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Nach dem Ende meiner Tage wird Gott mich fragen
Und, hast du es genossen, dein Leben?
Hast du rein gebissen wie in einen knackigen Apfel?
Hat dich Kinderlachen entzückt,
Disput und Auseinandersetzung, haben sie dich belebt,
Freundschaften bereichert?
Bist du aufgegangen in der Liebe,
stähltest du dich mutig im täglichen Kampf?
Verzauberte dich der Blüten Liebreiz,
Liessest du dich von der Schönheit der Natur überwältigen?
Sage mir, hast du es gesehen, gespürt, genossen, dein Leben
oder hätte ich all die Pracht umsonst erschaffen?

Meine Eltern würde man heute als Hipster bezeichnen, so wie die beiden in den Dreissigerjahren gelebt hatten. Den Schilderungen Mamis nach, verkehrte sie mit Freundinnen, die sie vom Beruf her kannte, schon bald im Freundeskreis von Papa, alles Seebacher. Besonders geprägt hatten den Kreis die Gebrüder Luzi und Gulli Schiavi, “Secondi”, deren Eltern von Mailand eingewandert waren. In ihrer Familie wurde die Italianità gepflegt. Luzi wie Gulli liebten Sportwagen, Gulli war Segelflieger und alle liebten schöne Frauen. Man verkehrte in den angesagten Lokalen, liebte das Tanzen und hatte es lustig. Der Absturz Gullis, kaum dreissig jährig riss eine schmerzliche Lücke in diesen Kreis
Auch später, als die meisten von ihnen geheiratet hatten und sich alle gesetzter gaben, trug Vater Massanzüge, fuhr immer ein schickes, wenn auch mittelständisches Auto. Mami als ehemalige Schneiderin, eine kurze Zeit sogar bei Grieder, einem der renommierten Modehäuser Zürichs, trug fast jedes Mal eine neue ihrer Kreationen an den zahlreichen Abenden der beiden ausser Haus. Wie seit jeher, zum Plaudern und Tanzen.Möglichst distinguiert, anders als die Andern, aber immer schön den Konventionen der Schönen und Reichen folgend, oder dem, was man dafür hielt. Wie es sich gehört, halt.
Der herannahende Krieg, nicht die Romantik, liess die beiden am 1. Juli 1939 fürs Heiraten entscheiden. Die Zeiten um sich ein eigenes Nest zu bauen waren günstig: Wohnungen in allen Preislagen standen nicht nur zahlreich zur Verfügung. Die ersten drei Monate wurden den neuen Mietern bei Unterzeichnung eines Mietvertrages von mindestens einem Jahr erlassen.
Man entschied sich für eine hübsche Dreizimmer-Wohnung an der Möhrlistrasse 90 im Zürcher Kreis 6. Der grosse Balkon gab auf eine schöne Wiese mit Birken . Auch der Sandkasten für die Kinder, die in diesem Haus geboren würden, war schon da, Röbi Kleinknecht, Marianne und Käthi Heusser und eben wir zwei, Raeto und ich. Später, als ich etwa zwölf war, zogen wir in die Möhrlistrasse 91 um, in eine grosszügige Viereinhalb- Zimmerwohnung mit Berliner Zimmer.
Es war ein Wohngebiet für Angestellte am Fusse des wohlhabenden Zürichbergs. Eher für Bessergestellte. Genossenschafts-Wohnungen gab es da keine. Solche befanden sich an der unterhalb parallel verlaufenden Winterthurerstrasse.

Mein Mami, Christina, wurde am 6. März 1909 in die Familie Naeff-Schildknecht mit elf Geschwistern in Chur geboren. Sie ging „auf dem Hof“ zur Schule, wenige Schritte vom „Naeffen-Hüsli“ entfernt. Sie grenzte ans benachbarte Bischof-Schloss an. Ingenbohler Schwestern unterrichteten Gott ergeben, mit wenig pädagogischem Können oder Talent. Ausser dem Katechismus und dem Rosenkranz hätte sie dort wenig gelernt, berichtete uns Mami. Wen wunderts, dass ihr die älteste Stadt der Schweiz bald einmal zu eng wurde. Christina ging nach Zürich, wo sie Schneiderin wurde wie man später noch lesen wird.
Christina nannten alle Marti. Niemand wusste warum. Freunde der Eltern bedauerten das, ebenso Vater, doch nur ihre Freundin Betty nannte sie als einzige Christina. Ich wurde auf die Namen Ernst Jürg getauft. Nach meinem Vater der erste, nach der Churer Herkunft der Mutter mein zweiter Vorname. Ich wurde nur Jürg gerufen. Von den Eltern, von der zahlreichen mütterlichen Verwandtschaft, den Bekannten und Freunden meiner Eltern. Von meinen Spielkameraden sowieso. Als Jürg figurierte ich im Pass meiner Mutter, entsprechend dem damaligen Familienrecht. Später in meinem eigenen. Erst bei Eröffnung eines Pensionierten-Kontos bei der Postfinance musste ich mit dem nüchternen Ernst Bekanntschaft machen. Die Banken, und auch die Post, seit einigen Jahren zur Postfinance mutiert, verlangten nun plötzlich nach Identitätskarten zur Kontoeröffnung. Und die lautet eigenartigerweise auf Ernst Jürg.
Fertig lustig mit der Jahrzehnte alten Hochschätzung der Anonymität, der die Geldinstitute seit jeher gehuldigt hatten. Seit 2006 heisse ich deshalb Ernst Jürg. Im täglichen Umgang verwende ich aber noch immer, und nicht ohne Stolz, meinen romanischen Vornamen Jürg.
Meine Geburt, am 4. April 1941, in der Pflegerinnenschule Zürich war eine schwierige. Steisslage. Ungewissheit ob und wie ich überleben würde. Berühmte Professoren kümmerten sich um mich. Das besänftigte die Angst meiner Eltern, schmeichelte ihrer Eitelkeit und geriet dank deren professoralen Fähigkeiten zu meinem Glück.

Mein Vater Ernst Thommen kam in Seebach ZH zur Welt, 1909. Was sein Vater arbeitete, habe ich vergessen. Dieser starb an einer Blinddarmentzündung, als sein Sohn, also mein Vater, vier war. Dieser Verlust hatte meinen Vater geprägt. Zeitlebens und trotz seiner zahlreichen, eher versteckten Eskapaden, kämpfte er dafür seinen Söhnen das zu bieten, was er vermisst hatte: eine Familie.
Aus seinen Erinnerungen ist mir die verschworene Bubenbande aus Seebach gegenwärtig. Ihre Erzfeinde seien die Örliker gewesen. In den Kampf gegeneinander seien sie auf offenem Feld gezogen. Bewaffnet mit Bohnenstickeln, mit langen Schnüren von Rosskastanien, mit denen sie auf die Feinde eindroschen. Geschützt hatten sie sich mit Schildern aus Fassdeckeln. Es soll dermassen zugegangen sein, dass sogar einmal ein Bub zu Tode gekommen sei. Die Seebacher seien immer als Sieger hervorgegangen! Luzi und Gulli Schiavi, Jakob „Jack“ Lenzin, Walti Hofmann, Emil „Migg“ Eichenberger bildeten den Kern der Bande. Sie überdauerte, bis einer nach dem Anderen wegstarb, in hohem Alter. Papi ging zu Herrn Rudolf Schoch zur Schule, der auch der Primarlehrer von mir werden sollte. Zeugnisse legte Papi vor, deren Noten mich allesamt beschämten. Wenigstens solange, bis mir mein Schulfreund Hans Bänninger in der fünften Klasse sagte, früher wären 5er, ja gar 6er viel leichter vergeben worden. Ehrenwort von seinem Vater!
Eigentlich wäre Ernst gerne Zugführer geworden. Zur damaligen Zeit erforderte das eine vierjährige, schulische, somit unbezahlte Ausbildung. Das war seiner alleinerziehenden Mutter nicht möglich. Sie schickte ihn deshalb zur Firma Grambach Glashandel AG in Seebach, die ihren Ernst als kaufmännischen Lehrling aufnahm. Dieses Ausweichen auf das Mögliche hatte beim jungen Ernst keine Depression zur Folge, noch war eine psychologische Unterstützung nötig, wie das heute so oft der Fall ist. Man nahm, was man kriegte und legte sich ins Zeug. Zum guten Lehrabschluss belohnte ihn Vater Grambach mit der Prokura. Papi arbeitete in dieser Position mit entsprechendem Lohn, bis er sich ein Jahr später das Geld zusammengespart hatte, um an die Swiss Mercantile School nach London zu gehen. Danach arbeitete er in Paris, dann in Monte-Carlo als Privatsekretär des Direktors des Hôtels de Paris. Wenige Monate nach seiner Anstellung gingen die Engländer vom Goldstandard weg, der Wert des englischen Pfundes halbierte sich. Die daraus resultierende Krise im „Fremdenverkehr,“ wie der Tourismus damals hiess, hatte zur Folge, dass alle Ausländer im Fürstentum entlassen wurden. Algerien hatte zu jener Zeit gerade die Wintersaison eingeführt. Papi machte sich auf dorthin.
„Wir bezahlen Ihnen die Retourfahrt in die Schweiz, Herr Thommen. Ohne Aufenthaltsbewilligung kriegen Sie hier keine Arbeit, und ohne Arbeit keine Aufenthaltsbewilligung,“ bescheinigte ihm der konsularische Vertreter der Schweiz in Algier. Papi liess sich nicht entmutigen. In einem Stundenhotel fand er Anstellung als „homme-tout-faire“, sozusagen als Mädchen für alles: Zimmer putzen und vor allem neu einbetten (er war nach der Anzahl der benutzten Leintücher bezahlt), reinigen des ganzen Hauses, besorgen des Steingartens, servieren. Er machte sich unentbehrlich. Die Besitzerin stellte den Antrag auf Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Sie deklarierte ihn als absolut unersetzlichen Übersetzer, auch für Sprachen, die er überhaupt nicht kannte. Kaum hatte er die Bewilligungen in der Tasche, meldete er sich beim Grand Hôtel d'Alger, das einen Chasseur, einen Gehilfen für den Portier suchte. Offenbar war er auch dort sehr geschickt, denn nach kurzer Zeit war er Vize-direktor. Si Kaddour Ben Ghabrit, begegnete er, dem späteren Begründer der Moschee von Paris, Beschützer der Juden während den Verfolgungen durch die Gestapo und ebenso Ivar Kreuger, einem der grössten Tycoons seiner Zeit, der tragisch endete, und vielen anderen aussergewöhnlichen Figuren. Als die Zeiten immer unruhiger wurden, kam er zurück in die Schweiz. „Hätte ich die Küche gekannt, wäre ich in der Hotellerie geblieben,“ sagte er mir oft.
Papi wurde bei Kriegsbeginn als Gebirgsfüsilier ins Militär eingezogen und ich kam am 4. April 1941 zur Welt. Seine Briefe zeugen von der Sehnsucht, mit der er sein erstes Kind, einen Sohn natürlich, erwartet hatte. Sie erzählen auch von den Dramen, die sich um die Telefonkabinen und mit den Ehefrauen abgespielt haben sollen, wenn die Soldaten nach Schlange stehen endlich ins Kabäuschen kamen und die Nummer zu Hause besetzt war. Kein zweiter Versuch war möglich: die Gesprächsdauer war auf drei Minuten beschränkt und hinter dem Enttäuschten stauten sich noch viele Kameraden in der Reihe.
Auf dem Stilfserjoch soll er einmal mehrere hundert Meter abgerutscht sein ohne ernsthaft Schaden zu erleiden. Ausgelassene Feste am Küchentisch meiner Eltern sind mir noch vage in Erinnerung wenn Papa während der Rationierung wieder einmal ein Pack Spaghetti irgendwie und irgendwo ergattern konnte. Das teilten die Eltern gerne mit Freunden aus der Nachbarschaft und begossen es ausgiebig . So wenig brauchte es damals für ein Fest: ein Pack Spaghetti, Tomatenpuree und ein fiasco di vino!
Mami hatte mir als jungem Mann immer wieder erzählt, wie ungeduldig Papi auch später nach mir verlangte, wenn er jeweils nach Hause kam. Seine grösste Sorge war, nicht so lange leben zu dürfen, bis wir unseren Weg gefunden hätten, Raeto und ich, bis wir zwanzig wären, also 1961, respektive 1964. Später terrorisierte er mich mit seinen Geschichten um die Versicherungsvorsorge, damit seine Familie und vor allem die Ausbildung seiner Söhne gesichert sei. Dabei war er sportlich und kerngesund, aber übervorsichtig. Lieber, lieber Papi, mit deinem schwachen Vertrauen ins Leben hast du mir unsagbare Ängste verursacht, dich verlieren zu können! Du starbst sechsundachtzigjährig 1995...
Papi war immer als Kaufmann tätig, er liebte das. Ein paar Jahre vertrieb er Farbstoffe der Firma Cruikshanks aus England. Währungswirren und der Unwillen seiner Lieferanten Preise franko Destination zu deklarieren brachten ihn in Schwierigkeiten. Er war gezwungen, seine Selbständigkeit einzustellen. Er fing sich im Treibstoffimport als Angestellter auf.
In späteren Jahren wechselte Papi zur BP, der British Petroleumwo er bis zu seiner Pensionierung arbeiten würde. So kam er in Genuss der später allgemein gültigen englischen Arbeitszeit, 8-17, mit nur einer Stunde Mittagszeit, dafür mit freiem Samstag. Das Wochenende, welches bereits freitags um 17 Uhr begann, kam ihm wie Ferien vor! Dieses verbrachten wir alle vier im Sommerhalbjahr oft auf dem firmeneigenen Tennisplatz, eine bemerkenswerte Neuerung, die der SBV, der Schweizerische Bankverein betrieb, bei welchem sich die BP mit zwei Plätzen eingemietet hatte. Ebenso gehörte dazu ein Fussballfeld, jedoch nur mit Mannschaften die der Bank zugehörig waren, und eine Boccia Bahn. Schon damals hatten kluge Köpfe erkannt, dass sportliche Mitarbeiter besser und dank der Gesellschaftlichkeit, die sich dort ergab, mit mehr Spass arbeiteten. Trotzdem: beim Tennisspiel erkannte man da sportliche, dort geschäftsbedingte Rivalitäten und doch, der Firmensport lockerte die Hierarchien etwas auf, die zu jener Zeit noch sehr ausgeprägt waren.
Gelegen war diese Sportanlage sehr schön im Guggach, gegen den Friedhof Nordheim, am Rande des Waldes vom Waidberg. Sie musste in den vergangenen zehn Jahren Geschäfts- und Wohnbauten weichen.

