aber du hesch doch so schön langi haar, das duuret ewig, bis sie wider nahwachset», versuchte er mich zu überzeugen: «Ich chan dini schpitze ä bitzli abschnyde und dini schtirnfransle…»
«Nei, alles muess wäg. Bitte, ich gib dir öppis defür - was chani dir gäh?»
«Nüt», sagte er bescheiden, «ich machs, wenn du das würklich wottsch.»
Fernand überlegte nicht mehr lange, nahm die Schere, die meine Mutter jeweils zum Haareschneiden benutzte - sie war gelernte Coiffeuse - und schnitt mir die langen Haare ab. Dort, wo das Haargummi den Rossschwanz zusammengehalten hatte, ragte nur noch ein schiefer Büschel heraus. Mir war das Wurscht, Hauptsache kurz!
Keiner von uns hatte daran gedacht, wie unsere Eltern darauf reagieren würden. Mein Vater war ausser sich vor Wut, er wollte den Übeltäter zur Rechenschaft ziehen mit einer gehörigen Tracht Prügel. Meine Mutter konnte dies verhindern, indem sie Fernand im Bad einschloss, bis sich Papa wieder beruhigt hatte. Das liebliche Bild von seiner Tochter mit den hellblonden Engelshaaren war jäh zerstört worden. Er konnte ja nicht ahnen, wie tief diese Verstümmelung wurzelte. Ich wollte meinen Bruder schützen und gestand, dass ich Fernand darum gebeten hatte, mir die Haare abzuschneiden. Papas Ausdruck des Unverständnisses sehe ich noch heute vor mir. Mama musste mir daraufhin einen radikalen Kurzschnitt verpassen und besänftigte meinen Vater: «Das wachst ja schnäll wider».
Von nun an wollte ich nur noch ein Junge sein. Ich legte mir nebst Hosen, T-Shirt und der Knabenfrisur auch eine dicke Haut zu. Mein Umfeld schien ratlos, wieso plötzlich dieser Wandel vom puppenspielenden, verträumten Mädchen zum sich wild raufenden, mit den Brüdern auf dem Skateboard rasenden Kind, das sich die Knie wund schürfte, plötzlich so hart im Nehmen.
Es war ein Battle gegen mich selbst und dem Schatten, der sich bis in meine Seele hineingebohrt hatte.
Ich musste jedoch weiterhin in meiner Mädchenuniform in die Englische Schule. Ich stellte mir einfach vor, mein hellblaues, knielanges Röckchen wäre nun - wie das der Schotten – gerade der letzte Schrei, «en mode» in der Männerwelt. Der dunkelblaue Blazer, mit weiss-gelben Streifen, hätte ebenso auch für Knaben durchgehen können. Viel wichtiger war, mich in meiner neuen Rolle behaupten und durchsetzen zu können – unverwundbar und unbesiegbar. Ich besuchte das McAuley House, eine reine Mädchenschule, die von katholischen Schwestern geführt wurde. Ich liebte all die musischen Fächer wie Theaterspielen, Musical, Tanz, die Kunst sowie den Tennisunterricht, in dem ich mir Kraft, Wendigkeit und Ausdauer aneignen konnte. Im Schwimmen war ich eine der Besten und durfte an Wettkämpfen teilnehmen. Mit der Zeit stärkte dies mein Selbstvertrauen und das Bewusstsein, ein Leader zu sein. Ich gründete eine Gang, die sich in den Pausen mit den anderen Banden messen konnte. Die Kontrolle und Macht über das Geschehen auf dem Schulhof zu haben, befeuerte mich. Die Gruppe, die ich anführte, konnte viele Siege feiern, und ich merkte, wie ich zunehmend Respekt und Anerkennung erntete. So vermehrte sich die Zahl meiner «Anhänger». Im Verlauf der Jahre fühlte ich mich unbezwingbar.

«Jesus loves me, this I know, for the bible tells me so», dieses Lied vermittelte mir die wichtigste Botschaft in meinem Leben: Ich werde geliebt, so wie ich bin. Bevor ich in der McAuley eingeschult wurde, wusste ich nicht, wer dieser Jesus und was eine Bibel ist. Meine Eltern hielten sich traditionellerweise an die Taufe und Kommunion/Konfirmation, aber sonst schienen sie keinesfalls im christlichen Glauben verwurzelt zu sein. In der McAuley lernte ich alles über Liebe, Fürsorge, den Dienst am Nächsten, die Gebote und das Verzeihen. Werte, die das Feuer in mir neutralisierten und mich zurück in meine sanfte Wesensart führten. Mein Herz öffnete sich allmählich wieder dem Licht, meinem zuhause, der Welt und mir selbst. Für meine tänzerischen und schauspielerischen Skills bekam ich Auszeichnungen, die mich mein Potential und meine wahre Identität neu entdecken liessen. In der immer tiefer werdenden, vertrauensvollen Bindung zu Jesus fand ich Trost, Versöhnung, Frieden. Einen bedingungslos liebenden Vater im Himmel zu haben war das grösste Geschenk, das ich mir vorstellen konnte.
Eine eigene Bibel und einen Rosenkranz zu besitzen war an meinem neunten Geburtstag mein sehnlichster Wunsch, der in Erfüllung ging. Jeneva schenkte mir einen rosafarbenen Rosenkranz, von meinen Eltern erhielt ich die schönste kleine Bibel, die ich je gesehen hatte - Hardcover, in crèmefarbenem Weiss, mit einer metallischen, silbrigen Verzierung.
Ich hütete das kleine Buch wie einen Schatz und begann, Henri von Jesus zu erzählen und aus der Bibel vorzulesen:
«When Jesus had again crossed over by boat to the other side of the lake, a large crowd gathered around him while he was by the lake. Then one of the synagogue leaders, named Jairus, came, and when he saw Jesus, he fell at his feet. He pleaded earnestly with him, «my little daughter is dying. Please come and put your hands on her so that she will be healed..»
Jesus went where the child was. He took her hand and said to her,«Talitha koum!» (Little girl, I say to you, get up!). Immediately the girl stood up and began to walk around.»
Ich merkte, wie der Funke zu ihm hinübersprang und verspürte eine enorme Freude. Er fragte mich, wie Jesus aussieht und ob ich ihn jemals gesehen hätte, in echt.
«Ja, i ha Jesus in ächt gseh.»
«Würklich?!? Wie gseht er uus?», Henri richtete sich auf, um in meinen Gesichtszügen besser erkennen zu können, ob ich die Wahrheit sagte.
«Ja, würklich, es isch mis gheimnis, das darfsch niemerem wytter verzelle!»
«Ich säg niemerem öppis - ehrewort - wo hesch ihn gseh?» fragte er nun sichtlich aufgeregt und ungeduldig.
«Inere chile» antwortete ich ihm, «mir händ mit de klass än uusflug deet ane gmacht.»
«Und…?»
«Alli sind nachem bsuech i de chile wyder use - ich bin aber no blybe und ha die farbige chilefänschter no wellä aaluegä, die sind so schön! Zum sie chönne male han ichs genau wellä aaluegä». Im Moment des Erzählens spürte ich erneut leibhaftig die Faszination beim Anblick der bunten Kirchenfenster, die ich bei einem Ausflug mit der Klasse in aller Stille bewundern konnte, nachdem alle die Kirche schon verlassen hatten. Die intensiven Farben und Motive erzählten die Leidensgeschichte des Erlösers in einem besonderen Glanz; je nachdem, wie das Licht einfiel, veränderte sich das Farbenspiel, und das Leben Jesu wurde lebendiger denn je.
«Und denn, heschen gseh? Säg ändlich!» drängte Henri mich.
Ich zögerte, ob ich ihm meine Jesusbegegnung wirklich erzählen sollte, ob er mir glauben würde, ob er mein Geheimnis für sich behalten könnte, ob es wirklich das Richtige wäre, es einem Sechsjährigen preiszugeben…Ich erzählte ihm alles wahrheitsgetreu, was ihn mit Staunen und Bewunderung erfüllte.

Eines Morgens erwachte ich; mein Bruder Henri lag nicht neben mir, dafür ein fremdes Mädchen mit braunen, langen Haaren, das ich noch nie gesehen hatte. Sie schlief friedlich neben mir; zuerst dachte ich, ich träume. Als sie mit einem tiefen Atemzug erwachte, blickten mich zwei dunkelbraune Rehaugen freundlich an. Sie lächelte und sagte: «Hoi».
«Hoi, wer bisch du?» fragte ich sie.
«Alexia, ich bin dini kusine».
«Vo wo chunnsch du?»
«Vo züri, mir sind ganz lang gfloggä», erklärte meine Cousine Alexia und räkelte sich aus den weichen Daunenkissen. Sie gähnte und fügte hinzu: «Ich bin mit mama, papa und de Debora da. Hesch du nid gwüsst, dass mir chömed?»
«Nei, niemer hett mir öppis gseit - isch Debora dini schwöschter?» - ich wunderte mich schon, warum mir niemand etwas gesagt hatte, dass uns meine Cousine mit ihrer Familie aus Zürich besuchen würden. «Ja, Debora isch mini schwöschter.
Sie isch no äs baby», erklärte sie mir. Neugierde überfiel mich, ich hüpfte aus dem Bett und wollte Debora unbedingt sehen.
«Sh-sh-sh-sh», ermahnte mich Alexia, «sie schlaaaft sicher no, mir müend lyslig sy!»
Alexia erzählte mir, dass sie mit ihrer Familie in einer Wohnung in Zürich lebt und schulfrei bekommen hat, um eine Weile hier bei uns Ferien zu machen. Debora, ihre kleine Schwester, habe schon ein paar Zähnchen, rote Haare und während des langen Flugs viel geweint, weshalb wir jetzt leise sein sollten, denn bestimmt schlafe sie noch.
«Bisch du au scho gfloggä?» wollte Alexia wissen.
«Ja, scho äs paarmal, ich liebe s’flüüge. Mir sind amix go schifahre uf davos und arosa. Einisch bini allei nach südafrika zrugg gfloggä. Mini eltere händ no länger welle i de "Emiler wohnig" in züri blybe - aber ich han zrugg id schuel müesse». Alexia staunte, dass ich schon mal alleine nach Südafrika geflogen war: «Hesch du kei angscht gha?» fragte sie mich.
«Im flugzüg nie, aber dass mich niemert abholt am flughafe, da hani bammel gha»… ich erinnerte mich daran, dass ich keine Angst gehabt hatte, alleine zu fliegen, wohl aber Panik, dass mich niemand am Flughafen abholen würde. Alleine auf mich gestellt war ich während des Flugs ja nicht, eine Stewardess der South African Airways hatte sich sehr lieb um mich gekümmert.
«Wer isch dich denn go abhole?» fragte Alexia.
«Omama und Opapa».
Ich erzählte ihr von meiner Grossmutter, die in einem Nebenhaus wohnte und in einer Galerie arbeitete, so wie mein Onkel, der Bruder meines Vaters, auch.
Opapa wohnte in einem anderen Nebengebäude getrennt von Omama. Er war ein eher stiller, in sich gekehrter Mensch, der mir immer sehr leid tat, weil er viel alleine in seinem Zimmer hockte und auf mich eher traurig und melancholisch wirkte.
Sein Gesicht erhellte sich, wenn wir Kinder ihn besuchten, um mit ihm eine Partie «Dame» zu spielen. Dazu naschten wir die Petit Beurre - Guetsli, die er uns mit einem Glas Milch offerierte.
«Chum mir gönnd go de opapa bsueche, er isch so ällei und hett froid we mir chömed», schlug ich vor. Alexia fand es eine tolle Idee, Opapa zu besuchen. Ich lieh ihr etwas zum Anziehen aus, sie war ja etwa gleich gross wie ich. Wir schlichen die Treppe hinunter, an der Küche vorbei hinaus in den Garten, um die Ecke, die steinernen Stufen hinauf zur Wohnung meines Grossvaters. Durchs Fenster konnte ich im gedämpften Licht der Wohnzimmerlampe seine dunkle Silhouette mit der markanten Nase erkennen; er sass wie üblich in seinem Fauteuil und las die Zeitung.
Mit Alexia verband mich von Anfang an eine innige Zuneigung - wir waren irgendwie auch seelenverwandt, dachten oft dasselbe, nahmen die Gegebenheiten ähnlich wahr, hatten die gleichen Interessen und verstanden einander blindlings. Wenn wir zusammen waren, waren wir unzertrennlich. Ich liebte sie wie eine Schwester. Als sie nach Hause zurückfliegen musste, versprachen wir uns, einander zu schreiben und uns bald wiederzusehen.

Manchmal besuchte ich Omama in ihrer Gallery 101 in Johannesburg. Sie war eine intelligente Geschäftsfrau mit einer sehr charmanten Art, den Menschen zu begegnen. Sie setzte sich mit viel Leidenschaft dafür ein, afrikanischen Künstlern einen Raum zu bieten, damit sie gesehen, anerkannt und gefördert werden. Ihr französisches Flair umgab sie wie eine frische Brise, und ich bewunderte ihre Weltoffenheit, Grosszügigkeit sowie ihren guten Geschmack. Sie nahm mich gerne mit zum Shoppen, was jedes Mal ein Highlight für mich war. Omama beriet mich bei der Wahl meiner Kleider und verhalf mir so - ohne es zu wissen - zurück zu einem Gefühl der Weiblichkeit. Sie selbst war immer exquisit und modebewusst gekleidet, was ihre Persönlichkeit sehr apart zum Ausdruck brachte - chic à la Wahnsinn. Sie war eine Geniesserin, weshalb es dann anschliessend auch was Feines zum Schlemmen gab. Wir beide liebten Süsses, und so gönnten wir uns stets unsere Lieblingspatisserie. Sie war eine phantastische Köchin - wenn ich an ihre zart gebratenen, saftigen Beefsteaks mit den selbst gemachten Pommes frites denke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ihre Früchtekuchen waren ebenso legendär wie die «beignets», die sie auf Vorrat backte.
Wenn ich an Omama denke, weht ein Duft von «Muguet du Bonheur» um meine Nase, ein Parfum aus Maiglöckchen, das Freude, Leichtigkeit und den Frühling aufleben lässt. Heute noch liebe ich diese Essenz, die mich meine Sinnlichkeit entdecken lässt. Opapa schenkte es ihr immer im Mai, wo auch immer er war, das berührte mich sehr, denn es zeugte von einem Liebesbeweis, der in ihrem Zusammenleben oft nicht spürbar war. Opapa war in seinen aktiven Arbeitsjahren viel unterwegs als Erbauer von Bierbrauereien im Ausland. Omama war zwar eine starke, selbstbewusste und eigenständige Persönlichkeit, doch was Herzensangelegenheiten betraf, wirkte sie eher kühl und abgebrüht. In ihrer Ehe war sie eindeutig die Dominante; sehr bestimmend und aufbrausend in ihrem Verhalten Opapa gegenüber. Ich fand die Art und Weise, wie sie ihn behandelte, verletzend und unfair. Er wehrte sich nie, liess alles mit sich geschehen. Das tat mir im Herzen weh, denn ich sah, wie sehr er darunter litt. Ach, könnte doch dieser Muguet - Duft bis ins tiefste Innere von Omama dringen und ihrer verwundeten Seele eine frühlingshafte Verwandlung sowie Sanftheit, Freude und Heilung schenken. Und Opapa die Kraft, für sich und sein Lebenswerk einzustehen.
Mein Onkel Fernand Francis besuchte uns in Steepways eher selten mit seiner Familie. Die Brüder hätten nicht unterschiedlicher sein können - mein Vater ein überaus intelligenter Kopfmensch mit akademischen Stärken und wissenschaftlichen Interessen, «uncle» Fernand, auch sehr gescheit, ein Künstlerfreund, Träumer, Idealist. In seinen Anfangsjahren fand er bei verschiedenen Banken eine Anstellung und versuchte, ein Rivella-Standbein in Afrika zu errichten, was aber scheiterte. Später engagierte er sich immer mehr in der Galerie seiner Mutter, bis er voll und ganz die Geschäftsführung übernahm. Fortan setzte er sich mit viel Herzblut für afrikanische Künstler und deren Förderung ein, auch wenn es finanziell für seine Familie nicht einfach war, über die Runden zu kommen. Als Neunjährige erfasste ich diesen krassen Gegensatz der Lebensumstände beider Familien zwar nicht rational, spürte es umso mehr instinktiv, wie diese Schere eine emotionale Verbindung der Brüder entzwei schneiden konnte. Uncle Fernand heiratete Caroline Nicholson, deren Familienzweig nach England zurückführt; infolge der Kolonialisierung eroberten die Briten viele Ländereien im südlichen Afrika. Ihre Eltern betrieben die Flora Farm in Marquard (in der Provinz Free State).
Drei Kinder entstammten dieser Ehe: Françoise und die jüngeren Zwillinge Alexander und Henriette.

Zu jener Zeit fühlte ich mich irgendwie unwohl, in einer Familie aufzuwachsen, die sich jeden Luxus leisten und - oberflächlich gesehen - alles zum Leben hatte, wovon manche nur zu träumen wagten. Seit ich denken und realisieren konnte, wie privilegiert wir waren, solch einen Lebensstandard zu geniessen, sträubte sich etwas in mir, diesem Lebensstil nachzueifern, geschweige denn, ihn mir einzuverleiben. Vielleicht auch deshalb, weil es mir derart bewusst war, wie meine Nanny als Geschöpf zweiter Klasse behandelt wurde und ich das so herzschreiend ungerecht empfand, zu welchem Preis die Privilegierten bereit waren, ihren Luxus auf Kosten der weniger Bemittelten, aufgrund ihrer Hautfarbe Ausgegrenzten auszuleben. Ein stark ausgeprägtes Gefühl der Gerechtigkeit scheint noch immer in meinen Genen vorherrschend, sodass ich mich bis heute nicht daran gewöhnen kann, dass die einen so viel haben und die anderen ums Überleben kämpfen müssen; eine Hautfarbe vergoldet und die andere in den Dreck gezogen wird. Es sollte einfach alles gerechter verteilt und gleichwertiger sein, dachte ich mir damals schon. Offenbar fehlte es auch an der nötigen Sensibilität, diese Missstände wahrnehmen zu können oder es war für die Menschen in meinem Umfeld zu anstrengend, darüber zu reflektieren und einen Schritt aus ihrer Komfortzone zu wagen zugunsten eines gesünderen Gleichgewichts. Noch ahnte ich nicht, zu welchen Mitteln mein Vater selbst greifen würde, um die materiellen Wünsche erfüllen zu können. So muss ich nun von jenem Tag berichten, an dem ich wusste, das Hänggi-Konstrukt fällt in sich zusammen, und es wird niemals mehr wie zuvor.
Es läutete an der Eingangstür. Zwei Polizisten standen in dunklen Uniformen breitbeinig und respekteinflössend unter dem Türrahmen.
«Is Mr. Haenggi here?» fragte der eine mit tiefer Stimme, «Mr. Henri René Haenggi …?».
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter; ich sass auf der Treppe nach oben, zu den Kinderzimmern.
Im Schatten der anbrechenden Dunkelheit konnte ich die Szene live mitverfolgen; sie hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie der feuerrote Teppich, der die Stufen überzog, auf die ich mich kurz zuvor hingesetzt hatte.
Meine Mutter kam ins Stottern, stammelte sowas wie:» He’s not here, I don’t know where he is …».
Sie stand sichtlich verunsichert vor den Gesetzeshütern und konnte so auf die Schnelle keine Gambler-Miene aufsetzen. Das merkten die Cops und hakten nach: «We have to come in and check!»
Mein Vater wurde verhaftet und weggeführt. Die Schockwellen breiteten sich bis unter die Haarwurzeln aus - in meiner Erschütterung war das einzige, was ich intuitiv begreifen konnte, dass jetzt unsere «heile» Welt zusammenbrach und das Unheil seinen gnadenlosen Lauf nehmen würde.
Um nicht für lange Zeit ins Gefängnis gesperrt zu werden, floh mein Vater in die Schweiz. Ich sah ihn erst einige Monate später wieder, als wir an einem verregneten Oktobertag im Jahr 1978 nach einem langen, sehr traurigen Flug in Zürich ankamen.


Hänggi - Stammbaum (leider nicht gut lesbar) - gelb markiert die Linie aufsteigend von Bischof Hänggi, 1917 (also in der Zeit zurück). Papa liebte es, akribisch genau Stammbäume zu erstellen.
Werdegang Papa
Thank God we can't see what lies ahead...
I still miss her like crazy

Sein Blick ist im Vorübergehen der Stäbe
So müd geworden, dass er nichts mehr hält
Ihm ist’s, als ob es tausend Stäbe gäbe
Und hinter tausend Stäben keine Welt
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte
Der sich im allerkleinsten Kreise dreht
Ist wie ein Tanz von Kraft und Mitte
In der betäubt ein grosser Wille steht
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
Sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein
Geht durch der Glieder gespannte Stille
Und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke

Die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten, die Wut auf Papa schon eher - diese schluckte ich bei einer Tasse heisse Schoggi mélange, die er uns in einer Beiz im Flughafen Kloten bestellte, einfach herunter. Der kalte Herbstregen schlug mir ins Gesicht, während ich ins Auto stieg, das uns in ein neues Zuhause nach Geroldswil, ZH führen sollte. Der Himmel weinte kalte Tränen, meine schmeckten salzig und kullerten warm die Wangen herunter. Ich konnte den Fluss nicht bremsen, er löste sich wie ein gewaltiger Strom aus meinem Innersten und quoll tröpfchenweise aus den Augen, bis ich erschöpft und müde einschlief.
Als ich am Morgen erwachte, hoffte ich, ich hätte den Alptraum des Abschieds aus Südafrika nur geträumt. Ich erinnerte mich an die Monate vor unserem Flug in unsere neue Heimat und an den Schmerz, Jeneva für immer verlassen zu müssen. Ich ahnte damals, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde. Am Tag der Abreise hatte ich mich in meiner Verzweiflung unter dem Bett versteckt, um bei meiner Nanny bleiben zu können. In meinem Kopf rasten die Gedanken hin und her, währenddem mein Herz ganz klar entschieden hatte, bei Jeneva in Afrika zu bleiben. An das Schlachtfeld in meinem Kopf erinnere ich mich noch genau. Die eine Seite kämpfte dafür, mit Henri und meiner Familie mit in die Schweiz zu ziehen, die andere hielt mich hier in Afrika fest, wo ich mich verwurzelt und heimisch fühlte; wo meine Freundinnen, meine Gang, Omama und Opapa weiterleben würden …
… wo ich meine wichtigste Bezugsperson und afrikanische Mama würde zurücklassen müssen. Ich war hin- und hergerissen. Nur mein Herz wusste, wo es hingehörte. Ich kauerte unter meinem Bett, hoffte, nicht entdeckt zu werden, flehte Jesus an, mich unsichtbar zu machen, damit ich bei Jeneva bleiben durfte. Ich hielt den rosa Rosenkranz in einer Hand und betete still - stiller - am stillsten …
… ich hörte ihre Schritte, sie kamen hastig die Treppe hoch, machten in meinem Zimmer halt. Mein Herz pochte wie wild, ich konnte den Puls an meinem Hals fühlen. Mit der anderen Hand klammerte ich mich an einen Bettpfosten. Es gab kein Entkommen. Sie trugen mich die Treppe hinunter, ins Taxi, währenddem ich schluchzte und immer wieder schrie: «Nei, nei, nei! Ich chume nid mit, ich chume nid mit, ich chume nid mit!!!»
Wie betäubt kam ich mit meiner Familie im Jan Smuts International Airport in Johannesburg an. Jeneva begleitete uns zum Gate - von hier aus gab es endgültig kein Zurückkehren mehr:
Point of no return. Jeneva umarmte mich innig, ich wollte sie nie mehr loslassen. Sie küsste mich und sagte: «Be brave, Sandra, one day you will forget me.»
«No, never!» stammelte ich, ungläubig darüber, dass sie sowas überhaupt denken konnte. Ich klammerte mich noch fester an sie und bettelte: «Come with us to Switzerland, please Jeneva, come with me!»
«Listen, Sandra, I can’t come with you. I leave you my address … », dabei drückte sie mir einen kleinen Notizzettel in die Hand, darauf stand: Jeneva Mabote, ….. , Bloemfontain. An die genaue Adresse kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich schrieb ihr unzählige Briefe, um meinen Schmerz und die Sehnsucht nach ihr irgendwie zu stillen.
Zwei Jahre lang schrieb ich mir die Seele aus dem Leib, nie bekam ich eine Antwort. Nach dieser langen Zeit des Ungewissen, wie es Jeneva erging, und warum sie nie auf meine Briefe antwortete, die ich meinen Eltern für die Post aushändigte, versiegten die Tränen.
In meinen Träumen hörte ich sie mir ins Ohr flüstern: "Smile for me, Sandra, please smile for me."

Wir wohnten in einer Eigentumswohnung, die meiner Grossmutter mütterlicherseits gehörte und die sie uns für die schwierige Anfangszeit in der Schweiz vorübergehend zur Verfügung stellte. Mein Vater war ohne Job, also musste meine Mutter eine Arbeit finden. Sie bekam eine Anstellung als Ladendetektivin in einem bekannten Zürcher Kaufhaus. «Muetti» besuchte uns in regelmässigen Abständen; sie hatte keine feste Bleibe und machte die Runde bei ihren Kindern, die sie jeweils für einen Monat bei sich aufnahmen. Ich staunte, als mir meine Mutter erzählte, ihre Mama habe in neuneinhalb Jahren acht Kinder geboren: Heinz, Marlis, Maria Magdalena, Edmund, Rolf, Willi, Kristin, Roswit. Muetti und Dädi, der Vater meiner Mutter, waren beide Lehrer gewesen, wohnten zuerst in Cham, später zogen sie ins Schwändeli auf den Walchwiler Berg. Ihre Ehe scheiterte, die Kinder lebten teils bei der Mutter, teils beim Vater. Dädi verstarb mit 63 Jahren an Magen-Darmkrebs. Muetti musste zwei Weltkriege miterleben, was sie sehr geprägt hatte. Den Salat süsste sie stets mit Zucker, die grosse Packung der günstigsten Trockenkekse, die sie jeweils mitbrachte, rationierte sie streng, bevor sie sie gerecht verteilte. Wasser- oder Stromverschwendung waren ein schweres Delikt und immer hiess es: «Damals im chrieg hämmir müesse spare und luege, dass mir überhaupt überläbä chönnd mit däm, was mir händ!»
Sie war eine streng gläubige Katholikin, die mich das Fürchten lehrte und mir ein ganz anderes Verständnis vom liebenden Vater im Himmel vorlebte, als ich es in der katholischen Schule "McAuley" in Johannesburg hatte erfahren dürfen. Wenn ich etwas angestellt hatte (zum Beispiel ihre zu buttrigen, süssen Marmeladenbrötchen, die sie mir zum Frühstück servierte, heimlich einfach hinter mein Bett kippte), drohte sie mir: «Wenn das de lieb Gott im himmel gseht, chunnsch id höll!» oder: «Wenn du nid folgsch, beschtraaft dich Gott, er gseht alles!!!» Ich erstarrte beim Gedanken, mein Vater im Himmel würde mich vor Zorn in die Hölle verbannen. Das Bild vom lieben Gott verblasste in meiner Vorstellung allmählich. Die Beziehung zu Jesus verflüchtigte sich, bis sie nur noch im Verborgenen schlummernd darauf wartete, wiedererweckt zu werden.
Die Schönenberger-Treffen, die auf dem Walchwiler Berg stattfanden, waren eine gute Gelegenheit, meine Schweizer Cousins und Cousinen kennenzulernen. Alexia war mir ja schon wohlvertraut, dadurch, dass wir seit unserer ersten Begegnung mit einer unsichtbaren Nabelschnur verbunden waren und seit meiner Einschulung in der Schweiz die gleiche Schulbank drückten. Ich hatte aufgrund meiner Defizite in Mathe und Hochdeutsch ein Jahr wiederholen müssen, deshalb landete ich in Alexia's Primarschulklasse bei Herrn Unternährer. Sie wohnte damals mit ihrer Familie in Oetwil a.d.Limmat, dem an Geroldswil angrenzenden Dorf. Ihre Schwester Debora war inzwischen zu einem kleinen Wildfang herangewachsen; die Dreijährige hing noch sehr an ihrer Mama "Chrigel", derjenigen Schwester, die am innigsten mit meiner Mutter verbunden war. Wir spielten oft «Räuber und Poli» im grossen Garten im Schwändeli, dem herrlichen Anwesen hoch über dem Zugersee. Mama hatte einen Teil ihrer Kindheit hier verbracht. Die kleine "Marlen" (Maria Magdalena) litt als Kind unter Asthma, weshalb die Eltern entschieden, ein Haus über dem Nebelmeer zu kaufen.
Muetti wollte ihre Enkelkinder an diesen Anlässen immer auch fördern, indem sie ihnen ihre Rätsel- und Matheaufgaben in Form eines Wettbewerbs zu lösen gab. Ich versuchte mich irgendwie vor diesem Wettstreit zu drücken, da ich nicht mit den anderen mithalten konnte und mir die Mathematik und das «müetterliche» Rätseln keinen Spass machte. Ich fühlte mich immer dumm und völlig fehl am Platz. Alexia hingegen war blitzgescheit und gewann meistens, was ihr eine schöne Belohnung bescherte. Ich bewunderte ihre Intelligenz, Schlagfertigkeit und ihren Humor. Für mich verkörperte sie zu der Zeit alles, was ich nicht sein konnte: Sie war eingebettet in einer fürsorglichen Familie und fest verwurzelt in einer Kultur, die mir kühl, zu kopflastig und distanziert vorkam. Ich vermisste die Herzenswärme meines Geburtslandes, das Musische, das mein kreatives Selbst genährt hatte und die tiefe Liebe, die ich mit Jeneva hatte erleben dürfen. Ich dachte an die letzten Tage, die Mama in Südafrikas grösstem Nationalpark für uns organisiert hatte. Es war eine Abschiedsreise der ganz besonderen Art, wie es der Regisseur meines Lebens nicht eindrücklicher hätte inszenieren können; mit Erlebnissen, die mir noch heute unter die Haut gehen.
(Aus aktuellem Anlass: Am 9. Oktober 2023 verstarb ein weiterer Onkel - Rolf Schönenberger - an Krebs.
Seine wunderschön selbst gedichteten Abschiedsworte möchte ich euch nicht vorenthalten, der Uhu überbringt sie auf leichten Schwingen:
"In quälend lang durchwachter Nacht
hab ich über meinen Krebs nachgedacht
hoffte, dass die Nacht schnell verrinne
da vernahm ich des Uhus Stimme
Unter meinen Flügeln bist Du geborgen
vor Verzagtheit, Angst und Sorgen
und magst du einmal nicht mehr
setz Dich nicht weiter zur Wehr
dann breite ich meine Flügel aus
und trag dich weit übers Meer hinaus
hin zum sanften Sonnenuntergang
mit hoffnungsvollem Neuanfang"
Rolf Schönenberger)

Hunter fuhr mit seinem Jeep auf die holprige Strasse durch das Revier, das er beaufsichtigte. Er wurde meinen Brüdern und mir als unseren Führer durch den Kruger National Park vorgestellt. Er trug einen breiten Safarihut, der sein kantiges Gesicht vor der Sonne schützen sollte. Seine Haut war braun gebrannt und wirkte auf mich wie gegerbtes Leder, das zäh und widerstandsfähig den äusseren Einflüssen stand halten konnte. Er bewegte seinen muskulösen Körper wie eine geschmeidige Raubkatze, die jederzeit bereit war, einer Gefahr zu begegnen. Hunter weckte in mir einerseits Neugier, andererseits Befremdnis.
Irgendwie schienen die beiden vertraut zu sein, denn zwischen Hunter und Jenny, wie er meine Mutter nannte, knisterte es nicht nur am Lagerfeuer. Sie hielten Händchen, tauschten verliebte Blicke aus und umarmten sich. Ich war irritiert; konnte meiner Wahrnehmung nicht trauen und zweifelte an meinem Gespür für das Wahrhaftige - vielleicht auch, um nicht wahrhaben zu wollen, was sich da abspielte?! Es konnte doch nicht sein, dass Mama mit einem fremden Mann flirtete, währenddem Papa in der Schweiz alles für unsere Rückkehr vorbereitete?!?
Wir wohnten in einem Camp in einfachen Bungalows aus Lehm und Stroh. Tagsüber waren wir schon frühmorgens auf der Pirsch, um die geschützten Tiere beobachten zu können. Es war unglaublich aufregend, die schwarzen Büffel, schläfrigen Löwen, friedlich grasenden Antilopen und eleganten Giraffen vom Jeep aus zu betrachten. Hunter kannte auch die geheimen Orte, abseits der Touristentracks, wo sich das schönste aber auch gefährlichste Spektakel ereignen sollte. Zu Fuss waren wir durch dürres, karges Buschland unterwegs, als sich plötzlich, wie aus dem Nichts, ein grauer Riese vor uns aufrichtete, so nah, dass mir der Atem stockte. Ich war derart fasziniert und hypnotisiert vom Anblick des Elefanten, dass ich den Warnruf: «Get down, quick!» zu spät realisierte. Ich hörte das Flattern der grossen Ohrflügel, sah, wie der lange Rüssel wie ein Tentakel nach uns zu greifen schien. Ein tiefes Schnaufen dieses imposanten Tieres, dessen braune Augen mich in den Bann zogen, riss mich aus meiner Verzauberung und zu Boden. Ich hörte das Klicken des Gewehres, das Hunter bei sich trug. Der Elefant bewegte sich einen Schritt vorwärts, stand nun keine 50 Meter vor uns. Der Wildhüter machte sich bereit, wenn nötig, zu schiessen. Die Zeit stand still während dieser gefühlten Ewigkeit, und die angespannte Situation wirkte bedrohlich - lebensbedrohlich: Was würde als nächstes passieren? Ich hielt die Luft an und betete. Doch es geschah nichts. Ich blinzelte zu Hunter hinüber, der durch das Visier seines Gewehres spähte, den Zeigfinger am Auslöser.
Alexia zupfte mich am Ärmel und fragte: «Hey, träumsch? Es gitt jetzt chuechä und nachher spiele mir no äs theaterstuck.» Ich durfte in diesem Theaterstück die Prinzessin mit den langen, goldblonden Haaren spielen und meinen Cousin Thomas, der mir schon sehr traulich war, küssen. Ich getraute mich jedoch nicht, seine Lippen zu berühren. Erst recht nicht vor den Zuschauern, die zwar nur aus uns Kindern bestand, trotzdem peinlich genug, um damit eine Komödie aufführen zu können! Obwohl ich nur in die Rolle schlüpfte, fühlte ich mich wie eine echte Prinzessin: schön, begehrt, edel und erhaben. Zum ersten Mal flatterten die Schmetterlinge im Bauch, währenddem ich meinem Prinzen die Hand reichte, damit er mich zum Tanzen führe …
Im Schwändeli waren genügend Schlafplätze vorhanden für diejenigen, die erst am nächsten Tag abreisen wollten. Ich lag in einem Massenlager im Bett mit dem warmen «chriesi-schtei-chüssi» unter meinen Füssen und erinnerte mich an die Tänze mit Jeneva, die ich so sehr liebte. Ich vermisste sie immer noch jeden Tag schmerzlich, vor allem nachts, wenn meine Gedanken zu ihr nach Afrika reisten.
Mit jedem Trommelschlag spürte ich diese Leidenschaft in mir, mich der tänzerischen Bewegung hinzugeben, völlig losgelöst. Auch Im Kruger National Park tanzten wir meist im Kreis um das Lagerfeuer herum, ungezwungen, ohne zu bewerten oder denken; frei im körperlichen Ausdruck. Ich fühlte, wie der Schreck der Begegnung mit dem Elefanten von mir abfiel und ein Gefühl des Schwebens sich in mir ausbreitete. Beim Tanzen befand ich mich in einem Zustand der Ekstase und fühlte mich verbunden mit dem Rest der Welt.
Hunter hatte Ruhe und Nerven bewahren können. Wie durch ein Wunder hatte sich der graue Riese abgewendet und war schwerfällig wieder im Gebüsch verschwunden. Daraufhin hatte er sein Gewehr beiseitegelegt und erleichtert ausgeatmet. Die ganze Last der Verantwortung fiel von seinen Schultern, und wir blieben noch eine Weile auf dem Boden liegen, dankbar für die erlösende Wende.
Auf einem unserer Streifzüge entdeckte Hunter bei einem Felsen eine Baby-Python-Schlange, die er in einen Beutel steckte, den er immer bei sich trug. Die braun gemusterte Würgeschlange wurde im Camp in einen geflochtenen Korb gesteckt und mit einem Deckel zugedeckt. Solange dieser Korb vor unserer Hütte stand, konnte ich kein Auge zudrücken. Ich malte mir aus, wie sie hinauskroch, um uns zu erwürgen. Ich wagte es nicht, etwas zu sagen, deshalb hielt ich insgeheim Nachtwache, um auch meine Familie zu beschützen. Zum Glück war der Korb mit der gefährlichen Schlange am darauffolgenden Tag verschwunden.
Herrlich erfrischend und prickelnd war das Bad in einem Fluss, in dem auch Krokodile schwammen, nur wusste ich das nicht - sonst hätte ich mich bestimmt nicht auf dieses Abenteuer eingelassen. Erst im Nachhinein erwähnte es Hunter beiläufig, dem wir inzwischen vollends vertrauten und der uns eine aussergewöhnliche und spannende Reise in die Traumwelt der afrikanischen Wildnis ermöglichte. Rückblickend bin ich sehr dankbar für diese einmalige Erfahrung, die mich noch tiefer ins Herz der afrikanischen Seele geführt hat.

In Marcel Buchmann, den Nachbarsjungen, war ich heimlich verliebt. Er wusste nur noch nichts davon, und das war gut so. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, dennoch wich ich seiner Nähe aus, weil ich mich dabei unwohl fühlte. Ich konnte es mir selbst nicht erklären; ich sehnte mich nach seiner sanften Berührung und doch löste dies einen Fluchtreflex in mir aus. Immer, wenn er mich halten oder berühren wollte, rannte ich davon. Dabei war er ein sehr netter Junge, der keiner Fliege was antun würde. Wenn er lächelte, wurde es mir warm ums Herz. Im Gegensatz zu seiner älteren Schwester Claudia, die schwarze, gewellte Haare hatte, war Marcel ein Blondschopf. Darüber wunderte ich mich immer wieder, wenn ich die beiden nebeneinander sitzen sah. Seine ruhige, angenehme Art machte es mir leicht, mich in seiner Gegenwart behaglich zu fühlen, solange er mir nicht zu nahe kam. Wenn er mich mit seinem liebenswürdigen Blick zu intensiv ansah, wurde ich verlegen und unsicher – ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Was er wohl von mir dachte, wenn ich mich so komisch verhielt und einfach davonrannte? Stimmte etwas nicht mit mir? Oder dachte er, es stimme etwas mit ihm nicht? Solche Gedanken beschäftigten mich, denn ich spürte, dass das nicht «normal» sein konnte. Alleine würde ich diesem Leidensdruck nicht standhalten können, deshalb weihte ich Alexia in mein Geheimnis der ersten "Liebe" ein. Sie riet mir, ihm einen Brief zu schreiben, in dem ich meine Gefühle offenbarte.
Ich zögerte lange, bis ich mich an meinen Schreibtisch setzte und zu schreiben begann. Ich war erstaunt darüber, wie leicht mir die Worte plötzlich aus den Fingern aufs weisse Papier glitten. Meine Sätze tauchte ich in verschiedene Farben - das erinnerte mich an den Regenbogen; wenn man ihn sah, durfte man sich was wünschen und hoffen, dass es in Erfüllung ging. Dies brachte Leichtigkeit in das Schwere, das ich nicht aussprechen konnte und mich belastete, weil ich es nicht einordnen konnte.
Da ich den Mut nicht hatte, Marcel mein schriftliches Liebesbekenntnis zu übergeben, vergruben wir den Brief am Fusse eines Baumes in Alexias Garten. Der Zwiespalt in mir hatte sich im Verlauf des Schreibens gelöst, also hatte der Brief seinen Zweck eigentlich schon erfüllt. Lange konnte ich mein Geheimnis nicht wahren, denn Fernand hatte mich insgeheim beobachtet und liess Marcel wissen, dass ich in ihn verliebt sei. Einerseits war ich erleichtert, dass mein Schwarm es nun wusste, andererseits verärgert, weil Fernand mein Herzensmysterium preisgegeben hatte. Mir war aber auch nicht entgangen, dass er sich in Claudia verguckt hatte…!
Als wir nach zwei Jahren in den Kanton Bern umzogen, dachte ich anfangs noch viel an Marcel und den vergrabenen Brief. Erst Jahre später buddelten Alexia und ich meine erste Liebesbotschaft wieder aus. Wir staunten, wie gut er unter der schmutzigen Erde überlebt hatte; jedes Wort konnte man entziffern. Wir steckten ihn in eine Schatulle mit den wertvollen Sachen. Irgendwann verschwand er aus meinem Bewusstsein.

In Thun wohnten wir in einer Dachwohnung in der Altstadt oberhalb des Juweliergeschäfts Engel. Ich war inzwischen ein 13-jähriger Teenager, der gegen die strenge Linie des Vaters rebellierte. Die aufgestaute Wut hatte noch kein Ventil gefunden, sich auf eine konstruktive Weise zu entladen, deshalb lag viel Spannung in der Luft, und das Tanzen fehlte mir sehr. Mein Vater konnte sich nie mit der Vorstellung anfreunden, dass ich Profitänzerin werden wollte - das war nämlich schon seit ich mit Jeneva getanzt hatte und auf der Bühne der McAuley mein Traum.
"Das isch gugus, vo däm cha mer ned läbä" war seine festgefahrene Meinung dazu. Ein Künstler hatte es schwerer im Leben, als eine akademisch begabte Persönlichkeit, das war mir schon klar. Doch ich konnte mich auch nicht verbiegen und das, was mir in die Wiege gelegt wurde, einfach verleugnen.
Inzwischen war ich auf der ersten Sekundarstufe und lernte Anna kennen. Ich weiss noch, wie perplex ich war, als sie mich begrüsste:
«Tschou, i bi d’Anna.»
Ich war verwirrt, denn Tschüss sagte man doch zum Abschied…? Ich dachte, ich hätte mich verhört, doch alle meine neuen Klassenkameraden begrüssten mich in ihrem breiten, berndeutschen Dialekt mit «Tschou». Ich gewöhnte mich schnell daran und fand in Anna eine treue Freundin. Sie merkte, dass ich unglücklich war und schlug vor, zu mir nach Hause zu kommen, um meinen Vater zu überreden, mir den Einstieg in den Ballettunterricht mit ihr zusammen zu erlauben. Ich war sehr nervös, wie mein Vater reagieren würde. Doch Anna übernahm die Regie, als wäre dies das Natürlichste auf der Welt. Wenn sie wüsste, wie streng Papa sein konnte...das hatte ich ihr nie anvertraut.
Am Esstisch herrschte eine ungewöhnlich entspannte Atmosphäre, Anna plauderte zuerst ganz locker aus dem Nähkästchen, bis sie dann zur Sache kam:
«I finge hobbies ganz wichtig - grad i üsem auter...besser aus eifach umehange u mit rouche aafange, wie das viu i üsem auter mache. Heit dir ou äs hobby gha, herr Haenggi?» Dabei sah sie ihn so unschuldig lächelnd an wie die Mona Lisa in Person, und ihre grossen braunen Augen schienen wie Schokoladekugeln gleich dahin zu schmelzen, wenn sie ihn ansah. Die süsseste Versuchung fand grad hier beim Hauptgang statt - das Dessert war noch gar nicht mal serviert!
«Ja, ich han tennis gschpilt und fuessball. In Südafrika sogar inere profimannschaft.» Papas Augen strahlten während er dies erzählte. Auch, dass Omama ihn immer unterstützt hatte, sich sportlich zu betätigen, lobte er - da scheute sie weder Mühe, noch Zeit, noch Geld.
Perfektes Stichwort für Anna, um die entscheidende Frage einzuleiten:
«I finge das toll, we eim d'eutere so ungerstütze. Da heimer sones glück! Ned aui euterä interessiere sech defür, was ihri ching ir freizyt mache..»
Papa unterbrach ihre Ausführungen und fragte Anna:
«Was hesch denn du für hobbies?»
«No kees - ha mer überleit, mittem ballett aaz'fangä, macht aber ke spass aleini....Hei, Sandra, hättsch du luscht, mit mir in ballettunterricht z'choo?» Mit schauspielerischer Mimik warf sie mir diese Frage zu, wie wenn sie noch nie daran gedacht hätte, mich in Erwägung zu ziehen.
Ich musste meinen Mund hinter meiner Serviette verstecken, tat so, wie wenn ich mir die leckere Rahmsauce aus dem Gesicht wischte... jetzt nur nid alles vermassle mit dim grinse, Sandra, nimm di zämä, dachte ich mir. Ich konnte mich beherrschen; diese Sache war mir zu wichtig und so antwortete ich:
«Ja, wurum eigentli nid? Wenn das de papa erlaubt..?»
Nun waren alle Augenpaare auf meinen Vater gerichtet. Er räusperte sich, nickte und willigte ein.
Anna und ich hüpften vor Freude durch die Gassen - unser Plan war aufgegangen! Sister Mary Attracta, meine "Nonnenlehrerin" der McAuley, wäre stolz auf uns gewesen: Eine schauspielerische Glanzleistung. Anna: Best friend ever!
Mit meiner Mutter durfte ich rosa Ballettschuhe, zart-violette Strümpfe und ein schwarzes Body einkaufen gehen.
Unsere Wahl fiel auf die Ballettschule am Lauitor, zu Fuss von unserer Wohnung in der Oberen Hauptgasse aus in nur ein paar Minuten erreichbar. Unser Ballettlehrer war sehr streng; ich musste mich zuerst an diesen für mich eher steifen Tanzstil gewöhnen, der viel Disziplin und Fleiss abverlangte. Doch der Drill machte mir nichts aus, denn ich war in meinem Element und wusste, dass das Ballett die Basis für den Tänzerberuf bildete. Nach ein paar Lektionen sprach mich Mr. Thrill (seinen echten Namen habe ich vergessen) nach der Tanzstunde an:
«Sandra, es tut mir leid, aber wenn dein Vater deine Ballettstunden trotz meinen mehrfachen Mahnungen immer noch nicht bezahlt, kann ich dich nicht mehr unterrichten. Richte ihm bitte aus, dass er bezahlen soll.»
Das traf mich mitten ins Herz. Ich schämte mich in Grund und Boden. Die ungläubigen Blicke der Mittänzerinnen durchbohrten mich, ich fühlte mich völlig blossgestellt; es war niederschmetternd. Anna tröstete mich und konnte es ebenso wenig fassen, wie ich.
Papa zahlte nicht, was für mich bedeutete, dass ich von der Tanzschule flog.
Nie mehr in meinem Leben würde ich ihn fragen, mich fürs Tanzen finanziell zu unterstützen. Ich war deprimiert und begrub meinen Traum, eine Berufstänzerin zu werden, endgültig.
Das Feuer dieser Leidenschaft konnte dennoch nicht ausgelöscht werden und brennt bis heute noch in mir: Das Tanzen habe ich nie aufgegeben, auf der Bühne zu performen und das Publikum damit zu bezaubern, schon.
Thuner Wohnung an der Oberen Hauptgasse, 1980
Thun, 1980 - Henri mit vollem Bäuchlein vor dem Weihnachtsbaum

«Bonjour, comment ça va?» - ich verstand nur Bahnhof.
Nelly, unsere Geschichts- und Französischlehrerin, blickte mich mit ihren grossen, gütigen Augen amüsiert schmunzelnd an, währenddem sie mir diese Frage stellte.
Sie hatte ein engelsgleiches Mondgesicht, hellblond-silbrige, luftig-leicht gelockte Haare, die ihren Kopf wie ein Sahnehäubchen bedeckten und eine Pfirsichhaut, die für ihr Alter (dennoch schwierig zu schätzen, so gegen die Sechzig?) noch frisch und beinahe faltenlos aussah. Sie bewegte sich flink wie eine Wiesel, immer fröhlich und beschwingt. Es war Sympathie auf den ersten Blick - vom Moment an, als sie das Klassenzimmer betrat, erfüllte sie den Raum mit ihrem natürlichen Charme, Schalk, Witz und mit ihrer Herzenswärme. Das Kind in mir fühlte sich so stark zu Nelly hingezogen, wie zu einer Mutter, die ihr Mädchen immer würde willkommen heissen, in vollkommener Akzeptanz - komme, was wolle - bedingungslos und auf dem festen Felsen des Vertrauens gebaut.
Nelly war meine Lieblingslehrerin; sie übertraf alles, was man sich von einer Lehrperson je wünschen konnte. Vor allem genoss ich ihre anschauliche Art des Unterrichtens. Die Eroberung Trojas durch die List des Odysseus trug sie uns so eindrücklich vor, wie eine echte Inszenierung, dass man glaubte, selbst inmitten des Geschehnisses zu stecken, fast 3000 Jahre zurückversetzt. Ich war nicht nur fasziniert von der Genialität des Planes, die Stadt mit einem Trojanischen Pferd, in dem die tapferen Helden verborgen lagen, zu erobern. Vielmehr beeindruckte mich ihre «one-woman-show» - dieses Talent, den Zuschauer so in den Bann zu ziehen, dass es stets in Erinnerung bleibt. Sie eroberte mein Herz im Sturm, und ich durfte mich glücklich schätzen, von ihr persönlich gefördert zu werden. Mir fehlte der Einstieg ins Französische durch den Kantonswechsel, deshalb lag ich ein ganzes Jahr in diesem Fach zurück. Nelly bot mir freiwillig und kostenlos Französisch - Nachhilfe an, dank dem ich innerhalb von wenigen Wochen das Niveau der Klasse erreichen konnte. Von Omama, einer gebürtigen Französin, musste ich den Klang dieser Sprache schon früh ins Gehör bekommen haben, denn meine Aussprache kam so natürlich aus mir heraus, dass selbst Nelly als erfahrene Lehrperson staunte, wie dies möglich sei.
Ihr Unterrichtsstil war sehr einfallsreich und erweckte in mir auf eine spielerische Art die Leidenschaft fürs Französisch. Dadurch, dass ich alleine mit ihr war, konnten wir das ganze Klassenzimmer nutzen. So durfte ich mich zum Beispiel von Ecke zu Ecke bewegen, sobald ich einen Satz richtig formuliert hatte. Die Kombination aus Lernen und Bewegung muss meiner Lernfähigkeit so entgegengekommen sein, dass ich alle Erwartungen übertraf. Sie war sehr zufrieden mit mir und lobte meine Fortschritte, was mich wiederum beflügelte, sie noch mehr stolz zu machen. Wenn ich an Nelly denke, durchströmt mich immer noch ein Gefühl der Dankbarkeit und Liebe, durchdrungen von einer Wehmut, ihr nur so kurz in meinem Leben begegnet zu sein.