Über meine Eltern habe ich bereits dies und das erzählt. Ich möchte hier etwas auf das gesellschaftliche Klima jener Zeit eingehen, welches das Denken und Streben einer mittelständischen Familie geprägt hatte. Es sah in etwa so aus, wie ich das in einer Kurzgeschichte persifliert habe:
Requiem für einen Helden
Heute wollen wir eines Helden gedenken, der ohne ein Denkmal, ohne Marmortafel oder irgend ein Nachruf, sang- und klanglos untergegangen ist.
Sein lautloses Versinken im Vergessen ist umso erstaunlicher, als dieses Heldentum stark verbreitet war und in allen Kulturkreisen gleichermassen verankert. Doch nur im deutschsprachigen Raum fand es seinen wahren Vertreter:
Der Pantoffelheld.
Man bedenke: Mitte des vergangenen Jahrhunderts war es nur möglich, unter völliger Missachtung von Brauch und Sitte und erst recht der öffentlichen Meinung, seiner Frau behilflich zu sein. Die Rollenverteilung lief damals im umgekehrten Sinne: das Weib war dem Manne untertan und somit voll und ganz für sein häusliches Glück zuständig.
Ein Kinderwagen stossender Mann war deshalb nichts weniger als ein öffentliches Ärgernis. Ihren Mann zu bitten, die Kommissionen zu besorgen oder die schwere Einkaufstasche zu tragen kam für eine Frau der Verstossung ihres Gatten gleich.
Damals gehörte das Teppichklopfen im Freien noch zum Volksbrauchtum, aber nur zum fraulichen. Jener unerschrockene Mann, der sich daran wagte, war dem allgemeinen Unverständnis ausgesetzt. Seine Artgenossen, die in solchem Handeln einen gefährlichen, geradezu fatalen Angriff auf die Manneswürde sahen, griffen einen solchen offen an. Perfider waren die Angriffe aus dem weiblichen Lager. Die Giftpfeile waren geformt aus der Eifersucht, nicht auch ein solches Wesen sein eigen zu nennen und erhärtet durch das Unvermögen, den eigenen Gatten zu jemandem so fürsorglichen zu erziehen.
Das Wesen solch Tapferen erschöpfte sich keineswegs in jenem Heldentum, das heute wohl kaum mehr nachzuvollziehen ist. Nein, es zeichnete sich durch Demut aus, die auf einem transzendentalen Wissen um die Richtigkeit des eigenen Handelns gründete. Ein solcher Mann wurde nämlich schon damals keineswegs entsprechend seines Wertes geschätzt. Oft wurde ihm gar eine Behandlung zuteil, die eine Heilig- oder zumindest eine Seligsprechung als Märtyrer und Mystiker des Haushaltes, durchaus gerechtfertigt hätte.
Diese Gedanken kamen mir, als ich heute Morgen in der Sonne den Balkon unserer Wohnung saugte. So etwas wäre früher undenkbar gewesen, denn ein Balkon wurde damals gewischt, keinesfalls gesaugt. Ähnlich dem lärmigen Teppichklopfen wäre so etwas als ostentatorisches Gehabe verurteilt worden.
Persönlich wird mir auch heute infolge solcher Tätigkeit keine besondere Anerkennung zuteil. Ein mechanisches « Merci » meiner holden Gemahlin, vielleicht verbunden mit einem kurzen Aufleuchten ihres Blicks. Letzteres kann aber ebenso gut durch die Morgensonne bewirkt worden sein. Mir ist das auch recht. Die grössere Disponibilität seit meiner Pensionierung hilft mir, die heutige Ansicht zu eigen zu machen, welche eine solche Mithilfe als nur als gerechten Beitrag zum gemeinsamen Haushalt betrachtet. Was früher mit Heiligkeit, Heldentum oder zumindest Zivilcourage zu tun hatte, ist zur banalen, routinemässigen Pflicht verkommen.
Allerdings, soll es früher einige wenige Männer gegeben haben, deren Hilfeleistungen mit warmen Blicken, Umarmungen, reichem Essen und köstlichem Wein belohnt worden sei. Und mit Liebe, Liebe, Liebe…
Diese Glücklichen foutierten sich natürlich um Heiligkeit und Heldentum: sie waren nämlich schon zu Lebzeiten im Paradies.
***
Es galt damals, jemand Rechter zu werden: Gut in der Schule, tüchtig im Beruf, ein angenehmer Nachbar und aufgeschlossen für die Gemeinschaft. Letztere bestand damals aus zahllosen Vereinen: Turn-, Kegel-, Jass-, Schiessverein, Velo-, Ski-,Alpenclub usw, für die Jugend Kadetten, Pfadfinder für Buben und Mädchen, von denen es auch eine katholische Ausgabe gab, nebst deren Jungwacht, selbstverständlich nur für Buben und getrennt den Blauring für die Mädchen.
Je nachdem bei wem sich damals jemand bewarb, war es durchaus nützlich, die eigene Konfession anzugeben: die Landeskirchen hatten einen bedeutenden Einfluss, damals, und man bekannte sich dazu. Die römisch-katholische, die protestantische, die evangelisch-reformierten. Die Juden bildeten eine diskrete Minderheit, Moslems kannte man kaum, damals.
Manche, aber keinesfalls die Mehrheit, gehörten einer Partei an. Einige waren aktiv, es herrschte ein Klima apathischen Vertrauens in die Institutionen, wenige Mitglieder waren Aktivisten, wie man sie heute kennt. Die breitere Öffentlichkeit stimmte treu im Sog ihrer bevorzugten Partei, ohne deswegen bekennendes und schon gar nicht bezahlendes Mitglied zu sein. Es war eine überblickbare, geordnete Welt, jene der vierziger bis in die sechziger Jahre. Angestellte um die dreissig bemühten sich, nun ihre "Lebensstelle" zu finden. Diese würden sie nun bis zur Rente ausfüllen. Mit etwas Glück nebst Tüchtigkeit würden sie innerhalb der Firma die Karriereleiter aufsteigen, was durchaus bis zum Direktor oder Firmeninhaber sein konnte. Auf jeden Fall wurden alle regelmässig mit der Anpassung ihres Lohnes entsprechend der Firmenentwicklung bedacht.
Die Bedrohung war die Teilung in die kommunistische und in die freie, westliche Welt, wobei wir die ehrlichen Demokraten waren und der Osten ein Riesennest der Diktatur, welche die Geschichte nach Belieben klitterte. Die Invasion in Ungarn 1956, in Prag in den 60er Jahren waren Zeugen davon. Die USA boten derweil dem Kommunismus in Korea wacker die Stirn, und auch heute noch verhindern sie die Annäherung der beiden Teile erfolgreich. Asien ersparten sie einen roten Dominoeffekt, indem sie Vietnam mit einem Teppich von Agent Orange und Napalm belegten.
Eines war klar: wir waren die Guten, dort drüben die Bösen. Und wenn es schief gehen sollte im Kalten Krieg, waren wir überzeugt, können wir auf die Amerikaner und die Nato zählen, wir die neutrale Schweiz! Natürlich hatten wir schon etwas Angst. Aber nur ein bisschen. Nicht wirklich. Dafür waren wir strenge Patrioten: Mit Heinrich Buchbinder, dem Publizisten, und seiner zweiten Frau Claire Müller pflegten die Eltern einen anregenden Kontakt. Raeto und ich waren mit ihrem gleichaltrigen Sohn Urs befreundet. Heinrich Buchbinder zuzuhören war ebenso faszinierend wie unterhaltsam und herzlich hatten wir es alle miteinander. Einmal fuhren wir sogar zusammen mit ihnen in die Ferien: Raetos und mein erster Besuch am Meer, in Catolica – ein zauberhaftes Erlebnis, das seine Fortsetzung in drei Tagen Venedig fand! Doch dann erfuhren wir plötzlich: Buchbinder ist bekennender Trotzkist, und sein sympathischer Freund Kern mit seiner achtzehnjährigen, rothaarigen Frau Kommunist! Von da an verweigerten wir Buchbinders wie Kerns den Gruss, die Freundschaft mit Urs war zerbrochen. Noch heute schäme ich mich des damaligen Kleinmuts!
In diesen Jahren ungebremster wirtschaftlicher Expansion war die Ehe streng traditionell geprägt, auch die meiner Eltern. Eines ist sicher, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und vor allem im Rahmen ihrer Erkenntnisse, wollten sie beide nur das Beste für uns alle Obschon mein Berufswunsch eigentlich Koch war, sah mich Papa bereits als Direktor prestigeträchtiger Hotels, Raeto, der eigentlich gerne Lehrer geworden wäre oder sein handwerkliches Geschick ausgelebt hätte, zeichnete er die Laufbahn eines internationalen Managers vor. Bei mir verwirklichte sich ja seine Vision, bei Raeto teilweise. Dafür, aber vor allem für den Hort den sie uns geboten haben, so wackelig der gefühlsmässig zuweilen war, bin ich und werde Papi und Mami immer dankbar bleiben. Der kritische Blick aus heutiger Zeit tut meiner Haltung in keiner Weise Abbruch:
Papi hatte schon ein paar eigenartige Ansichten. "Ach, weisst du," sagte er mir einmal, als wir auf eine Frau zu sprechen kamen, die gerade etwas ungeschickt gehandelt hatte: "eine Frau muss nicht in erster Linie intelligent sein. Sie muss andere Qualitäten haben."
Wie schon erwähnt, gingen meine Eltern des Abends mit Freunden gerne aus. Sie tanzten gerne und gut. Die Fastnacht war ein Anlass, an welcher die ganze Freundesschar sich kostümiert zu überraschen versuchte, die Nächte waren rauschend und lang. Am folgenden Morgen überraschten uns immer Fastnachtshüte, Masken, Papierschlangen, Rätschen und was es da mehr gab, sodass wir die schlaffen Gesichter unserer Eltern gar nicht wahrnahmen.
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Ein paar Wochen nach meinem dritten Geburtstag beschlossen meine Eltern, mich in ein Kinderheim nach Gaiss zu bringen. Es war mein erster Kontakt mit so vielen anderen Kindern. Bis anhin kannte ich nur Röbi Kleinknecht aus dem vierten Stock und Marianne mit ihrer Schwester Käthi von oben an uns, die Kinder von Höslis, die an der Möhrlistrasse 89 wohnten. Diese neue, ganz andere Umgebung war ein Schock für mich. Mich einzuordnen, fern von zu Hause fiel mir schwer. Das Heimweh von damals gehört zu meinen allerersten Erinnerungen.
Nach etwa drei Wochen holten sie mich nach Hause, wo ich einen Schreihals in meinem Stubenwagen vorfand. “Das sei mein Bruder Reto, den müsse ich ganz fest gern haben. Immer“. Ich hatte von seiner Ankunft nichts gewusst, war noch zu klein, um zu fragen, wo das Ding denn überhaupt hergekommen war und warum. Immerhin schlief es viel, sodass es mich nicht weiter störte und ich gewöhnte mich allmählich daran.
Eigentlich heisst er Reto. In Brasilien, wo er später lebte, war seine Umgebung ob einem solchen Vornamen erstaunt, der dort etwas anderes bedeutet. Deshalb entschied sich mein Bruder, seinen Namen leicht zu verändern in Raeto. Tönt erst noch romanischer als Reto. Ähnlich verfuhren meine Eltern mit seinem Vornamen ja schon zu seiner Geburt. Meine Eltern hatten sich als zweites Kind sehnlichst ein Mädchen gewünscht. Genauso wie sie für mich keinen Mädchennamen ausgesucht hatten, waren sie überfahren, als ein kräftiger, fast vier Kilo schwerer Junge anstelle der erhofften Tochter zur Welt kam. Sie lösten das Problem, indem die Rita einfach zum Reto wurde. Mamma kleidete ihn noch lange in Röckchen, freute sich an seinen Naturlocken, die sie auch dann noch weiter pflegte, als mein Bruder mit gut zwei Jahren dann doch endlich in Hosen gesteckt wurde. Er hat keinen Schaden davon getragen, war sich über sein Geschlecht nie im Zweifel.
„Ihr müsst die besten Freunde der Welt werden und immer bleiben“ war Papas Mantra. Wir freuen uns beide, Raeto und ich, sagen zu dürfen, dass uns das gelungen ist. Eine von Papas Weisheiten, verhalf zu diesem Ziel: bei Schokolade, Desserts und ähnlichem durfte der eine teilen, der andere wählen. Wenngleich der Erstgeborene für Papa eine besondere Bedeutung hatte, zog er keinen von uns beiden vor, behandelte uns immer gleich, „jeder nach seinem Bedürfnis.“ Rivalität oder Neid unter uns haben wir deshalb nie gekannt, Papa und Gott sei Dank!
Weder Mamis Erinnerungen an ihre Grossfamilie, noch jene Papas an sein Heranwachsen als Einzelkind erzeugten in meinen Eltern den Wunsch nach weiteren Kindern. Auch wenn ich heute einem Mehrkinder Haushalt vieles abzugewinnen vermag, sogar bedaure, dass es bei uns zwei Söhnen blieb und auch, dass Margot und ich nie die Vorstellung und den Mut für drei oder mehr Kindern hatten, unsere Kleinfamilie war damals gerade das Richtige für meine Eltern. Meine liebe, aber eher chaotische Mutter stiess mit uns vier schon eh an die Grenzen ihrer organisatorischen Belastbarkeit.
Raeto wurde ein fröhliches Kind, voller lustiger Einfälle. Er hatte auch einen guten Schutzengel, der regelmässig zum Einsatz kam. Einmal, als Raeto, auf dem Weg in den Kindergarten hinter einem jener blau-weissen Pfählel hervorsprang, die damals an den Traminseln standen, direkt vor ein Auto. Kaum in der Schule, rannte er seitlich in einen schnell fahrenden Wagen, der ihn zurück auf die Fahrbahn warf. Ausser ein bisschen Schwindel geschah ihm nichts.
In der Primarschule zogen ihn die Mädchen wesentlich weniger an, als seinen grossen Bruder. Eher schwatzhaft, trennte die Lehrerin die beiden Freunde der gleichen Schulbank und setzte ein Mädchen neben Raeto. Der aber setzte sich quer, hielt sich an der Pultklappe und an der Banklehne, zog die Beine an und stiess die Arme in den Durchgang zwischen den Schulpulten. Er war Notenmässig im Mittelfeld. Aber er zeigte Interesse für den Schulgarten und mit seinem Freund Karl Knop konnte er Stunden in dessen Vaters Schreinerei verbringen und irgend etwas basteln.
Seiner Vision getreu, brachte Papi ihn für die Lehre bei der Übersee Handel AG unter, welche Import und Export mit Japan betrieb. Das war nicht so sein Ding. Nach Lehrabschluss ging er für einen Sprachkurs nach Barcelona, heuerte bei einem prominenten Reisebüro an, wo er über ein Jahr blieb, nicht nur perfekt Spanisch lernte sondern auch Katalanisch. Beides spricht er noch heute! Bei Bata in Frankreich (Lunéville) machte er eine Ausbildung zum Filialleiter, lernte den Detailhandel kennen. Dann aber empfahl ihm Papi sich auf das Inserat bei Nestlé zu bewerben, mit welchem Nachwuchskräfte gesucht wurden, vorzugsweise Universitätsabgänger. Er hatte Glück, er wurde genommen! Der Lehrgang führte ihn im Glacégeschäft nach Spanien, Finland, Deutschland und schliesslich nach Brasilien. Auch Raeto entzog sich der familären Faszination unserer Familie für alles Südliche nicht und blieb dort elf Jahr lang. Er lernte seine Frau Glaucia kennen mit der er zwei Töchter hat. Sie kamen in die Schweiz, wo sich beide als selbständige Übersetzer betätigten. Glaucia ging später schliesslich nach Brasilien zurück. Raetos heutiges Leben beschreibt die folgende Erzählung:
Das Labyrinth der Lichter
In unserer Familie scheinen wir Mühe mit dem Entsorgen zu haben. Es gibt für uns immer etwas, das wir später behandeln, klassieren, neu aufarbeiten wollen oder was weiss ich. Für mich löste ich das Problem, damals als aktiver Hotelier, mit der Schaffung eines „direktorialen Rumtopfs“, in der obersten weil tiefsten Schublade zur Linken meines Schreibtisches. Ganz so, wie man mit jener köstlichen Spirituose verfährt, legte ich immer oben drauf, was da gerade an Lesens- und Studierens-wertem reinkam. Immer wieder oben drauf. Und liess es vor sich hin gären. Mindestens zehn Tage. In einem ruhigeren Moment, die selten waren, bei meiner offenen Bürotür, zog ich den ganzen Stapel raus, und musterte ihn von unten her. Mit Befriedigung stellte ich fest, dass das meiste inzwischen seine Aktualität verloren hatte.
Mein Bruder Raeto bekundet mit dem Entsorgen noch mehr Mühe als ich. Er hat die merkwürdige Gewohnheit, Zeitungsartikel aufzubewahren, die er im Moment nicht zum lesen kommt. So stapeln sich bei ihm Zeitungen, Artikel, Notizen Fotos, Agenden ziemlich wild in seinem Büro, in Schränken, auf den Gestellen und auch auf seinem Schreibtisch. Zeitungen zuweilen sogar bis in sein Wohnzimmer. Von Zeit zu Zeit geht er durch, so viel er vermag, erinnert sich dabei, was er damit dann anstellen wolle, büschelt es etwas neu und verlässt den Raum. Genau diese Verhaltensweise sollte zu seinem Glück verhelfen.
Raeto lebt seit dem Tod seiner Partnerin vor drei Jahren alleine. Von seiner Frau ist er seit langer Zeit geschieden, die beiden Töchter haben beide ihre eigene Familie. Er arbeitet noch immer gelegentlich als Übersetzer. Bücher liest er gerne zweisprachig. Er freut sich über gelungene Wendungen in einer Übersetzung, nimmt fasziniert den Mentalitätsunterschied zweier Sprachen zur Kenntnis.
Er hatte sich einen Zettel an die Wohnungstür geklebt, um die Lesung von Carlos Ruiz Zafon am 4. April in der Kaufleuten nicht zu verpassen: Das Labyrinth der Lichter. Der Schatten des Windes, aber auch der Gefangene des Himmels und weitere Bücher dieses Schriftstellers hatten ihm schon so gut gefallen, dass er Zafon unbedingt begegnen wollte. Raeto beherrscht nämlich nicht nur Spanisch, er spricht auch fliessend Katalanisch. Der katalanische Autor würde sicher mit ihm ein paar Worte wechseln wenn er ihn um eine Widmung in seiner Muttersprache bitten würde.
Tja, das Katalanische, anfangs zwanzig kam er nach Barcelona, erlernte es dort leicht. Verträumt ging er in sein Büro zurück. Mechanisch begann er im Schrank zu wühlen... Oder war das Fotoalbum mit den Geschäftsunterlagen im Estrich oben? Er stieg hinauf, machte sich am grossen Schrank dort zu schaffen, den er lange, lange nicht mehr geöffnet hatte. Tatsächlich: Arbeitspapiere waren dort, Raeto hatte sich unglücklich nach dem obersten Teil gestreckt und alles fiel ihm aus der Hand. Er sammelte alles im Halbdunkel des etwas staubigen Abteils zusammen und ging runter in seine Wohnung.
Unter vielem was heute von keinerlei Interesse war steckte ein Bündel Briefe. Handgeschriebene. Ach, das ist ja Emma! Es überkam ihn warm und freudig bei Ansicht des ersten Fotos, das sie ihm geschenkt hatte und all den Briefen. Sieh mal, sogar der Absender steht noch auf dem Couvert!
Zweiundzwanzig war sie, vierundzwanzig er, als sie sich getrennt hatten: Er ging für Nestlé nach Südamerika. Emma war Raetos erste, richtige Liebe. Aber was soll man da aufeinander warten? Wenn es denn sein musste, würde man wieder zusammenkommen. Jetzt aber sollten und wollten sich doch beide in ihr eigenes Leben stürzen. Beide nahmen es leicht, trennten sich und hörten nach ein paar Monaten nichts mehr von einander. Und jetzt, in diesem Moment, schmolz für Raeto das halbe Jahrhundert zusammen, das seither vergangen war.
Zafons Lesung war wie immer ein Grosserfolg. Der Saal gerammelt voll, fast endlos die Schlangen von Zuhörern, die sich Bücher signieren lassen wollten.
"Bitte signieren Sie folgendermassen: dem Schweizer mit seiner Katalanin Emma“. Amüsiert blickte Zafon von seinem Stuhl auf, als er diese Bitte auf katalanisch vernahm, liess sich trotz der vielen Anstehenden in eine lustige Konversation verwickeln, die mit Lachen und gegenseitigen Wünschen endete.
Zehn Tage vor unserer Abreise nach Paris rief mich Raeto an um mir mitzuteilen, dass er die kommende Woche nicht erreichbar sein würde, da mit der „Singlegruppe“ seiner Pfarrei auf Wanderungen im Jura unterwegs. „Welch eine wunderbare Gegend zum Wandern, habt Spass miteinander und gutes Wetter. Und vergiss nicht: am 1. Mai fährt der TGV von Zürich um 9.34 ab.“
Pflichtbewusst rief er mich am 29.4. an um seine Rückkehr zu vermelden. „ Es gab noch eine Aufregung: in Genf habe ich mein Portemonnaie mit meinen Ausweisen verloren. Verloren oder geklaut. Gott sei Dank habe ich letztere wieder beschaffen können. Wir sehen uns wie abgemacht um 9.10 Uhr am Treffpunkt im Hauptbahnhof.“
Eigenartig, ich wusste gar nicht, dass sich der Jura bis Genf erstreckt, sagte ich mir, mass der Sache keine Bedeutung zu und freute mich auf die gemeinsame Reise.
Raeto ist eine Frohnatur. Aber am Bahnhof traf ich ihn strahlend. „Hat dir sichtlich gut getan, das Wandern im Jura. Wie kamst du dabei nur nach Genf? Ich wusste gar nicht, dass der so lange ist?“
Oh, er ist noch viel länger. Bis nach Barcelona. Ich habe eine ganze Woche mit Emma verbracht! Mit der Widmung von Zafon habe ich ihr aufs Geratewohl geschrieben, zweifelnd, ob die Adresse noch gültig sei, fragend, ob sie sich an mich überhaupt noch erinnere und ob er ihr nach so langer Zeit, ihr überhaupt schreiben dürfe. Emma hatte sich umgehend und freudig gemeldet: Ja, sie wohne noch immer im Hause ihrer Eltern, das sie geerbt hätte. Vierzig Jahre sei sie glücklich verheiratet gewesen. Ihr Mann, ein Ingenieur aus Peru, sei vor fünf Jahren verstorben. Und ja, sie würde sich freuen, Raeto wieder zu sehen.
So hatte mein kleiner Bruder in den vergangenen Monaten zwei artige Wochenende in Barcelona verbracht, Emma wieder gesehen, ihre beiden Söhne kennen gelernt, von denen der eine in London wohnt, und der andere, ein Jurist, in Barcelona. Der Kontakt mit allen drei sei so natürlich gewesen, dass sie beide die letzte Woche verliebt miteinander verbracht hätten und sich beide wundern, wie es wohl weitergehe, in diesem Labyrinth der Lichter.