In meinen Schulferien reiste ich jeweils mit dem Zug von Bern nach Winterthur. Dort wohnte meine Tante (gleichzeitig auch Patentante) Witle, die Jüngste der sieben Geschwister meiner Mutter. Witle wohnte anfangs an der Heimstrasse in einer kleinen Wohnung, die ich sehr hübsch eingerichtet und heimelig fand. Ihr Ehemann arbeitete als Anästhesist im Spital Winterthur und war schon als sehr junger Mann aus dem Iran in die Schweiz ausgewandert. Seit unserer Rückkehr in die Schweiz hütete ich ihre Kinder Caveh und Lilly in meinen Frühlings-, Sommer- und Herbstferien. Die Drittgeborene Nina war noch ein Baby, als die Familie in eine Traumvilla am Rychenberg umsiedelte. Es folgten die beiden Söhne Keyhan und Darius. Jedes Mal, wenn sie ein weiteres Baby geboren hatte, war sie umso dankbarer für meine Hilfe. Es war eine sehr schöne aber intensive Zeit, denn das Kinderhüten war für mich - selbst noch ein Kind - sehr kräfteraubend. Ich wuchs in diese Aufgabe hinein, deshalb wurde es für mich selbstverständlich, und die Kleinen waren so süss - die niedlichsten Kinder der Welt - man hätte meinen können, sie wären aus einem Anker Bild entsprungen.
Jeden Morgen wachte ich müde auf und wünschte mir, es wäre schon Abend, um meine Kappe voll mit Schlaf zu füllen. Wenn die Kleinsten um sechs Uhr in mein Bett krochen, wollte ich solange wie möglich mit ihnen kuscheln; so konnte ich die Zeit bis zum Frühstück noch ein wenig hinauszögern. Irgendwann wurden sie natürlich hungrig, zappelig und ungeduldig, sodass ich mir etwas einfallen lassen musste: Ich erfand den Detektiven «Brünzlimoser», damit wir noch eine halbe Stunde länger im Bett bleiben konnten. Brünzlimoser war ein tollpatschiger Ermittler, der bei Gefahr und immer wenn er Angst hatte in die Hosen pinkelte. Das fanden die Kids jedes Mal so lustig, dass sie es kaum erwarten konnten, am nächsten Morgen eine weitere Folge des «Bünzlimose» zu hören, wie er im Verlaufe seiner Detektivarbeiten abgespeckt hiess. Bis zum Abend konnten sich die Kinder überlegen, um welches Thema sich der nächste Fall handeln sollte, damit ich mir bis zum kommenden Morgen meine Geschichte ausdenken konnte. Oft vergassen sie dies, dann war mein spontaner Einfallsreichtum gefragt. Ich wusste manchmal selbst nicht, was als nächstes passieren sollte, also machte ich einfach eine Pause, überlegte – mmmmh – überlegte - hmmmmh und überlegte…kam mir immer noch nichts Fesselndes in den Sinn, lautete schon die Frage aus einem Kindermunde:
«Und, wie wytter? Hett de bünzlimose dä dieb chönne fange?»
Meistens hatte ich dann wieder eine Spur, wie der Fall sich weiterentwickeln könnte; falls nicht, durften sie sich was Passendes ausdenken. Dann fragte ich sie:
«Und, was meinet ihr, was hett de bünzlimose (der mit der Zeit auch noch bünzlig, also pingelig wurde) denn gmacht?»
Oft kam dann der zündende Funke, und ich konnte an der Erfindung weiter spinnen.
Jede Minute der Entspannung war kostbar, was mich auf eine weitere Idee brachte, die aber meistens nur für die beiden Mädchen spannend wurde: Sie durften meine Haare frisieren. Zu je einer Hälfte dienten meine langen Haare dem Schöpfertum höchster Coiffeure-Kunst. Es zupften und rupften die flinken Kinderhände an meinen Haarbüscheln rum und wehe, wenn sich ein Härchen zur anderen Seite gesellte, dann ging der Zank erst richtig los. Für mich war dies im fordernden Kinderalltag meine kleine Genussinsel, Kopfmassage inklusive. Mit Lilly und Nina konnte ich zudem meine Tanzbegeisterung ausleben, was immer ein Gaudi war und sich so befreiend auf uns alle auswirkte. In den anstrengenden Wochen des Babysittings bei meiner Tante Witle überwiegte immer das Schöne. Vor allem fühlte ich mich eingebettet in einer liebenden Familie, die mich freudig in ihrer Mitte aufnahm. Witle war eine intelligente, kreative und bärenstarke Frau, die ihr Muttersein als Berufung entdeckte und ihr Leben dem Königreich ihrer Kinder hingab. Ich durfte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, auch wenn es für mich bedeutete, einen Teil meiner Kindheit in den Dienst der Fürsorge zu stellen. Ich beklagte mich nie, denn meine Seele konnte viel Herzhaftes auftanken, was mir in meiner eigenen Familie fehlte.
Oft verreisten Witle und ich alleine in die Ferien – nach Italien, Griechenland oder Santa Maria im Münstertal. Auf diesen gemeinsamen Abenteuern konnte ich viel Wertvolles lernen und meinen Horizont erweitern, auch wenn ich mich manchmal überfordert fühlte. Sie traute mir alles zu und stärkte mein Selbstvertrauen, indem sie mich mit einbezog in ihre bunte, spannende und sagenhafte Welt. Sie lobte und belohnte mich über die Massen, was jede Mühe wert war. Was mich schmerzte, waren ihre Bemerkungen bezüglich dem Verhalten meiner Mutter mir gegenüber – umso mehr, als ich mit der Zeit selbst erkennen musste, dass es der Wahrheit entsprach. Es riss in mir noch nicht verheilte Wunden auf und löste einen Loyalitätskonflikt aus. Meine Tante war sich dessen nicht bewusst.
Witle betonte immer wieder, wie quälend sie es empfand, dass mich meine Mama nicht so lieben und wertschätzen konnte wie ihre Söhne Fernand und Henri. Sie schilderte mir ihre Beobachtungen, die ich selbst verbannt hatte, weil ich mich sosehr an den Wunsch klammerte, von meiner Mutter geliebt und akzeptiert zu werden, so wie ich bin: als Mädchen. Lieber löste ich mich im Nebel des Verdrängens auf, als dass ich wahrhaben wollte, dass meine Mama weniger für mich empfinden konnte als für meine Brüder. Auch dass sie mich nicht vor den harten Strafen meines Vaters beschützen konnte, schmerzte noch mehr als jeder Schlag auf den Hintern. Immer mehr verstärkte sich meine Wahrnehmung, dass meine Mutter mich in den Ferien zu ihrer Schwester schickte, weil sie dies bewusst unterstützte und sich wenig dafür interessierte, wie es mir dabei erging. Ich war noch ein Kind und hätte ihre mütterliche Fürsorge und ihren Schutz gebraucht. Diese Ausgrenzung innerhalb der eigenen Familie leibhaftig zu spüren tat unendlich weh. Dass mir meine Tante den Spiegel der Tatsachen so direkt vorhielt, verstärkte das Leid und verdrängte die Verschleierung, in die ich mich instinktiv geflüchtet hatte, weil ich die Realität nicht wahrhaben wollte. Witle's vergebliches Bemühen, mich zu adoptieren, bestätigte mein Empfinden, in meiner eigenen Familie nicht willkommen zu sein.
Wie sehr vermisste ich Jeneva in diesen Momenten, in denen sich die Schleier lichteten.
Ich musste neue Wege finden, mit dem innerlichen Schmerz und der nie enden wollenden Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung umzugehen.

1981 zogen wir ein letztes Mal um. Mein Vater hatte endlich eine ihm würdige Anstellung in der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte in Thun gefunden, was ihm erlaubte, wieder gross zu träumen. Er war auf der Suche nach einem Haus oberhalb des Nebelmeers gewesen, das er schlussendlich in Hasli bei Riggisberg fand. Das Bauernhaus mit Stöckli an einer wunderschönen Lage mit Sicht auf Eiger, Mönch, Jungfrau und den Thunersee, gehörte damals einem Oberst Bachmann, der nach Irland fliehen musste, weil er der Spionage verdächtigt wurde. Alle Interessenten für das Anwesen mussten einen Test bestehen: Wem es gelang, sich mit dem Lama anzufreunden, ohne dass dieses spuckte, dem wurde die Liegenschaft verkauft. Mein Vater war sehr schlau; er überlistete das Lama, indem er ihm eine Karotte fütterte, sodass es anderweitig beschäftigt war, als zu spucken. Teil vom Deal war auch, das Haus mitsamt des Lamas und den Dackeln Hüdeli und Füdeli zu übernehmen. Das unbenutzte Tenn wurde nach einem Jahr zu einer Zweizimmerwohnung umgebaut, um Omama und Opapa bei uns aufzunehmen, die nach einer traumatischen Erfahrung aus Südafrika auswandern wollten. Sie hatten einen Einbruch überlebt, bei dem sie in ihrem eigenen Haus beraubt, gefesselt und mit einer Waffe bedroht worden waren. Der Schreck sass noch tief, als sie bei uns ankamen.
Omama hatte sich kaum verändert, immer noch wehte ein Hauch von Muguet um sie herum. Immer noch fluchte und beschimpfte sie Opapa - inzwischen konnte ich die Bedeutung ihrer verletzenden Worte verstehen: «Tais-toi, trou du cul!»
Opapa war sogar noch stiller und in sich gekehrt als früher. Zudem hatte er mit einer drohenden Erblindung zu kämpfen. Er verschanzte sich oft in seinem Zimmer, das ihm wenigstens ein bisschen Schutz vor den Worttornados meiner Grossmutter bot.
Eines Abends, ich war gerade an meinen Matheaufgaben, hörte ich, wie er verzweifelt schluchzend die Treppe zu seinem Zimmer hinauf eilte. Irgendetwas Schlimmes war vorgefallen; ein Streit mit Omama oder meiner Mutter. Mein Vater war auf Geschäftsreise und würde erst in ein paar Tagen heimkehren. Ein Gefühl der Beklemmung übermannte mich. Ich wollte Opapa trösten, musste aber unbedingt noch für die Matheprüfung lernen, die morgen stattfinden würde. Noch heute bereue ich, nicht auf die Krise Opapas reagiert zu haben, indem ich einfach in meinem Zimmer blieb anstatt ihm beizustehen in seiner dunkelsten Stunde. Ich konnte ja nicht ahnen, welche Tragödie sich am nächsten Tag ereignen sollte.
Das Postauto hielt an, es war Mittagessenszeit, und ich stieg an der Haltestelle «Hasli» aus, um wie üblich den Hügel hinauf zu laufen. Ich musste mich beeilen, denn am Nachmittag hatten wir nochmals zwei Lektionen Unterricht. Ich reflektierte meinen Mathetest, den ich recht gut gemeistert hatte. Mein Blick fiel auf unser Haus, das hoch über dem Haslidorf thronte. Wenn nur der Weg von der Bushaltestelle hinauf nicht so steil und mühsam wäre, dachte ich mir. Ich war müde und hungrig und hatte das Gefühl, meine Schuhe klebten am Asphalt fest, die Beine schwer wie Blei. Ich machte eine Verschnaufpause und schaute nochmals hinauf zu unserem Bauernhaus. Ich erschrak: irgendetwas hing am obersten Balkon – ein grosses, braun-graues Wäschestück? Ich schaute noch einmal genauer hin und erkannte den leblosen Körper von Opapa, der sich am Balkongeländer aufgehängt hatte; von der Hauptstrasse aus gut sichtbar. Ich konnte es nicht glauben und rannte so schnell ich konnte weg – einfach weg – den ganzen Weg zurück zur Schule. Es dauerte lange, bis ich diesen Schock überwunden hatte. Ich konnte nicht mehr alleine in meinem Zimmer bleiben, in dem mich der Schatten meines so dramatisch verstorbenen Grossvaters verfolgte. Deshalb schlief ich bei Henri in seinem Kabäuschen. Er tröstete mich und zeigte sich unglaublich gefasst und stark. Mein drei Jahre jüngerer Bruder wirkte während dieser traurigen Zeit schon viel abgeklärter und erwachsener als ich. Seine besänftigenden, einfühlsamen und aufbauenden Worte legten sich wie ein heilsamer Mantel aus Samt um mich.
In Riggisberg besuchte ich die Sekundarschule. Ich war sehr fleissig und büffelte weiterhin hart, sodass ich den Eintritt ins Gymnasium Kirchenfeld prüfungsfrei schaffte. Da ich meinen Traum des Tanzens aufgegeben hatte und meine Begabung in den Sprachen entdeckte, lag es auf der Hand, den Neusprachlichen Typus zu wählen, den es damals im Kanton Bern leider noch nicht gab. Als Alternative bot sich aus Vaters Sicht das Wirtschaftsgymnasium an.
«Dänn schtönd dir alli türe offe und du chasch dolmetscherin, lehrerin oder fachfrau imne reisebüro werde» - das waren seine Versuche, mir die erfolgsversprechenden Perspektiven aufzuzeigen, sobald ich die Maturität im Sack hätte. Dann könne ich studieren, was ich wolle und eine solide Grundlage für meinen Lebensunterhalt schaffen. Ich willigte ein, ohne zu wissen, was mich erwartete.
In der Quarta hatte ich gute Noten, auch wenn mich die Fächer BWL und Rechtskunde nicht interessierten; sie waren ein notwendiges Übel auf dem Weg in eine gesicherte Existenz. Im Fach Kunst fand ich eine vertraute Nische, mich kreativ zu entfalten. In Mathe und Chemie hatte ich auch zu kämpfen. Die ersten zwei Semester verliefen trotzdem überraschend gut.
Die erste Physikstunde vergesse ich nie mehr. Unser Physiklehrer trat so aussergewöhnlich auf, dass mir sein erster Satz in der allerersten Lektion in Erinnerung geblieben ist. Er kam herein, nahm einen Stift in die Hand und liess diesen mit den Worten zu Boden fallen:
«Dir müesst ned meenä, i chöng öich erchlärä, werum dä ufe bode gheit isch…»
Herr Aeberhard hatte mich damit sofort in den Bann gezogen; er eröffnete mir eine völlig neue Wahrnehmung dessen, was wir als Realität bezeichnen. Eindrücklich zeigte er auf, wie relativ unsere Erkenntnis der Materie ist. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie ich es zustande brachte, im ersten Semester in seinem Fach im Zeugnis die Bestnote zu erhalten. Ich liebte die natürliche, unkomplizierte Art, wie er unterrichtete und spürte, wie ich mich im Verlaufe des Jahres 1985 wie ein Magnet zu ihm hingezogen fühlte. Inzwischen war ich volljährig, heimlich am Tanzen, mit beiden Füssen auf dem Boden.
Das Geld, das ich monatlich fürs Mittagessen auswärts von meinem Vater erhielt, sparte ich für den Afro-Jazztanz-Unterricht bei Geneviève Fallet, den ich einmal pro Woche am Eigerplatz in Bern besuchte. Heimlich deshalb, weil es mir meine Eltern verboten hatten, wieder mit dem Tanzen zu beginnen. Seit dem gescheiterten Ballettunterricht würde ich sie nie mehr bitten, mich darin zu unterstützen. Deshalb verstand ich nicht, warum sie es mir verbieten wollten. Ich müsse mich auf meine Schule konzentrieren, war ihre einzige Begründung.
Wiederum einem Impuls des Herzens folgend, willigte ich ein, zusammen mit meiner damaligen Freundin Daniela einen Jazztanzkurs zu besuchen. Nach einer Schnupperlektion bei Nicole Voyat gefiel es Daniela dort; mich zog es weiter zum Afro-Jazz bei Geneviève Fallet. Ihre Moves entsprachen genau den Bewegungen, die ich in mir spürte und seit meinen Tänzen in Südafrika sehnlichst vermisst hatte. Ich kann nicht annähernd beschreiben, wie glückselig ich mich in diesen Tanzstunden fühlte, in denen ich meine wahre Identität wieder erwecken und ausdrücken konnte. Inzwischen war es mir eh egal, ob ich dafür bestraft würde; ich hätte jede Strafe auf mich genommen, um dieses Feuer in mir wieder neu zu entfachen.
Zu der Zeit kriselte es gewaltig in der Ehe meiner Eltern. Sie stritten mehr als sonst, und meine Mutter hatte öfters ihre Alkoholabstürze als ich es gewohnt war. Sie trank nur, wenn sie in eine Angstspirale hinabgezogen wurde oder das Gefühl der Überforderung sie übermannte. Mama konnte sich selbst nicht besser helfen, als ihre Probleme und Sorgen zu ersäufen. Meine Brüder und ich litten sehr darunter; allerdings konnten sie sich besser von der Sucht unserer Mutter abgrenzen als ich. Hatte sie getrunken, verwandelte sie sich zu einem Teufelchen, das sich zerstörerisch und destruktiv austobte. Danach folgte das grosse Elend, an dem ich nicht einfach vorbeilaufen oder darüber hinwegsehen konnte. Mein weiches Herz fühlte mit dem schluchzenden, sich auskotzenden Häufchen, zu dem sie nach dem Rausch jeweils geschrumpft war. Ich wollte Mama trösten, das Erbrochene aufputzen, ihr beistehen, obwohl ich mich traurig, verletzt, hilflos und ausgegrenzt fühlte. Mein Mitgefühl und meine Liebe waren stärker – viel stärker als die Signale meines Körpers, mich selbst zu schützen.
1986 trennten sich meine Eltern; meine Mutter zog mit ihrem neuen Partner Claudio ins Tessin, mein Vater nach Basel, wo er Monique kennenlernte, seine zukünftige Lebensgefährtin.
Wir Kinder lebten nun also alleine im Hasli-Haus. Mein Vater überwies uns monatlich Haushaltsgeld - traute uns zu, alleine zurechtzukommen. Omama war ja auch noch da. Sie kümmerte sich leidenschaftlich gerne um den Garten und pflegte ihre Blumenkinder hingebungsvoll, die es ihr mit ihrer blühenden Pracht dankten.
Für mich war es selbstverständlich, dass ich die ganze Hausarbeit alleine erledigte und meinen Brüdern die Wäsche wusch, bügelte und kochte. Fernand war mit 23 schon fast auf dem Sprung zur Selbständigkeit und in Ausbildung zum Wirtschafts-Informatiker. Für den 16-jährigen Henri war die Scheidung der Eltern ein einschneidendes Erlebnis. Vor allem der plötzliche Wegzug seiner Mutter, die ihn seit seinem schwierigen Start ins Leben besonders fürsorglich behandelt hatte, musste sehr schmerzhaft für ihn gewesen sein.
«Wo mama isch, isch s’schnätzeli, wo’s schnätzeli isch, isch d’mama», hatte sie ihm stets ins Ohr geflüstert. Und nun war sie Hals über Kopf aus dem Familienleben geflohen.
Eines Tages wollte ich Henri’s frisch gewaschene Wäsche in seinen Schrank einräumen; ich öffnete nichtsahnend die Zimmertür, als die Alarmanlage los ging. Ehe ich begriff, was los war, heulte die Sirene; laut – lauter – am lautesten. Ich wusste nicht, wie ich sie abstellen sollte und geriet in Panik. Wer in aller Welt hatte dies installiert? Und wozu?!?
Henri gestand, mir nichts gesagt zu haben, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich während seiner Abwesenheit – er besuchte ein Privatgymnasium in Bern – in sein Zimmer treten würde. Aber warum, um Himmels Willen, eine Alarmanlage installieren? Heute kann ich es mir erklären, damals war es mir schleierhaft.

Meine Leistungen in der Schule verschlechterten sich zusehends, ich merkte selber nicht, dass es nicht gut kommen konnte, auf Dauer der Doppelbelastung Gymnasium/Hausfrau ausgesetzt zu sein.
Nach einer Physiklektion bat mich Herr Aeberhard, für einen Moment in sein Büro zu kommen. Ich befürchtete schon Schlimmes, denn meine Noten im Physik befanden sich im Sinkflug. Er bot mir einen English Breakfast Tee an und fragte:
«Geht es dir nicht gut, Sandra? Deine Noten sind - atypisch für dich - knapp genügend. Das muss doch einen Grund haben; hast du Stress?»
Ich nippte an der heissen Teetasse, die meine Lippen fast verbrannte und zögerte, ob ich ihm von meiner persönlichen Situation erzählen sollte. Noch ehe sich mein Verstand einschalten konnte, sprudelte es aus meinem Innern:
«Meine Eltern haben sich getrennt, und nun kümmere ich mich um meine Brüder, die Katzen und das Haus.» Ich schilderte ihm die genauen Umstände und bemerkte, wie er ungläubig den Kopf schüttelte, während ich erzählte und erzählte und erzählte. Ohne es bewusst gewollt zu haben, schüttete ich ihm mein ganzes Herz aus.
«Das geht doch nicht, dass du daheim alles alleine stemmst, ohne Hilfe – jetzt verstehe ich, warum deine schulischen Leistungen so abgeflacht sind, nicht nur im Physik. Wenn es so weiter geht, wird es knapp, sehr knapp, und deine nächste Promotion ist gefährdet.»
«Ich weiss», musste ich mir selbst eingestehen und senkte den Kopf.
«So geht das nicht weiter, ich werde mit deinem Vater reden: Entweder er organisiert eine Haushaltshilfe oder deine Brüder helfen mit!»
Ich war perplex und erstaunt, dass er sich so konkret für mich einsetzen wollte; gleichzeitig merkte ich, wie mir eine tonnenschwere Last von der Schulter fiel.
«Ich bin immer für dich da, wenn du reden möchtest, komm einfach zu mir ins Büro.» Sein sanfter, verständnisvoller Blick verriet mir, dass er es wirklich Ernst meinte, mir unter die Arme zu greifen und eine Stütze zu sein.
Tatsächlich wurden die «Ämtli» von da an auf uns drei Geschwister verteilt, was zwei Monate lang gut funktionierte, bis ein heftiger Streit zwischen Fernand und Henri die Beziehung zwischen den Brüdern zerschmetterte.
Es war an einem Samstagabend, ich lag in meinem Bett und las in einem Micky Mouse Heft; in meinem Mund liess ich genüsslich zwei Malteser Schoko-Malz-Kugeln dahinschmelzen.
«Du hesch dis ämtli nid gmacht, das machsch jetzt aber sofort!» ermahnte Fernand seinen Bruder.
Sie waren oben im Dachstock. Henri erwiderte: «Ich mache das, wenn ich wott.»
«Nei, du machsches jetzt!» Der Ton in Fernands Stimme klang nun bedrohlich: «Jetzt sofort!»
Henri schwieg, was seinen Bruder zur Weissglut trieb.
Es polterte - einer der beiden war heftig zu Boden gefallen. Vor lauter Schreck erstarrte ich. Ich hörte Henri sagen:
«Schla mi nume, du chasch mi z’tot schla aber ich schla nid zrugg; ich schla min brüeder ned!»
Ich verspürte einen heftigen Schmerz und wusste, dass diese Auseinandersetzung eine noch schwerere innere Verletzung bei beiden Brüdern hinterlassen würde. Und so war es leider auch: Drei Jahre lang sprachen sie nicht mehr miteinander, so tief hatte sich das Leid in ihre Herzen hineingesenkt.
Thomas Aeberhard wurde während dieser kritischen Zeit zu meiner engsten Vertrauensperson. Regelmässig erkundigte er sich nach meinem Befinden und begleitete mich durch eine sehr belastende Phase. Er war nicht nur ein geduldiger, einfühlsamer Zuhörer, sondern auch ein psychologisch geschickter Redner, der mich überzeugen konnte, mich auf die Schule zu konzentrieren und mein Potential zu nutzen.
Ich weiss nicht, wie es geschehen konnte, aber es geschah. Ich verliebte mich immer mehr platonisch in Tom, der mich so gut erfassen und verstehen konnte, wie sonst niemand auf der Welt. Alle Versuche, sich dieser Anziehungskraft zu entziehen, scheiterten; es zog mich immer intensiver zu ihm hin, bis ich mich auf gar nichts mehr fokussieren konnte. Als ich merkte, wie sehr ich in einem gewaltigen Liebeskummer steckte, war es schon zu spät. In meinem letzten Semester konnte ich nirgends mehr mithalten und driftete vollends ab. Ich versuchte, mich von Tom zu distanzieren und suchte nach einer Lösung, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Ich fasste den Entschluss, das Gymnasium endgültig zu schmeissen und mich als Flight Attendant bei der Swissair zu bewerben.
Bei den Tests hatte ich recht gut abgeschnitten, bei der psychologischen Eignungsprüfung fiel ich durch, weil ich eine Frage zu ehrlich beantwortet hatte (das ergab meine nachträgliche Analyse…).
Die Expertin des Swissair Ausbildungskaders fragte mich:
«Wenn Sie jetzt hier bestehen, möchten Sie gleich einsteigen oder schliessen Sie zuerst mit der Maturität ab?»
Ohne zu zögern antwortete ich: «Ich würde sofort mit der Flight Attendant - Ausbildung anfangen.»
Sie hakte nach: «Also Sie würden Ihren Abschluss sausen lassen?»
Ich bejahte, woraufhin Miss Swissair erwiderte: «Tut mir leid, machen Sie zuerst ihre Matura und kommen Sie in einem Jahr wieder.»
Diese Tür schlug sehr heftig zu. Ein weiterer Traum war geplatzt. Ich wusste, dass ich in einem Jahr bestimmt nicht wieder antraben würde. Und jetzt, wie weiter?
Wieder war es der feinfühlige Tom, der meine Bedrücktheit erkannte, mich in sein Büro zitierte und fragte: «Du hast dein letztes Semester nicht bestanden, ich nehme an, du wiederholst das letzte Jahr?»
«Nei, machi ned» , antwortete ich und schwieg eine Weile.
«Was isch los, bedrückt di no öppis?» wollte er wissen.
Ich kämpfte mit den Emotionen, die ich lieber in meinem Innersten verschloss, als Tom zu gestehen, dass ich hoffnungslos in ihn verliebt war. Er war 23 Jahre älter als ich, glücklich verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Ich konnte es damals noch nicht genau einordnen, ahnte jedoch, dass ich mich in die Vaterfigur Aeberhard verliebt hatte, weil er für mich all das verkörperte, was ich mir von einem Vater erträumte. Ich sehnte mich danach, in seinen Armen Schutz, Trost, Zuneigung und Liebe zu finden – sehnte mich sosehr danach, mich in seiner fürsorglichen Umarmung dem Schmerz der Nichterfüllung zu entziehen.
Tom kam mir zuvor und fragte: «Du hesch di aber ned ou no unglücklech verliebt?»
Ich blickte ihm in die Augen und gab zu: «Mou, hani.»
«I mi?»
«Ja.»
Nun war die Katze aus dem Sack. Er reagierte ruhig und gefasst:
«Aber du weisch, dass i verhüratet bi u ä Familie ha?»
«Ja, äbä, drum isches hoffnigslos…», flüsterte ich und stürzte aus dem Lehrerzimmer. Ich kriegte keine Luft mehr und rannte so schnell ich konnte ins Nichts; meinem eigenen Atem, meinem Schicksal, meinem Leiden und dem reissenden Fluss der Tränen davon.
Ich igelte mich in meinem Kummer ein und plante, alles in der Schweiz aufzugeben, um mich endlich auf die Suche nach Jeneva zu begeben, die ich mehr denn je vermisste. Die wärmende Sonne Afrikas würde mich durchfluten und mich daran erinnern, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Nur nicht aufgeben, egal wie tief der Schmerz mich in die Hoffnungslosigkeit trieb.
Doch es kam anders. Toms Hartnäckigkeit, psychologisches Geschick und Überredungskunst brachten es fertig, dass ich - schweren Herzens - das verpatzte Jahr nachholte. Er fand einen Weg, mich spüren zu lassen, dass er sich um mich kümmern wollte, jedoch zu meinem eigenen Schutz und, um meinen Liebeskummer nicht noch mehr zu verstärken, mit mehr Distanz. Er liess mich wissen, dass er weiterhin für mich da sei, ich aber selber entscheiden solle, wann ich seine Hilfe benötige und in welchem Mass es für mich erträglich sein könne.
Ich kämpfte mich durch die Stunden; die Stunden wurden zu Tagen - die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monaten und schon standen die ersten Maturitätsprüfungen bevor. Noch vor dem Abschlussmarathon wurde entschieden, wohin die Maturitätsreise gehen würde: Drei Tage Budapest und Wien.
Unser Klassenlehrer, Herr Abplanalp, überlegte sich auch noch, welche Lehrperson uns zusätzlich begleiten sollte. Ein Blitz ging mir durch Mark und Bein, als er eröffnete, dass Herr Aeberhard die Klasse begleiten würde. Ich konnte es nicht fassen; war das reiner Zufall oder mischte da noch jemand anders mit? Auf keinen Fall würde ich mit auf diese Reise gehen - das würde mir das Herz zerreissen und ich müsste ständig die Weite suchen, weil mich die Nähe zu stark zu Tom hinzog. Ich beschloss, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, warum ich nicht mitkommen würde, denn ich konnte meinen Klassenkameraden ja schlecht begründen, warum ich in Wahrheit nicht mitreisen konnte.
Langsam wurde es mir unheimlich, denn auch dies erahnte Tom. Auf dem Schulhof kam er auf mich zu und sagte: «Mache mir ds beschtä druus, dasses ä schöni maturreis wird.»
Mir zitterten die Knie nur schon beim Gedanken daran, neben ihm zu sitzen, mit ihm zu speisen, drei Tage lang eine persönlichere Seite von ihm zu entdecken und mich in den Strom des Unvorhergesehenen zu stürzen. Ich war hin- und hergerissen, konnte nichts mehr essen und fastete einen Monat lang bewusst - vielleicht würde das helfen, alle Sinne zu betäuben und meine Sehnsucht auszuhungern.
Doch seine Worte durchdrangen jede Pore, kitteten meine Zerrissenheit, nährten mein Sehnen und verschafften mir die Klarheit: Dies würde die letzte Gelegenheit sein, ihm so nahe zu sein.
Im Zug nach Budapest war ich oft in Gedanken versunken; in meinem Bewusstsein war Tom so omnipräsent, dass er nicht einmal neben mir stehen musste, damit ich mich mit ihm verbunden fühlte. Ich konnte nicht mehr still sitzen, also verliess ich das Abteil und heitere Gelächter meiner Kameradinnen. Ich trat in den Gang hinaus, lehnte mich ans Fenster und beobachtete den Himmel, der es eilig hatte, an meinen Augen vorbeizuziehen. Es war ein schöner Sommertag, der seine satten Farben vorausschickte, um meine Gemütsstimmung zu erhellen. Ich wünschte mir, er wäre hier, neben mir, um die Fülle dieses Augenblicks zu teilen. In dem Moment streifte mich eine flüchtige Berührung am Arm; nur kurz, ganz sanft aber stark genug für mich zu erkennen: Er war da, mir zugeneigt, um mein inneres Taumeln aufzufangen.
Es braucht nicht viel, um mein Herz in eine derartige Schwingung zu versetzen, ich musste mich nur für einen Augenblick aller Logik entziehen, um ganz in Frieden und bei mir zu sein, dachte ich, als Tom mich fragte:
«Geits?»
Ich lächelte ihn an - Worte waren überflüssig - er traute mir zu, dass ich es schaffen würde, mich der Schwerkraft zu entziehen, um mich in die Leichtigkeit fallen zu lassen.
Im Gellért-Bad, eines der vielen beeindruckenden Badeoasen in Budapest, war es wohltuend, in der dampfenden Therme zu baden. Ich hatte ein knallig gelb-pinkfarbenes Bikini an, das vielleicht zu grell leuchtete, denn ich zog einige Blicke auf mich. Mir war das unangenehm, deshalb tauchte ich noch tiefer in die Wärme des sprudelnden Wassers ein und schloss die Augen. Eine männliche Stimme riss mich aus meiner Entspanntheit und fing an, mich auf Englisch anzuquatschen. Der Mann hatte sich neben mich gesetzt, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich antwortete ihm nur knapp, denn ich fühlte mich in seiner Gegenwart unwohl. Bildete ich mir das nur ein oder rückte der Fremde immer näher, um meine Schenkel zu berühren? Ich geriet in Panik, versuchte aber ruhig zu bleiben.
Tom musste mich beobachtet haben, denn er rettete mich aus der misslichen Situation, indem er sich auf der anderen Seite neben mich setzte und mich beruhigte:
«Wenn er dich beläschtigt, seisches!»
Mehr war nicht nötig, um den Peiniger zu vertreiben; er verzog sich so lautlos, wie er gekommen war. Wir verbrachten zwei wundervolle Tage in Budapest, schlenderten durch die Stadt, gingen shoppen, tauchten in das Nachtleben ein, genossen lässig-entspannte Klänge in einem Jazzclub. Und immer war Tom in meiner Nähe – nicht so nah, dass es mich hätte schmerzen können aber auch nicht so entfernt, dass ich ihn hätte vermissen müssen.
Wir reisten weiter nach Wien, besuchten das märchenhafte Schloss Schönbrunn und den weltberühmten Prater mit dem Riesenrad. Ich schleckte Zuckerwatte und fühlte mich wie ein unbeschwertes Kind, das in den Moment eintaucht, ohne an ein Gestern oder Morgen zu denken.
Ich dankte Gott für diese drei Tage, die für mich unvergesslich bleiben würden - dass er mich diese tiefe Liebe hatte spüren lassen und dafür, dass sie weiterhin in meinem Herzen Funken sprühen durfte.
Auch wenn ich Tom nicht mehr wiedersehen würde, würde ich mich zeitlos mit ihm verbunden fühlen. Er gehört zu den Menschen, die ich immer lieben werde.
Ich hatte die Matura im Sack, aber keinen Plan, wohin es mich weiterziehen sollte. Ich war sehr müde, erschöpft und ausgelaugt. Der Versuch, mich aus meinem Liebeskummer zu entwinden, endete in einer Depression, die mich tiefer und tiefer ins schwarze Loch hineinzog. Wie immer versuchte ich mich alleine da durchzuboxen. Omama hatte mir einige Souvenirs aus Südafrika mitgebracht, darunter auch ein paar Köcher mit Giftpfeilen, die den Ureinwohnern zur Jagd dienten. Ich ritzte mich mit den feinen, scharfen Spitzen der Pfeile solange, bis mir bewusst wurde, dass ich den Schmerz so nicht würde übertünchen können.
Die Tanzstunden bei Geneviève waren schon lange ausgefallen, da sie sich tragischerweise nach einer Unterleibsoperation das Leben genommen hatte. Auch dieser Schock steckte tief in den Knochen. Ich konnte mich niemandem mehr anvertrauen und mir selbst auch nicht mehr helfen. Die platonische Liebe zu Tom sollte weiterhin mein Geheimnis bleiben und die Krise, in der ich steckte, bemerkte in meiner Familie niemand, da ich inzwischen auch noch Hasli-Verbot und dort nicht mehr Zutritt hatte. Mein Vater hatte sich nach einem ehrlichen Brief von mir derart angegriffen gefühlt, dass er mich aus meinem Zuhause verbannte. Es kumulierten sich die negativen Ereignisse wie dunkle Gewitterwolken, die über mich hereinbrachen. In meiner Not flüchtete ich zu meiner Mutter nach Cannero, um mich endlich aus meinem eigenen Käfig zu befreien: Exit. Der einzige Weg in die Freiheit und Erlösung.