Grosmami hatte nur Ernst, meinen Vater als Kind, den sie schon aus ihrer beruflichen Belastung heraus liberal erzog. Sie war protestantisch, doch waren religiöse Einflüsse nicht von Belang. Grosmami hatte da ganz andere Sorgen als Alleinerziehende. Sie arbeitete als Sachbearbeiterin oder Sekretärin in der Maschinenfabrik Oerlikon, bis sie in den späten zwanziger Jahren einen etwas älteren Bauunternehmer namens Eugène Meyer heiratete und zu diesem nach Guebwiller, ins Elsass zog. Er besass dort ein einfaches, hübsches Stadthaus, mit einem kleinen Vorhof und grosser Remise, die früher dem Fuhrwerk diente und Jahrzehnte später dann zur Garage umfunktioniert wurde . Quer zum Hof gehörte Eugène ein Haus mit etwa einem Dutzend Wohnungen, alle ohne Bad und Toilette, genauso wie sein eigenes, dreistöckiges Haus. Die Toilettenhäuschen, eines für die Villa, ein zweites für alle Wohnungen, mit je einem Plumpsklo und, etwas daneben, ein kaum abgeschirmtes, gemeinsames Pissoir befanden sich im Hof, angeschmiegt an die Remise. Zum Baden ging man in die öffentliche Badeanstalt.
Dank der Einkünfte aus den Wohnungen führte Eugène Meyer das behagliche Leben eines Rentiers. Doch auch er verstarb kurz vor Ende des 2. Weltkrieges, Grosmami wurde zum zweiten Male Witwe. Der Franc erlitt eine gewaltige Inflation, die Wohnungsmieten wurden staatlich blockiert. Es wäre an der Zeit gewesen, die Wohnungen mit dem nun immer üblicheren sanitären Komfort zu versehen. Doch Geld war keines da. Mein Vater, obwohl Kaufmann, verstand sich nicht im Immobilienbereich, sodass der ganze Besitz en rente viagiaire, in Leibrente mit lebenslangem Wohnrecht für Grosmami in den fünfziger Jahren an einen Schneidermeister verkauft wurde. Der aber verstand auch nichts von Immobilien. Haus und Hof präsentierten sich vor drei Jahren, fast siebzig Jahre nach Grosmamis Tod noch genau gleich, allerdings heruntergekommen und ohne Blumen.
Grosmami blieb im Elsass wohnhaft, kam zwei bis drei Mal im Jahr besuchsweise zu uns für einige Wochen nach Zürich. Zusammen mit Wohnrecht, dem Geld aus dem Hausverkauf und der schweizerischen AHV, erlaubte ihr Papas Zustupf einen bescheidenen Wohlstand. Frankreich akzeptierte damals die Doppelbürgschaft nicht. Ein Entscheid für die französische Nationalität wäre für Grosmami unvorteilhaft gewesen. Wie die Doppelbürgschaft trotzdem möglich wurde weiss niemand. Sie aber trug voller Stolz, Diplomaten gleich, ihre zwei Pässe, den französischen und den schweizerischen bis sie 1958 vierundsiebzigjährig verstarb .
Raeto und ich, besonders aber ich, der aus unerfindlichen Gründen öfter als Raeto dort war, verlebten nach dem Krieg bis Mitte der fünfziger Jahre dort herrliche Ferien! Zu Ostern und ganz besonders im Herbst, zur Zeit der Weinlese. Diese war immer ausgelassen fröhlich. Alle die wollten oder konnten, halfen mit. Geschätzt wurden besonders die jüngeren, kräftigen Helfer, ob Burschen oder Mädchen. Obschon es die Guebwiller Weine nie über lokale Bekanntheit hinaus schafften, duftete dann das ganze Zentrum des Städtchens nach Trauben und vergärendem Rebensaft. Die Neckereien unter den jungen Leuten und die gesamte Fröhlichkeit fanden ihren Höhepunkt im Umzug und Schlussabend mit Tanz. Regelmässig kamen im folgenden Frühsommer ein paar Kinder zur Welt, deren Vaterschaft nie genau festgelegt werden konnte.
Und doch, die Folgen des Krieges waren noch überall zu sehen: Trümmer da, ausgebrannte Häuser dort, abgegrenzte Bombenkrater in der einen oder anderen Strasse. Grosmamis Haus wurde glücklicherweise verschont, so auch die ganze Kirchgasse, mit Ausnahme eines einzigen Gebäudes. Eine Horde von Buben, wenige Mädchen wohnten dort. Wenn wir jeweils angereist kamen, riefen sie durch die Gasse: Les Suisses arrivent! In den Nachkriegsjahren war Frankreich und damit auch das Elsass für uns Ausland, Fremde, Ungewohntes. Anders als alles, was wir in unseren jungen Jahren von zu Hause her kannten. Und wir waren die Fremden für sie. Grenzgänger, also Elsässer die in der Schweiz arbeiten, gab es noch nicht. In Weinbau und Landwirtschaft, Kleingewerbe und auch in den Kaligruben von Schlumberger fanden alle ihr Auskommen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Papa für unsere Besuche in den vierziger Jahren noch ein Visum beantragen musste. Zollübergänge waren lange, das Auto wurde von den Zöllner penibel nach Schmuggelware durchsucht. Bereits schon in Rheinfelden befiel mich jeweils ein mulmiges Gefühl, ob die gestrengen Zollbeamten wohl die paar Tafeln Schokolade, das Pfund Kaffee oder die Raucherwaren entdecken würden, welche die Eltern jeweils als Geschenke für Bekannte und Nachbarn mitführten.
Guebwiller, obschon nur unweit von Colmar oder Strasbourg, hatte selten ausländische Besucher. So waren wir, les Suisses, eine wahre Kuriosität! Mit uns redeten alle Elsässer-Diitsch, und brauchten das Französische nur, wenn wir etwas nicht verstehen sollten. Selten genug, wir schätzten das.
Mit Grosmami gingen wir täglich zum Markt. Sie kaufte ausgesprochen Qualität- und Preisbewusst ein, zeigte mir auf was zu achten sei, und dass man nicht beim erst Besten einkaufe: es gelte, nicht nur die Qualität, sondern auch die Preise zu vergleichen, von einem Stand zum andern. Stand ist zu viel gesagt, denn die Waren wurden in den meisten Fällen auf Blachen und Tüchern ausgebreitet. Es waren allesamt Bauern aus der Umgebung und einige wenige Metzger, die ihre Ware feilhielten. Letztere auf Wagen, versteht sich. Ein paar von ihnen hatten gar dampfende Kessel neben sich, aus welchen Geselchtes frisch gekocht angeboten wurde. Die Bauern verkauften nebst Gemüse und Früchten auch Fladenkäse, der seinem Namen gemäss den ganzen Teller bedeckte und an diesem klebte. Eine Art würziger Münster, zu dem man Kümmel reicht. Sonst heikel und eine feine Köchin, glaubte sie unerschütterlich an Eugènes Maxime, nach welcher Maden im Käse ein Qualitätsmerkmal bilden und erst wenn diese zu springen begännen, Vorsicht geboten sei.
Grosmami verstand es, sich ihr Leben zu verschönern, obschon sie alleine lebte. Oder vielleicht gerade deshalb. Im Hochparterre des Hauses befand sich ein recht düsterer Raum, die Remise. Seinen Wänden entlang verstaubte altes Mobiliar, darin aber glänzten die Reserven von selbst konserviertem Kompott und Konfitüren. Eine Menge alter Bücher und stapelweise Heftchen von Liebesromanen, denen Grossmami sehr zugetan war, fand ich dort beim stöbern. Im ersten Stock war eine eher enge Küche mit einem Holz oder Kohle befeuerten Herd, der den ganzen Tag über zumindest leicht temperiert war. Ein darin eingelassenes bain-marie sorgte dafür, dass ständig warmes Wasser zur Verfügung stand, denn aus der einzigen Leitung im ganzen Hause sprudelte nur kaltes, was zu jener Zeit schon als Komfort empfunden wurde. Um den Tisch, der vier bis sechs Personen Platz bot, fand das Leben zur Hauptsache statt: der Herd wärmte den Raum. Vor allem im noch kühlen Frühling oder im bereits frischen Herbst schätzten wir das. Die Wärme, die dieser Herd verströmte, war eine angenehme. Zumindest in der Erinnerung verspürten wir alle diese viel wohliger als jene der Zentralheizung zu Hause an der Möhrlistrasse, die damals zu fixen Daten ein- oder ausgeschaltet wurde, unbesehen der herrschenden Temperaturen. Das war, glaube ich, der 1. Oktober und der 31. März.
Neben der Küche war das Wohnzimmer ebenfalls mit Holz, respektive Kohle, Koks und Briketts beheizt. Grosmami und selbstverständlich ich während meiner Ferienanwesenheit, schleppten all das aus dem Keller herauf. Auf mein Verlangen steckten in beiden Öfen, in Küche, in der Stube, Äpfel zum braten, die einen wunderbaren Duft verströmten, und köstlich schmeckten, wenn sie dann endlich gar waren.
Doch bleiben wir noch etwas in der Küche. Wenn wir vom Markt heimkehrten, ging's unverzüglich ans rüsten und kochen. Nichts von Mammas Hektik herrschte da, in die sie jedesmal verfiel, wenn sie sich viel zu spät ans ausdenken machte, was wir wohl zu Mittag essen könnten, mich danach zum eiligen Einkauf schickte um dann in einer knappen halben Stunde, doch noch etwas auf den Tisch zu zaubern. Nein. Grosmami hatte spätestens vor dem Marktgang genau im Kopf, was wir essen würden, oder zumindest, an welchem Stand sie sich Inspiration und Waren dazu beschaffen wollte. Sie erfasste dann auch günstige oder verlockende Gelegenheiten, etwa für besondere Fleischstücke mit entsprechend frischen Gewürzen und Zutaten, die sie während mindestens vierundzwanzig Stunden beizte und daraus köstlichen Pfeffer, Schmorbraten oder ähnliches zubereitete. Das schmorte dann gemächlich vor sich hin, duftete im ganzen Haus. Ihr unvergleichliches Kalbsvoressen kommt mir in den Sinn, eingelegt in örtlichem Riesling, nebst anderen Gewürzen mit etwas, was der Sauce eine besondere Rasse verlieh, das ich zuvor noch nie gerochen oder geschmeckt hatte. "Schäschabr" sagte sie und beantwortete damit mein staunendes Fragen. Erst sehr viel später, als Koch, sollte ich den genauen Terminus erfahren: Gingembre, Ingwer, Ginger Zenzero.
Mit Süssspeisen hielt sie es nicht so, vielleicht mal eine Vanille- oder Schokoladencreme, selbstgemacht, versteht sich. Eher selten selbst gebackenen Kuchen infolge der heiklen Backofen-Temperaturen im Holzofen, und dann eben, meine Bratäpfel, lediglich gezuckert und mit ein paar Rosinen. Mir ist, als hätte ich meinen Geruchs- und Geschmacksinn erst im Elsass bei Grosmami wirklich entdeckt. Oder dann, wenn sie bei uns in Zürich weilte und, verzweifelt über das Fehlen jeglicher kulinarischer Sensibilität ihrer Schwiegertochter, sich selbst ans kochen machte. Dann wurde - aber nur in etwa - meinem Gaumen geschmeichelt wie bei und von ihr im Elsass. Nicht nur fehlten an der Möhrlistrasse die entsprechenden Zutaten und Gewürze, nein. So schön unsere komfortable, grosse 4 ½ Zimmerwohnung mit Berlinerzimmer auch war: Die Wärme, die dort herrschte entsprach in keiner Weise jener des Holzherdes und -öfen von Guebwiller. Darüber hinaus spielte dort Grosmamis Radio von früh bis spät deutsche Schlager und Schnulzen. Zusammen mit billigen Liebesromanen, eröffnete mir das als etwa Zwölfjährigem eine Gefühlswelt, die ich in der zwar oft lustigen, aber gefühlsmässig dürren Atmosphäre zu Hause nicht einmal vermuten hätte können. Auf diese Weise verging die Zeit im Nu, aber auch in der Küche, wo ich Grosmami beim rüsten half und ihr beim kochen über die Schulter sah! Als ich mit elf aus den Herbstferien nach Zürich zurück kam, stand mein Berufswunsch fest: Ich werde Koch!
Derweil spielten die Elsässer Buben mit Vorliebe Militär. Die glorieuse armée française mit entsprechenden Fahnen und Wimpeln war Leitmotiv. Dumm war nur, dass wir zwei Schweizer Söldner, 1-2 Jahre älter als das gros der dortigen armée, deren Feinde spielen mussten und so recht wenig zu weiterer Gloire verhalfen. mit solchen Spielen kamen wir den Folgen des Krieges näher, als wenn wir nie die Schweiz verlassen hätten. Ein erster Hinweis, wie sehr das Reisen die Jugend bildet.
Der nächste Bildungsschritt war ein unmittelbarer, weihte dieser meinen Bruder und mich doch in eine französische Eigenart ein, über die in der Schweiz nur getuschelt wurde: Das Verhältnis der Franzosen zum Sex. Die beiden grösseren Mädchen, etwa gleich alt wie Reto und ich, spielten in der glorieuse armée française der Kirchgasse nur eine untergeordnete Rolle. Sie kompensierten diesen Makel, indem sie ihre Strassenkameraden et les deux Suisses mit den Besonderheiten des anderen Geschlechts vertraut machten. Dabei erwiesen sie sich als bereitwillige petites expertes in der Materie. Charles, der unternehmungslustigste unter unseren französischen Freunden, demonstrierte mit ihnen stolz, was sich da alles so machen liess, sekundiert vom Rest der glorieuse armée. Das alles fand in einem der zahlreichen Hinterhöfe statt. Die Praxisorientierte Aufklärung endete, wenn Charles von seiner Mutter mit ihrer kräftigen Stimme nach Hause gerufen wurde: "Schärele! - Schärele!" Weder war es dem Schärele in dieser Situation möglich, zurückzurufen und im übrigen zögerte er mit dem Aufhören. Er beendete unsere Lebenseinführung erst, als Mutters Stimme noch kräftiger über die Dächer tönte: "Schärele, khumm sofort uuufe, oder bekimsch uff de Ooorsch!" Immerhin vermittelte mir Schärele einen Wissensvorsprung, den ich an Marianne in Zürich, meiner gleichaltrigen Nachbarin vom Stockwerk über uns, nach meiner Rückkehr gleich auszuprobieren gewillt war, wie ich freudig erregt registrierte.
Grosmami hatte verschiedene Geschwister, von denen wir aber nur den herzensguten Onkel Robi kannten und seine ebenso liebe Frau Berta. Sie wohnten in Zürich an der Nordstrasse. Deren Tochter Gretli, zwölf Jahre älter als ich, mit praktischem Sinn und gesundem Menschenverstand, kam uns oft hüten, sehr zur Freude meiner Mutter. Auch mein Bruder Raeto und ich mochten sie, sodass wir einen wenn auch losen, so doch immer herzlichen Kontakt mit ihr bis zu ihrem Tode hielten.
Bei Onkel Robi und Tante Berta lebte mein Urgrossvater. Er war ein gross gewachsener Mann mit schlohweissen Haaren. Ich habe nur vage Erinnerungen an ihn. Etwa, dass er oft unsere Gemüsebeete pflegen kam, die man auch im Miethaus in dem wir wohnten, der Anbauschlacht der Kriegsjahre gemäss, anlegen musste.