Es sandte mir das Schicksal tiefen Schlaf
Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume
Ich leb in euch, ich geh in eure Träume
Da uns, die wir vereint, die Verwandlung traf
Ihr glaubt mich tot, doch dass die Welt ich tröste
Leb ich mit tausend Seelen dort
An diesem wunderschönen Ort
Im Herzen der Lieben
Nein, ich ging nicht fort
Unsterblichkeit vom Tode mich erlöste.
Michelangelo

Die Tür ging auf, das grelle Licht blendete meine Augen. Sie schoben mich einen langen Korridor entlang durch die Abteilung. Trotz meines Dämmerungszustandes drangen die neugierigen Blicke der Patienten in mein Bewusstsein. Ich richtete mich in meinem Rollstuhl auf und versuchte, die dazugehörigen Gesichter zu erkennen. Ein Patient fiel mir auf, der mit einem hartgekochten Ei jonglierte – er sass auf einem der Stühle an der weissen Wand angelehnt. Ich bemerkte, wie er mich erstaunt beobachtete, währenddem ich an ihm und den anderen Hospitalisierten vorbei geschoben wurde. Ich spürte, wie seine Augen an mir haften blieben. Ich war zu geschwächt, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich auf meine Mitmenschen wirkte.
So fühlt es sich also an, an einem seidenen Faden zu hängen, vollends auf Hilfe angewiesen, war das Eindringlichste, was mir bewusst wurde. Ich musste mich fallen lassen, denn ich hatte keine Kraft mehr zum Kämpfen und war nur noch ein Schatten meiner Selbst. Die Pflegekraft legte mich ins Bett, befestigte den Tropf an einen Metallständer und wünschte mir eine gute Nachtruhe. Wenn ich was bräuchte, solle ich den roten Knopf drücken. Mein Blutdruck und Puls würden während der Nacht noch kontrolliert werden, und am Morgen würde ein Arzt vorbeischauen.
«Seit wann haben Sie die Ohnmachtsanfälle?» fragte mich Herr Dr. Mettler.
«Seit der Traumatherapie. Meine Psychotherapeutin wollte mit mir ein neues Verfahren zur Trauma-Bewältigung ausprobieren.»
«Welches Trauma?» wollte der Mediziner wissen.
«Das der Kindheitsvergewaltigung.»
«Was für eine Methode hat sie angewendet?»
«Ich sollte mir vorstellen, vor mir wäre eine Leinwand, auf der ich das, was mir damals passiert ist, projiziere, sodass ich es wie im Kino anschauen kann - von aussen. Sie hat mir alles gut erklärt und mich vor allem darauf hingewiesen, nach der Sitzung alles ruhen zu lassen. Sie warnte mich davor, diese Methode alleine zuhause selbst durchzuführen.»
«Wie haben Sie das während der Therapiestunde erlebt; hat es geholfen?» fragte Dr. Mettler interessiert.
«Während der Sitzung verlief alles ganz gut - ich stellte mir vor, es wäre eine Filmszene, die nichts mit mir zu tun hat. Ich konnte das gut mit einer gewissen Distanz anschauen. Erst auf dem Nachhauseweg, während der Fahrt im Tram, kamen die Bilder wieder hoch, ich konnte es nicht stoppen – immer und immer wieder lief der ganze Film in meinem Kopf ab. Ich versuchte, mich emotional nicht da hineinziehen zu lassen und hoffte, zuhause würde ich zur Ruhe kommen. Ich konnte jedoch nicht einschlafen, denn die Bilder jagten immer noch vor mein inneres Auge. Ich wollte Frau Dr. Zimmermann nicht stören, es war schon spät nach Mitternacht, deshalb beschloss ich, sie am Morgen anzurufen. Während der Nacht bekam ich Panik. Mein Körper fing an zu schwitzen, zittern und meine Hände kribbelten. Ich versuchte aufzustehen. Als ich aus dem Bett steigen wollte, fiel ich ohnmächtig zu Boden.»
«Und seitdem haben Sie mehrmals am Tag diese Anfälle?» versuchte der Arzt zu verstehen.
«Ja, also, ich werde nicht ganz ohnmächtig, zuerst wird mir schwindlig, dann zieht es mich zu Boden, und ich kann nichts mehr wahrnehmen ausser den Geräuschen der Umgebung - ich höre das alles dann nur noch wie von weit, weit weg. Ich werde ganz ohnmächtig, wenn man an mir herumzerrt», versuchte ich ihm mein Leiden zu schildern.
Dr. Mettler machte sich Notizen und erklärte mir das weitere Vorgehen:
«Wir werden eine Reihe Untersuchungen starten. Ein Internist wird sich um Sie kümmern, und um ganz sicher zu gehen, melden wir Sie in der Epilepsieklinik an. Nehmen Sie momentan Medikamente ein?» wollte der Arzt wissen.
«Nein.»
«Sonst haben Sie keine Schmerzen? Können Sie gut schlafen?»
«Ich habe manchmal starke Kopfschmerzen, früher hatte ich Migräne, die schubweise wiederkehrt. Mit Einschlafen habe ich in letzter Zeit schon Mühe», musste ich ehrlich gestehen.
«Dann machen wir es so, dass Sie ein Schmerzmedikament auf Reserve bekommen, ebenso Temesta, das zur Beruhigung hilft und das Sie auf Wunsch verlangen können. Sie haben sehr viel durchgemacht und brauchen jetzt vor allem Ruhe, wohltuende Therapien und eine gute medizinische Versorgung. Sie müssen sich auf einen längeren Aufenthalt hier bei uns einstellen.»
Es klopfte an der Zimmertür. Meine Zimmernachbarin öffnete, vor ihr stand der jonglierende Patient, kein Ei, dafür ein Glas Milch in der Hand. Er sagte:
«Können Sie diese Honigmilch Frau Hänggi mit einem Gruss von mir geben? Ä Gruess vom Franz.»
Es war spätabends, ich konnte nur seine Stimme hören, etwas benommen von der dämpfenden Wirkung des Temesta. Ein halbes, auf der Zunge zergangen, hatte mir schon geholfen, die Sinne zu besänftigen. Wahrlich ein Wundermittel, dank dem ich auch gut einschlafen konnte. Ich brauchte es nur, wenn es gar nicht mehr ging und genoss somit auch das Vertrauen des Pflegepersonals.
Franz kümmerte sich mehr um mich, als mir lieb war. Jeden Tag brachte er mir warme Honigmilch, Orangen- und Traubensaft. Ihm war aufgefallen, dass ich keinen Appetit hatte, weshalb er mich mit nährenden Flüssigkeiten eindeckte. Ich war inzwischen kräftig genug, gemeinsam mit den anderen Patient:innen im Speisesaal zu essen. Franz trug mir immer mein schweres Tablett an den Tisch und verzehrte mit Genuss die Resten auf meinem Teller. Ich versuchte, mich seiner Fürsorge und Nähe zu entziehen, denn – wie damals bei Marcel – löste es in mir starkes Unwohlsein und einen Fluchtreflex aus. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, deshalb wandte ich mich an eine Krankenschwester:
«Ich habe ein Problem. Ein Patient kommt mir zu nahe, können Sie ihn mir vom Leib halten?»
Sie erwiderte: «Das können Sie selbst tun. Hier in der Klinik ist genau der richtige Ort, dies zu üben.»
Ich war perplex; hatte so eine direkte, klare Ansage nicht erwartet.
Also versuchte ich, Franz noch mehr aus dem Weg zu gehen. Er liess aber nicht locker und schenkte mir immer wieder ganz nützliche Sachen, wie zum Beispiel fein duftende Badezusätze. Auch dies war seiner Aufmerksamkeit nämlich nicht entgangen: Ich liebte es, zu baden. Ich durfte das Gemeinschaftsbad jederzeit benutzen, wenn es frei war. Wasser hatte stets eine beruhigende Wirkung auf mich - ich war noch nie in der Badewanne bewusstlos geworden. Deshalb durfte ich mich in der Bade-Oase frei bewegen. Dass ich mich ganz auf meinen eigenen Rhythmus einlassen konnte, tat mir sehr gut und war die beste Therapie überhaupt. Trotzdem wurden die Ohnmachtsanfälle nicht besser, und auch die Untersuchungen in der Epilepsieklinik, in der ich drei Tage verbrachte, hatten nichts Auffälliges ergeben. Nach drei Wochen in der PUK Zürich vermuteten die Ärzte, dass eine Störung in meinem vegetativen Nervensystem die Ursache für meine Schwindelanfälle sein musste. Dies brauche viel Zeit, um wieder ins Lot zu kommen – wie lange, und ob überhaupt, konnte niemand weisssagen.
Franz war während dieser Phase derjenige, der mich auffing, wenn ich zu Boden fiel und in dessen Armen ich wieder zu Bewusstsein kam. Wenn ich in seinen Armen erwachte, verspürte ich keine Panik – mein Kopf war benommen – umso mehr war ich empfänglich für seinen Geruch, die Wärme seines Körpers und die Vertrautheit, die dadurch allmählich entstehen konnte. Immer mehr wurde mir bewusst, dass ich mich bei ihm geborgen, geschützt und verletzlich fühlen konnte; seine Nähe löste mit der Zeit sogar etwas Wohltuendes, Besänftigendes in mir aus. Eine ganz neue Erfahrung, die die verdrängte Sehnsucht in mir wiedererweckte. Ich fühlte mich mehr und mehr zu ihm hingezogen; das Unvorstellbare war geschehen - niemals hätte ich dies zu träumen gewagt!
Wir verbrachten jede freie Minute zusammen, was uns noch mehr zusammenschweisste. Franz versuchte nie, mich zu noch mehr Intimität zu drängen, denn er wusste inzwischen, warum ich diese «Störungen» aushalten musste. Er war kurz vor mir in die Klinik eingeliefert worden nach einem Suizidversuch. Inzwischen waren vier Wochen vergangen; eine Frage brannte mir schon lange auf der Zunge:
«Warum wolltest du deinem Leben ein Ende setzen?»
Seine Antwort erschütterte mich:
«Ich konnte den Tod meines Sohnes nicht verkraften.»
Ich drückte ihn noch fester an mich und spürte, wie sein Körper zu zittern begann, gefolgt von einem leisen Schluchzen, das er zu beherrschen versuchte.
«Du muesch ned wytter verzellä, wes dir z’fescht weh tuet, Franz, aber vilech tuets dir guet, wenn du dini truur chasch zuelah…», versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich spürte die Tiefe seines Schmerzes, es war höllisch.
Tausend Tode musste er schon gestorben sein, dachte ich mir, ehe er weitererzählte:
«Er hett sich a wiehnachte de goldig schuss gsetzt. Er hett mir än abschiedsbrief hinterlah mit de wort: «Lasst mir meine Träume. Ich gehe dorthin, wo ich frei bin. Meine Träume kann mir niemand mehr nehmen.»
In dieser Nacht erzählte mir Franz alles über den tragischen Tod seines zwanzigjährigen Sohnes Dominik, der auf dem Platzspitz freiwillig aus dem Leben geschieden war. Seine jahrelange Drogenabhängigkeit hatte er nicht überwinden können, trotz vieler Therapieversuche und Methadonprogramme. Niki - wie Franz ihn liebevoll nannte - war durch seine zweite Freundin in die Drogenszene abgerutscht. Als Vater hatte er alles Mögliche versucht, seinen einzigen Sohn aus diesem gewaltigen Sog zu ziehen. Zuletzt hatte er der Stadtpolizei Zürich geholfen, den Drogendealern auf die Spur zu kommen, teilweise sogar mit Erfolg. Dies hatte ihn davor bewahrt, in ein noch tieferes Loch zu fallen. Das funktionierte eine Weile, bis ihn der Höllenschmerz einholte.
«Und Nikis Mutter?» wollte ich wissen.
«Sie war noch sehr jung, als sie unseren Sohn zur Welt brachte. Ich wurde mit neunzehn Vater. Unsere Ehe hielt nicht lange. Irma vernachlässigte Niki - sie konnte sich nicht so um ihn kümmern, wie er es gebraucht hätte. Sie ging lieber auf Partys, vergnügte sich mit anderen Männern und schob ihn später ganz auf die Seite.»
«Wie tragisch! Du konntest ihm ja nicht auch noch die Mama ersetzen. Du darfst dir nichts vorwerfen, Franz. Bestimmt warst du ein liebender, fürsorglicher Vater.»
«Doch, ich hätte mehr tun müssen! Aber jetzt ist es zu spät und ich muss damit leben lernen.»
Diese tragische Geschichte beschäftigte mich sehr - wieder allein in meinem Zimmer sinnierte ich:
Stirbt ein geliebter Mensch, reisst das die Seele in einen tiefen Abgrund, aus dem man zeitlebens versucht, wieder zu entkommen; mit konstruktiven oder destruktiven Strategien – je nach Prägung, Veranlagung, Einstellung, innerem Kompass und sozialem Netzwerk. Zum Wesen der Liebe gehört es, dass sie niemals aufhört, sich weiter zu verschenken - sie zieht ihre Kreise auch ausserhalb des Vertrauten und hat die Kraft, zu heilen, was zerrissen, zu verbinden, was verloren geglaubt und wieder aufzurichten, was niedergeschlagen ist.
Wie sah es denn bis jetzt in meinem eigenen Leben aus?
- Intuitiver Umgang mit Trauma, Schmerz, Schicksalsschlag: bei mir hoffentlich konstruktiv dank Herzensstärke, Kreativität und innerem Kompass (auch von Gott geleitet...)
- reflektierter Umgang mit Trauma, Schmerz, Schicksalsschlag: Positive Einstellung, Erfahrungswert anhand des Verhaltens der Menschen in meinem Umfeld (aus deren destruktiven Verhaltensmustern lernen, idealerweise diese bei sich selbst in konstruktive umwandeln) > ja, versuche ich...
- unbewusste Reaktion auf Trauma, Schmerz, Schicksalsschlag: Prägung erkennen, versuchen einzuordnen und wiederum etwas Konstruktives daraus machen > die Ohnmachtsanfälle scheinen eine unbewusste Reaktion auf mein Trauma zu sein. Wie mache ich etwas Konstruktives daraus???
- Soziales Netzwerk: Wem kann ich mich anvertrauen? Wer interessiert sich, wie es mir geht? Welche Personen können mich "erfassen", auch ohne Worte? Wer ist in meiner Not, Krise, Krankheit wirklich für mich da (also auch dann, wenn es belastend, schwierig, unangenehm wird)? Kann ich Hilfe annehmen, mutig genug sein, mich authentisch und verletzlich ("nackt") zu zeigen? Wie kann ich mit Kritik umgehen und daraus neue, konstruktive Strategien entwickeln?
* Zu diesem Punkt soziales Netzwerk: > eindeutig Verbesserungspotential, Sandra: Vorsicht bei der Auswahl Freunde, Wegbegleiter, Vertrauenspersonen!
- Veranlagung: Was ist mit all den Menschen, die diese Erkenntnisfähigkeit nicht haben, die ihre Handlungen/Reaktionen nicht mit Vernunft, Intelligenz, mentaler Kraft steuern können? Oder umgekehrt denjenigen, deren Emotionen und Gefühlswelten unter einer dicken Schicht des Selbstschutzes vergraben sind oder sonst nicht in der Lage sind (z.B. genetisch-, krankheitsbedingt) wahrzunehmen oder zuzulassen, was sie fühlen?
Eindeutig bejahen kann ich, dass ich aus Liebe zum anderen über mich selbst hinauswachsen kann und es mir ein tiefes Bedürfnis ist, weiterhin Gutes zu tun und Schönes zu schenken.
Allerdings - komme ich zur Erkenntnis - ist es für mich schwierig, mich selbst zu lieben. Vielleicht kann ich das mit der Zeit lernen...einfach nicht vergessen: "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst."
Franz hatte mir etwas Wesentliches verschwiegen – ich wunderte mich nur, weshalb die Ärzte versuchten, die noch zarte Verbindung zwischen uns, je näher wir uns kamen, auseinanderzureissen. Er wurde mehrmals ermahnt, sich von mir fern zu halten oder er müsse die Klinik verlassen. Ich ahnte, dass man mich beschützen wollte – aber wovor? Natürlich liess er sich nicht davon abhalten, sich weiterhin in meiner Nähe aufzuhalten, mit der Konsequenz, von heute auf morgen die Entlassungspapiere zu unterschreiben. Doch wohin sollte er gehen? Er hatte alles aufgegeben - seine Wohnung, Arbeit und sein letztes Geld aufgebraucht; er hatte ja nicht damit gerechnet, nochmals durch irdische Räume zu wandeln. In meiner Naivität und Gutmütigkeit drückte ich Franz meinen Wohnungsschlüssel in die Hand und bot ihm an, vorübergehend bei mir unterzukommen – ich musste ja noch länger hospitalisiert bleiben – das würde vorerst ein Auffangnetz sein und ihm eine Perspektive eröffnen, um an seinem neuen Lebensentwurf weiterknüpfen zu können. Zum Glück unterstützte ihn sein jüngster Bruder Röbi, der ihn auch immer besucht hatte.
Während Franz versuchte, sich wieder in der realen Welt zurechtzufinden, versuchte ich zu akzeptieren, dass ich wohl längere Zeit mit diesen Anfällen würde leben müssen.
Dr. Mettler eröffnete mir, ich sei nun stabil genug, auf die Langzeitstation verlegt zu werden. Wegen meiner «Störungen» sei zudem ein IV-Renten-Anspruch gegeben, der nun in die Wege geleitet werde. Ich fragte den Arzt, ob ich am Wochenende freien Ausgang hätte, was ihn hellhörig werden liess:
«Mit wem möchten Sie das Wochenende verbringen? Sie wissen schon, dass es noch zu riskant ist, alleine unterwegs zu sein wegen den Schwindelanfällen.»
«Ich wollte zu mir in die Wohnung. Mein Bruder holt mich ab und wird mich begleiten. Er bringt mich auch wieder zurück.»
«Haben Sie noch Kontakt zu Herrn Findeisen?»
«Ja. Er wohnt vorübergehend bei mir», war meine unüberlegte Antwort.
Dr. Mettler war anzusehen, dass er immer noch nicht damit einverstanden war:
«Tut mir leid, ich kann Ihnen den Ausgang nicht erlauben. Glauben Sie mir, es ist das Beste für Sie.»
«Aber warum denn nicht? Ich kann Ihre Bedenken nicht nachvollziehen.»
«Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aus ärztlicher Sicht kann ich es einfach nicht verantworten.»
Instinktiv wusste ich, dass ich einen anderen Weg finden musste, aus dieser Verstrickung herauszukommen. Das Gefühl, längerfristig in der Klinik bleiben zu müssen, fing an, mich zu beengen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich - wie der Panther in Rilkes Gedicht - mit geschmeidigen Schritten hinter den Gitterstäben der Anstalt bewegte; wie ein Tanz von Kraft und Mitte, in der betäubt ein grosser Wille steht. Ein Bild ging durch die angespannten Glieder und hörte im Herzen auf zu sein. Ohne es damals so einordnen zu können, hatte ich die Vision zweier blonder Mädchen, die mich anlächelten. Diese Eingebung zog in meinem Innern vorbei wie eine Sternschnuppe – nur ganz kurz, dennoch so intensiv, dass sie mich im entscheidenden Moment leitete.
Franz besuchte mich in der Klinik am besagten Wochenende, an dem mir der Ausgang verwehrt blieb. Nach dem gemeinsamen Spaziergang im Park beschnupperte ich die frische Luft der Freiheit, was meinen Lebenswillen weckte und mich spüren liess: Es gab eine Welt hinter tausend Stäben; ich musste nur den Mut aufbringen, diesem Ruf des Lebens zu folgen. Mit Franz an meiner Seite könnte ich das schaffen! Augenblicklich war die Entscheidung gefallen, meine persönlichen Sachen zu holen und aus der Klinik zu entfliehen. Dies war ein leichteres Unterfangen als gedacht: Nachdem ich mein Köfferchen gepackt hatte, lief ich Franz wie ferngesteuert einfach hinterher zum Ausgang. Nun folgte mir das ungläubige Augenpaar eines Pflegers, der vor lauter Staunen zu keiner Reaktion mehr fähig war. Ich sehe noch heute vor mir, wie er uns mit offenem Mund und langem "Schwanenhals" völlig verwundert nachschaute.
Und schon war ich draussen.
Am nächsten Morgen erhielt ich einen Anruf von Dr. Mettler. Er bat mich, zurück in die Klinik zu kommen. Ich teilte ihm entschlossen mit, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Er versuchte, mir die Gefahren dieses übereilten Entschlusses aufzuzeigen, doch mein Herz liess sich nicht aus dem Takt bringen. Entgegen aller Vernunft blieb ich bei Franz. Ich musste nur noch die Erklärung unterschreiben, wonach ich die PUK entgegen dem Willen der Ärzte – auf eigene Verantwortung – verlassen würde.