Er war der Patriarch einer zwölfköpfigen Familie, Vater von neun Töchtern und drei Söhnen. Als Bahnhofsvorstand von Chur war er ein geachteter Beamter in der Stadt. Weitere vier Schwangerschaften seiner Frau resultierten als Fehlgeburten. Leider verstarb er bereits, als meine Mutter, die zweitjüngste Tochter erst neun war, 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation.
Mami hatte nur schwache Erinnerungen an ihren Vater, nämlich, dass er lieber mit seinen Kollegen beim Jassen als in der Familie weilte.
Als ganz kleiner Junge, während den Kriegsjahren, weilte ich öfters in Chur, bei meinen Tanten, die im Hause verblieben waren. Es waren dies die älteste, Hedwig, meine Patin Ludwine, die drittjüngste Agnes, die dann später, knapp über 40, doch noch heiratete. Bis ca. 1952, war auch noch Grossmutter da. Ich hatte keine enge Beziehung zu ihr, sie zu mir auch nicht. Das schien aber ihre Art zu sein. Von meinen Cousinen Sonja und Lotti weiss ich, dass sie in der Familie Naeff als Schwiegertochter nicht willkommen war. Ob der Grund dafür die Mussheirat oder materiell war, weiss niemand. Damit nach dem Tod ihres Gatten, von dem sie eine kleine Pension hatte, wieder Geld rein kam, eröffnete sie ein Vorhanggeschäft. Die Erziehung der Kinder überliess sie weitgehend ihrer ältesten, der Hedwig, die zu jenem Zeitpunkt schliesslich ja schon 18 war. Wenn Grossmutter nicht im Laden war, der ebenerdig, ohne Schaufenster, zur Hofstrasse hinaus ging, reiste sie durch den Kanton, vorzugsweise nach Arosa, um in Hotels und Pensionen ihre Ware feil zu halten. Das tat sie offenbar mit Erfolg, denn im Hotel Anita bot sie ihre jüngste an, die 15 jährige Alice, um nach den Söhnen der Besitzer Caduff zu sehen, die damals 10 und 12 waren. Doch Kinder aus dem Gastgewerbe werden schnell selbständig und selbstsicher. Alice jedenfalls hatten die beiden Buben dermassen erschreckt, dass sie bald wieder zu Hause war. In den achtziger Jahren in Arosa tätig, war ich mit einem ebendieser Söhne befreundet. Sein Sohn Beat ist ein hochtalentierter Koch und Weinkenner, Patron der gleichnamigen Wineloft in Zürich.
Zum 80 Geburtstag meiner Grossmutter, anfangs der 50er Jahre, überreichte ihr der Churer Stadtpräsident persönlich Blumen. Die Presse brachte er sogar mit und eine Fotografin, um dem damals noch eher seltenen Jubiläum die angebrachte Publizität zu verleihen. Heute ist das nicht mehr so. Wir (bald) Achtzigjährigen würden eine solche Geste schon gar nicht mehr verstehen: Zu einem solch runden Geburtstag sind viele von uns auf einer Kreuzfahrt oder jetten grad nach Indien oder sonst wohin um die Welt. Wieviel mehr Leben haben wir in den Jahren gewonnen!
Doch zurück zu Alice. Immerhin hatten die paar Tage genügt, um Alice mit dem Hotelvirus anzustecken. Sie wurde Serviertochter, war hübsch, fröhlich und sang wunderschön. Was Wunder, dass sie es sehr viel später zur lokalen Bekanntheit in Zürich brachte. In der Ehe hatte sie leider kein Glück. Sie heiratete einen Architekten, der dem Alkohol verfiel. Trotz der beiden Töchter Lotti und Sonja kam es zur Scheidung. Das Schuldprinzip beherrschte die Rechtsprechung. Ohne Schuld keine Scheidung. So waren jene, die sich doch einmal geliebt hatten, zu schlimmsten Anschuldigungen verdammt. Nur Hass erlaubte die Auflösung der ehelichen Bande, mit entsprechender Langzeitwirkung auf die Kinder, die Verwandtschaft, auf freundschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen.
Was aus den Tanten und Onkeln wurde? Lydia emigrierte nach New York, wo bereits die mittlere Kathy lebte, die früh an Krebs starb, ohne je die Schweiz wiederzusehen. Bruder Lukas eröffnete ein Coiffeur Geschäft in White Plains, NY. Annie zog es nach Kanada. Sie heiratete dort den Schaffhauser Ernst Büntner. Die beiden hatten einen Sohn, Ernie. Ausser der früh verstorbenen Kathy kamen sie alle fast jährlich zu Besuch, als sie in Rente waren. Wir pflegten über Jahre Kontakt miteinander. Dann verstarb Lukas, Annie und Ernest wurden älter, die Erzählungen beschränkten sich auf das Alltägliche im Haus, auf die zunehmenden Gebresten und blieben schliesslich ganz aus. Von ihrer, wie auch von unserer Seite. Lydia hingegen genoss ein grosszügiges Alter an der Hofstrasse in Chur, dank amerikanischer Rente, mit einem US$ zu Fr. 4.15.
Der älteste Sohn, Emil, heiratete nach Bellinzona, arbeitete in den Ufficine CFF. Drei Söhne hatte er zusammen mit seiner Frau Josi. Joseph, ihr ältester, zog nach Genf, wo er bei der damaligen PTT Telefontechniker wurde. Der zweite, Beni, arbeitete in Zürich, kehrte aufs Alter ins Tessin zurück. Der jüngste schliesslich von Josi und Emil war der besondere Stolz seiner Eltern, wurde er doch Beamter bei der kantonalen Fahrzeugkontrolle und war auch politisch aktiv. Im Ticino gab es damals, nebst jener des „avvocato,“ zwei prestigeträchtige, erstrebenswerte Positionen: Beamter oder Bankangestellter. Die dunkle Seite der Eltern von Emil jr war, dass ihnen ihre Schwiegertochter zu wenig war, denn sie stammte aus ebenso einfachen Verhältnissen wie die beiden selbst. Darüber halfen weder ihr gewinnendes Wesen, ihre Intelligenz noch die reizenden beiden Enkel hinweg. "Sie hat ihn reingelegt," beklagte sich Josi bei meiner Mutter, als sich der erste Enkel schon vor der Ehe des Sohnes ankündigte, "denn sie wollte unbedingt einen Beamten." Ein langes, langes Leben lang, härmten die beiden damit. Die Schwiegermutter starb erst mit 101 Jahren...
Schwester Klara, die lieb ergebene, wurde Köchin in herrschaftlichen Haushalten, blieb schliesslich an jenem prominenten in der Germaniastrasse bis zu ihrer Pensionierung. Man sagte während ihren aktiven Jahren, dass der beste Tisch Zürichs in ebendiesem Haushalt geboten wurde. Ihr etwas älterer Arbeitgeber meinte scherzhaft, dass sie ihm auch im Paradies noch ihre Köstlichkeiten zubereiten müsse, was sie jeweils vehement ablehnte. Sie freue sich auf ein freies, hoffentlich sorgloses Alter und dass sie dann zumal ihren Kochlöffel ein für allemal beiseite legen könne! Ihr Patron beschwichtigte sie, da gebe es nichts zu befürchten, denn er hätte für ihr Alter gesorgt. Seine Witwe sah das dann allerdings anders: sie brachte es fertig, das Testament vollständig zu ihren Gunsten und zu Lasten der beiden Hausangestellten abzuändern. Zurück im Elternhaus in Chur verfiel Klara leider kurz danach in geistige Umnachtung. Sie starb etwa ein Jahr nach ihrer Hospitalisierung in der psychiatrischen Klinik Waldheim.
Meine Patin Ludwine arbeitete 44 Jahre für den Globus. Mit einer Verkäuferinnen Lehre hatte sie begonnen und sich über die Jahre zur Rayon-Chefin hochgearbeitet. Entsprechend passend wählte sie jedesmal das Geburtstagsgeschenk für ihren Göttibuben aus. Gerne erinnere ich mich daran, wie mich Hector Mallots "Heimatlos" in Rührung brachte. Wie stolz ich auf das elegante Schul-Etui war, auf den "Thek", für die erste, dann für die Ledermappe beim Übertritt in die vierte Klasse, und wie ich mich später an schönen Hemden mit tollen Manschettenknöpfen und Krawatten freute.
Hoch geschätzt war sie: Als sie ihr 40jähriges Jubiläum feierte, war der ganze Globus Chur beflaggt! Das waren noch Zeiten, als Mitarbeiter so geehrt wurden, als alle eine Lebensstelle anstrebten und die meisten von ihnen diese auch einbehielten. Die Vorgesetzten fühlten sich ihren "Untergebenen", wie sie damals hiessen, verpflichtet und bildeten eine Einheit mit ihnen, streng hierarchisch getrennt, versteht sich.
Als Onkel Arthur habe ich ich als einsamen Menschen in Erinnerung, der seinen Weg nicht gefunden hatte. Ausgebildet an der Verkehrsschule St. Gallen, kam er in den tollen Zwanzigerjahren zur Berliner Vertretung der Schweizerischen Verkehrszentrale, wie Swiss Tourism damals hiess. Ein rauschendes Leben habe er dort geführt, fast mit dem Smoking als wichtigster Kleidung. Doch in den Krisenjahren ab 1929 wurde abgebaut. Onkel Arthur führte nun das glanzlose Leben eines untergeordneten Stationsbeamten bei der SBB im Zürcher Bahnhof, mit einer Entlohnung, welche den Aufbau einer Familie nur schlecht erlaubt hätte, schon gar nicht, bei seinen mondänen Erinnerungen. Während Jahrzehnten versuchte er sich glücklos in Vertretungen, diesen und jenen Jobs, bis er sich schliesslich Mitte der Fünfzigerjahre unweit von uns erschoss.

Die Erkenntnis machte sich in mir breit, dass das Leben kein einfaches sein würde. So behalf ich mir ebenfalls mit Notlügen. Bei gelegentlichen Streitereien mit den Grösseren auf dem Heimweg warnte ich sie: "Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, sag ich's meinem grossen Bruder und der prügelt dich dann ordentlich durch!" Es funktionierte. Doch wie funktioniert das mit der Wahrheit? Diese Frage würde mich ein Leben lang beschäftigen. Zumindest zeitweilig.

Die Schule gefiel mir. Der Setzkasten faszinierte mich: die Freude an Buchstaben und Worten klingt bis heute in mir nach! Die Schreibübungen fand ich spannend, mit dem Rechnen kam ich ordentlich zu Recht. Alles ging eigentlich gut, bis wir mit Tinte zu schreiben begannen. Die Generationen, welche nach uns mit dem Kugelschreiber aufgewachsen sind und erst recht die heutige, die nur noch auf Laptop, i-pad und wie das alles heisst tippen, können sich weder Mühen noch Qualen vorstellen, denen eher ungeschickte oder gar schusslige Schüler wie ich ausgesetzt waren. Zappelphilipp hiessen wir damals, nicht ADHS Kinder. Schönschreiben war damals noch eine wichtige Note im Zeugnis.
Oben rechts an unserem Schreibpult war ein solider Glasbehälter unter einem Schieber eingelassen, wo wöchentlich Tinte nachgefüllt wurde. Jedes Kind besass eine hölzerne Federschachtel, unterteilt in ein Fach für den Kiel und ein kleineres für die Federn. So verhasst mir die Schreibübungen nun wurden, wie alle andern war ich stolz, eine möglichst umfassende Sammlung von Federn zu besitzen: Es gab solche verschiedener Längen, Breiten, je nach gewünschtem Schriftbild. Als wir geübter wurden, gab's einen Aufsatz auf die Feder, welche fürs erste die Tinte, später dann die Tusche zurückhielt und das Eintauchen der Federn nach jedem zweiten Wort auf fast einen Abschnitt hinaus zögerte. Allerdings, wenn der Aufsatz übervoll war oder wir die Feder etwas schief hielten, rann ein zünftiger "Tolggen" aufs Schreibblatt. Das war bei mir oft der Fall, sodass ich ziemlich schnell in den Ruf eines Schmierfinks kam. Diese Phase empfinde ich noch heute als ersten Bruch in meiner Laufbahn. Dieser Ruf als Schusseliger drückte mich. Ich vergass das Übel jedoch schnell, wenn wir in den Pausen aus einem Abstand von etwa 2-3 m die Federn gegen eine Mauer warfen. Die Regeln, glaube ich mich zu erinnern, dass man möglichst nahe an die erste, grosse Feder mit Aufsatz gelangen musste, um die zurückliegenden dank der eigenen, näher geworfenen, einheimsen zu können. Ähnlich wie beim Boccia oder im Winter, beim Curling, aber weniger mühsam.
Ansonsten waren mir die Spiele der Buben auf dem Pausenplatz zu wild: sie rannten, schrien herum, machten "Fangis", da und dort kam es zu Prügeleien, wenn auch eher zu freundschaftlichen. Von allem Anfang an gefiel es mir bei den Mädchen besser, die sich mit artigen Spielen vergnügten, beim einen oder anderen dazu sangen. Ich war zu schüchtern sie zu fragen, ob ich bei ihnen mitmachen dürfe. In jener Zeit hätten sie wohl kaum ja gesagt. Meines war deshalb ganz klar ein Aussenseiter-Dasein, das damals nicht ausgelebt werden durfte. So war mir weder mit den Buben noch mit den Mädchen richtig wohl. Die ersten waren mir zu aufdringlich. Die zweiten zu fern.
Auf dem ersten Schulfoto, welches damals alle drei Jahre regelmässig und von jeder Klasse aufgenommen wurde, erkennen meine Frau Margot und ich leider nicht mehr alle Gesichter. Wir hatten die erste bis dritte, und die ersten zwei Sekundarschuljahre miteinander absolviert. Damals wusste jedes vom anderen wer er/sie war, wo man wohnte. Näher befreundet waren wir nicht. Doch davon später.
Auf dem Schulweg war es besser: Mit Albert Renz von der Winterthurerstrasse, Ueli Vonwil, der ganz oben an der Frohburgstrasse wohnte, mit Marianne Heusser aus dem gleichen Haus wie ich und noch zwei drei andern plauderten wir alle so angeregt, dass wir die Länge des Schulwegs vergassen. So reklamierte Mami ziemlich oft über mein spätes Eintreffen zum Mittagessen. Mein Einwand, dass wir trotzdem wichtige Argumente nicht ausführlich genug behandeln konnten, schlug sie jeweils verärgert in den Wind. Das wiederum ärgerte mich. Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Schliesslich fand die Entdeckung des Lebens für mich zu einem grossen Teil auf dem Schulweg statt, in jener Zeit, als es undenkbar war, dass uns jemand "von den Grossen" in die Schule begleitet und erst recht gefahren hätte! Möglich wäre letzteres ja gewesen, da Papa, der schon immer ein Auto fuhr, zum Mittagessen tagtäglich zu Hause war und erst auf 14 Uhr wieder ins Büro zurück kehrte: 8-12, 14-18 Uhr war damals die Arbeitszeit, auch am Samstag arbeitete er wie jedermann bis 12 Uhr.
Albert Renz war für mich ein Body-Guard, lange bevor man solches Schutzpersonal überhaupt kannte: Ich war zart, eher ängstlich und – darob schämte ich mich zwar - auch recht weinerlich. Kunststück, dass ich leicht zur Zielscheibe der raueren Fraktion unserer Kameraden wurde. Albert war immer zur Stelle, wenn ich in Bedrängnis geriet. Wehe dem, der mich gebodigt hatte und auf mir hockte!
1952: Wechsel ins Turnerschulhaus, erste Trennung von meinen Schulfreunden, der Verlust eines noch zarten, aber doch real existierenden Geflechts. So einschneidend ich es empfand, bald hatte ich neue Freunde gefunden. Vor allem, Peter Meier und Edition Breslau waren mit mir zusammen in die Klasse von Lehrer Otto Buchschacher eingeteilt worden. Das half. Wenigstens war nicht alles neu!
Otto Buchschacher erfuhr nicht die Anerkennung der Klasse, die ich ihm gegönnt hätte: Er war unzufrieden mit seinem Beruf und sagte es auch offen: "Werdet nur nicht Lehrer!" und hin und wieder "Ach mir ist verleidet, das!" Ohne offensichtlichen Grund. Ich erinnere mich, dass er sogar einmal einen Karton mit den Wasserschälchen, die wir fürs Aquarellieren brauchten, zornig auf den Boden schmiss. Ob es deshalb war, dass ich mich ihm näher fühlte, als dem ausgeglichenen Herrn Schoch? Herrn Schochs Erregungen waren einzig und allein an seinem hochroten Kopf mit Glatze zu erkennen. „Olibuli“, wie wir Herrn Buchschacher nannten, begeisterte uns für die Kartonage, er hatte auch fröhliche Zeiten und wenn im drum war, befahl er: "So, und jetzt erzählt uns der Thommen einen Witz". Ich hatte ein ganzes Arsenal davon, welches meine Tanten aus Chur mit lustigen, erzählbaren, regelmässig belieferten. Die "gruusigen", aus anderen Quellen, die erzählten wir Buben uns untereinander.
Karl Frei hatte Albert Renz als Freund ersetzt, der nun in ein anderes Schulhaus einteilt worden war. Karl war ein gefitzter Junge, mit reger Fantasie. Er stammte aus einer sehr einfachen Familie. Seine Ausreden, weshalb er nicht an der Schulreise teilnehmen konnte, erstaunten uns. Erst Jahre später erzählte er mir, dass er jeweils nicht teilnehmen konnte, weil der bescheidene Betrag, den wir beizusteuern hatten, in der Familie einfach nicht vorhanden war. Karl war bei uns zu Hause gerne gesehen und ich auch bei seiner Familie. Es erstaunt mich heute, dass ich rein gar nichts von ihrer Bedürftigkeit bemerkt hatte.
Später war er in diversen Metiers tätig, unter anderen recht erfolgreich mit Tankreinigungen. Plötzlich trat er hoch elegant auf, als diverse Frauen für ihn arbeiteten. Er verstarb früh, wenn ich mich recht erinnere, wurde er kaum fünfzig.
In jenen Jahren freundete ich mich auch mit Edi Breslau enger an. Seit seine Familie von der Röthel- an die Goldauerstrasse umgezogen war, teilten wir uns den Schulweg, vor allem wenn wir zum Turnen in die Turnhalle an die Stapferstrasse mussten. Über die Familie Breslau kam ich erstmals mit Juden in Kontakt. Edi besass Bücher, die ich in meiner Familie kaum vorfand. Ich erinnere mich an jenes des Mikrobiologen Paul de Kruif, an ein Kunstbuch über die Etrusker und viele andere, die mich ebenso beeindruckten und erst mal überforderten, später dann doch meine Neugierde weckten. Edi selbst wurde musikalisch mit einer Violine gefördert. Hin und wieder schien mir, dass es mehr Folterung als Förderung war und leider erinnere ich mich nicht, dass ein diesbezügliches Talent zu Blüte gekommen wäre. Seine Familie war liberal, lebte ihren Glauben ebenso überzeugt wie diskret. Freitag abends, wenn die Chanuka auf der wunderschönen Louis XV Kommode entzündet wurde und damit der Sabbat begann, war es für mich immer Zeit zu gehen. Dann blieb die Familie unter sich. Die Aussage von Mutter Breslau, dass sie immer danach strebte, eine gute Jüdin zu sein, rührt mich noch heute.
Edis Eltern, sehr frankophil, gehörten zu den damals noch seltenen Schweizern, die nach Frankreich zu den berühmten Köchen pilgerten. Solche waren damals noch nicht so zahlreich wie in unseren Tagen. Dafür aber bildeten die Restaurants welche die damaligen Gourmets aufsuchten, wie Fernand Point in Vienne, Mère Blanc in Vonnas, Haeberlin in Illhäusern und weitere wahre kulinarische Sanktuarien. Die Familie Breslau hat mich dauerhaft beeindruckt. Schade, dass wir uns ab meiner Lehrzeit für immer aus den Augen verloren.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an den latenten Antisemitismus, der damals auch in unserer Familie herrschte. Tante Klara brachte Kinderbücher der bereits erwachsenen Söhne der Familie mit, für die sie arbeitete: Es waren Kinder- und Schulbücher aus dem dritten Reich, die den Führer glorifizierten. Genau wie wir im Katechismus lernten: "Wer ist Jesus Christus? Jesus Christus ist der eingeborene Sohn unseres Herrn" stand dort geschrieben: "Wer ist unser Führer? Unser Führer ist Adolf Hitler"usw, usw. Unsere Tante brachte diese mit, ohne sie selbst gelesen zu haben. Vermutlich fand sie die Illustration hübsch. Ich erinnere mich nicht an konkrete Sprüche, wohl aber an unbedachte Aussagen antisemitischem Gehalts meiner Eltern. Auf eine Frage meines Bruders, damals noch ein Kind, antwortete meine Mutter: "Ja die Juden, das sind doch die, die unseren Herrgott ans Kreuz genagelt haben..."
Wenn ich mich heute frage, was an diesen Schuljahren zwischen der vierten und sechsten Klasse besonders war, woran ich mich speziell erinnere, ist es vielleicht der Schulsylvester, zu welchem Hugo Beutler und ich konzertant beitrugen: Er spielte Violine, ich sang dazu. Irgend einen deutschen Schlager. Aber wir hatten beide Spass daran, zur Unterhaltung beizutragen. Und noch etwas: Vera Zehnder hatte so schöne Zähne, wie ich sie später nie mehr sehen würde. Und war hübsch. Und sympathisch.

Das Gymi kam für mich nie in Frage. Mein Vater war vom Wert der praktischen Ausbildung viel zu sehr überzeugt, als dass er erlaubt hätte, zusätzliche Jahre mit Dingen zu vergeuden, die man im echten Leben eh nie brauchen könne. Lesen, Schreiben, Rechnen, RECHNEN! und natürlich Sprachen, das waren die Dinge, in denen er von uns beiden Leistung erwartete. "Eine Matura? Wofür? Ich seh sie doch, die Maturanden, wenn zu uns ins Praktikum kommen. Nicht einmal das Papier vermögen die in die Schreibmaschine einzuspannen, geschweige denn einen Brief korrekt abzufassen. Denen sind unsere Lehrlinge doch weit überlegen! Die Praktiker sind's, die die Welt vorwärts bringen!"
Da konnte mein Freund in der "Sek", Walter Leimbacher, der später an der ETH Zürich Forstingenieur wurde, lange faseln, dass Praxis sich am erfolgreichsten auf Theorie aufbaue. Nie hätte er mich zu überzeugen vermocht. Obschon die Karriere meines Vaters gerade mal im mittleren Management der BP ihre Erfüllung fand, waren für mich seine Worte, sein Beispiel allein massgebend: Er hatte ein überzeugendes Auftreten, nicht zuletzt dank seiner Sprachgewandtheit in Deutsch, Englisch und Französisch. Er kannte die Welt von seinen Aufenthalten in jungen Jahren an der Swiss Mercantile School in London, seiner beruflichen Tätigkeit in Monte-Carlo und Algier. Ihm hatte man den Aufbau der Abteilung für chemisch-technische Produkte in der BP anvertraut, ihn schickten sie mehrmals im Jahr nach London, Paris, Hamburg zu Besprechungen und Konferenzen!
Mein feststehender Berufswunsch als Koch bei Eintritt in die Sekundarschule hatte den fatalen Einfluss, dass ich mich nur noch in jenen Fächern anstrengte, die mir für mein berufliches Fortkommen nützlich schienen und/oder mir Spass bereiteten. Das war zuerst einmal Französisch, die Sprache der (gehobenen) Küche, Deutsch gefiel mir sowieso, Literatur in beiden Sprachen, Geschichte, Geographie soweit es Frankreich betraf. In diesen Fächern fiel mir die Anstrengung leicht. Dann ging es übers Rechnen mühsamer weiter, wobei mir Drei- und Vielsatzrechnungen noch ganz gut gefielen und sogar am Wurzelziehen fand ich meinen Spass. Doch dann, bei Algebra ging gar nichts mehr und meine letzte Note in Geometrie war eine 2 (von 6). Auch heute noch bin ich des abstrakten Denkens völlig unfähig.
So bevorzugte ich den Klassenlehrer meiner Lieblingsfächer, Heinrich Brütsch.
Herrn Küstahler mochte ich weniger. Er war dazu verdammt, uns in die naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer einzuführen, die damals noch bescheidener als heutzutage benannt wurden: Arithmetik, Naturkunde Geometrie, technisches Zeichnen. Beide Herren standen kurz vor der Pensionierung. "Henri" wie Brütsch von der ganzen Klasse genannt wurde, welche geschlossen Französisch hasste, war ein etwas untersetzter, kräftiger Mann mit Autorität. "Küschi", ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und kränklichem Aussehen, hatte es schwer. Mehr als einmal holte er seinen Freund und Kollegen "Heiri" rüber um Ordnung zu schaffen, wenn wir es wieder einmal zu bunt trieben. Begeisterung war dem armen "Küschi" völlig fremd. In der Geographie kam er nie über Aegyptens Nildelta hinaus. In heissen Tagen schmorten wir förmlich in der Wüste dort, die Illustration mit vergilbten schwarz-weiss Lichtbildern half auch nicht weiter und alle schmachteten wir der Pause wie einer Fata Morgana entgegen. Entkräftet gab "Küschi" dann von sich: "Ob Ihr etwas lernt oder nicht, hängt nur von euch ab. Mir ist das völlig egal. Ich werde Ende dieses Zyklus so oder so pensioniert." Das klang für uns nicht sehr ermutigend. Der schleppende Verlauf seiner Schulstunden hätte hingegen als überzeugendes Beispiel zur Einführung in Einsteins Relativitätstheorie dienen können.
Das Erlernen der Nasallaute im Französischen insbesondere, und die Aussprache im allgemeinen, forderte von uns allen Überwindung. Es war so ungewohnt, so fremd. Jenen, die keine Affinität zu dieser Sprache empfanden, schienen diese Übungen blöd und nutzlos. "Henri" liess sich von den Unwilligen nicht entmutigen: wer fürs -en, -in, -on den Schnabel nicht genug aufriss, dem steckte er die Equerre in den Mund. Jedenfalls brachte er ganz passable Resultate mit uns zu Stande. Ich darf von mir sagen, dass ich dank meiner Begeisterung und Neugierde auf alles französische der Beste der Klasse in diesem Fach war. (Aber nur dort.) Ich entwickelte damals meinen Hang zur Grammatik in allen Sprachen, die ich erlernte und noch heute erlerne. Und trotzdem: zu einem Logiker habe ich mich nie entwickelt.
Natürlich halfen Privatstunden, die ich bei Frau Stahel nehmen durfte. Ihren Ursprung hatten diese eigentlich im Rechnen, nachdem ich an der Aufnahmeprüfung für die katholische Sekundarschule durchgesegelt war. Für eine ganze Weile führte Frau Stahel diese beiden Fächer, Arithmetik und Französisch, mit mir weiter. Später noch zusätzlich mit Englisch. Selbst während der Kochlehre kam ich einmal wöchentlich zu Frau Stahel und repetierte die Englisch Lektionen von einer Stunde zur andern.
Meinen Eltern bin ich für diese Möglichkeit sehr dankbar. Frau Stahel war eine gebildete Dame, die in verschiedensten Dingen stimulierenden Einfluss auf mich hatte. Bei einem meiner ersten Besuche bei ihr machte sie mich auf meine schwarz geränderten Fingernägel aufmerksam und meinte, dass das nicht eben gentleman like sei. Womit ein jahrelanger Kampf von Mami mit mir ein augenblickliches und definitives Ende fand.
Wir waren eine gute Klasse in der Sek, Burschen wie Mädchen. Wir hatten unter uns allen einen sehr netten Zusammenhalt. Im Winter trafen wir uns auf dem Dolder zum Schlittschuhlaufen - bewunderten Dorli Dahinden - die eleganteste unserer jungen Damen - wenn sie ihre Schlittschuhstunden nahm, spielten "Fangis", was uns erlaubte, nach unseren heimlich verehrten werdenden Fräuleins zu haschen, Runden mit ihnen an der Hand zu drehen. Im Sommer unternahmen wir gemeinsam und über Klassen hinweg Ausflüge auf den Üetliberg nach Baldern, auf den Käfer- oder Hönggerberg, schwärmten zusammen von Oper, Schauspiel und natürlich von deren Interpreten und Darstellern, skizzierten unsere noch vagen Zukunftspläne. Welch glückliche Zeit!
Der Inhalt der Bücher, die wir damals nicht lasen, sondern geradezu verschlangen, förderte den Austausch unter uns bei diesen Treffen und Ausflügen enorm. Natürlich hatte der Inhalt erstrangige Wichtigkeit. Erst in zweiter Linie staunten wir über die Fähigkeit der Verfasser, Situationen und Stimmungen wiederzugeben. Walter Scotts Ritter Erzählungen, Cronins Schilderungen aus dem Ärzte Milieu, oder Lew Wallace Ben Hur sind nur ein paar Erinnerungen daran. Walter Leimbach und ich steckten dauernd in der Pestalozzianum Bibliothek, die sich im hübschen Gebäude des Beckenhofs befand: Welch eine Schatztruhe! Ich erinnere mich noch, wie sehr mich der dicke Band, Erzählung mehr als eine genaue Biographie, über Meister Ekkehard beeindruckt hatte. Eher überheblich reagierten wir auf Erwähnungen von Karl May oder Hector Mallots Heimatlos: das waren doch Schriften aus der Primarschule! Sehr genau erinnere ich mich noch an Besorgnis und Ärger unserer Eltern über unseren ständigen Rückzug hinter die Bücher. Insbesondere bei Sonnenschein wurde das Stubenhocken mit einem Buch kaum geduldet! Nicht viel anders als heute, wenn sich Eltern über das ständige "töggelen" an Laptop und Handy ärgern...
Damals wurde der Schul-Sylvester noch gestaltet und gefeiert. In jeder Klasse bildeten sich selbständig Gruppen, die irgend eine Darbietung erarbeiteten: Sketches, Musikalisches, Schwänke, welche zumeist von Madeleine ausgesucht und den Mitwirkenden dann zur Auswahl gegeben wurde. Es gefiel mir, darin eine aktive Rolle wahrzunehmen. Für die Bühne wurden im Schulzimmer ein Draht gespannt und einige möglichst gleichfarbige Tücher so daran aufgehängt, dass sie sich ziehen liessen und der Vorhang war fertig.
Schmunzelnd erinnere ich mich an den letzten Sylvester, mit dem Auftritt der blonden Negersängerin blonde Josephine: Alle schwarz geschminkt, ich als blonde Josephine in einem feurigen Rock von Mami, die Brust gestopft, hinter Instrumenten Attrappen aus Karton, mimten wir alle wie die Verrückten zu einem Song von Josephine Baker. Es war eine Gaudi, selbst Henri und Küschi krümmten sich vor Lachen!
Das dritte Jahr in der Sekundarschule hatte keinen guten Ruf: Ein Grossteil der Klasse, wenn nicht gar der überwiegende, hatte die Weichen für die Zukunft gestellt: Die meisten von jenen, welche sich - oder deren Eltern - für eine Lehre entschieden, hatten bereits einen Lehrvertrag in der Tasche. Den "Spätberufenen" fürs Gymnasium war nur noch die Aufnahmeprüfung wichtig. Die Bedeutung des Lehrstoffs, der in diesem Jahr noch von allen hätte durchgearbeitet werden sollen, war ebenso im Keller wie die Klassendisziplin.
Ich war bei Schulbeginn der 3. Sek bereits ins "Institut catholique de jeunes gens" in Neuchâtel eingetreten. Eine nützliche Alternative zu diesem "verlorenen Sekundarschuljahr“. Solche Sprach-Aufenthalte wurden damals von verschiedenen Familien gerne für ihre pubertierenden Sprösslinge arrangiert.
Papa, der mich und nach weiteren drei Jahren auch meinen Bruder Raeto dorthin schickte, hatte bereits ein Jahr zuvor für unser Welschlandjahr mehrere Institute in Betracht gezogen und genauestens untersucht. Konfessionelle Einrichtungen waren naheliegend, einerseits wegen ihres Rufes seriöser Ausbildung, andrerseits weil sie auch für Kinder aus mittelständischen Familien erschwinglich waren.
Ein besonderes Augenmerk warf Papi auf die religiös/konfessionelle Einstellung der Schulleitung: Er war jeglicher religiöser Dogmatik abhold, in deren Ruf beispielsweise die Schulen von Engelberg, Einsiedeln und Schwyz damals noch standen. Papi hatte nie verdaut, dass er als Protestant mit seiner katholischen Braut den kirchlichen Ehesegen nur erhalten würde, wenn er sich unterschriftlich verpflichtete, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen.
Während man in Mamis Elternhaus die herkömmlich traditionelle Unterordnung unter die Kirchliche Lehre als natürlich und grundlegend empfand, beschränkte sich Papis religiöse Einstellung auf einen einzigen Satz, der ihm ein Senegalese in Algier mit auf den Weg gegeben hatte: "Du darfst im Leben alles tun und lassen, so lange du damit nicht einem Nächsten weh tust oder ihm Schaden zufügst". Dem traditionellen Familienbild verhaftet, nach welchem die Frau die Kinder erzieht, war es für ihn klar und selbstverständlich, dass diese im mütterlichen Glauben heranwachsen würden. Auch ohne Unterschrift!
Die frères des écoles chrétiennes welchen Leitung und Lehre des Instituts anvertraut waren, empfand Papi nach mehreren vorgängigen Besuchen als fortschrittlich und gut, sodass er mich danach so bearbeitete, bis ich diese Gelegenheit für mich ebenfalls als gut empfände. Was mir mit einiger Anstrengung gelang. Nach knapp zwei Wochen schrieb ich nach Hause:
"Ich habe mich nun schon ganz gut eingelebt. Es gefällt mir noch ganz gut. Schade ist nur, dass man zu wenig frei ist...."
Das Aufnahme Diktat, nach welchem wir in die Klassen Cours A bis F eingeteilt würden, hatte für mich grosse Bedeutung. Ich hoffte schon, wenigstens in den Cours D zu kommen, vielleicht sogar in den Cours C? Nein, auch im cours C fiel der Name Jürg Thommen nicht. Toll, dann also Cours B? Auch da wurde ich nicht aufgerufen, sondern landete im Cours A. Du kannst es ja! schrie es in mir. In diesem Moment erwachte mein Ehrgeiz, wo immer möglich zu den Besten zu gehören. Gelehrt wurde nebst Französisch, Deutsch und Englisch alle Handelsfächer, inklusive doppelter Buchhaltung und sogar elementare Statistik. Hauptziel der frères war und blieb die Charakterbildung ihrer Schüler.
180 waren wir. Zumeist aus der Inner- und Ostschweiz. Geleitet wurde das "Insti," wie wir es nannten, von frère Joseph einem um die fünfzig Jahre alten Schulbruder. Er war während dem Krieg über 40 Monate in Konzentrationslagern gefangen gehalten. Dort hatte er sich geschworen, sollte er je wieder rauskommen, etwas für die Jugend zu tun, damit sich solche Ereignisse nie wiederholen würden. Er hielt Wort. Überzeugt, dass nur sein Glauben ihn am Leben gehalten hatte, sah er in der Glaubenserweckung von uns jungen Bengeln seine Aufgabe. Unterstützt wurde er darin von etwa einem Dutzend weiterer Brüder, bis auf frère Rudolphe, jung und ihrer Mission ebenso leidenschaftlich wie weltoffen zugetan. Die meisten von ihnen unterrichteten einen cours . Einige wenige, zumeist ältere, im gegenüberliegenden, ursprünglichen Gebäude an der Maladière Nr. 1 den Kindergarten sowie erste bis dritte Klasse für Kinder aus der Umgebung. Getreu frère Josephs Schwur waren dort auch einige schwierige Kinder und Schüler zugelassen. Insbesondere auch einige aus Familien, für welche die vollen Schulkosten zu teuer gewesen wären.
Für uns Interne - in grossen Schlafsälen und wenigen Einzelzimmern, wovon ich glücklicherweise eines bewohnen durfte, und jenen im Fontaine André untergebracht, einem schönen ehemaligen Kloster oberhalb von Neuchâtel war der Tagesablauf wie folgt:
06.15. Réveil
07.00. Messe basse à la chapelle
07.40. Récréation dans la court
08.00. Petit déjeuner
08.30. Cours du matin
10.00. Récréation
10.30. Cours du matin
11.45. temps libre et
12.00. Déjeuner et temps libre, dans la court ou en grande salle d'étude
13.30. Cours de l'après-midi
16.00. Récréation
16.30. Etude dans la Grande Salle
19.00. Dîner et temps libre
20.00. Réflexions, tenues par le très cher frère directeur Joseph, en grande salle
20.45. Dévotion à la chapelle
21.00. Retrait aux dortoirs
21.30. Éteinte des lumières
Variations:
Mittwoch- und Samstagnachmittag:
Sport, Spaziergang je nach Neigung im Fontaine André
Donnerstag:
17.00 - 18.00 Sortie libre: interdiction de fréquenter le Club21
Freitag:
ab 16.30 - 19 Uhr douches obligatoires, Klassenweise, sous surveillance.
Sonntag:
Aufstehen erst um 7 Uhr, Kurzandacht, Frühstück, Freizeit bis 9.30 Uhr
anschliessend Messe solennelle bis ca. 11 Uhr.
11.00-12.00. Sortie libre en ville
Die sortie libre unterlag der Bedingung, innerhalb der Woche nicht alle sechs Jetons verloren zu haben. Jeder von uns hatte deren sechs, gestanzt auf seine Schülernummer. Jetons verlor man jeweils einen, wenn man beim Deutsch reden ertappt wurde, einen für jede Minute Verspätung bei der Rückkehr aus der sortie libre, ungebührliches Benehmen, Verspätungen im Allgemeinen, dann aber wenigstens nicht einen pro Minute. Immerhin.
12.00. Verbessertes Mittagessen mit Dessert
ab 13 Uhr fuhr man wieder ins Fontaine André bei schönem Wetter oder verbrachte die Schlechtwetter Nachmittage im Hof oder in der grande salle, die auch einige Ping-pong Tische, Billards, "Töggelikästen", Tischfussball bot und eine Musik Ecke, wo frère François beliebte klassische Musik Platten auflegte.
Um 16 Uhr ging man dann wieder zum Goûter und um 17 Uhr präsentierten die frères Filme in der Grande salle für uns alle.
Die Réflexions des très cher frère directeur - ein begabter Redner, der uns zu packen verstand - hatten zu meist den gelebten Glauben im Alltag zum Thema. Das eröffnete für viele von uns eine neue Sicht auf Religion. Frère Joseph widmete sich in vorbildlicher Art der Aufklärung, welche er für jeden einzelnen in seinem Büro vornahm und uns sehr sachlich, auch anhand von Zeichnungen all das erklärte, was wir schon wussten. Er beantwortete auch Fragen klar. Seine Betrachtungen während den Réflexions über les filles und den Versuchungen, die von ihnen ausgehen könnten, wurden im Hof rege diskutiert unter uns, doch war ich nicht in der Lage, diesen in den Sommerferien voll und ganz nachzuleben.
Diese Disziplin mag heute Kopfschütteln hervorrufen. Nur ganz wenige vermochten sich ihr nicht zu unterziehen, wohl kaum ein halbes Dutzend auf uns 180 Schüler. Für fast alle von uns war es eine Lebensschule: Dank der strengen, konstanten Einteilung des Tages fanden wir zu einem Tages-Rhythmus und zu einer Studiendisziplin. Die tägliche Messe und Andacht, die Reflexionen von frère Joseph öffneten uns Zugang zu Spiritualität, Kontemplation, wenn nicht gar zum Glauben. Sowohl mein Bruder wie ich schätzen dieses Jahr - vor allem im Nachhinein - als ein wertvolles Geschenk in unserer Jugend.
Wir beide haben dort Freundschaften geschlossen, die auch heute noch lebendig sind. Nicht viele. Doch wie sagen doch die Franzosen? "Qui a beaucoup d'amis n'a pas d'ami."
So sind wir den letzten Frères, die über neunzig sind, auch heute noch freundschaftlich verbunden. Raeto und ich besuchten zusammen Paris im Mai 2018 und schrieben frère Raymund und Richard - Brüder auch im zivilen Leben - folgende Postkarte:
Très chers frères et amis
Raeto et moi sommes à Paris pour rafraîchir notre français. N'ayant pas de jetons à notre disposition, celui qui se fait prendre à parler allemand, s'oblige à payer l'apéro à l'autre. Nous sommes heureux et fiers de vous communiquer, que la prochaine sortie libre reste assurée et que le taux d'alcoolémie est encore en dessous de 0.8%o.