Franz war ebenso überzeugt wie ich, dass wir es schaffen würden, unsere Schritte in eine gute Richtung zu lenken - in ein «normales» Leben ohne Drama. Denn auch er hatte als Kind Tragisches erlebt, musste sich durch harte Zeiten hindurchkämpfen. Seine Mutter war - mit dem vierten Kind im neunten Monat schwanger - nach dem Einkaufen die Treppe hinuntergestürzt. Sie lebten in Glarus; Franz war damals neun Jahre alt und hatte ihr geholfen, die schweren Taschen zur Wohnung hinaufzutragen. Der Bub rannte so schnell er konnte ins Spital, um Hilfe zu holen. Sein ungeborenes Schwesterchen konnte nicht mehr gerettet werden, und auch seine Mutter Gisela überlebte den Sturz nach einem unbemerkten Milzriss nicht. Sein jüngerer Bruder, Reini, damals fünf Jahre alt und der einjährige Röbi wurden in einem Heim für Kleinkinder untergebracht. Franz musste, von seinen Brüdern getrennt, im Pestalozziheim mit den älteren Kindern die nächsten Jahre verbringen.
Vater Emil Findeisen war mit der Betreuung seiner drei Söhne nach dem Tod seiner Frau überfordert.
Wir wollten die Schatten hinter uns lassen und zuversichtlich in die Zukunft schauen; versuchen, aus eigener Kraft unsere Existenz aufzubauen. Franz war handwerklich sehr begabt, hatte nebst einer Bierbrauerlehre auch noch den Abschluss als Mechaniker. Seine Leidenschaft war das Taxifahren, mit dem er als Selbständiger sehr gut verdient hatte. Es lag auf der Hand, dass er vorerst wieder in diese Branche einsteigen würde. Mit meinen «Störungen» konnte er gut umgehen - er war sich sicher, diese würden sich eines Tages im Sand verlaufen. Meine Hoffnung wuchs mit dem Vertrauen, Gott hatte uns zwei «Gestrandete» zusammengeführt, um aus der Asche etwas Neues entstehen zu lassen.
Meine Einzimmerwohnung an der Funkwiesenstrasse in Zürich Schwamendingen war vorerst mal ein heimeliges Nest, um an der zarten Bindung zwischen Franz und mir weiterzuwirken. Nach anfänglichen Zweifeln, ob meine Gefühle für ihn von der Sehnsucht nach dem liebenden Vater beeinflusst waren, konnte ich mich der Beziehung - slowly but surely - hingeben. 16 Jahre Altersunterschied spielten keine Rolle mehr; das, was uns im Herzen verband, war stärker, als eine rationale Analyse mit dem Verstand.
Mir wurde die volle IV-Rente zugesprochen, und ich versuchte, mit den Schwindelanfällen leben zu lernen. Meine Kreativität half mir dabei, mit meiner Verletzlichkeit umzugehen. Ich malte, erschuf Skulpturen, Bäume und Reliefs aus Ton, strickte einen Pullover für Franz und tanzte. So konnte ich mich daheim beschäftigen, ohne mich der Gefahr einer Verletzung auszusetzen. Da mir immer zuerst schwindlig wurde, konnte ich mich rechtzeitig in eine schützende Position bringen, bevor ich das Bewusstsein verlor. Zum Glück gehörte zu meiner Wohnung eine grosse Terrasse, die mir das sichere Arbeiten an der frischen Luft ermöglichte. Aktivitäten wie Einkaufen, Spaziergänge im nahegelegenen Park und Ausflüge waren nur in Begleitung von Franz möglich. Er war mutig genug, mich auf der Vespa mitzunehmen; ich solle ihn einfach am Ärmel zupfen, wenn mir schwindlig wurde. Dann hielt er an, liess mich in seine Arme fallen, und schon ging die Reise weiter. Ich war sehr dankbar, somit doch noch ein Stück Normalität in meinem eingeschränkten Alltag zu erleben.
Wir waren kaum einen Monat zusammen, als er mit mir nach Wasserkraut/Bayern zu seiner Tante Steffi, der Schwester seiner Mutter und Onkel Hans fuhr. Franz hatte einen engen Bezug zu seiner Familie in Deutschland und verbrachte schon als kleiner Bub Ferien auf dem Hof seiner geliebten Tante, die sieben Kinder und ein Enkelkind grossgezogen hat. Mit seinen Cousins und Cousinen konnte er bis zum Tod seiner Mutter eine unbeschwerte Kindheit geniessen, auch darüber hinaus fand er hier Liebe, Geborgenheit und den Halt, den er so dringend brauchte. Meine anfängliche Befangenheit, wie meine «Störungen» wohl bei seiner Verwandtschaft aufgefasst werden würden, löste sich vom ersten Moment an auf, als ich die herzliche Wesensart seiner bayrischen Familie spüren durfte. Ich konnte es nicht fassen, wie natürlich und unkompliziert sie damit umgehen konnten, dass ich mehrmals am Tag in Ohnmacht fiel. Tante Steffi vermittelte mir das Gefühl, dies sei ein vorübergehender Spuk und würde eines Tages völlig verschwinden. Ihre Liebe und Fürsorge kannten keine Grenzen. Sie war eine exzellente Köchin – ihre Knödel und «Franzkuchen», die nach Franz benannt wurden, weil er diese so liebte, waren so lecker, dass sie sich keine Sorgen mehr machen musste, dass ich zu wenig ass. Diese reine Herzensenergie zu spüren war heilsam für meine Seele. Niemals werde ich vergessen, wie aufrichtig herzlich ich in Wasserkraut von seiner Familie aufgenommen und eingebettet worden bin, als wäre ich schon lange eine unter ihnen. Zum Glück durfte ich an diesem Ort mit so liebevollen Menschen mich selbst sein – mit meiner Verwundbarkeit und Schwäche, mit der ich mich immer noch nicht versöhnt hatte und für die ich mich noch lange schämte.
Das Aussergewöhnliche an Franz war, dass er mit einem starken Willen, kreativen Ideen und einem unbändigen Selbstvertrauen das scheinbar Unmögliche möglich zu machen versuchte. Mit Entschlossenheit begegnete er den schwierigen Situationen, die sich durch meine Krankheit ergaben. Ein Erlebnis bleibt stets in Erinnerung, auch, weil es mir aufzeigte, wie stark sein Beschützerinstinkt und der Helfer in ihm ausgeprägt waren. In der EPA, einem Warenhaus in Zürich, hatte ich solch einen Schwindelanfall: Franz fing mich auf in der Papeterie-Abteilung, woraufhin sich ein Mitarbeiter sehr verärgert äusserte, ob ich eine Drogenabhängige sei. Ich bekam nur noch mit, wie der Filialleiter Franz ermahnte:
«Verlassen Sie auf der Stelle mit der Drogensüchtigen unser Geschäft! Sie hat ab sofort Hausverbot!» Franz versuchte ihm zu erklären, dass ich einen krankheitsbedingten Ohnmachtsanfall hatte und keineswegs ein Junkie war. Doch es half nichts. Er trug mich hinaus und schilderte mir danach die unangemessene Reaktion des Verkaufspersonals. Nie mehr würde er in der EPA einkaufen gehen; es konnte doch nicht sein, dass man mit solchen Vorurteilen die Kunden ungerecht behandelte und so harsch verbannte!
Franz musste sich zudem von einem seiner «Freunde» anhören, was er sich wohl dabei denke, mit solch einer Frau eine Beziehung eingehen zu wollen - eine, die mehrmals am Tag in Ohnmacht fällt und daher kaum zu einer würdigen Lebensqualität fähig wäre, um nicht zu sagen: ein Klotz am Bein. Das tat weh, was ihn aber nicht davon abhielt, zu mir zu stehen und dem starken Gegenwind mit Segeln der Kraft und Zuversicht zu begegnen. Er kämpfte nicht nur für sich, nein, erst recht für mich. Dass das über seine Grenzen gehen könnte, habe ich mir damals nicht überlegt. Meine Instinkte konnten mich auch nicht davor warnen, die andere Seite der Medaille zu erfahren.
Es geschah nach einem Ausflug zum Wiesenberg/NW, zu einer Familie, die Niki zuletzt bei sich aufgefangen hatte. Es war der letzte Versuch gewesen, dem Jugendlichen in einer stabilen und familiären Atmosphäre festen Halt zu geben und ihm - gelernter Förster - eine neue Sinnfindung zu ermöglichen. Die Naturidylle war perfekt für einen Waldliebhaber wie Niki - auch die Herzensmenschen, die ihn hier begleitet hatten, durfte ich kennenlernen. Franz wollte sich nochmals bedanken für das Engagement und die Liebe, die sie seinem Sohn entgegengebracht hatten. Es war ein sehr emotionaler Besuch, der die noch nicht verheilte (vielleicht auch nie heilende) Wunde seines tragischen Verlustes wieder aufriss, so erkenne ich das heute. Zweck der Reise hierhin war es zudem, ein junges Kätzchen auszusuchen, das Franz mir schenken wollte. Er wusste, wie sehr ich Katzen liebte und sah darin wohl auch eine kuschelige Ablenkung und verspielte Begleitung durch meine einsamen Tage. Ich verliebte mich sofort in einen acht Wochen alten Kater, der mich mit seinem offenen, treuherzigen Blick im Nu erobert hatte. Er war so niedlich mit seinem getigerten Muster, den weissen Pfötchen und dem charakteristischen, weissen Dreieck auf seinem Gesicht. Auf der Fahrt nachhause überlegte ich mir einen Namen für ihn.
«Was meinsch, wellä name passt zu ihm?» fragte ich Franz.
Er überlegte nicht lange und antwortete: «Wie wärs mit Niki…?»
«Aber tuet dir das ned weh, wils dich doch a din sohn erinneret? Findsch das würklich ä gueti idee?» gab ich zu Bedenken.
«Ja, vilecht isch das grad guet zum verarbeite…», dabei blickte er kurz zum niedlichen Fellknäuel hinüber, das sich schon wohlig in meinem Schoss eingelullt hatte. Ich streichelte das samtweiche Fell und wusste, dass dies der passende Name für den süssesten Kater auf der Welt sein würde.
Niki gewöhnte sich schnell an seine neue Umgebung. Er hoppelte mir nach, schnupperte auf der grossen Terrasse die Stadtzürcher Luft und spielte am liebsten mit meinen Wollknäueln. Unsere Waschküche befand sich ausserhalb der Wohnung in einem separaten Gebäude. Ich trug den Wäschekorb mitsamt Katerchen Niki hinüber. Er guckte sehr neugierig aus der schmutzigen Wäsche, streckte seinen Hals, um diese unbekannte Welt zu beäugen. Er blieb immer bei mir, war sosehr auf mich fixiert, dass ich unbesorgt sein konnte, dass er davonlief. Er musste ja noch einige Zeit drinnen bleiben oder eben mit einem kleinen Ausflug mit mir zum Waschraum vorlieb nehmen. Seit seiner Ankunft waren ein paar Tage vergangen. Abends, nach meinem Schwindelanfall, lief ich nochmals zur Waschküche, um die trockenen Tücher und Kleider in den Korb zu legen. Wieder zurück trat ich ins Badezimmer, um die Badtücher einzuräumen, da traf mich der Schlag: Franz kauerte am Boden, in seinem Unterarm steckte eine Spritze. Er starrte mich ungläubig mit dem Ausdruck eines auf frischer Tat Ertappten an.
Er hatte vergessen, die Badezimmertür abzuschliessen. Ich war derart schockiert, dass ich zu keiner Regung mehr fähig war - ich hörte mich bloss stammeln:
«Was machsch du, Franz? Was isch das für ä sprütze?!?» Ich hatte wirklich keine Ahnung, was er mit der Spritze in seinem Arm vorhatte.
Ich blickte ihm tief in die Augen, seine Pupillen waren irgendwie verändert und die Schweissperlen glänzten auf seiner Stirn. Erst jetzt wurde mir bewusst, wovor die Ärzte mich schützen wollten:
Franz war selbst drogenabhängig!
«Oh mein Gott, Franz, das darf ned wahr sy! Wurum hesch du mir das verschwygge? Ich fasses ned, dass du mir das nid gseit hesch!»
Mir wird schwer ums Herz, währenddem ich dies schreibe, es ist, als erlebte ich diesen Alptraum ein zweites Mal. Für mich brach eine Welt zusammen; das Licht des Vertrauens warf mich plötzlich so unerwartet in diesen ungeahnten, finsteren Abgrund.
«Wie lang machsch du das scho hinger mim rügge?» wollte ich wissen.
Franz senkte den Blick und zog die Spritze aus seinem Arm.
«Noni lang. S’isch nöd schlimm, ich hör uuf, versproche», dabei schaute er mich mit wässrigen Augen an.
«Was nimmsch für droge?»
«Heroin und Kokain.»
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich schauderte.
«Bisch du scho vorher abhängig gsi?Wie lang scho?»
Er erzählte mir das Schauermärchen, wonach die Dealer ihn in seiner Wohnung festgehalten hatten, um ihm das Teufelszeug zu spritzen; um ihn selbst abhängig zu machen mit der Warnung, wenn er der Polizei weiterhin Hinweise gäbe, würde es tödlich für ihn enden. Um ihn noch mehr einzuschüchtern, schnitten sie seiner Katze den Schwanz ab. Was für eine Horrorgeschichte!
«Du wärsch sicher nöd mit mir choo, wenn du’s gwüsst hättsch, oder?» fragte er mich.
«Bestimmt nid», musste ich mir selbst eingestehen - bestimmt wäre ich nicht mit Franz zusammengekommen, hätte ich von seiner Sucht gewusst!
«Ich wett dich nöd verlüüre, Sandra, ich schaff das! Ich lieb dich doch!»
Der kleine Niki strich mir durch die Beine und löste mich aus meiner Erstarrung. Ich bückte mich, um den schnurrenden Kater auf meinen Arm zu nehmen und fest an mein wild schlagendes Herz zu drücken, als Balsam gegen den Schmerz.
Franz versuchte Wort zu halten und sich aus dem Würgegriff der harten Drogen zu befreien. Er nahm die Hilfe einer erfahrenen Therapeutin an und wurde nun selbst in ein Methadonprogramm eingeführt. Doch der Teufelskreis hatte erste begonnen: Methadon, Rückfall in die Drogen, intensivere Therapie, Methadon, Rückfall - solange, bis ich wusste, so ging es nicht weiter.
Inzwischen waren wir in eine grössere Wohnung am Güetliweg in ZH - Oerlikon eingezogen und hatten Zuwachs bekommen. Franz hatte mir nochmals einen Kater geschenkt: Franky-boy.
Ich hatte mich entschieden, zum nächsten Gespräch mit der Suchtspezialistin mitzukommen.
Sie redete Klartext:
«Es isch füf vor zwölfi. Franz, dini bluetwärt sind sehr kritisch - wenn du so wytter machsch, läbsch nüme lang.»
Ich hatte schon gemerkt, dass Franz kreideweiss, aufgedunsen und sehr schlecht aussah, aber dass es so schlimm war - auch das hätte ich nie so einschätzen können. Nach dieser ernüchternden Standortbestimmung schickte die Therapeutin Franz kurz hinaus, um mit mir alleine reden zu können; es sei wirklich sehr Ernst und sein Leben in Gefahr:
«Solang er hei chunnt ines gmüetlichs, warms näschtli und i därä comfort zone blybt, cha sich nüt ändere. Du muesch ihm ganz klaari gränzä uufzeigä, es darf ihm nüme zu wohl sy. Das tönt jetzt hart, isch aber no die einzig chance, dass er uf die richtigi spur chunnt. Liebi bedütet mängisch au, ganz klari gränzä z’zieh.»
Ich wusste genau, was sie meinte, die Suchtthematik war mir durch meine Mutter allzu vertraut. Nur wollte sie sich nicht helfen lassen, geschweige denn, sich ihre Alkoholabhängigkeit eingestehen. Da war Franz schon einen grossen Schritt weiter, dafür körperlich am Ende.

Schweren Herzens stellte ich Franz vor vollendete Tatsachen: Ich würde in ein Wohnheim ziehen mit den Katzen und mich von ihm trennen müssen. Sein verschleierter Blick zeigte mir, dass er gar nicht mehr fähig war, die Tragweite dieses schmerzhaften Einschnittes zu realisieren. Er schien völlig neben sich zu stehen - die Härte meines Vorgehens drang nicht in sein Herz durch, was die Aussichtslosigkeit seiner Situation nur noch mehr bestätigte. Nun musste ich für uns beide stark sein!
Wir lösten die gemeinsame Wohnung auf. Ich zog mit Niki und Franky-boy in ein betreutes Wohnheim in Uerikon am Zürichsee.
Franz war jetzt seinem eigenen Schicksal überlassen. Ich weiss nicht, wie ich derart über mich hinauswachsen und die notwendige Kraft schöpfen konnte, um unsere Trennung durchzuziehen. Die Gespräche mit meinen Mitbewohner:innen im Heim und den Betreuungspersonen halfen sicher dabei, mich mehr abzugrenzen und zu lernen, mich um mich selbst zu kümmern. Als Katzenmutter hatte ich eine Aufgabe, die meinem fürsorglichen Wesen entsprach, was mich weiterhin erfüllte. Mit den Wochen, die vergingen, bestätigte sich: Es war genau die richtige Entscheidung gewesen!
Der Schöpfer webt an unserem Lebensentwurf weiter, auch wenn wir es nicht bewusst wahrnehmen können. Die ganz feinen, zarten Fäden werden durchzogen von starken Strängen und so zu einem unfassbaren Kunstwerk zusammengewirkt. Mit Staunen kann ich dies im Nachhinein immer wieder bezeugen und aus einer gewissen Distanz erkennen. Es fügte sich nämlich, dass meine Mutter genau während dieser Phase ein neues Projekt ins Auge fasste. Sie plante, nach Kroatien auszuwandern - auf die Insel Hvar - wo ihr ältester Bruder Heinz ein baufälliges Haus gekauft hatte. Er stellte ihr auch eine grosszügige Summe für die Renovierung zur Verfügung. Sie bot Franz an, mit auf die Insel zu kommen, fernab der Heroin- und Kokainhölle, um ihr beim Aufbau ihrer neuen Bleibe zu helfen. In der Tat nutzte er diese Chance, in ein neues Abenteuer zu segeln - wie er mir später erzählte, hatte er symbolisch alles, was er noch an Drogen bei sich hatte, auf der Fähre zwischen Italien und Split über Bord geworfen und sich von den schaukelnden Meereswogen ans unbekannte Ufer treiben lassen. Den eiskalten Entzug überlebte er in den Ruinen des Hauses, dessen starke Mauern erst noch errichtet werden sollten. Meine Mutter und Claudio, ihr damaliger Lebensgefährte, liessen sich ebenso hoffnungsvoll in den Traum eines Neubeginns in Zavala führen wie Franz, der sich allmählich wieder einer sinnerfüllten Arbeit zuwenden konnte.
Während diesen Wochen und Monaten, in denen ich mich auf meine Tagesstruktur konzentrierte, hörte ich nichts von den Auswanderern auf der kroatischen Lavendelinsel. Ich fand eine Beschäftigung in der nahegelegenen Flechterei, einer geschützten Werkstatt. Auch dort begegnete ich Menschen, die Schiffbruch erlitten hatten, von einer chronischen Krankheit oder traumatischen Geschehnissen gezeichnet waren. Die Erfahrung, nicht alleine aus dem Kokon der Befangenheit einer fesselnden Vergangenheit zu schlüpfen, stärkte meine Schmetterlingsflügel, die im hellen Licht des Tages fein und durchsichtig immer noch Zerbrechlichkeit durchschimmern liessen. In der Verbundenheit mit den Werkstattkolleginnen und meinen Mitbewohnern fühlte ich mich mit der Zeit integriert und gut aufgehoben. Ich dachte nicht mehr so viel an Franz, vermisste ihn kaum noch, schien mich überraschend gut von ihm losgelöst zu haben. Ich lernte, mich mit den Schwindelanfällen in kleinen Kreisen zu bewegen, in der Hoffnung, eines Tages auf dem Flug zu meiner wahren Berufung doch noch Liebe, Erfüllung, Heilung und mich selbst zu finden.
«Dobar dan, gospodica, kako ste?» fragte eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Es war spätnachmittags im Wohnheim Sternen. Gilbert, ein älterer Heimbewohner mit französischem Accent, hatte den Anruf entgegengenommen und mir gedeutet, es sei ein Gespräch für mich. Völlig perplex stand ich in der Telefonkabine und verstand kein Wort. Was wollte dieser Fremde von mir?
«Wer sind Sie, ich kenne Sie nicht. Sie müssen sich verwählt haben», versuchte ich den Unbekannten abzuwimmeln.
«Ja sam …. » ertönte die männliche Stimme an meinem Ohr - ich unterbrach sie, nun genervt, mit dem Satz:
«Lassen Sie mich in Ruhe, ich kenne Sie nicht!»
«Ich bin’s doch, dä Franz, erkännsch mi nüme?» fragte er nun auf Schweizerdeutsch.
«Franz?!? Bisch du das würklich?» - ich konnte es kaum fassen, seine Stimme klang so anders – so kräftig, warm, durchdrungen von Lebensatem.
«Ja, ich bin’s! Ich bin völlig clean, nimme kei droge meh - han alles im meer versänkt und jede tag a dich dänkt…Sandra, ich han dich immer no liäb; nur us liäbi zu dir han ich das gschafft! Ich möcht diich wider gseh», beteuerte Franz.
Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass er sich auf der Insel so gefasst und willensstark seiner Sucht hatte entwinden können – aus Liebe zu mir – das klang echt, denn ich fühlte es pochend in meinem Herzen und prickelnd unter der Haut.
«Darf ich diich go bsuechä?» fragte Franz und löste mich aus meiner stummen Verwunderung.
Zwei Tage vor seinem 45. Geburtstag schrieb er mir aus Kroatien einen Brief:
Liebster Schatz, Sandra Zavala, 21.07.1996
Es ist kurz vor 3.00 morgens. Ich denke fest an Dich, mein Liebes! Draussen zirpen 1000 Grillen, das Meer rauscht und ein frischer Wind bläst über Hunderte von Inseln, es kommt ein überwältigender Duft von Smaragdgrünen Wäldern, wo die grosszügige & reichhaltige Natur einem verzaubert! Es gibt verborgene Buchten, Strände, Felsen, Karst, Smaragdwäldchen und die tiefblaue, unübersehbare, kristallklare Hochsee, wo ich mich beim Tauchen in einer unberührten, faszinierenden Märchenwelt glaube bewegen zu dürfen, dieses neu geschenkte Leben möchte ich jede Sekunde geniessen! Ich freue mich mächtig auf jenen Tag, wo ich DICH da unten in meine Arme schliessen darf und DIR das alles zeigen zu dürfen, wenn DU dann auch hier sein wirst, da wird der schönste Traum meines Lebens wahr. Bei jedem Stein, den ich hier bewege, um für uns ein neues Nest zu bauen, will ich an DICH denken…kaum dass ich es erwarten kann wenn DU auch hier sein darfst.
In inniger Umarmung, mit tausend Küsschen, grüsst Dich, mein allerliebstes «Sandy»
Dein Franz
Pleas dont forget me…I love you very much !!!
3.35 versuche zu schlafen, sorry wegen der Schrift habe draussen bei «candle ligth» geschrieben (auf dem Bauch liegend)
Auf bald mein lieber Schatz!
Now I Dream from you my Darling…
Send my a Letter pleas, i wait of your Message…
Zweieinhalb Wochen später, am 8. August 1996, stand ein braun gebrannter, breit grinsender, gesunder Mann vor mir – Franz strotzte vor Lebensenergie und Freude. Er nahm mich in die Arme und küsste mich innig. Er duftete herb-süsslich nach Abenteuer, Sehnsucht und Leidenschaft. Ich löste mich auf in der Zärtlichkeit dieses Augenblicks und fühlte mich verbunden mit ihm, der Schöpfung und dem Ruf meines Herzens. Wir verbrachten zehn unbeschwerte Tage zusammen, schöpften alles aus dem Moment der Wiedervereinigung, stillten unseren Durst nach einem erfüllten Leben zu zweit und wurden hungrig nach noch mehr.
Wir schmiedeten einen Plan für die gemeinsame Zukunft auf der Insel und wussten beide, dass dieses neue Kapitel nur Seite für Seite, Schritt für Schritt, wohl überlegt und gut vorbereitet umgesetzt werden konnte. Franz liess mir die Zeit, mich mit meiner Unsicherheit und den damit verbundenen Ängsten auseinanderzusetzen. Er wusste nur allzu gut, dass ich mit der Ohnmacht und meiner Verletzlichkeit in einem fremden Land vollends auf seine Hilfe, Stütze und Fürsorge angewiesen sein würde. Für mich würde es schlussendlich ein schwindelerregender Sprung ins Neue, Unbekannte und Verlockende ohne Auffangnetz sein, bei dem ich Franz blindlings würde vertrauen müssen. Deshalb willigte ich ein, zuerst einen Monat in Urlaub nach Kroatien zu fliegen, um mich dann entscheiden zu können, ob es realistisch wäre, mit ihm auf Hvar zu leben. Inzwischen war Franz wieder abgereist und ich in Vorbereitung für den bevorstehenden Flug am 14. Dezember 1996. Ich konnte meine Katzen während meines einmonatigen Ferienaufenthalts nicht in die Obhut einer Vertrauensperson geben, deshalb nahm ich Niki und Franky-boy mit auf die Insel. Ich durfte die beiden per Handgepäck für den Hin- und Retourflug mit der Croatian Airlines bei mir behalten - das war damals ganz unkompliziert möglich und für mich das entscheidende Kriterium, dass die Katzen mich begleiten würden. Eine Kollegin aus dem Wohnheim begleitete mich zum Flughafen; von da aus wurde ich unterstützt vom Airline-Personal.
Franz wohnte inzwischen nicht mehr bei meiner Mutter; er hatte in Jelsa bei Stjepan und Maria, einem Ehepaar, das Wohnungen vermietete, vorübergehend eine neue Bleibe gefunden. In Split holte er mich, Niki und Franky-boy am Flughafen ab. Von da aus fuhr die Fähre Jadrolinja zwei Stunden nach Stari Grad auf Hvar. Ich war sehr aufgeregt - es war eine Mischung aus Spannung, was mich wohl alles erwarten würde und einer überwältigenden Freude, mit Franz zusammen zu sein und mit ihm die Insel zu entdecken, die mich eine noch nie erfahrene Exotik des Lebens spüren liess.
Niki und Franky-boy mussten zwei Wochen in der Ferienwohnung ausharren, mit kurzen Abstechern in den eingezäunten Garten und auf den begleiteten Spaziergängen mit mir. Sie waren es gewohnt, in meiner Nähe zu bleiben, auch draussen, auf unseren Streifzügen durch die umliegende Natur. Hier duftete es herrlich nach frisch gepresstem Oliven- und Lavendelöl, das die Einheimischen zusammen mit ihrem preisgekrönten Wein auch für den Export gewinnen konnten. Franky-boy liebte die zarten Fischhäppchen, die ich ihm von meinem Teller fütterte und Niki die leckeren Hühnerbrüstchen, die wir knusprig gebraten serviert bekamen. Die kroatische Küche schmeckte wunderbar mit den frischen Scampi, Meeresfrüchten und gegrillten Fischen, die verführerisch aromatisch nach Rosmarin dufteten.
Wir besuchten meine Mutter in Zavala, einem malerischen Fischerdorf auf der Südseite der Insel - von Jelsa aus gut durch einen langen, engen Tunnel mit dem geliehenen Auto erreichbar. Nach mehr als einem Jahr war das Steinhaus fast schon fertiggebaut und mit dem Nötigsten eingerichtet. Die Gartenarbeiten waren noch nicht abgeschlossen, und auch dekormässig hatte Mama viele Ideen, die sie noch verwirklichen wollte. Die Stimmung zwischen Franz und meiner Mutter hatte sich merklich abgekühlt. Ich konnte nachvollziehen, warum. Durch ihre instabile Lebensweise mit der Alkoholabhängigkeit und was diese mit ihrer sonst so gutmütigen, grossherzigen Wesensart anstellte, war ein Zusammenleben auf engem Raum schwierig geworden und mit unlösbaren Konflikten behaftet. Ein Streit wegen finanziellen Dissonanzen hatte sein Vertrauen in sie erschüttert.
Die Verwandlung, dank derer Franz zu seinen gesunden Wurzeln zurückgefunden hatte, war für mich wie ein erhörtes Gebet und grenzte an ein Wunder. In dieser tiefen Dankbarkeit genoss ich die Idylle, die wir miteinander erleben durften, deshalb grenzte ich mich instinktiv von meiner Mutter ab. Nichts und niemand durfte zwischen unserer Vertrautheit, Verbundenheit und wieder aufkeimenden Liebe stehen.
Ich staunte, wie fliessend Franz sich nach eineinhalb Jahren mit den Inselbewohnern auf Kroatisch unterhalten konnte. Er war schön eingebettet in guter Gesellschaft und blühte auf im Kontakt mit den Freundschaften, die er geknüpft hatte. Seine extrovertierte, gesellige und humorvolle Persönlichkeit schillerte in allen Facetten; ihn so ungezwungen, ausgelassen und fröhlich strahlend zu sehen machte mich glücklich. Mit der Zeit konnte auch ich mich in der herzlichen Gastfreundschaft und lockeren Atmosphäre wohlfühlen - anfangs wirkte ich scheu, da ich noch nicht genau einschätzen konnte, welche Reaktionen mein Handicap auslösen würde. Die Flucht nach vorn ins kalte Wasser erwies sich als ein unbedenkliches, warmes Bad im Verständnis, das mir entgegengebracht wurde.
Es sollte mir nicht zu wohl sein...die nächste Challenge machte sich auf den Weg:
«Niki, Niki, Niki, macka!» besorgt rief ich meinen Kater, der sich schon einen Tag nach seinem freien Ausgang nicht mehr hatte blicken lassen. Ich machte mir Vorwürfe, ihn zu früh aus der zweiwöchigen, fürsorglichen Verwahrung befreit zu haben. Er musste sich verlaufen oder verirrt haben, denn für gewöhnlich hörte Niki immer auf meine Stimme und war schnurstracks zur Stelle, wenn ich ihn rief. Ich drehte meine Runden durch die nahegelegenen Kieferwälder, um mich von den Horrorszenarien, die sich vor meinem geistigen Auge abspielten, abzulenken - nicht auszudenken, wie mein Stubentiger seine Pfötchen wund lief in dieser Wildnis, verloren in der Fremde, die ihn zu verschlingen drohte! Wer weiss, was für wilde Tiere, giftige Schlangen und unberechenbare Gefahren auf ihn lauerten? Nach einer schlaflosen Nacht ging die Suche anderntags und tags danach noch intensiver weiter. In meine Verzweiflung mischten sich Panik und Trauer, Niki hier im vermeintlichen Paradies endgültig verloren zu haben.
Am vierten Tag der Suchexpeditionen war ich untröstlich und völlig durch den Wind. Ich hatte das Gefühl, mich immer wieder im Kreis zu drehen, ohne irgendeine Spur meiner vermissten Katze zu finden. Das furchterregende Gedankenkarussell in meinem Kopf machte mich verrückt vor Sorge. Franz versuchte mich zu beruhigen mit den Worten: «De Niki chunnt scho wider, er isch än schlauä kater, er findet sin wäg zrugg.»
Ach hätt’ich doch vertrauensvoll in seinen Optimismus mit einstimmen und mich vom beklemmenden Gefühl der Angst um Niki befreien können. Immerhin liess mich meine körperliche und emotionale Erschöpfung endlich in einen langen, tiefen Schlaf tauchen. Am Morgen des fünften Tages weckte mich ein heiseres Miauen - das konnte nur Nikis Stimme sein, denn Franky-boy hatte ein kaum hörbares, sehr feines Pieps-Stimmchen. Ich huschte aus dem Bett, öffnete die Wohnungstür und spürte augenblicklich, wie die Schwere der letzten Tage von meinen Schultern abfiel. Im strahlenden Sonnenlicht konnte ich die getigerten Umrisse meines geliebten Katers erkennen. Ich bückte mich, um Niki mit einer erlösenden Umarmung an mein Herz zu drücken und wollte ihn nie mehr loslassen. Mit seiner rauen Zunge schleckte er schnurrend meine Wangen, wie wenn er mich besänftigen wollte – sinngemäss übersetzt in menschlichen Worten: «Hei, muetter, beruhig dich, alles halb so wild!» Um das Geschehene zu verarbeiten, schrieb ich eine kleine Kurzgeschickte über Kater Nikis abenteuerliche Streifzüge auf Hvar.
Zurück am Zürichsee lauschte ich am Ufer dem Rauschen der Wellen, das mich an den Klang des Meeres im kroatischen Paradies erinnerte. Ich sehnte mich nach einem erfüllten Leben zu zweit, zusammen mit Franz, der auf mich warten und mich zurück auf die Insel begleiten würde, sobald ich den Mut dazu und die Gewissheit hätte, unsere Verbindung wäre stark genug, den Stürmen zu trotzen. Ich musste nur meinem Herzen folgen und meine Ängste überwinden.
Das Aufschäumen des Wassers, das gegen die Felsen platschte, erinnerte mich an unser Sehnen, das an die scheinbar unwegsamen Grenzen der Realität stösst und das harte Gestein im Verlauf der Jahrmillionen mit sanfter Kraft zu formen vermag. Ich blickte zum Horizont, der in der Dämmerung feurig- goldorange aufleuchtete und in mir ein tiefes Empfinden für das Grenzenlose, vor allem auch Hoffnung entflammte. Ein Feuer der Erkenntnis loderte fortan in mir, dass ich es in der Hand hatte, wann ich auswandern würde – die Entscheidung lag nun allein bei mir und war nicht an eine abstrakte Zeitmessung gebunden. Ich konnte hier und heute wählen, wann die Reise beginnen würde. Meine Unsicherheit, Ängste und Zweifel durften mir den Weg zur Umsetzung meiner Träume nicht künstlich versperren. Ich spürte, wie sich meine Lungenflügel weiteten und sich mit dem lauen Abendwind füllten - ein unbeschreibliches Gefühl der Befreiung überwältigte mich - ich wusste mit jedem Atemzug: Auf den Schwingen dieser Sehnsucht würde ich meine vertraute Heimat verlassen können, um der Liebe zu folgen und den Flug ins Unbekannte wagen.