Papi hatte es im Grand Hotel d'Alger in den dreissiger Jahren vom Chasseur zum Vize-Direktor gebracht. Hätte er damals über Kenntnisse in der Gastronomie, in Küche und Service verfügt, wäre er nach seiner Rückkehr in die Schweiz der Hotellerie treu geblieben. Was wunder, dass er seine Kenntnisse und vielleicht auch seinen Traum seinem Sohn weitergab!
Gemäss der Empfehlung von Herrn Rey wandte sich Papa ans Bahnhofsbuffet Zürich. "Die Schulzeugnisse sind zwar nicht sonderlich beeindruckend," meinte Herr Rodolphe Candrian, "aber wir wollen es mit Jürg versuchen." Den Lehrvertrag erhielten wir in der Woche nach unserem Vorstellungsgespräch. Ein Lehrgeld von Fr. 400.- war in zwei Raten zu entrichten, die erste vor Eintritt, die zweite vor Beginn des zweiten Lehrjahres. "Aber das bezahlen wir zurück. Ein Kochlehrling verdient im ersten halben Jahr Fr. 10.- pro Monat, danach Fr. 30.- und ab dem 2. Jahr Fr. 50.-, bei freier Kost und Logis" erklärte der ebenfalls anwesende Personalchef, Herr Gerber. Das Logis bestand in einem abgeschrägten Gemeinschaftsraum unterhalb des Dachs über dem Haupteingang zum Bahnhof, wo etwa ein Dutzend Burschen zusammen hausten. Jeder ein Bett, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit Stuhl. Basta. Das sei der Kollegialität und dem gemeinsamen Lernen förderlich, befand man im Bahnhofbuffet.
Meinem Vater war ich sehr dankbar, dass er mich aus erzieherischen Gründen noch unter elterlicher Obhut zu halten wünschte. Herr Schweizer, der Direktor der Hotelfachschule Lausanne, den Papi ebenfalls zur Ausgestaltung meiner Laufbahn besucht und befragt hatte, meinte mit Stirnrunzeln, dass man an der Ecole Hôtelière eine Handelsschule als Grundausbildung bevorzuge. Die Gefahr in der rauen Atmosphäre einer Grossküche zu verrohen, sei nicht unerheblich und dem erwarteten Auftritt eines Hoteliers eher abträglich.
Bei meinen zukünftigen Kollegen war mein zu Hause wohnen DER faux-pas. Ich wurde zum Paria. Erstjahres-Lehrlinge mussten getauft werden, um dem Stiftenkreis wirklich anzugehören. Das konnte nur an "Internen" vollzogen werden.
Das Ritual bestand in einem nächtlichen Überfall auf den "Täufling," diesem die Augen zu verbinden, ihn zu fesseln und mit schwarzer Wichse dick einzuschmieren. Danach wurde er, schwarz und nackt, in einen der grossen Wäschekörbe eingeschlossen, die dort oben herumstanden und im Frauenstock deponiert, der im Flügel gegenüber lag. Nach Befreiung unter Kreischen, spöttischem Lachen und entsprechenden Bemerkungen durch die italienischen Küchen- und Lingeriemädchen, die weit weg von den Burschen ähnlich logiert waren, ging die Zeremonie ihrem Höhepunkt entgegen: im spätnächtlichen Nacktbad von Täufern und ihrem Täufling im Bahnhofsbrunnen, mitten auf dem Bahnhofplatz. Es ist durchaus denkbar, dass sich der würdige Alfred Escher auf seinem Denkmal, entsetzt von solch unwürdigem Spektakel, aus diesem Grunde vom seinem Bahnhof abwandte und seither zur Bahnhofstrasse blickt.
Das Bahnhofsbuffet war seit jeher ein äusserst vielseitiger Betrieb: erste, zweite und damals auch noch dritte Klasse. Die erste war Bahnhofplatz seitig. Sie umfasste ebenerdig zur Bahnhofshalle hinaus einen grossen Saal mit populärem Güggeligrill, ergänzt im Sommer mit einer Aussenterrasse gegen das Sihlquai. Etwas erhöht, das heutige da Capo, damals noch verbunden mit der Alfred Escher Stube (heute Bona Dea). Das "au Premier" war schon damals eines der stadtbeliebten, gehobenen Restaurants, vor allem auch dank seiner Tische überhalb dem Bahnhof-Eingang zur Bahnhofstrasse hin. Dort, wo heute Nordsee seine Fischgerichte anbietet, wurde in jenen Jahren eines der ersten Selbstbedienungsrestaurants der Stadt eingerichtet, die Cafeteria.
Die heutige Brasserie Fédérale war die populäre zweite Klasse. Daran angegliedert war die erfolgreiche dritte Klasse, die Röstistube, welche zusammen mit der Chüechlistube zum Landesmuseum gab.
Wichtige Umsatzträger waren die Bahnhofskioske und Perronwagen, die ein sattes Drittel zum Gesamtumsatz beitrugen. Diese wurden aus den Kulissen heraus von der Perron-Abteilung beliefert, welche dafür unter anderem jeden Tag 300 Sandwiches herstellte. Eine gemeinsame Räucherei gehörte dazu, für Schinken, Speck, Würste und erst später auch hausgeräuchten Lachs. Eine eigene Kaffeerösterei und ein grosser Weinkeller ergänzten das Angebot. Letztere belieferten gleichzeitig das Suvretta House in St. Moritz und das Parkhotel Vitznau, schon seit je im Besitz der Familie Bon-Candrian.
Heute wird die Unternehmung in vierter Generation geführt. Kurz vor meinem Eintritt in die Lehre, im April 1957, hatte der Gründer Primus Bon, Oberst und stadtbekannte Persönlichkeit, die Leitung an seinen Schwiegersohn Rodolphe Candrian abgegeben. Beide Patrons genossen grossen Respekt. Bei alledem vermittelten sie jedem Angestellten das Gefühl, dazuzugehören. Grossen Wert legten Candrians auf die alljährliche Jubilarenfeier, wo jene geehrt wurden, die 5, 10 Jahre oder ein mehrfaches davon im Betrieb arbeiteten. Damals arbeiteten gut fünfhundert Leute "im Buffet" und es gab alljährlich eine stattliche Anzahl von ihnen zu feiern. Dafür wurde das gesamte "au premier" reserviert, ein köstliches Dîner serviert und landesbekannte Künstler eingeladen, welche die Eingeladenen bis spät in die Nacht unterhielten.
Wann immer jemand heiratete, ein Kind bekam oder einen nahen Verwandten verloren hatte, Frau Candrian beglückwünschte oder kondolierte schriftlich, bei Geburten oft mit einem kleinen Geschenk. Zu Weihnachten gab es für jeden eine Gratifikation mit einer hübschen Dankeskarte für die Mitarbeit, jede einzelne von Rodolphe Candrian persönlich unterschrieben und überreicht. Herr und Frau Candrian grüssten jeden, der ihren Weg kreuzte. Viele, auf jeden Fall alle langjährigen Mitarbeiter kannten sie mit Namen. In meinen Zweifeln, wie weit ich es wohl bringen würde, hatte ich mir meine Lehrpatrons zum Vorbild genommen. Auch wenn ich wohl kaum so weit aufsteigen würde, so möchte ich doch auf ähnliche Art mit meinen Mitarbeitern umgehen.
Wenn ich mich recht erinnere, arbeiteten in den beiden Küchen der 1. Klasse, inklusive "Au Premier" neunzig, in jener für die 2. und 3. Klasse siebzig Köche. Jede Klasse betrieb eine eigene Metzgerei sowie eine Konditorei. Die Fischküche im Erstklass Buffet war ein Begriff in Zürich. Welch ein vielseitiger Betrieb!
Der 2. und 3. Klasse stand Küchenchef Dekumbis vor, der ersten und au premier Jean Schers. Beide Walliser. Vor allem beim Monsieur Schers, dem Val d'Anniviers entstammend, hatte man es entschieden leichter, wenn man fliessend französisch sprach. Das war mein Fall, Gott sei Dank. Nicht so für meinen Oberstift und Freund Ferdinand. Doch davon später.
Anders als heute, wo schwarze Kochbekleidungen an Gefängnisuniformen erinnern, war damals eine Kochuniform weiss. Hygiene bestimmte Farbe und Nutzung, auch wenn damals noch nicht die heutige bürokratische Regelwut den Küchenalltag bestimmte. Weisse Schürze, an der ein weisser oder zumindest heller "torchon" aus festem, dickem Stoff hing, um die heissen Bratgeschirre, Pfannenstiele anzufassen, damals noch nicht isoliert wie heute. Ein weisses, gerolltes und weit gebundenes Halstuch gehörte dazu (um sich den Schweiss abzuwischen) und vor allem die toque, der Kochhut, damit ja keine Haare in die Speisen fielen. Ein feines Netz schloss sie oben, das der Lüftung der Kopfhaut diente. Die Hierarchie bestimmte die Höhe der toque: niemand durfte sie so hoch wie der Küchenchef haben! Wehe den jungen Köchen, die ihrer Eitelkeit stattgaben und mit einer Cheftoque aufkreuzten. Verachtung vom Chef, ätzender Spott der Brigade war ihnen gewiss.
Die ersten Tage waren furchtbar schwierig: alle Köche sahen in ihrer Uniform gleich aus, einzig ihr Alter und möglicherweise ihre Morphologie unterschieden sie. Dann die Sprache: die Hälfte von ihnen waren damals noch Schweizer, davon zwei, drei aus der Westschweiz. einige Franzosen, sehr viele junge deutsche commis, ein deutscher Sous-chef und ziemlich viele irische Stagiaires von der Hotelfachschule Shannon. Die Verständigungsschwierigkeiten waren nicht unerheblich. Wenige aus der angestammten Brigade sprachen Englisch und der Akzent der irischen Praktikanten half auch denen nicht weiter, die Schul-Englisch sprachen. Die Iren hielten alle zusammen, ob sie nun "green" oder "orange" waren, sehr oft um ein Bier vereinigt, welches sie allerdings fade fanden, verglichen mit dem Guiness, an das sie gewohnt waren. Alle Küchengehilfen waren ausnahmslos aus Italien, hauptsächlich aus Neapel, wenige aus Sizilien.
Der Ausbildungsplan der damals nur zweieinhalbjährigen Lehre sah vor, dass ein Kochlehrling je 4 Monate in der kalten Küche, dem garde-manger und in der Metzgerei verbringt, 4 Monate auf dem entremétier, dem Gemüse- und Suppenposten, 4 auf dem rôtisseur-grillardin, der ebenfalls für die friture zuständig war: Alle Formen von frites, von den dicken pommes Pont-Neuf, über normale zu den feinen allumettes und natürlich auch die flach gebackenen: chips, gaufrettes und seltener, die pommes soufflées. Diese werden etwa zwei Millimeter dick geschnitten, und in unterschiedliche heissen Fritüren, 120 und 180º zum Aufgehen gebracht. Danach ging's für ein gutes Quartal zum saucier-poissonnier, wo wir sehr viele Süss- und Meerfische, Krustentiere, Muscheln, Austern kennenlernten, auch sie zu öffnen, zu zerlegen und auch darüber, wie sie zu lagern.
Das letzte Quartal der Grundausbildung verlebten wir in der pâtisserie. Tagesdesserts, Zubereitung von Eis und Eisbomben, Kuchen, Torten, Pâtisserie, Kleingebäck und sogar die Herstellung von Pralinen erlernten wir dort. Das verbleibende knappe Jahr wurden wir als Tournants auf allen Posten eingesetzt. Am liebsten waren wir im 1. Stock, au Premier. Dort wurde hauptsächlich à la carte und besonders fein gekocht, von einer kleinen Brigade eines guten halben Dutzend Köche.
Einige Episoden bleiben mir wohl für immer in Erinnerung: "Intéresse-toi aux choses, et les choses deviennent intéressantes." Interessiere dich an den Dingen und sie werden interessant, sagte mir Monsieur Schers und stellte mir einen 5kg Sack Silberzwiebeln zum Schälen hin. Das regte zum Nachdenken an. Am liebsten hätte ich diese in die Kartoffelschälmaschine geschmissen. Das wäre am schnellsten gegangen, doch hätte das zu viel Schale abgeschabt. Immerhin war erlaubt, sie in kaltem Wasser einzuweichen, um die angefeuchtete Haut etwas leichter und ohne Tränen schälen zu können. Wenn "Jean-Jean" nicht umwegs war, schüttete ich sie gleichwohl in die Schälmaschine, einfach etwas weniger lange...
Monsieur Schers, Mitglied der Christian Science, hatte einen Hang zum Philosophieren. Diesen teilte er gerne mit uns, wenn er sich zu uns gesellte um beispielsweise einen Harass Bohnen zu fädeln. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit tat er es uns vor: "C'est quoi, le plus important dans la vie?" "Le plus important dans la vie est de savoir s'organiser soi-même". Was ist das Wichtigste im Leben? Zu verstehen, sich selbst zu organisieren. Obschon er schon damals, Ende der Fünfziger Jahre uns das beizubringen versuchte auf die entscheidenden Details ging er nicht ein: unsere Wünsche zu kennen, zu ihnen zu stehen. Daraus eine Auswahl zu treffen um Ziele zu formulieren. Diese wieder in einzelne Schritte zu zerlegen und ihnen auf diese Weise zu zustreben. Ich brauchte noch ziemlich viele Jahre, um zu begreifen, was der weise Mann uns hatte sagen wollen.
Zu jener Zeit war ein Chef der Chef. Man wusste noch wenig von Teambildung. Obschon Jean Schers am Einzelnen Interesse zeigte, wirkte er distanziert, sagte seinem Stellvertreter weder wann er frei machen noch wann und wie lange er in die Ferien fahren würde. Er war dann einfach nicht da. Frei machte er nur ganz selten und kumulierte seine Tage, um im Sommer dann gleich 4-6 Wochen in die Berge zu verschwinden. Er brauche das, erwiderte er unmissverständlich auf die höflich und zurückhaltend formulierte Frage von Herrn Candrian.
Die Brigade vertrug sich gut untereinander. Die Stimmung aber war nicht sehr lebensfroh. Der Genfer garde-manger Barmettler, zerstritten mit seinem Bruder, der unglückliche, sehr belesene und gebildete entremétier Heubi, ebenso Rüd, der saucier, welcher in Hitlers Adlerhorst gekocht hatte und Stamm der rôtisseur waren gegen Mitte-Ende vierzig. In einzelnen von ihnen glaubte ich Rolf Biermanns Lied zu hören: "soll das nun alles gewesen sein, das bisschen Liebe, das bisschen Wein..." Sie mussten sich damit abfinden, dass sich ihre Situation nicht mehr verändern würde: schlecht bezahlt für ihr Können - wie es damals leider die Regel war - eingespannt in unterbrochene Arbeitszeiten, 8-14 und 17-21 Uhr die meisten, eineinhalb Freitage die Woche rollend, damit sie jeden sechsten Sonntag auch einmal geniessen konnten wie andere Leute. Sie hatten zumeist resigniert. Kochten vor sich hin. "Nur keinen Ärger!" "Nur nichts Neues" war mehr und mehr zu ihrem Leitmotiv geworden. Zuweilen legten Rüd und Stamm ihre Gebisse auf den Herdrand: "so chönd er e chli schnurre mitenand!“ Begossen sie mit dem billigen Cognac, der zum Kochen zur Verfügung stand und schoben sie sich wieder ein.
Zum damals berühmten Sylvesterbuffet, zum Weihnachtsgala oder Stadtlieferungen wie ins Zunfthaus der Gesellschaft zum Schneggen lebten sie förmlich auf. Da konnten sie jeweils zeigen, welch grosses Können, welche Begeisterung für ihren Beruf trotz allem noch in ihnen steckte. "Warum machen Sie das nicht immer so toll, Herr Rüd?" frage ich den gestrengen Saucier, als er sich wieder einmal selbst überbot. "Du darfst nie dein Bestes geben. Denn auch wenn du dein Bestes gibts, wird man sowieso immer mehr von dir verlangen" antwortete der Stratege, "deshalb ist es klüger, immer etwas unter seinem Potential zu leisten".
Herr Heubi überraschte und verzauberte mich immer wieder mit seiner Belesenheit. Ob es die Bibel, die Klassiker oder die antiken Griechen und Römer waren, alle kannte er, über alle wusste er Bescheid. Er war Sohn eines Berner Hoteliers, Freimaurer, der Pech gehabt und seinen Betrieb verloren hatte. Sein Sohn kam nie darüber hinweg, dass er nicht einen Berufsweg entsprechend seiner Bildung einschlagen konnte. Am Ende seiner Ferien kehrte er nicht mehr zurück. In Abwesenheit seiner Familie hatte er sich vergast.
Trotz alledem hatten wir es gut untereinander. Ohne sich aufzudrängen, unterstützten sich alle gegenseitig. Sicher half dazu der gemeinsame Tisch, an welchem wir alle zusammen assen: zu oberst der Chef, sekundiert links und rechts von sous-chef und chefs de partie, danach die commis, die Jungköche, und schliesslich wir Stifte. Es wurde zumeist rege geplaudert, insbesondere wenn das Essen schmeckte.
Allerdings führten Sparsamkeit und Bequemlichkeit dazu, dass wir zumeist nur Aufgewärmtes assen, vor allem Gemüse. Dazu gab's Mineralwasser und Most. Keinen Alkohol, auch der Chef gönnte sich keinen Wein. Herr Baumann, der pâtissier, vermisste frisches Gemüse sehr und reagierte pikiert auf abgestandenes. Heubi der entremétier, Gemüse- und Suppenkoch war seinerseits ganz versessen auf Süsses. Wir hatten wieder einmal etwas Zweifelhaftes von Heubi vorgesetzt bekommen. Die Brigade verstreute sich rascher als gewohnt, ich ging zurück in die Metzgerei, wo ich schon am Morgen Geschwindigkeit im Auslösen von Kalbsköpfen trainierte: unter vier Minuten war das Ziel. Baumann der Pâtissier war auch da, beklagte sich über den Frass, plauderte dies und das und verschwand kurz danach wieder. Eigenartig, sonst kommt er doch nur zum Apero hierher, den sich die Chefs de partie 2-3 Mal die Woche hier genehmigten.
Nach dem Service um 14 Uhr, vor der Zimmerstunde, setzte sich die Brigade täglich zum Kaffee, zu welchem Baumann immer die Pâtisserie vom Vortag reichte. Einwandfrei, gut, aber vom Vortag halt. Heute aber war es anders: ein ganzes Plateau von frisch gemachten, kleinen Mohrenköpfen lachte uns entgegen. Heubi war wie gewohnt der erste, sicherte sich sicher ein halbes Dutzend dieser appetitlichen, schön regelmässigen Mohrenköpfe. Geradezu gierig betrachtete er sie, während ihm Escher der Tournant, den Kaffee einschenkte. Er griff zu und biss herzhaft drein: in ein schönes, blaues Kalbsauge, welche Baumann kurz nach dem Essen bei mir eingesammelt und sorgfältig mit Schokolade überzogen hatte...
Der Service war sehr stressig. Er verlangte eine gut vorbereitete "mise en place", die entsprechend dem grossen Angebot der Karte im Voraus bereitzustellen war. Bevor sich der Chef an den Pass stellte, hatte er stichprobeweise Suppen, Saucen, Gemüse probiert. Ab Beginn des "Service" annoncierte er anhand der Bestellbons, kontrollierte Aussehen und Temperatur von allem was wir „schickten“, trieb die Passeplatiers an, alles rasch vom Pass zu den Aufzügen zu bringen und ins Parterre-Restaurant hinauf zu schicken. Er überblickte die ganze Küche, wachte, dass Bestellungen für zweier und grössere Tische gleichzeitig geliefert wurden. Am Herd hatte man sich auf die "Annoncen" zu konzentrieren, diverse Zubereitungen gleichzeitig fertig zu kochen, warm zu stellen, zu schöpfen und zu liefern.
Hinten am Tisch, wo für den nächsten Service vorbereitet wurde, hielt man die Ohren gespitzt um aus den Grosskühlschränken oder aus dem Gardemanger zu ergänzen, was an der mise en place am Ausgehen war. Man ergänzte die Silberplatten, Schalen, Schüsseln und Cocotten über dem Herd, in welchen angerichtet wurde. Es war lärmig, nervös und doch sehr stimulierend. Welch ein Gefühl, wenn wir uns danach zusammen noch einen Moment an den Tisch setzten um bei Kaffee und Pâtisserie zu dekomprimieren!
Während Anspannung in uns Deutschschweizern eher nervöse Heftigkeit, ja zuweilen Gehässigkeit bewirkte, begannen die Italiener hin und wieder zu singen oder zu pfeifen. Auf jeden Fall nach dem Service. Sie hatten mich immer beeindruckt, wie sie trotz der schweren, undankbaren Arbeit bei guter Laune blieben, wie sich die Unverheirateten inmitten dieses Trubels sich aufs Schäkern einliessen.
Eine von ihnen, Giovanna, hatte es mir angetan. Sie war höchstens gleichaltrig wie ich, ein reizendes, dunkelhaariges Mädchen mit noch dunkleren Augen. Eine Seltenheit, denn die meisten Frauen im Betrieb waren mit ihren Ehemännern hier. "Na, die gefällt dir, Jürg" meinte eine perfekt zweisprachige, etwa sechzigjährige Salatfrau. "Dann musst du es ihr halt sagen", schmunzelte sie beim Feststellen, wie ich errötete. "Aber ich kann doch kein Italienisch". "Das brauchst du dazu nicht . Aber so wirst du es lernen, und zwar rasch," lachte sie. Ich überwand meine Hemmungen nicht. Aber die Herzlichkeit und Fröhlichkeit der Italiener brachte mich dazu, später italienisch zu lernen. Auch davon, später.
Ferdinand Tobler, mein Oberstift, war schon vor meinem Arbeitsantritt ausgerutscht, hatte sich dabei mit dem Arm auf der Frittüre aufgestützt und war reingerutscht. Mehrere Wochen fiel er aus. Er war tüchtig, wir sympathisierten schnell. Allerdings hatte er Mühe mit Fremdsprachen, insbesondere mit dem Französisch. Da konnte er lange tüchtig sein, beim Chef Schers rangierte er nicht oben auf der Sympathieliste. Ferdi merkte das rasch und gab sich seinerseits auch keinerlei Mühe, sein Sympathieranking zu verbessern. "Bisch es Arschloch", sagte er einmal, als ihn JeanJean in die Seite zwackte, als er beim Zwiebeln schälen war. "Ach Sie sind's Chef, oh Verzeihung," heuchelte er. Beide wussten, was los war. Ferdi rächte sich beim Monsieur Schers, indem er die beste Prüfung des Kantons ablegte.
Wenn sich der Chef auf uns Lehrlinge zubewegte merkten wir sofort, was gefragt werden würde: "Quel est le petit menu aujourd'hui?"Quel est le dessert du grand menu, qu'est-ce que nous avons aujourd'hui comme Spezialplatte?" Schon wenn er uns die Frage stellte, vergassen wir vor Schreck das täglich Auswendig-Gelernte. "Alors vous nettoyerez les frigos, cet après-midi. Comment voulez vous travailler, si vous n'avez aucune idée de ce que nous proposons à nos clients, de ce que nous leur servirons?“
Damit er die Drohung des Reinigens der Kühlräume während der Zimmerstunde wahr machte, musste man schon drei Mal hintereinander ohne Menu- und Kartenkenntnisse ertappt werden. Die Kampfansage war jedenfalls so wirksam, dass ich mich nicht erinnern kann, dass irgend einer von uns vier Lehrlingen je dazu verdonnert worden wäre.
Hingegen war er streng mit der Gewerbeschule, die jeweils von 14-18 Uhr dauerte. "Um 18.30 Uhr steht Ihr in der Küche, bereitet euer Abendessen und steht Punkt 19 Uhr am Herd." "Aber Chef, wir haben doch schon nur einen einzigen Freitag pro Woche und meine Kollegen aus der Gewerbeschule müssen danach nicht mehr in den Betrieb."
"Eure Lehrzeit ist mit zweieinhalb Jahren eh schon viel zu kurz, dann habt Ihr erst noch ganze drei Wochen Ferien, wann wollt Ihr denn überhaupt noch etwas lernen?" meinte er unnachgiebig. Ein Nachmittag, der Montag, war Fremdsprachen gewidmet, von 14-16 Uhr. Da wagten wir schon gar nicht zu fragen, ob wir am Abend noch kommen müssten! Ich war vom Französisch befreit und benutzte die Zeit, um bei Frau Stahel Englisch zu nehmen. "Oh my poor boy", meinte sie, als ich während einer Stunde einmal kurz einnickte. Ich schämte mich ein bisschen, denn mir gefielen die Stunden bei Frau Stahel sehr.
Gerne ging ich nach 21 Uhr noch etwas tanzen: im Embassy, in der Hungaria, die zwar etwas teurer aber auch schicker war. Nur ganz, ganz selten ins Mascotte am Bellevueplatz. Dort spielten international beste Orchester wie Hany Osterwald, los Machucambos und die elegantesten jungen Frauen waren dort. Weder das eine noch das andere entsprach meinem Stiftenlohn. Das Tabaris hatte einen anrüchigen Ruf und das Frascati war zu weit entfernt vom Bahnhof.
Wenn man dienstags nach 21 Uhr die Bahnhofstrasse hinunter spazierte, war die Chance gross, unseren Sekundarschul-Gschpänli zu begegnen, die eben ihren Abendkurs im KV beendet hatten. Ursula Eggenweiler, die hübsche Rosemarie Frei, Madeleine, "la parisienne" beispielsweise. Ich nannte sie so, weil ihre Mutter aus Prony, einem dortigen Vorort stammte und französisch deshalb Madeleines Muttersprache war. Ihre Verbundenheit zu Paris machte sie für mich zu jemand ganz besonderem. Ich schwärmte von ihr, verliebte mich über beide Ohren in sie, doch Madeleine verstand es, Distanz zu halten.
Wenig vorteilhaft erwies sich meine Arbeitszeit bei privaten Einladungen, einem "Fez" wie man das nannte. Die Familie Pfister, mit dem gleichaltrigen Andy, der drei Jahre jüngeren Susi und Gaby, nochmals 2 Jahre jünger, hielt offenes Haus an der Billrothstrasse. Andy war am freien Gymnasium, ein gut aussehender, junger Charmeur mit einem bemerkenswerten Kreis an Freunden und Freundinnen.
Für einen solchen Fez wurden die Möbel weggestellt, die Wohnung mit Girlanden, Ballonen und weiterem Tand dekoriert, ein recht einladendes Buffet bereitgestellt, worum sich Mutter Pfister und die Töchter grosszügig und sehr gekonnt kümmerten. Andy besorgte sich derweil die neuesten Scheiben, in Ergänzung seiner schon beeindruckenden Schallplattensammlung: Ein buntes Durcheinander von Rock'n Roll, Jazz, Armstrong, und natürlich auch eine gute Auswahl an "Schmuseplatten". Sobald sich die Eltern verabschiedet hatten, begann die Party zu steigen, spätestens um 20 Uhr. Bis ich aber endlich ankam, war nicht nur das Buffet abgegrast, damit hätte ich mich arrangieren können. Aber auch alle Mädchen waren bereits in guten Händen. Es waren zumeist Leute aus dem freien Gymi. Während ich für die Jungs zuerst einmal ein Fremder und Eindringling war, fanden einzelne der jungen Damen interessant, ausgefallen oder zumindest eigenartig, dass da einer Koch lernte. Damals erfreute sich der Beruf noch nicht seiner Bedeutung, die ihm zwanzig Jahre später, mit der nouvelle cuisine endlich zustatten kam. Plaudereien über Rezepte, Speisen, namentlich aus der Pâtisserie, halfen einen Kreis an hübschen Interessentinnen zu bilden.
Es war eine ausgesprochen glückliche, wenn auch anstrengende Zeit. So kam niemals Langeweile auf. Alle 6 Monate hatte einer der "Oberstifte" seine Lehrabschluss Prüfung. Eine solche lief folgendermassen ab:
0.600 Uhr
Eintreffen des Prüflings, sekundiert von seinem Kollegen, der in 6 Monaten dran sein würde und dessen Nachfolger.
- Bereitstellen der Mise en place: Grosszügig bestückter Gewürzkasten, sämtliches Werkzeug wie Schüsseln, Schalen, Pfannen, Sautoirs und Bratpfannen, Auswahl von Fischen zum Filetieren, Geflügel zum Ausnehmen und Bridieren. Sicherstellen des Vorhandenseins der Schnur, die man dafür benötigte.
- Geschälte Kartoffeln, gewaschene Gemüseauswahl für die praktische Demonstration von Schnittarten und als
Zutaten zum Prüfungsmenu.
- Säuberliches Bereitlegen der eigenen Messer auf dem Torchon neben dem frisch gehobelten Schneidebrett.
- Bereitlegen der eigenen Menu- und Rezept-Ordner
Frühstücken, Umziehen in peinlich saubere Uniform und frisch polierte Schuhe. Dass man tags zuvor beim Coiffeur war, versteht sich von selbst, auch wenn die Toque die ganze Pracht abdeckte. Ebenso dass man sich glatt rasiert und mit sauberen Fingernägeln präsentierte. Toilettenbesuch.
0.800 Eintreffen der Experten, Begrüssung. Das waren immer ein Küchenchef und ein Restaurateur. In meinem Falle Küchenchef Gertsch vom Kongresshaus Zürich, bekannt als streng aber gerecht und dem Inhaber des Restaurants Untere Waid.
Fischen wurde gefragt, woher sie kommen, wie gross sie allgemein werden können und Mindestgrösse für
Küchengebrauch. Beim Fleisch lauteten die Fragen ähnlich, ergänzt selbstverständlich mit Fragen wozu sich
die einzelnen Stücke am besten eigneten. Qualitätsmerkmale und Lagerhaltung aller Lebensmittel war ein Thema, wie auch die Küchenhygiene. Es folgten Fragen über die diversen Zubereitungsarten, des Verständnisses der (zumeist französischen) Fachausdrücke etc etc. Pause um 09.45 Uhr.
10.00 Praktische Demonstration:
- Ausnehmen von Poulets (Achtung, dass ja die Lunge mitkam!), bridieren (bratfertig binden), grillfertig
zuschneiden. Danach auslösen eines Kalbskopfs und entweder eines Kalbstotzens (4 min) oder einem
Nierstück(6min).
Tieren, zur Lagerung von rohem Obst & Gemüse.
einer Felche, Seezunge, einer Forelle aus dem Bassin. Auch da praktische Fragen zur Frische und Qualität.
12.00Mittagessen und Pause.
13.00 Und Jürg, was essen wir sechs Personen Punkt 17.00 Uhr? höre ich noch die Frage von
Herrn Gertsch in meinen Ohren. Die halbstündige Besprechung ergab folgendes:
***
Sole à ma façon, geöffnet, paniert, frittiert, mit fruits de mer in Weisswein-sauce
Reis Pilaw
***
Selle d'agneau au romarin - Gebratener Lammrücken
Pommes boulangère, in Scheiben geschnitten und gebraten, mit Zwiebeln und Speck
Laitues braisées - geschmorter Lattich
Carottes glacées - tournierte, glasierte Karotten
***
Soufflé Rothschild - Warmer Auflauf mit kandierten Früchten
Sauce Bischoff - Rotweinsauce mit gehobelten Mandeln
13.30 Letzte Momente ohne die Experten - Hilfestellung sicherstellen für die
schwierigen Passagen, wenn alles auf Herd und im Ofen war - das soufflé!
14.00 Zustossen der Experten, welche nun die Arbeitsorganisation, den logischen
Aufbau, die Fertigkeit im Zuschneiden und Zubereiten genauestens
betrachteten, Begründungen zum Vorgehen erfragten.
Gegen 19 Uhr wurde ich zur Beurteilung gerufen ins Büro von Herrn Candrian, wo die Experten und der Chef warteten. Herr Schers sah mich durchdringend an, als mich Herr Gertsch fragte: "Hast du den Riz Pilaw gemacht?"
"Nein, Herr Gertsch, meiner ist verbrannt. Da musste ich auf meine Kollegen zurückgreifen."
"Na, da hast du jetzt gut getan, uns die Wahrheit zu sagen. Ich hätte dir das sagen können, als ich beobachtete, wie du ein viel zu grosses sautoir nahmst... Gratuliere, du hast es gut gemacht! Herr Schers atmete auf, Herr Candrian liess Wein servieren und alle stiessen mit mir auf die bestandene Prüfung an: 5.3."
Wie ich nach Hause kam, weiss ich nicht mehr. Ich erinnere mich, wie ich Madeleine angerufen hatte, sie mir gratulierte und ich danach eine nie gekannte Leere empfand. Eine Viertelstunde später schlief ich tief. Das Glücksgefühl stellte sich erst beim Erwachen ein.