Endlich geschafft! Die lange Route mit unserem «Goldnugget», einem alten, beigefarbenen Opel, den wir für ein Schnäppchen (500.- Fr.) von einer Zürcher Garage hatten ergattern können, verlief reibungslos. Am 13. August 1997, um 12:30 Uhr kamen wir müde, aber glücklich mit der Fähre in Starigrad an, wo wir eine Mittagessenspause einlegten. Danach war auch noch die letzte Etappe – Zavala - nach über 800 km Fahrt gemeistert. Katerchen Niki hatte sich tapfer geschlagen; die lange Reise hatte er mehrheitlich friedlich auf meinem Schoss verbracht, ich belohnte ihn zwischendurch natürlich mit seinen Lieblingsleckereien. Auf der Fähre musste er eine Stunde alleine in seiner Transportbox ausharren, währenddem Franz und ich uns mit einem kleinen Imbiss stärkten. Ich nippte gerade an meiner Cappuccino-Tasse als sich der nächste Schwindelanfall ankündigte. Nein, nur nicht jetzt! Franz war auf dem Deck, um seine Zigarette zu rauchen. Zum Glück hatten wir uns auf eine lange Holzbank gesetzt, so konnte ich mich sicher zur Seite legen und «abtauchen». Als ich wieder zu mir kam, lag mein Kopf auf Franzes Schoss. Er streichelte meine Wangen und sagte lächelnd: «Na, au scho wider wach? Mir händs gly gschafft! Ich han vori, woni dusse gsi bin, zwei delfin gseh. Wenn du jetzt grad mitchunnsch, gsehsch sie vilicht au no.»
Währenddem ich nach den Delfinen Ausschau hielt, schweiften meine Gedanken ab, und ein Gefühl der Wehmut erfasste mich. Ich dachte an Franky-boy, der drei Wochen vor unserer geplanten Ausreise verstorben war. Eine ältere Frau hatte den leblosen Körper auf der stark befahrenen Seestrasse gefunden. Dank dem Halsband mit der Adresskapsel konnte sie mich im Wohnheim kontaktieren. Sie habe ihn schon mehrmals beobachtet, wie er die Strasse überquerte, vermutlich, um sich wieder einen Happen Fisch vom morgendlichen Fischfang eines dort ansässigen Fischers zu ergattern. Sie wohne unten am See und habe schon manch leblose Katzenkörper aufgesammelt. Bestimmt war er sofort tot, dies nur als kleiner Trost…
«Lueg, deet, gsehsch sie?» Franz hatte wieder Delfine gesichtet und deutete mit dem Zeigfinger in die Richtung, in die ich schauen sollte. Tatsächlich glitzerten die grau-blauen Fischrücken im Sonnenlicht, währenddem sich die Meeresakrobaten geschmeidig-sprunghaft-elegant fortbewegten. Ein wunderschönes Schauspiel, das Franz schon öfters rund um die Inseln hatte beobachten können. Der Tanz der Delfine erinnerte mich an den Moment, als ich mich am Ufer des Zürichsees von der Sehnsucht nach einem erfüllten Leben zu zweit hatte tragen lassen. Nach mehr als einem halben Jahr Vorbereitungszeit durfte ich nun die Erfüllung unseres Traumes erleben und mit Franz in ein noch unbekanntes Abenteuer segeln. In die Trauer um den Verlust von Franky-boy mischten sich Dankbarkeit, Neugier und Freude.
In Zavala angekommen, packten wir zuerst das Nötigste aus, um den Nachmittag auf der grossen Sonnenterrasse ausklingen zu lassen. Der blumig-süsse Duft einer Kletterpflanze, die die Hausmauer zierte, lag in der Luft, und mir wurde einmal mehr bewusst, dass unsere Vision eines gemeinsamen Lebens auf der Insel gerade erst begonnen hatte, sich zu verwirklichen. Ich spürte, wie sich die ganze Anspannung der Reisestrapazen allmählich löste. Meine Augen tauchten in die satten, lilafarbenen Blüten der Bougainvilla ein, um diese kostbare Essenz mit jeder Phaser meines Körpers aufsaugen zu können. Meine Gedanken schwebten schwindelfrei. Ich hoffte, hier in der paradiesischen Ruhe, Idylle und Harmonie endlich «störungsfrei» zu werden. Das wäre für mich wahrlich ein Stück Himmel auf Erden. In mein stilles Wünschen wehte die salzige Meeresbrise, die ein Versprechen mit sich trug: Ja, Sandra, nur Geduld: Es wird alles gut.

Unser gemietetes Häuschen (für nur 3000.- Fr im Jahr) lag etwas erhöht auf einem steilen Hügel, der eine atemberaubende Aussicht auf das tiefblaue Meer und die Inseln Scedro, Korcula und Peljesac bot. Die Sonnenstrahlen tanzten wie Diamanten auf der Oberfläche des Wassers, dessen Blautöne sich je nach Wetterlage, Meeresbewegung, Stimmung und Lichteinfall veränderten: Von Dunkel-, Hell-, grünliches Blau bis zur türkis - smaragdgrün schillernden Facette bot sich eine wunderbar malerische Palette. Wir packten unsere Badetaschen und liefen zu Fuss eine Viertelstunde zu einer der vielen lauschigen Buchten hinunter, die Franz entdeckt hatte. Sie lag schön versteckt zwischen zwei Felsen, die uns vor dem nahegelegenen Touristenstrand abschirmte. Eine kleine Höhle bot Schutz vor den brennenden Strahlen der Mittagssonne. Ein perfektes Plätzchen für uns zwei! Ich sammelte am Strand die schönsten Kieselsteine und legte sie in meinen Sonnenhut - das nächste Mal müsste ich daran denken, einen Leinensack für meine gesammelten Kostbarkeiten mitzunehmen. Wie schön und idyllisch es hier war! Ich hüpfte ins kristallklare Meer, das mich mit offenen Armen empfing. Ich konnte mein Glück nicht fassen - ich glaubte, wahrhaftig im Paradies angekommen zu sein.
Tagebucheintrag vom 3. September 1997:
"Das alltägliche Schwimmen im Meer ist Balsam für Körper, Geist und Seele - wenn ich im Meer bade fühle ich mich so wohl - ich kann mich frei bewegen - ohne Störungen, Kummer und Sorgen. Ich mache mir oft Gedanken, wie ich mein wahres Selbst in dieser Welt verwirklichen kann, um eine sichere (auch finanziell!) Existenz aufzubauen."
Im Laufe der Zeit konnte ich meine kreative Ader fliessen lassen, indem ich für die Restaurantbesitzer, die Franz persönlicher kannte, Plakate malte und bei der Gestaltung der Menu-Karten mitwirkte. In Zavala gab es eine Pizzeria "Romanca", dort assen wir oft ganz günstig und sehr lecker. Zarko, der Besitzer, freute sich immer, wenn wir uns zu ihm gesellten. Zum feinen Schmaus gab er auch immer einen edlen Tropfen seines Weines aus. Ich war nie die grosse Weintrinkerin gewesen, es hatte mir zeitlebens nicht gemundet, deshalb offerierte Zarko mir einen Kruskovac mit Eiswürfeln (ausgesprochen: kruschkowatz) - einen süssen, orange-farbigen Birnenlikör, den ich zu lieben begann. Die altüberlieferte, kroatische Rezeptur sonnengereifter Birnen vereinte alles, was meine Genussgaumen kitzelte: Sonne, Sehnsucht, Erfüllung, Freude - dies alles erst noch mit nachhallender Wirkung in meinem Bauch, der sich danach immer warm, leicht und verwöhnt anfühlte.
(Mit Verwunderung muss ich feststellen, dass ich seit meiner Inselzeit nie mehr Kruskovac getrunken habe! Zeit, mir jetzt grad eine Flasche im Internet zu bestellen.)
Zivjeli - cheers!
Meine Mutter wohnte im gleichen Dorf, wir hielten uns aber immer noch auf Distanz. Ich hatte sie seit meinem Urlaub hier im Dezember 1996 nicht mehr gesehen. In der geselligen Runde bei Zarko vermisste ich sie plötzlich (vielleicht auch durch die harmonisierende Wirkung des Kruskovac..?), und meine Gedanken wanderten öfters zu ihr, zwei Kilometer weiter küstenabwärts.
"Hey müsli, a was dänksch grad?" fragte mich Franz, der inzwischen auch in meinem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte.
"Ad mama."
"Wettsch sie go bsueche?"
"Ich weiss ned, ob das zu früeh isch - ich möcht eigentlich unbeschwert oises neuä läbä gnüsse..." antwortete ich bestimmt, jedoch mit einem kleinen Stich im Herzen.
Franz war noch nie nachtragend gewesen - das zeichnete sein grossherziges Wesen aus. Er konnte einen Strich unter das Geschehene ziehen, die Sache abhacken und nach vorne schauen. Er schlug vor:
"Chasch ihre ja än brief schrybe und denn gsämmer, ob d'zyt ryf isch."
Tagebucheintrag vom 11. September 1997:
"Heute fasse ich den Entschluss (auf Franzes Vorschlag hin) meiner Mutter einen Brief zu schreiben - es entspringt einem inneren Bedürfnis meines Herzens, Licht & Liebe auch dorthin zu schicken, wo es finster, kalt und unangenehm ist. Ich hoffe sehr, die richtigen Worte zu finden, um das Eis schmelzen zu lassen."

Zavala, 1998 - Sandra's gemalte Tafel
Zavala 1998 in der Pizzeria "Romanca" - an Franz's 47. Geburtstag hatte ich ihm einen getränkten Zitronencake gebacken

"Liebe Mama Donnerstag, 11. September 1997
Anstoss dieser Gedanken ist ein Bedürfnis in meinem Herzen, Frieden in die Welt zwischen Dir und mir (und Franz) zu bringen. Ich möchte dich wissen lassen, dass ich Dich nicht verurteile, Deine Person achte und respektiere; nur deine Taten und Handlungen vermag ich oft nicht nachzuvollziehen - unsere Wesen unterscheiden sich doch voneinander. Du bewegst Dich anders wie ich, hast auch eine andere Ausdrucksweise wie ich, was ja ganz natürlich ist. Unsere Wege sind auch ganz verschieden; unsere Ziele, Gedanken, Hoffnungen und Ängste bestimmen und hemmen unsere Schritte zueinander. Inwieweit wir uns von diesen Impulsen jeweils leiten lassen sollen oder wollen, müssen wir - jeder auf seine eigene Art und Weise - selbst erkennen und beurteilen.
Ich habe Dir mitgeteilt, dass ich einen Freiraum zwischen Dir und mir brauche - dieser Raum sollte aber nicht mit Stille, Finsternis und Kälte gefüllt sein, sondern mit einer besänftigenden Melodie des Herzens, mit Licht und Wärme...
Wenn Du möchtest, kann ich gerne Mal bei Dir vorbeikommen, um uns aussprechen zu können und um dieser Melodie des Herzens zu lauschen.
love
Sandra"
Dieses Schreiben kam zu spät. Meine Mutter war schon wieder in die Schweiz abgereist; das Geld war verpufft, sie hatte ihren Traum eines Insellebens hier auf Hvar eigenhändig begraben. Eigentlich tragisch, aber so ist das Leben: Ein gewaltiger Lern- und Reifeprozess, währenddem man seine Schattenseiten nicht immer erkennen und überwinden kann. Schlussendlich nimmt man sich selbst überallhin mit: Sogar im Paradies hatte der Sündenfall nicht nur Eva und Adam, nein auch alle zukünftigen Generationen in unermessliches Leid gestürzt. Doch der Schöpfer hatte einen Plan B - und so würde er meiner Mutter ebenfalls neue Wege aufzeigen, ihr Glück zu finden.
Auch zwischen Franz und mir herrschte auf der Insel nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen. Unsere erste Auseinandersetzung habe ich noch in Erinnerung, weil sie auch eine lustige Komponente mit sich brachte; jedes Mal, wenn ich diese kleine Anekdote unseren Gästen erzählte, die uns aus der Schweiz besuchten, brach nämlich schallendes Gelächter aus. Ich fand die Szene gar nicht besonders lustig, bin aber wahrlich kein Massstab für das Humorvolle...
Der Herbst hatte schon Einzug gehalten, und die Tage wurden dunkler. Ende Oktober, anfangs November wurde es ruhiger in Zavala, die Touristensaison war beendet und die Partystimmung abgeebbt. Franz hatte eine Freundschaft zu Reinhold und Angela aufgebaut, die ein Fahrradgeschäft in Deutschland (kann mich nicht mehr erinnern, wo genau) betrieben und sich in ihrer Ferienwohnung in Zavala lange Erholungspausen gönnen konnten. Meistens eben auch dann, wenn sich etwas mehr Ruhe über die Insel gelegt hatte. Franz wollte nur kurz mit ihnen ein Bierchen trinken gehen, würde zum Abendessen um sechs aber pünktlich wieder zuhause sein. Ich freute mich schon auf einen romantischen Abend zu zweit, währenddem ich ein Risotto kochte. Ich dünstete zuerst die Zwiebeln im Olivenöl an, gab die glasigen Reiskörner dazu und löschte das Ganze mit Weisswein ab. Der Geschmack des Alkohols würde sich verflüchtigen und den Charakter des Weines offenbaren. Genauso mochte ich es. Leichtfüssig. Immer wieder Gemüsebouillon (Vegeta erwies sich als die beste aromatische Würzmischung) dazu giessen, umrühren und in der Zwischenzeit den Käse raffeln, die Gasflamme kleiner stellen und das Ganze köcheln lassen. Unsere Küche befand sich nicht im Haupthaus, sie war separat in einem kleineren Gebäude untergebracht, von der grossen Terrasse aus problemlos zugänglich. Ich deckte den Tisch und blickte auf die Uhr: Fünf vor sechs. Es fehlten noch die Kerzen, die ich in einem Schrank im Haupthaus verstaut hatte, ebenso festliche Servietten, die ich bauschig in unsere Wassergläser büscheln würde. Nun war alles schön hergerichtet. Mein himmlisch duftendes Gericht musste nur noch fein abgeschmeckt und mit viel Käse, frischen Kräutern und ein wenig Rahm - für die sämige Note - durchmischt werden. Ich zündete die Kerzen an und wartete auf Franz. Das Knurren in meinem Magen erinnerte mich daran, wieder mal auf die Uhr zu schauen und zu kontrollieren, ob ich den Gasherd wirklich abgeschaltet hatte. Inzwischen war es bald halb sieben. Ich stellte den Topf auf den Tisch und beruhigte meinen Hunger, indem ich den dampfenden Risotto-Duft einatmete. Mmmmmh - herrlich, lang chani mi nüme beherrsche. Ich schaute den tanzenden Flammen zu und wünschte mir mit gespitzten Ohren, seine Schritte auf der Terrasse zu hören. Viertel vor sieben und noch keine Spur von Franz. Wo steckte er bloss? So what, dachte ich mir, jetzt schöpfe ich mir eine erste Portion. Wer nicht kommt zur rechten Zeit, muss halt nehmen, was übrig bleibt. Nur schade ging die Romantik flöten.
Um Viertel ab sieben war er immer noch nicht da - die ersten beunruhigenden Gedanken schlichen sich in meinen Kopf. Um mich abzulenken, rief ich Niki, der kurz darauf laut miaouend vor der Küchentür stand und scheinbar nur darauf gewartet hatte, dass ich seinen Fressnapf füllte. Ich löschte die Kerzen und das Licht in der Küche aus und lief mit dem Kater im Arm ins Schlafzimmer. Dort schaltete ich den Fernseher an - die Tagesschau hatte begonnen - ein zufrieden schnurrender Kater leistete mir auf Franzes Kopfkissen Gesellschaft. Nach den Schweizer Nachrichten würde ich Reinhold anrufen und nachfragen, was los sei. Es klingelte ins Leere. Ebenso beim zweiten, dritten, vierten, fünften Mal. Ich legte den Hörer auf und beschloss, mich auf die Suche zu begeben. Bei Reinhold und Angela brannte kein Licht, also konnten sie nur noch unten in der Taverne an der Uferpromenade sein. Wo sonst sprudelte die Bierquelle beinahe unerschöpflich? Und genauso war es. Ein ausgelassen-angeheiterter Franz giggelte und grinste inmitten der berauschten Klicke, die sich Bierglas um Bierglas füllte. Reinhold bemerkte mich als Erster, sein lachendes Gesicht verwandelte sich augenblicklich in ein erstarrendes: O-OU...(jetzt wird's ernst). Er verstummte und versuchte, Franz ein Zeichen zu geben, dass der Spass nun bald ein jähes Ende haben würde. Franz grunzte und grölte weiter - als er mich erblickte, ahmte er mit geröteten Wangen und feuchten Augen gekonnt ein Teufelchen nach, indem er mit seinen Fingern die Hörner mimte, dabei schwenkte er seinen Kopf hin und her:
"Hoi schätzeli, mis schätzli, schpätzeli - chum, näb mir hetts no äs plätzeli..." witzelte er.
"Franz, fertig luschtig, chum jetzt sofort hei!" ermahnte ich ihn.
"Aber jetzt wirds doch grad erscht richtig luschtig ...."
"Ja, für dich vilicht, für mich aber nöd! Ich han uf dich gwartet - scho vergässä? Znacht am sächsi!"
Der Tonfall in meiner Stimme hatte Wirkung gezeigt - Franz stand schwerfällig auf und machte sich schwankend auf den Weg hinauf zu unserem Haus. Immerhin wusste er noch den Weg, und ich musste ihn auch nicht stützen. Oben angekommen, schickte ich ihn unter die Dusche, machte mich selbst bereit für die Nachtruhe (Zähne putzen, Gesicht waschen und eincremen, Haare kämmen, Pyjama anziehen) und legte mich in die weichen Daunen. Niki hatte sich inzwischen ans Fussende verkrochen. Franz wollte sich zu mir ins Bett legen, er roch immer noch stark nach Alkohol; in dieser Kombination und Intensität löste der Geruch in mir eine allergische Reaktion aus:
"Du schlaaafsch hütt nacht sicher ned bi mir im bett!" gab ich ihm unmissverständlich zu verstehen.
"Wurum ned?" war seine unschuldige Frage.
"Wär sich säuber cha besuufä, dä cha sin ruusch au säuber uusschlaafe. Du chasch is gästezimmer go pfuuse."
Am nächsten Tag entschuldigte sich Franz in aller Form und gelobte mir, es würde nicht mehr vorkommen. Und er hielt Wort. Nie mehr erlebte ich ihn so betrunken.