„Oh, ins Kulm-Hotel St. Moritz“, meinten anerkennend jene aus dem elterlichen Bekanntenkreis, die das Haus von aussen, oder vielleicht von einem thé dansant“ kannten. „Ist doch ein alter Kasten,“ meinte Rösli Weber, die Lebenspartnerin des Arbeitgebers meiner Tante Klara. Sie hatte mit ihrem „Schaaggi“, wie sie Jacques S. nannte, dort oft ihre Winterferien verbracht, als beide noch Ski fuhren und Rösli an den Candle-light dinners und an den grossen Galas noch attraktiv präsentierte, Tatsache aber war, dass das Haus Tourismus- Geschichte geschrieben hatte: 1855 aus der Pension Faller hervorgegangen, erweiterte die Besitzerfamilie Johann Badrutt die paar Zimmer Zug um Zug zu den imposanten 4 Gebäuden, wie sich das Kulm heute noch präsentiert. Es war 1879 eines der ersten, wenn nicht das allererste Haus der Schweiz mit „elektrischem Licht“. Allerdings nur in den öffentlichen Räumen.
„Komm, mach auch mit!“
„Das kann ich nicht, habe ich noch nie gemacht! Und was ist mit der Zimmerstunde?“
„Ist alles freiwillig. Machen wir alle so. Ich zeig's dir. Das lernst du schnell, nur Mut!“ meinte ein etwa 2 jahre älterer Commis (Jungkoch).
Nachdem ich angekommen war, dem Hotelier meine Vorauszahlung geleistet und Kassensturz gemacht hatte, fühlte ich mich zu etwas gezwungen, was mir zutiefst verhasst war: zu sparen. Vier Dinge wusste ich: mein Schweizer Bankkonto war leer und niemals würde ich bei den Eltern um einen Zustupf betteln, auch nicht leihweise!. Das Zimmer war gesichert und Köche wurden verpflegt. In der Gewissheit, dass damit das Gröbste abgewendet war, glitt ich in einen tiefen Schlaf.
Die Portionen der einzelnen Speisen waren üppig bemessen, die Preise gut drei Mal so hoch, wie ich es gewohnt war. All diese Sorgfalt hatte mich tief beeindruckt. Überhaupt, nach der Erfahrung im Kulm, danach im Suvretta war das nun das dritte Mal, dass ich den Eindruck bekam, überhaupt nicht kochen zu können. Lange vor der Einführung der „nouvelle cuisine“ lernte ich dort, dass Gemüse Biss behalten muss, dass Fische rosé à l'arête grilliert werden und Mehl für Saucen, wenn überhaupt, dann nur ganz zurückhaltend verwendet wird. Alles wurde auf höchstem Niveau zubereitet, und immer genau gleich. Das heisst, jedoch immer genau gleich.
„Oh, das wird aber Monsieur Marin gar nicht gefallen. Er wünscht es immer genau gleich. Aber wir können es ja mal probieren“, meinte Monsieur Bérutti.
Monsieur Georges Marin war ein international bedeutender Hôtelier. Er genoss einen geradezu legendären Ruf, sein Auftreten war beeindruckend. Alle der damals gegen sechshundert Angestellten wendeten sich ihm respektvoll zu, wenn er die Örtlichkeiten inspizierte oder zum Chef zur allmorgendlichen Besprechung kam. (Man bemerke: der Herr Direktor kam zur Besprechung ins Büro des Küchenchefs, er liess ihn nicht zu sich rufen).
Am folgenden Morgen aber hielten die beiden Herren im Garde-manger: „Der dort, der Schweizer Stagiaire hat die Hors-d'oeuvre gestern zubereitet“ meinte Monsieur Monier. „Très bien, jeune homme. Continuez comme ça“ sagte der Direktor und nickte mir zu.
Gegen August wurde ein Teil der Brigade an de Weltausstellung nach Moskau geschickt. Die Jungs waren alle sehr aufgeregt. Ich hatte Angst um sie. Zu den Russen, den Kommunisten! Das waren für mich eindeutig die Bösen, die Üblen. Mir waren die Proteste von 1956 nach der Niederwerfung des Aufstandes der Ungaren am Bahnhof Enge noch in bester Erinnerung als die Schweizer Teilnehmer von der Moskauer Olympiade zurückkamen. Überhaupt, die damalige Macht der kommunistischen Partei, des PC, des parti communiste! Wie die Franzosen sich mit dessen Existenz und Macht abfanden! Der Umgang, den die doch verfeindeten politischen Lager miteinander pflegten, beunruhigten mich zutiefst. Vater und damit wir alle im familiären Umfeld, sahen im gesamten Osten den bösen Feind! Mit solchen Leuten pflegt man keinen Umgang!
Dank seinen Verbindungen kamen wir sogar einmal zu gratis Billets für eine von Johnny Holidays Aufführungen, damals noch mit Sylvie Vartan, ein andermal in die Olympia, zu Gilbert Bécaud.