Tagebucheintrag vom 13. September 1997:
"Frühmorgens (7:00) bin ich in Bewegung - wir fahren nach Jelsa, um einzukaufen und geniessen den morgendlichen Cappuccino im Café Aslan. Nach der Siesta bin ich fleissig wie eine Biene und putze alles tip-top. Zum Zvieri ein Nussgipfel von Aslan - mmmmhhhh! Abends nochmals nach Jelsa, um zu flanieren und die Abendstimmung auszukosten."
Ja, Abwechslung macht das Leben süss - regelmässig flogen wir aus, um die Insel zu erkunden oder den Wocheneinkauf zu erledigen. In Jelsa entdeckten wir das Café "Aslan" - Aslan, der die feinsten Nussgipfel kreierte - locker, luftig, knusprig mit einer besonders nussigen und cremigen Füllung. Solch ausgezeichnete "kiflice" habe ich seither nirgends mehr genascht!
(Heute, 8.11.2023, notiere ich mir auf meiner Liste für die geplante "memory lane" - Tour mit meinen Töchtern, die ich zu meinem 60. Geburtstag realisieren möchte, so Gott will:
- Südafrika-Reise, auf den Spuren der Vergangenheit: Marymount, Jeneva, Parktown, McAuley, Steepways, Kruger National Park.
- Budapest mit Wellness im Géllertbad, Wien?
- Otok Hvar: Zavala, Stari Grad, Hvar und Jelsa: Café Aslan - hoffentlich haben sie die leckeren kiflice und Apfelstrudel noch.)
In Jelsa führte Péro ein Restaurant namens "Napoleon". Hier konnte man die leckersten Scampi schlemmen, die frisch aus der Adria gefischt wurden. Auch für Péro durfte ich eine Kreidetafel malen. Im Verlaufe der Zeit wurde er ein treuer Freund, der uns immer mit Rat und Tat zur Seite stand.
Tagebucheinträge vom 9. - 13. März 1998:
"Im Moment bewegen wir uns in einer wunderschönen, harmonischen Phase - Franz und ich verstehen uns prima und unsere Beziehung wächst in gegenseitigem Verständnis füreinander - wir fühlen einander, was so wichtig und befruchtend ist! Auch draussen erwacht der Frühling - der Feigenbaum trägt schon wieder neue Knospen & die ersten Blumen recken ihr schönes Köpfchen der Sonne entgegen, die schon seit über einem Monat ohne Unterbruch scheint.
Happy Birthday, Sandra! Ich kann es kaum glauben; so schnell ist dieses Jahr vorbeigehuscht, und nun bin ich schon 31! Geistig fühle ich mich gereift doch ansonsten fühle ich mich noch so jung! Ich geniesse den besinnlichen Tag mit Franz zusammen, der so liebevoll und zärtlich zu mir ist. Seit ich auf der Insel bin, hat sich meine Gesundheit erheblich verbessert, und ich habe praktisch keine Ohnmachtsanfälle mehr. Meine kreativen, geistigen und körperlichen Energien fliessen so harmonisch wie noch nie. Ab und zu holen mich meine traumatischen Erlebnisse wieder ein - dann bin ich weit zurückgeworfen, habe psychische Schmerzen und meine Sexualität und tänzerischen Bewegungen sind blockiert. Doch ich weiss, das geht vorbei!"
Dass Franz darunter litt, wenn mich die Tiefe des Traumatisch-Erlebten wieder in einen dunklen Schlund riss, hat mich auch sehr beschäftigt.
So lese ich in den Tagebucheinträgen vom 17.- 22. März 1998:
"Im Augenblick bin ich Franz gegenüber distanziert, und meine natürlichen Bewegungen hin zu ihm sind blockiert - ich finde keinen Zugang mehr zu ihm. Mein tiefes, empfindsames, sensibles Wesen scheint Franz nun auch depressiv zu stimmen - es tut mir sehr weh, ihn so sehen zu müssen...er möchte doch nur an der Sonnenseite des Lebens stehen! Meine Tiefe reisst ihn aber immer wieder hinab und ich frage mich: Bin ich die richtige Frau für ihn? Oder braucht Franz doch eine Frau, die sich stets vergnügt und aufgestellt an der Oberfläche bewegt? Nun - wir werden sehen. Wenn Franz mich von ganzem Herzen liebt, durchwandert er mit mir auch dieses dunkle Tal: Zusammen wachsen auch in den schweren, leidgeprüften Zeiten. Sonst ist es keine wahre Liebe - keine Liebe für die Ewigkeit...nun, nach dieser schmerzvollen Zeit werde ich die Antwort wissen - we shall see!
21.3.: Die Antwort hat sich ganz klar herauskristallisiert: Franz geht mit mir durch dick und dünn, durch schöne und schwere Momente - ich war wieder mit einem traumatischen Erlebnis konfrontiert, was meinen Blick für das Wesentliche total verschleiert hat. Der Schatten hatte mich wieder eingeholt."
Aber auch Franz hatte seine schwachen Momente, in denen sich aufgestaute Aggressionen entladen mussten; dann fluchte er, wurde laut und verbal verletzend. Wenn er es merkte, versuchte er sich mit einer Zigarette mehr zu beruhigen oder er werkelte am Haus herum oder ging Holz hacken. Sein handwerkliches Geschick hatte sich herumgesprochen, daher war er auch oft unterwegs, um neue Eisengeländer zu schmieden oder defekte zu reparieren. Diese kurzen Atempausen in unserem sonst so verschlungenen Zusammensein waren notwendig, um an den schwierigen Tagen einander nicht vollends auf den Wecker zu gehen. Alle zwei Monate reiste er in die Schweiz, um Administratives zu erledigen und seine Brüder oder Bekannte zu besuchen. Er brachte mir immer was Schönes mit, da er wusste, dass auch ich meine sozialen Kontakte vermisste.
Am 27. März 1998 wagte ich die lange Reise in die Schweiz, um an der Hochzeit von Henri Paul dabei zu sein. Er würde Iris heiraten, die er durch seinen christlichen Glauben kennen- und lieben gelernt hatte. Die Vermählung würde in der Kirche Blumenstein stattfinden, mit anschliessendem Apéro, zu dem ich auch eingeladen war.
Tagebucheinträge vom 27. - 29. 3. 1998:
"Nach einer "Freinacht" ist es soweit: Um 4:00 Uhr aufstehen, Abschied nehmen, um 5:30 Uhr Fähre nach Split - um 9:00 Uhr Abfahrt mit dem Car nach Zürich - 20 Stunden Reise! Es ist schwer, mich von Franz & Niki zu trennen, doch die Reise ist abenteuerlich, wenn auch unendlich lange! Um 5:00 Uhr morgens komme ich in Zürich an; Lexi holt mich ab. Danach habe ich eine Krise - Sehnsucht nach Franz, neue Umgebung, Kopfweh.
29.3.: Nach einem wunderbaren Tiefschlaf fühle ich mich an diesem prächtigen Sonnen-Sonntag schon viel ausgeglichener - Alexia und ich verstehen uns super, und ich wachse in neuen Erkenntnissen!"
Die Hochzeit war schön, nur leider mit einem Wehmutstropfen: Iris hatte der ganzen Gesellschaft ganz offiziell verkündet, niemand dürfe den Bräutigam umarmen. Ihre krankhafte Eifersucht würde tragischerweise auch in den darauffolgenden Jahren einen tiefen Graben zwischen Henri und mir ziehen.
Das Fussball-WM-Fieber hatte mich im Sommer 1998 auch gepackt. Seitdem ich Maradona als Teenager gesehen hatte, wie er unfassbar flink und wendig mit dem Ball zaubern konnte und Argentinien im Jahr 1986 mit der legendären "Hand Gottes" zum WM-Sieg verholfen hatte, fieberte ich WM für WM für Argentinien mit. (Bis heute, da ich glücklich für ihn bin, dass Messi - der noch unglaublichere "Fussballgott" - endlich die Krönung seiner Karriere feiern konnte an der WM in Saudi-Arabien im Dezember 2022).
Tagebucheinträge 6.- 9. Juli 1998:
"Das Fussball-WM-Fieber hat auch mich gepackt. Schade, dass Argentinien nicht weiter gekommen ist! Das Spiel-Niveau ist sehr hoch & ich geniesse Fussball vom Feinsten! Exciting!!!
7.7.: Heute fahren Franz und ich mit der Fähre nach Split, um ein Paket abzuholen, das Röbi aus der CH mit dem Bus mitgegeben hat. Wir geniessen einen abwechslungsreichen Shoppingtag & verwöhnen uns gegenseitig...ich kaufe Franz einen Ring.
8.7.: Pizza-Abend bei Zarko unten im "Romanca". Da ich keine zu fettigen, öligen Speisen vertrage, zaubert mir Daniel, der Pizzaiolo, eine wunderbar mundende "Frutti di Mare" mit wenig Öl und viel Zitronensaft."
Ende Juli 1998 erreichte uns die Nachricht, dass am 27.7. im Salemspital Bern, Rebekka Mirjam Hänggi geboren wurde, das erste Kind von Henri und Iris.
Tagebucheinträge vom 28.8. - 19.9.1998:
"Wir fahren nach Split, um auf dem Markt Schuhe & eine lässige Geldtasche für Franz zu kaufen. Die Schuhe passen mir ausgezeichnet. Zudem holen wir das Flugticket für Franz. Auch ein super Tag!
29.8.: Wieder schleichen sich die Übelkeit & Müdigkeit in meine sonst so harmonischen Bewegungen. Ich erahne instinktiv das Wunderbarste! Noch bleibt es mein Geheimnis!
30.8.: Franz entführt mich mit dem Boot nach Scedro, wo wir die Kirche bewundern und auch schwimmen gehen. Es ist wunderschön!
31.8.: Ich freue mich auf das Leben mit Franz und die schöpferische Zeit, die wir zusammen gestalten dürfen. Ich träume von meinem "Rose-Engel".
2.9.: Trotz meiner Angst, Unsicherheit & Zweifel bin ich mir sicher, dass ich ein Baby erwarte. Ich behalte diese intuitive Erkenntnis für mich, bis ich mir absolut sicher bin! Franz erahnt es auch, sein Herz spricht ganz deutlich. Er wünscht sich ein Mädchen.
4.9.: Dieser Tag verläuft sehr unharmonisch. Ich fühle mich unwohl und mir ist so übel, dass ich erbrechen muss...meine instinktive Ahnung nimmt immer mehr reale Form an.
5.9.: Franz scheint tief im Innern auch zu spüren und ahnen, dass neues Leben in mir lebt und wächst. Er pendelt und offenbart mir, dass mein erstes Kind ein Mädchen wird.
6.9.: Let it be! Mein Herz wünscht es.
8.9.: Wir feiern diesen Abend vor Franz's Abflug bei Zarko und essen eine köstliche Pizza. Abends habe ich oft einen intensiven Hunger und alles schmeckt viel leckerer.
9.9.: Um 5:00 Uhr stehen wir auf - Franz fliegt heute für eine Woche in die Schweiz. Um mich abzulenken, putze ich und bin fleissig. Wieder Erbrechen, nachher fühle ich mich sehr müde.
10.9.: Meine Periode bleibt aus und nun weiss ich, dass ich ein wunderbares Wesen unter dem Herzen trage. Nun bin ich sehr vorsichtig und schone mich.
11.9.: Ich ernähre mich ganz bewusst und gesund. Ich esse kleine Mahlzeiten, so ist mir nicht mehr so übel. Ich schlafe sehr viel und pflege mich. Franz ruft aus der Schweiz an - wenn er wüsste! Ich kann es kaum erwarten, ihm diese wunderbare Nachricht ins Ohr zu flüstern...
13.9.: Der Himmel schenkt uns ein Kind!
18.9.: Heute fahren wir nach Hvar und besorgen uns einen "pregnancy test". Der Test bestätigt meine Schwangerschaft und löst in mir eine Welle der Ekstase aus. Franz und ich feiern unser Kind mit einem Scampi-Abendessen.
19.9.: Franz und ich freuen uns sehr auf unser Mädchen, obwohl wir uns ein wenig sorgen wegen unserer finanziellen Lage. Doch es wird sich schon noch eine Lösung finden, etwas Geld zu verdienen, um eine unabhängige, bescheidene Existenz aufbauen zu können. Wir vertrauen weiterhin auf unsere Herzen und den Instinkt, der uns den Weg aufzeigt. (Ich habe Gottvertrauen). Dieses Vertrauen stärkt uns und vertreibt die Angst, sodass unsere Freude und Dankbarkeit ungetrübt wachsen und sich entfalten kann."
Obwohl ich gewusst hatte, dass Franz sich über das Baby freuen würde, hatte ich Zweifel, wie er damit umgehen würde, dass nun unser Leben zu zweit eine neue Wende nehmen würde. Wiederum wären diese Befürchtungen unnötig gewesen, denn er gestand mir:
"Das han ich mir scho lang gwünscht! Und jetzt bin ich eifach nur glücklich, dass du än chuechä im ofe hesch."
Mit dieser für ihn typischen Ausdrucksweise zauberte er mir ein Lächeln ins Gesicht. Der "Kuchen" in meinem Bauch ging wunderbar auf und würde nachhaltig den süssesten Duft verbreiten.

Sandra's gemalte Kreidetafel für Péro's Restaurant "Napoleon" - 1998

Alexia besuchte uns zum zweiten Mal auf der Insel am 7. Oktober 1998. Ich bin mir heute selbst dankbar, diese Tagebucheinträge, 5.10. - 17.10. 1998, damals verfasst zu haben:
"Den morgendlichen Einkauf muss Franz nun ganz alleine erledigen, da es mir zu übel ist, um mit nach Jelsa zu fahren. Franz bringt mir immer einen Apfelstrudel von Aslan mit, den ich dann zum Zvieri geniessen kann....mmhh! Das schlechte Regenwetter drückt schon auch aufs Gemüt & macht mich faul. Franz hilft mir wunderbar beim Hausputz & der tolle Einsatz seinerseits stärkt meine Seele. Ich bin ihm so dankbar für seine Hilfe & Unterstützung!
7.10.: Endlich ist es soweit! Alexia besucht uns heute für eine Woche. Franz & ich holen sie in Split ab, fahren dann mit der Fähre wieder zurück auf die Insel. Alexia bringt den Sonnenschein mit und staunt nicht schlecht, als ich ihr unser Geheimnis anvertraue, nämlich, dass ich in Erwartung bin! Sie freut sich sehr und macht uns Mut, dass wir es schaffen werden, auch finanziell. Überhaupt tanke ich viel Energie von Alexia und ihr Selbstvertrauen stärkt auch meines. Wir verstehen uns prächtig. Es ist, als seien wir gar nie lange voneinander getrennt gewesen. Eine Seelenverbindung ist an keine zeitliche & örtliche Grenze gebunden! Dies macht jedes Wiedersehen so vertraulich & ist so erbauend. Seit Alexia hier bei uns ist, hält sich meine Übelkeit in Grenzen. Ich staune auch darüber, wie fit ich bin - ich brauche kaum ein Nickerchen tagsüber & fühle mich doch ziemlich im Gleichgewicht. Das liegt an dem schönen Energieaustausch, der zwischen ihr und mir stattfindet. Ein harmonischer Fluss geistiger und seelischer Energien ist wie Medizin für den Menschen, der diese Energien braucht & sich dieser Kraft öffnet.
12.10.: Wir nutzen jeden Sonnenstrahl, um in die Natur hinauszuwandern. Am Meerufer entlang zu spazieren kräftigt den Geist, die Seele & den Körper! Alexia und ich vertiefen uns in tolle Gespräche...
13.10.: Alexia lädt uns heute abend zum Pizza-Essen ein. Morgen müssen wir früh raus, da wir sie nach Split begleiten - sie fliegt um 12:55 Uhr nach ZH. So lassen wir die schöne Woche ausklingen.
14.10.: 4:00 Tagwacht. Ich fühle mich topfit. In Split geniessen wir ein gemütliches Zmorge mit feinem Apfelstrudel. Danach bummeln wir durch den Markt bis zum Abschied....
15.10.: Das lange Ausschlafen hat ungeheuer gut getan! Gestern war so ein schöner Tag mit vielen Geschenken. Ich kaufte mir bequeme Trainerhosen, eine warme Jacke & sexy Unterhosen...Thanks!
16.10.: Die Natur schenkt uns einen prächtigen Sonnentag, der dazu verlockt, im Meer schwimmen zu gehen! Das Meer ist wunderbar erfrischend und belebt die Sinne wieder! Wir geniessen diesen Tag!
17.10.: Heute habe ich wieder vermehrt mit der Übelkeit zu kämpfen. Die Nacht bringt noch mehr Anspannung und schreckliche Träume. Das kommt vom Essen, das mir aufliegt. Bald ist alles vorbei."
Auf der Fähre nach Split kam mir spontan die Idee, Alexia zu fragen, ob sie die "Gotte" unseres Kindes sein möchte. Ohne zu zögern stimmte sie zu und fühlte sich geehrt, diese Patentantenschaft zu übernehmen. Wir freuten uns sehr auf die rosige Zukunft, die uns mit diesem Kind beschert würde.
Franz hatte sich auch schon einen Namen überlegt: Jasmin Gisela - Gisela in Erinnerung an seine Mutter, die eine gebürtige Gisela Nowak war und als Kind mit ihrer Familie aus Rumänien nach Deutschland hatte fliehen müssen. Mit dieser Jasmin-Blüte würde ein süsslicher Duft in unser Leben wehen, der uns mit all dem versöhnen würde, was uns in der Vergangenheit so dramatisch widerfahren war. Seit meiner Schwangerschaft mit Jasmin hatte ich gar keine Ohnmachtsanfälle mehr, darum wusste ich, dass - komme, was wolle - wir alle weiteren Hürden meistern würden.
Wieder konnte ich mein Glück nicht fassen und dankte dem Schöpfer für seine allumfassende Gnade.
Um dem Kind und uns als Familie eine gesicherte Existenz zu ermöglichen, entschieden Franz und ich, unsere Inselzeit zu beenden. Franz reiste Ende Oktober 1998 wieder in die Schweiz, um ein geeignetes Transportauto für die Heimreise zu finden.
Tagebucheinträge vom 27. -30. Oktober 1998:
"Franz ruft an und teilt mir mit, dass er immer noch kein geeignetes Transportauto gefunden hat. Dabei merke ich nicht, dass er mir einen Bären aufbindet!
28.10.: Heute fahre ich nach Jelsa, um Früchte und Katzenfutter zu kaufen. Dabei muss ich mit dem "Goldnugget" einige schwierige Manöver meistern. Was mir gelingt!
29.10.: Lesen. Spaziergang am Meer. Ich vermisse Franz und hoffe, dass er es schafft, an diesem Wochenende bei mir zu sein. Ich vertraue auf die Führung Gottes, der bei uns ist.
30.10.(ein Freitag): What a surprise! Franz steht überraschenderweise Mittags vor der Türe. Und erst noch mit einem tollen Renault! Er bringt viele leckere Goodis mit & ich schwebe vor Freude auf Wolke "7". Das Wiedersehen ist toll!"
Anfangs November versuchte ich mir einen Überblick zu verschaffen, was ich mit in die Schweiz und was ich hier lassen oder verschenken würde. Mit der ganzen Menagerie (drei Katzen und eine Schildkröte) war der Platz im Auto begrenzt. Alle Lieblingskleider mussten natürlich mit, darunter mein grünes Kleid mit den weinroten Mohnblumen - das hatte sich auch wunderbar meinem wachsenden Bauch angepasst, sah hübsch aus und war bequem. Ende November sollte unsere Heimreise beginnen. Ich hatte mit Franz abgemacht, dass wir nicht mehr in den Kanton Zürich ziehen würden, wegen den Erinnerungen und der Drogenszene, die er in- und auswendig kannte. Mein Bruder Fernand hatte das Hasli-Haus übernommen und genug Platz, um uns vorübergehend zu beherbergen, also würden wir uns im Kanton Bern niederlassen. Der Winter stand bevor, deshalb mussten vor allem auch warme Sachen eingepackt werden. Am 6.11. verspürte ich abends plötzlich eine unbändige Lust auf ein saftiges Beefsteak - sehr aussergewöhnlich für mich, zumal ich keine grosse Fleischesserin bin. Jetzt erst konnte ich nachvollziehen, wie stark die verschiedenen Gelüste während einer Schwangerschaft eine sonst so vernünftige Ernährungsweise durcheinanderwirbeln können. Franz schlug vor, nach Hvar zu fahren, dort kannte er ein Restaurant, das um diese Uhrzeit sicher noch geöffnet war (es war schon nach 20:00 Uhr). Die Fahrt zur anderen Seite der Insel würde gut eine Stunde dauern. Wir bestellten und warteten eine satte Stunde (das Restaurant Bounty war randvoll!). Um 22:00 Uhr konnte ich dann endlich meinen "Gluscht" stillen. Genau so hatte ich mir das zarte Stück Fleisch vorgestellt: Fest im Biss, saftig im Kern, nicht zu buttrig, perfekt gewürzt. Hvala lijepa!
Zurück in der Schweiz, würde mich immer wieder die Lust nach Aprikosenwähe mit einem Sahnewölkchen heimsuchen. Meine Frauenärztin, Frau Dr. Schumacher, hatte damals ihre eigene Praxis in Wabern. Sie war die perfekte Begleitung durch meine Schwangerschaft und der langen Geburt Jasmins - im Wasser - in der Nacht vom 25. auf den 26. Mai 1999. Um 9:00 war sie dann endlich da! Franz kam rechtzeitig am Morgen vorbei und strahlte, als er Jasmin wie ein Fischlein aus dem Wasser zog. Wir waren beide überglücklich!


Zavala, Oktober 1998 - Sandra's Tagebucheintrag

"Liebe Witle Im Sommer 2002
Ich erwarte das zweite Kind, es wächst, gedeiht und strampelt vergnügt - ich denke an dich mit einem Gedicht: Mein "Rosenblühen" soll auch dir diesen Moment versüssen:
Die duftende Pracht der Rosen
Möchte deine Seele liebkosen
Deine Sinne stets neu entflammen
Alle Ängste und Zweifel verdammen
Im Glück des Augenblicks eingehüllt
Wird das Herz mit Liebe erfüllt
Durch die sanfte, zarte Berührung
Dieser sinnlichen, rosigen Verführung
Die strahlenden Farben der Blüten
Sollen Dich, Menschenkind, behüten
Vor dem Dunkel & Schmerz der Welt
Die die Harmonie so sehr entstellt
Ihr unstillbarer Durst nach Wasser und Licht
Sämtliche irdische Poren durchbricht
Damit es gedeihe und wachse und werde
Was da ewig im Herzen währe:
Freude, Glück, Liebe und Magie
Des Lebens immerwährende, traumhafte Poesie
Ich komme dich besuchen, sobald unser Sonnenschein auf der Welt ist!
Herzliche Grüsse an alle,
love
Sandra"
Die Freude war gross, als ich - diesmal sehr überrascht - spürte, dass ich nochmals das Wunder des Lebens in mir austragen und eine wunderschöne Schwangerschaft erleben durfte. Das Glück sprudelte aus mir heraus, und so entstand mein Rosengedicht an Tante Witle. Dank ihr hatte ich einen Erfahrungsschatz im Umgang mit Kindern sammeln können - auch wenn es damals eine fordernde Zeit für mich gewesen war, konnte ich nun davon profitieren. Den Namen für unser zweites Kind durfte ich auswählen. Weil ich mich sosehr freute, wählte ich für ein Mädchen: Joya-Anaïs - reine Freude. Ein passender Name für einen Jungen wollte mir lange einfach nicht in den Sinn kommen. Erst Ende Juni 2002 notierte ich mir, immer noch nicht ganz überzeugt: Joël - dabei dachte ich nicht primär an die biblische Bedeutung, eher an ein Schmuckstück oder Geschenk. Für mich war klar, dass ich wieder im Spital Belp gebären würde, in der Hoffnung, Frau Dr. Schumacher würde auch bei der Entbindung unseres zweiten Kindes dabei sein. Zum Geburtstermin am 23. Juli reiste ich deshalb nach Hasli, wo ich im Stöckli die letzten Stunden oder Tage bis zur Niederkunft verbringen wollte. Wie schon Jasmin, liess sich auch dieses Baby mehr Zeit, auf die Welt zu kommen. Es waren heisse Sommertage, ich konnte mit dem dicken Bauch kaum noch schlafen und wurde ungeduldig, deshalb versuchte ich mit Joggen und Hüpfen im Wald die Geburt voranzutreiben, jedoch ohne Erfolg.
Tagebucheinträge 30.7. - 1.8.2002:
"Zur Zeit üben wir uns wirklich in Geduld - ich möchte endlich dem Ende dieser Anspannung entgegensehen! Bei der Kontrolle im Spital Belp einigen wir uns, dass ich zuerst das Rizinusöl am Mittwochmorgen (31.7.) einnehme, am 1. August dann zur Kontrolle komme und am Freitagmorgen, 8:00 Uhr, falls nötig, die Einleitung im Spital Belp erfolgt. Doch ich hoffe sehr, dass meine Natur es ohne chemische Hilfsmittel schafft, die Geburtswehen auszulösen...um 11:00 Uhr nehme ich 1 EL Rizinusöl in einem Glas Orangensaft ein - dann endlich! Um ca. 22:00 Uhr beginnen die ersten heftigen Vorwehen. Ich spiele mit Fernand noch bis um 1:00 Uhr Yatzy, bis die Schmerzen so heftig werden, dass ich beschliesse, mich ins Spital fahren zu lassen - Äni begleitet mich. Um 2:15 Uhr, kaum eine Stunde im Spital Belp, kommt unsere Tochter Joya-Anaïs nach nur zwei heftigen Presswehen wie ein gewaltiges Feuerwerk zur Welt! Schon beim ersten Anblick ihres magischen Lebens sieht sie rosig aus - welch Freude, welch Wunder! Ich kann unser Glück noch kaum fassen und danke Gott für dieses zauberhafte Kind (und auch für unsere wunderbare Jasmin)."
Franz, der in unserer Wohnung in Münchenbuchsee nach dem Rechten (und Niki) geschaut hatte, kam zu spät zur Geburt. Das war für mich nicht tragisch, ich war einfach nur glücklich, ein gesundes Mädchen geboren zu haben - als ich aber merkte, dass er Suchtmittel konsumiert haben musste (dies erkannte ich mit einem Blick: winzige Pupillen, veränderte Wesensart, fahler Gesichtsausdruck, kalter Schweiss) wurde ich wütend - wie konnte er unser Glück so leichtsinnig aufs Spiel setzen? Als die Hebamme zur Untersuchung des Säuglings den Saal verliess, waren wir einen Moment alleine. Nun musste ich ihm ganz klar und deutlich die Konsequenzen aufzeigen:
"Franz, du hesch droge gno, gäll! Wurum duesch du üs das aa? Du hesch doch alle grund, di z'freue, aber nei, was machsch du stattdessä? Dis glück ufs spiel setzä! Aber ned mit mir! Ich schaff das au ällei mit zwei chind. Wenn du morn nomal so dähär chunnsch, muesch nie meh choo, und das mein'ich ärnscht!!!"
"Es tuet mir leid, ich han das ned wellä! Ich ha mir die ganz zyt sorge gmacht - ällei dihei - denn bini uf die blödi idee choo, id stadt z'fahre und denn hetts mich deet ine zoge. Ich weiss, das isch kei entschuldigung..." versuchte er sich zu erklären.
"Hättsch mir chönne aalüte oder uf Hasli choo. Es isch eifach truurig, dass die geburt jetzt so wird in erinnerig blybe - das bild vo dir eso verladde bringi nüme zu mim chopf uus! Ich hoffe, du realisiersch, was du riskiersch, wenn du so wytter machsch. Gang jetzt bitte, ich möcht ällei sy."
Die Krankenschwester half mir aus dem Bett, begleitete mich zur Dusche und machte mir in der Zwischenzeit eine Ovo zur Stärkung. Währenddem das warme Wasser über meinen müden Körper rieselte, brach es wie ein Wasserfall aus mir heraus. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und liess der Trauer und Erschöpfung freien Lauf.
Joya-Anaïs nuckelte zufrieden an meiner Brust. Sie roch herrlich süss nach frisch geborenem Leben, Hoffnung, Freude. Nimmersatt wanderten meine Augen über ihren kleinen Körper; über den von einem feinen Flaum bedeckten, perfekt geformten Kopf. Was für ein Wunderwerk - aus dem Nichts in meine Arme gelegt, mir anvertraut. Ich erinnerte mich an meinen Traum von damals - im afrikanischen Garten mit Rose, wie ich mir genau dieses Glück gewünscht hatte. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass die Strahlkraft dieses Moments genügen würde, um den Schatten von damals zu vertreiben. Durch die Irrwege meines unbewussten Kampfes hatte mich mein innerer Kompass bis hierhin geführt. Von nun an würde sich Dankbarkeit über jedes Kapitel meiner Geschichte legen und mir den Mut und die Kraft schenken, mein Lebenswerk zu vollenden.

Joya-Anaïs am Daumennuggeln - Januar 2002
Sandra trägt hier Witle's Kleid, das sie selbst als junge Frau getragen hatte...

«Ha di liäb, Sandrali», danach legte er den Hörer auf. Seine Worte wiegten mich in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte ich gut ausgeruht. Es war Sonntag, ich lag in meinem abgedunkelten Zimmer in Hasli. Die Mädchen waren dieses Wochenende bei Franz. Ich genoss die Ruhe der frühen Morgenstunden. Ich musste eine Kopfverletzung auskurieren, die sich nun schon seit fast drei Monaten hinzog. Wegen der hartnäckigen Symptomatik der Lichtempfindlichkeit und starken Kopfschmerzen musste ich während des Tages eine Sonnenbrille tragen und viel liegen. Ich haderte immer noch damit, dass ich den Flug in die USA hatte absagen müssen. Meine Freundin Sigrid und ich hatten geplant, mit ihren Bildern, die sie in einer Galerie ausstellen wollte, für zehn Tage nach Philadelphia zu fliegen. Nun war sie schon ein paar Tage ohne mich dort, wohnhaft bei ihrer Tante, die schon als junge Frau in die USA ausgewandert war. Ich dachte viel an sie und hoffte, sie würde mit ihren Kunstwerken in Amerika Erfolg haben. Wir lernten uns kennen, als ich mit den Mädels im Wyler in Helgisried wohnte und Jasmin sich mit ihrer Tochter Astrid anfreundete - in der 5. Klasse in Rüeggisberg. In der Zwischenzeit war ich mit meinen Töchtern nach Hasli umgezogen in eine WG mit meinem Bruder Fernand, seiner Frau Françoise und ihren drei Söhnen. Sigrid und ich arbeiteten in einem Museum für Textilien in Riggisberg. Ich war seit der Trennung von Franz auf mich gestellt und startete mit meiner Aufsichtstätigkeit in der Abegg-Stiftung im September 2011. Mit Sigrid verband mich eine innige Freundschaft. Sie sprudelte vor Energie und Witz und war eine lebensfrohe Persönlichkeit, die mit ihren bunten Pinselstrichen und einem unerschöpflichen Einfallsreichtum stimmungsvolle Gemälde zu erschaffen vermochte. Für mich war sie eine erfrischende Quelle der Inspiration und ein Halt im herausfordernden Alltag als alleinerziehende Mutter.
Mein Telefon läutete. Jasmin tönte sichtlich beunruhigt:
«Mama, ig finge dä dädi niene. Joya und ig sy verwachet u sy ihn go suechä, wiu er ned im bett isch gsi, ou ned ir stube, im badzimmer, dusse. Sis outo u dr töff sy da u sini bürotür isch abgschlosse. Mir hei ihn grüeft u überau gsuecht. Wo chönnt är äch süsch no sy?»
Bei mir klingelten die Alarmglocken:
«Sini bürotür isch abgschlosse? Hesch du scho dürs schlüssuloch chönne luege, ob er im büro isch? Vilecht isch är vorem kompi ygschlaafe. Gang mau go gügslä.» riet ich ihr nichtsahnend.
«Mama, mama, dä dädi lyt im büro am bode. Bitte chum schnäu!"
Ich schickte meinen Bruder und einen Krankenwagen nach Goffers, Rüeggisberg, wo Franz in einer schönen Dreizimmerwohnung wohnte. Nach unserer Trennung hatten wir die gemeinsame Wohnung in Münchenbuchsee aufgelöst. Franz liess sich zuerst in Grenchen nieder, bevor er hierhin in die Nähe seiner Töchter zog.
Jede Hilfe kam zu spät. Fernand musste die Tür aufbrechen und den leblosen Körper umdrehen. Franz hatte in der Nacht vom 29. auf den 30. März, ca. 3:00 Uhr einen Herzinfarkt erlitten, so die Diagnose der Notfallärztin, die kurz darauf eingetroffen war. Er musste nicht leiden, kippte einfach vor dem Computer um. Am Tag darauf, Montag, 31.3.2014, war er für seine Knie-OP im Salemspital angemeldet - für das neue Kniegelenk. Und nun war er tot.
Witle's Worte von damals (rosen blühen) kamen mir in den Sinn: "...glaube mir, sandra, das leben zieht so schnell vorbei, verliere dich nicht im unnötigen...".
Und Franz's letzte Worte: "Ha di liäb..."
Für die Mädchen, die alles mit ansehen mussten, brach eine Welt zusammen. Jasmin, in Tränen aufgelöst, war untröstlich. Joya schrie in ihrer Verzweiflung nach einem Hund, den ich ihr schon lange versprochen hatte. Fernand blieb unglaublich gefasst und stark, wie immer bewältigte er den Schock und die Trauer auf seine eigene, souveräne stille Art und Weise.
Tausend Messerstiche durchbohrten mein Herz. Nebst meinem eigenen Schmerz, fühlte ich mit den Mädchen mit, die so früh und unerwartet das Liebste endgültig und unwiderruflich verloren hatten. Die ersten Tage nach seinem Tod kuschelten wir drei eng umschlungen in meinem Bett. Die Horrorbilder hatten sich in's Gedächtnis eingebrannt - Jasmin und Joya hatten Mühe, einzuschlafen. Ich kam auf die Idee, sie mit einem allabendlichen autogenen Training in den Schlaf zu begleiten. Bei Jasmin wirkte das unglaublich schnell, Joya hingegen lag noch lange wach. Dann erzählte ich ihr Geschichten, in denen ihr Vater wieder lebendig wurde:
"Dein Daddy kam zwar zu spät zu deiner Geburt, dafür wurde er nie mehr rückfällig in die Drogen und blühte auf als liebevoller Vater. Ihr Mädchen, seine Engel, bedeuteten ihm wirklich alles. Nachdem wir von Hasli an den Oberen Aareggweg im Tiefenauquartier umgezogen waren, merkte ich, dass sich mein Körper allmählich veränderte. Franz arbeitete damals beim Blutspendedienst in Bern, und wir konnten es uns leisten, Ferien in Zavala zu verbringen. Nach unserem letzten Urlaub auf Hvar im Herbst 2001 wusste ich, dass ich mit dir schwanger war. Du kleine süsse Maus hattest dich klangheimlich unter mein Herz geschlichen. Dein Daddy und auch ich waren überglücklich. Wir fanden eine grössere Wohnung am Weierweg in Münchenbuchsee. Du warst von Anfang an sein Löwenbaby - ihr zwei im Zeichen des Löwen Geborenen hattet einige Gemeinsamkeiten: Er ass gerne Fleisch, du auch. Ich hatte dich fast ein Jahr gestillt, als du anfingst, zuzubeissen. Mit Früchten und Gemüse warst du nicht wirklich zufrieden, und so merkte ich bald, dass du währschafte Kost brauchtest - so wie dein Daddy. Er liebte die Caramelita-Eiscreme, die er manchmal kiloweise an einem Abend vor dem Fernseher verschlang. Du bist auch so ein Schleckmaul, nicht wahr?" Ihr Schweigen und die regelmässigen Atemzüge zeigten mir, dass Joya endlich ein wenig Ruhe vor dem unsäglichen Leid hatte finden können. Ich deckte sie mit der flauschigen Wolldecke zu, die sie liebte und küsste sie auf die Stirn.
Meine gemeinsamen Lebensstationen mit Franz liefen weiter wie ein Film in mir ab. Ich erinnerte mich an das Schöne, Erfüllende in unserer Beziehung. Dabei erfasste mich auch eine tiefe Wehmut - ich musste an die schwierige Zeit denken, in der wir als Paar immer mehr auseinanderdrifteten. Ich war noch mit Joya schwanger, als ich merkte, wie Franz sich öfters hinter seinem Computer verschanzte und stundenlang in seinem Büro verbrachte, das er manchmal abschloss - warum, wurde mir erst nach seinem Tod so richtig bewusst. Ich merkte zu spät, dass sich sein Verhalten wieder in die Richtung einer Sucht bewegte, in eine Internet- und Computerabhängigkeit. In den letzten Stunden vor seinem Himmelsflug war er noch auf diversen Seiten unterwegs gewesen, deshalb hatte er die Türe abgeschlossen. Im Nachhinein wurde mir vieles klar, was ich damals in einer Paartherapie versucht hatte, zu verstehen. Immerhin hatte er sich bereit erklärt, für uns zu kämpfen, so schien es. Wir hatten Hilfe bei Herrn Dr. Neuenschwander in Anspruch genommen, der im Kirchenfeldquartier seine Praxis hatte. Nach ein paar Sitzungen, die wenig erfolgsversprechend verliefen, kam der entscheidende Satz:
"I bi jetzt syt 50 jahr so, wurum sött ich mich änderä?" hatte Franz in Zusammenhang mit einer Bemerkung des Psychotherapeuten gefragt.
"Ja, aber darum sytter doch hie, herr Findeisen, um die negative verhaltensmuster versueche z'erkennä u umz'wandlä...we dir nüt weit ändäre, de cha ig euch ou nüm wytterhäufe."
Ich versuchte, mich mit dem Gefühl zu arrangieren, alleine zu zweit in einer Beziehung zu leben. Ich realisierte, dass ich Franz so würde lieben lernen müssen, wie sich die Situation entwickelt hatte. Noch heute wäre ich bei ihm, hätte mein Herz damals nicht zu stottern begonnen. Die ersten Herzrhythmusstörungen machten sich bemerkbar, als Joya etwa zweijährig und Jasmin im Kindergarten war. Anfangs dachte ich mir nichts Schlimmes dabei, das würde schon wieder abklingen und sich normalisieren. Nach einer schweren Angina, einer Streptokokken-Infektion war ich so schlapp und erschöpft, dass ich nicht mehr aus dem Bett steigen konnte, um mich um die Mädchen zu kümmern. Ich weiss noch genau, dass sie an dem Tag, an dem ich Fernand anrufen musste, draussen mit ihren Spielkameraden auf dem Spielplatz spielten. Die Dunkelheit brach heran - ich bat Franz, Jasmin und Joya zu holen und sie für das Abendessen und anschliessende Zubettgehen bereit zu machen. Franz sass in seinem Büro und rief mir zu, er könne grad nicht weg, ich solle das doch selber machen. Ich erklärte ihm, dass ich das heute nicht schaffen würde, wegen meiner Infektion. Er konnte sich nicht losreissen; ich sah keinen anderen Ausweg, als meinen Bruder in Hasli anzurufen, ob er kommen und die Mädels versorgen könne. Noch heute erinnert sich Jasmin an diese Situation, die sie damals sehr verwundert habe. Mein Fels in der Brandung war wieder einmal Fernand gewesen, dem ich bis heute für seine Hilfe dankbar bin.
Mein Herz beruhigte sich nicht, und als ich das zweite Mal deswegen bei unserem Hausarzt, Herrn Dr. Brand, erschien, sagte er mir, er könne nichts Organisches als Ursache erkennen - es sei aber ernst, ich müsse mir überlegen, was mich sonst noch belaste und versuchen, etwas an meiner persönlichen Situation zu ändern. Erst dann realisierte ich, dass ich es nicht riskieren konnte, meine Gesundheit aufs Spiel zu setzen - die Mädchen brauchten eine gesunde Mutter! Ich musste das sinkende Schiff verlassen und versuchen, den gesunden Takt meines Herzens wiederzufinden.

"Jedes Blühen braucht seine Zeit
So, wie die Seerose im Wasserteich
Das Köpfchen einst im tiefsten Dunkel
Darf sich öffnen, bereit in der Sonne zu funkeln
Schritt für Schritt verwandelt werden
Der Welt zu leuchten, die Schöpfung ehren
Schmerz und Leid können nicht ewig währen
Immer wird die Liebe Hoffnung gebären
Uns hineintragen in himmlische Sphären
Diese Kraft, die im Verborgenen liegt
Gleicht einer Quelle, die nie versiegt
Ebenso wie das hellste Licht
Die Schattengespenster besiegt
Auf meinem Bett liegen zwei Schätzchen
Treue, süsse, schnurrende Kätzchen
Während meine Finger über die Tasten gleiten
Euch mein schönstes Kunstwerk zu bereiten
Und der Himmel liegt mir zu Füssen
Ja, ihm könnt ich die Lippen küssen."
Die Poesie half mir, zu gesunden. Ich hatte sie an einer Quelle wiederentdeckt, die sich auf einem Hügel hoch über dem Neuenburgersee befindet. Wiederum wurde ich geführt während der Zeit, als ich mich mit meinen Töchtern und Niki im Wyler in Helgisried am Fusse eines Baches niederliess.
In der Abbaye de Fontaine-André durfte ich vier Tage im Haus der Stille zur Ruhe kommen.
Tagebucheinträge vom 27.12. - 30.12. 2007:
"Ankunft an der Quelle in der Abbaye de Fontaine-André. Nebel umhüllt diesen mystischen Ort. Im Haus der Stille verweile ich im gelben Zimmer, das sehr bescheiden eingerichtet ist. Ich werde herzlich empfangen, und man respektiert mein Bedürfnis nach innerer Einkehr und Stille. Wir essen das Abendessen im kleinen Kreise in der Küche des antiken, aber wunderschönen Klosters. Die Andacht und Meditation in der Kapelle lässt mich Gottes Tiefe & Liebe erfahren. Hier an der Quelle, in aller Stille, finde ich zu meiner wahren Berufung.
Ich lerne Peter kennen, der mich einen Augenblick lang hier oben begleitet - Peter wandert mit mir durch den nebligen Wald bis in die Sonne, wo wir diese ganze Pracht geniessen können. Er ist ein sehr guter Zuhörer, voller Dankbarkeit im Herzen und sensibel; mir scheint, Gott hat mir diesen "Engels-Begleiter" geschickt, um in Vertrautheit unsere Erfahrungen auszutauschen.
Neuer Tag in der Abbaye - ohne Nebel - wiederum schöner Spaziergang auf dem "chemin spirituel". Die Sonne wärmt und durchflutet uns, es ist wunderbar, wie vielfältig sich uns die Natur hier oben zeigt. Super schöne Sicht auf die majestätischen Berge...wiederum ein Tag zum auftanken, auskosten - in Frieden und in der Vertrautheit meines Begleiters zu geniessen. Nach dem wiederum köstlichen Mittagessen mit frischen Zutaten aus dem Klostergarten, verabschiede ich mich von Peter und habe Zeit, mich an der Quelle zu besinnen. Die ersten Reime sprudeln aus meinem Innern heraus, plätschernd, klar und erfrischend wie das Wasser, das mich aus den Tiefen verdichtet:
Ein Traum
Sehnsucht
Hoffnung
Vertrauen
Liebe
und des Lebens Ruf
im tiefsten Innern
brachten mich zu dir
göttlichen Quelle
hier im aussen
ebenso heilsam, nährend, stillend
in mir
Dankend, dürstend
schöpfe ich
immer wieder neu
aus dir
um verwandelt
schöpferisch berührt
selbst zärtlich Schenkende
zu sein."
Wieder daheim, nutzte ich meine zwei letzten kinderfreien Ferientage, um mein erstes Dichterwerk "Anima schreibt Animus" zu verfassen. Dabei vergass ich Raum und Zeit, Hunger und Durst, Kummer und Sorgen. Die innere Quelle floss frei, intuitiv und empirisch aus mir heraus. Katerchen Niki erinnerte mich daran, dass der Tag doch noch Stunden und er auch Hunger hatte.
Nach den ersten, schwierigen zwei Jahren der Trennung von Franz pendelte sich unsere Situation allmählich ein, und wir fanden einen guten, für die Mädels optimalen Umgang miteinander. Mein "Alltagswirbeleintopf" entstand während der ersten Phase als alleinerziehende Mutter. Diese Poesie widerspiegelt den bunten, verrückten und auch beglückenden Alltag mit Kind und Haushalt. Erschöpfung und existenzielle Angst gehörten ebenso zu meiner Hingabe als Mutter, wie Erfüllung und Einklang in den wunderschönen Etappen. Von Dankbarkeit erfasst durfte ich viele Glücks- und Freudentaumel mit Jasmin und Joya-Anaïs erleben. In meine Welt der Reime einzutauchen half mir, die Härte der Realität umzuwandeln in ein verträumtes, leichtes Wölkchen, das sich heilsam um mein Seelenkostüm legte. Immer mehr wurde mir bewusst, dass sich mein Dichterfluss mit meiner eigenen Transformation zu verwandeln begann - anfangs vor Sehnsucht triefend, vermischte sich das Sehnen mit meiner philosophisch veranlagten Ader (was meiner Poesie im Verlauf der Jahre eine reflektierende Note hinzufügte), bis hin zum heutigen Tanzen, Malen und Musizieren mit Wörtern.
2009 wagte ich den Wiedereinstieg ins Berufsleben - Jasmin und Joya-Anaïs waren nun soweit in ihrer kindlichen Entwicklung gefestigt, dass ich mich als Frühenglischlehrerin an der Primarschule Riggisberg entfalten und mich zwei Jahre später für die Aufsichtsstelle in der Abegg-Stiftung bewerben konnte. An drei Nachmittagen pro Woche vier Stunden ausser Haus zu sein fand ich ideal, um wieder Fuss zu fassen und schrittchenweise in Richtung unabhängigen, finanziellen Lebensstandard voranzuschreiten. Nach vier Jahren durfte ich mich als Mitarbeiterin Sekretariat sowie im Buchversand weiterentwickeln. Ich darf mich glücklich schätzen, in einem gemütlichen Zuhause - friedlich eingebettet in ländlicher Idylle - allmählich zu einer Leichtigkeit des Seins zurückzufinden.
Am meisten erfüllt es mich, mit den mir geschenkten Gaben ein Lächeln und Freude in die Herzen der Menschen zu zaubern. Fernand brachte es auf den Punkt:
"She's a poet and she knows it."

"À Sigrid, ma chère amie
Une des meilleures de ma vie
Pour te dire comment je t’apprécie
et ce que tu me signifis
Avant de t’avoir rencontré
j’ai prié au bon Dieu:
envois – moi une bonne copine
montres-moi un petit signe
pourque je la reconnaisse
toute réelle – face à face
Les jours et les nuits s’envolaient
en emportant ma sincère prière
au ciel sans nuage, eternel
aux fleurs si douces et belles
au forêt magique et majestueux
aux oiseaux libres et enchantés
aux fleuves qui coulent dans les prairies
Et puis, au clair de la lune, ensoleillée
Tu étais là, quelle fortune
Les yeux plein de désirs
Sans un mot, sans rien dire
Je te contemplais avec plaisir
Quel visage tout éclairci
Me souriait ainsi
Quelle voix si forte et amusée
me réveillait de mon rêve
quelle apparence ravissante
me rencontrait si vivante
Comme les petits enfants
Nous nous embrassions bien fort
Oui, je t’ai soudain reconnu
comme si mon coeur l’avait su:
c’est elle, ma chère amie
Une des meilleures de ma vie
Les mois et les années
s‘envolaient avec les deux amies
et malgré les tempêtes de la vie
cette amitié s’est développée
comme des papillons en printemps
plein d’espoir pour l’avenir
forts et puissants contre le pire
Oui, ni l’orage, ni le vent
peuvent détruire ce ruban
Merci Sigrid, mon amie
pour ta présence dans ma vie
pour les moments plein de rires
pour ton soutien dans la pluie
et ta confiance en moi
pour ton être si humaine
ton âme honnête et loyale
pour notre amitié royale."
Sandra, le 23 octobre 2013
Dieses Gedicht an meine damalige Freundin Sigrid erinnert mich daran, zum Abschluss meiner ersten Autobiographie meinen Herzensdank all jenen auszusprechen, die mir auf meiner Reise bis hierhin begegnet sind und - bewusst oder unbewusst - dazu beigetragen haben, meinem Dasein Tiefe, Sinn, Schwung, Inspiration und Liebe zu schenken:
Dem Regisseur und Schöpfer meines Lebens für seine allumfassende Gnade und Liebe.
Jesus♥
Der Nonnenschwester, die sich während meines ersten Überlebenskampfes so fürsorglich um mich gekümmert hat.
Mama, die auf Kreta ihr Glück gefunden hat; Papa, der im März 2022 verstorben ist und Monique - in unvergänglicher Liebe.
Jeneva, my beloved - die ich immer noch vermisse und die mir gezeigt hat, was grenzenlose Zuneigung ist.
Den Themelis für die Förderung meines frühkindlich-musikalischen Ausdrucks.
Den McAuley-Schwestern, Nelly und Geneviève.
Fernand, meinem Fels in der Brandung - mein sensibler grosser Bruder, danke bist du immer für mich da.
Henri Paul - die Verbindung mit dir bleibt fortwährend im Herzen bestehen.
Tom, der mich aufgefangen hat während der Zeit, in der ich mich selbst aufgegeben hatte.
Alexia - danke für deine treue Begleitung und Stärkung meines Selbstvertrauens.
Witle - für die sagenhaften Lehr- und Wanderjahre sowie deine Liebe, die noch im stillen Wachstum ist.
Meinen Grosseltern, Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, Nichten, Neffen, den noch Ungeborenen und meinen Urahnen, die mir gute Gene mitgegeben haben.
Franz, der am tiefsten Punkt meines Lebens für mich gekämpft, mir zwei Engel geschenkt und mich bis zum letzten Atemzug geliebt hat.
Jasmin - für deine heilsame, fröhliche Erscheinung und Liebe, die mich umhüllt. Dafür, dass du Daddy's Strahlen in dir weiterträgst und an mich glaubst - danke, bist du meine wunderbare Tochter.
Joya-Anaïs - meiner Freudentochter, für dein unerschütterliches Vertrauen und deinen Glauben an mich, sodass Mama beherzt weitertanzen kann. Danke für deine Inspiration und wunderschöne Präsenz in meinem Leben.
Franz's Brüder und seiner Familie in Bayern.
Niki - der mich 20 Jahre lang überallhin begleitet hat und mit seinen Samtpfoten immer noch liebevolle Spuren in meinem Herzen hinterlässt.
Franky-boy: Mein Abenteurer - immer wenn ich Fisch esse, denke ich an dich, vermisse auch dich.
Sputnik, mein zärtlichster Kater, leider verstarbst du viel zu früh. Dein samtweiches Fell legt sich immer noch wohlig auf mein Herz.
Nikita und Lucky-boy, die mir während des Schreibens dieser Autobiographie die Füsse wärmen und mit ihrem steten Schnurren beruhigend an meiner Seite sind.
Allen Ärzten, die sich von damals bis heute um mein gesundheitliches Wohl gekümmert haben; insbesondere denjenigen, die mich aktuell betreuen.
Den Kollegen und Freunden aus der Abegg-Stiftung.
Regula Rellstab für ihre einfühlsame Wesensart.
Flurina Schai, die mich geduldig durch eine Phase der postviralen Erschöpfung begleitet.
Beatrice Wiggenhauser für die stimmungsvolle Brunnen-Aufnahme aus der Abegg-Stiftung.
Kathrin Botta für das traumhafte Hasli-Panorama-Foto.
Allen Freundinnen und Wegbegleitern - jede/r von euch weiss persönlich, wen ich meine...
Den Machern und Unterstützern von meet-my-life, der einzigartigen Plattform für Autobiographien und dem klugen Kopf, der dahinter steckt.
Enya - für ihre unglaublich schönen, wohltuenden und besänftigenden Klänge.
Master KG für "Jerusalema", dem mitreissenden Song, der alle Nationen zu einem vereinenden Tanz inspiriert hat und auf berührende Weise die Hoffnung aufflammen lässt, dass Frieden auf der Welt möglich ist. (See dancing Jerusalema all over the world - 30 min. mix).
Den "Gilmore Girls", "Frau Iseli" und Emil für das humorvollste Training meiner Bauchmuskeln.
"In aller Freundschaft", "Frühling" und "Virgin River": Dafür, dass ihr meinen Glauben an Zusammenhalt, Nächstenliebe und wahre Freundschaften nährt und stillt.
All jenen, deren Schnittpunkte mein Leben herzlich berührt haben, mich immer noch berühren und die ich vielleicht vergessen habe, namentlich aufzuführen.
Danke!
Sandra
Helgisried, den 23.11.2023
Zum Schluss noch ein erfrischendes, kurzes Tänzchen mit den Mädels zu Jimmy Cliffs Song:
"I can see clearly now the rain is gone
I can see all obstacles in my way
Gone are the dark clouds that had me blind
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
Oh yes I can make it now the pain is gone
All of the bad feelings have disappeared
Here is that rainbow I've been praying for
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
Look all around, there's nothing but blue skies
Look straight ahead, there's nothing but blue skies
I can see clearly now the rain is gone
I can see all obstacles in my way
Here is that rainbow I've been praying for
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
Bright, bright, bright sunshiny day, yeah, eh
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
yeah, eh
It's gonna be a bright, bright, bright sunshiny day
Bright, bright, bright sunshiny day, yeah, eh
..."
♥ Der Tanz meines Lebens geht spannend weiter und führt euch aufs Parkett meiner zweiten Autobiographie: "Funken der Liebe" .... ♥