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Anspruch der Funktion
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Ausbildungsgrad
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zusätzliche Anforderungen wie Sprachkenntnisse
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Möglicherweise spielten auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit eine Rolle

Im Vergleich zu heute steckte Marketing damals noch in den Kinderschuhen. Die Organisation von Rezeption und Conciergerie war eher einfach. Besonderen Wert wurde dabei auf die Kontrolle gelegt: Restaurant Inkasso mit handschriftlichen Bons oder mit Registrierkasse; auf die Überprüfung, ob auch alles auf den Gästerechnungen ordnungsgemäss verbucht wurde, sei es im Übertrags-, Durchschreibeverfahren, mit der NCR 42 und ihrem Nachfolgemodell. Diese beiden Maschinen waren im Vergleich zu den Kosten heutiger digitalisierter Managementsysteme, die viel mehr erlauben als nur die Buchführung, unverhältnismässig teurer und deshalb noch nicht allgemein gängig in den Hotels. Lediglich die progressiv geführten hatten eine solche. Zumeist jene, in welchen die Führung, sei es Besitzer oder Direktor, aus dem kaufmännischen Sektor hervor gegangen war.

Signor Tomba assistierte ein zweiter Concierge. Die beiden waren umgeben von einem Schwarm von Gehilfen, den portieri und den beiden doormen. Letztere waren fürs Parkieren der Gästeautos in den allzeit überfüllten Parkplätzen vor dem Haus auf der Piazza Ognissanti verantwortlich, wie auch fürs zeitgerechte Herfahren der Wagen an den Hoteleingang. Keine leichte Aufgabe im damals chaotischen Verkehr von Florenz, welcher namentlich Ausländer völlig überforderte, dafür aber die Funktion umso einträglicher machte.
Die portieri kümmerten sich um den Gepäcktransport zu und von den Zimmern, ebenfalls lohnend bei Privatgästen, auch wenn die Position wesentlich weniger einträglich war als jene der doormen. In jenen Zeiten war es undenkbar, sein Gepäck und wenn es auch nur ein kleiner Koffer war, selbst zum oder vom Zimmer runter zu tragen. Jemand der mit dem Koffer in der Hand das Hotel verliess gab zu erkennen, dass er aus dem Hotel rausgeschmissen worden war. Mühsam war die Arbeit der portieri bei den - damals hauptsächlich amerikanischen – Gruppen von achtzig, hundert und mehr Teilnehmern: Die Koffer der Anreisenden mussten entfernt von jenen der abreisenden Gästen platziert werden um Verwechslungen zu vermeiden. Jedem einzelnen Gepäckstück wurde die Zimmernummer mit Kreide angeschrieben. Wenn die Gäste dort ankamen, fanden sie ihr Gepäck bereits vor.
Wir hatten eben ein jüngeres, südamerikanisches Paar mit ihrem Vater in zwei „minimal rate rooms“ im ersten Stock auf die lärmige Strasse einquartiert. Sie fanden das ok, verliessen das Hotel gleich wieder, um die Stadt zu erkundigen. Ich stellte fest, dass der Pass des Vaters ein Diplomatenpass war: General Stroessner, der Diktator von Paraguay empfahl dessen Inhaber, wem immer dieser begegne. „Habt Ihr gesehen, wen wir da bei uns haben? Tomás Romero Pereira mit Tochter und Schwiegersohn, den ehemaligen Präsidenten von Paraguay“ ereiferte ich mich. Sofort wurden diese in zwei unserer schönsten Salonzimmer umquartiert, Suiten waren im Moment nicht verfügbar, dafür aber die grossen Aufmerksamkeiten mit Spumante, Früchten und Blumen, Blumen! in den Zimmern arrangiert. Am folgenden Tag kamen die drei zu mir an den Empfang und der Vater sagte: „Es ist sehr aufmerksam von Ihnen. Wir wollen und können das nicht annehmen. Sie müssen wissen, ich bin eigentlich Architekt. Und einer der ganz wenigen Paraguayer, die ärmer aus ihrer Präsidentschaft heraus gekommen als sie eingestiegen sind“. Wie tief hatte mich dieser wahre Gentleman mit seiner direkten, ehrlichen Einfachheit beeindruckt. Welch eine Ehre für den aiuto-segretario, mit dem Ex-Präsidenten und seiner Familie anzustossen und zu plaudern, als wir später zufällig in einer Bar aufeinander trafen.
Doch auch die schönsten Geschichten haben ein Ende. Nach weiteren drei Tagen – zweifelsohne zauberhaften – war die Schöne entschwunden. Ganz diskret. Sie wollte weder maestro Ravina noch ihr selbst den Schmerz der Trennung vergrössern. Sie ging, ohne Gruss und liess ihm, maestro Mauro, als einziges Souvenir die Rechnung zur Bezahlung.
„Ja schon. Aber wir müssen durch den Streik die guten Patrons, wie unsere CIGA, zwingen auf die schlechten einzuwirken, damit diese ihren Angestellten dieselben vorteilhaften Bedingungen gewähren,“ antworteten die total ideologisch verblendeten Gewerkschafts-angehörigen. Dem Argument, dass nicht alle Hoteliers ebenso gute Voraussetzungen haben wie eine Hotelkette, und deshalb gar nicht in der Lage sind, mehr zu bezahlen, waren sie unzugänglich. Bei Dienstantritt wurde ich ins Büro des Direktors gerufen: „Sind Sie doch auch Koch, nicht war?“ Würden Sie nicht so nett sein, während den Streiktagen unserem Küchenchef zur Seite zu stehen?“

Gegen Ende Oktober reisten wir nach Hause zurück, verliebt und bereits mit Gedanken an eine gemeinsame Zukunft. Mein Stage war beendet und ebenso Margots Semester am Eurocentro. Während sie in Zürich sofort Arbeit als Werbeassistentin in einer Industrie KMU fand, reiste ich nach Arosa ins alte Grand Hotel Tschuggen. Herrliches Herbstwetter herrschte, die Lärchen leuchteten in einem täglich blauen Himmel, bis am 11. November viel Schnee fiel und die ganze Saison über blieb.
Das Tschuggen wurde von Dr. Herwig, einem deutschen Arzt, im ausgehenden 19.Jh als Sanatorium gegründet und mit wechselhaftem Erfolg bis in die vierziger Jahre geführt. Die Entdeckung des Penizillins dann erlaubte Lungenkrankheiten an Ort und Stelle effizient zu behandeln. Der Begriff „Kurort“ von Arosa, Davos, Leysin und anderen verlor mehr und mehr seine Bedeutung von Heilung, zugunsten jener von Erholung und Sport.
Wie die Schweiz es fertig gebracht hat, Anstalten der Krankheit, der Schmerzen und des Todes in glitzernde Stätte von Lebensfreude und Luxus zu verwandeln gehört zu den bemerkenswertesten „Turn-arounds“ der Wirtschaftsgeschichte. Das Tschuggen brachte die Voraussetzungen für die Metamorphose von Sanatorium zum Wintersport Grand-Hotel mit: Ganz dem Süden zugewandt, die Zimmer mit weiten, sonnenbeschienen Loggias und herrlicher Aussicht auf Inner-Arosa, grosse öffentliche Räume, die nur darauf zu warten schienen, in ein elegantes Restaurant, eine tolle Bar umgewandelt zu werden!
Arosa liegt am Ende des Tals Schanfigg, wohin nur eine einzige Strasse und eine Linie der Rhätischen Bahn führt. Es eignet sich vorzüglich als Sportplatz und Hideaway für gehobene Kundschaft. Die Aufbaugeneration arbeitete in den Nachkriegsjahren hart, scheffelte Geld und wollte dafür etwas erleben, wollte sehen und gesehen werden. Galadiners wechselten mit grossen Bällen, zu denen Orchester wie Teddy Stauffer spielten der später in Mexico Weltruhm erlangte. Ebenso Modeschauen und während der Karnevalszeit Maskenbälle, wo Kostüme und Fantasie regierten. Es herrschte eine unbeschwerte Aufbruchstimmung
Früher führte sogar ein Bobsleigh-Run vom Eingang Arosas nach Litzirüti. Im Winter jener Jahre wechselten sich Pferdekutschen-Fahrten mit Skilaufen ab, und spätestens ab sechzehn Uhr fand sich die ganze elegante Gesellschaft zum Thé dansant ein, sei es im Tschuggen, sei es im Kulm, wo später Hazy Osterwald täglich, nachmittags und abends, die Halle im Kulm füllte. Damals herrschte Ines Torellis "Gigi von Arosa" nicht nur übers Schanffig, sondern über die ganze Schweiz.
Die Schweizer Grand-Hotels waren zu jener Zeit sehr viel einfacher als die heutigen. Noch nicht alle Zimmer verfügten über ein eigenes Bad, die einfachsten Nordzimmer im Tschuggen waren gar noch mit den weissen Nachttischchen aus dem Sanatorium möbliert. Das spielte aber damals keine grosse Rolle. Es ging ums Dazugehören. „Besser die letzte Besenkammer im Grand-Hotel als das beste Zimmer in einem Hotel der unteren Kategorie,“ anvertraute mir einmal ein Gast. Die Häuser hatten nichts mit einem Plaza Athénée von Paris zu tun, auch nicht mit einem Excelsior Florenz. Sie lebten durch ihre Gesellschaftlichkeit, durch die Ambiance, die dort herrschte. Und es waren die Hoteliers jener Zeit, welche diese schufen. Als echte maîtres de maison, als wahre entertainer. Im Tschuggen war das zu meiner ersten Saison dort leider nicht mehr der Fall. Es herrschte eher eine Atmosphäre „so gut wie nötig". Für mich war klar, dass ich nie mehr ins Tschuggen zurück kehren würde, so gut mir die ausgesprochen positive und herzliche Arbeitsatmosphäre gefallen hatte. Ebenso sehr spürte ich, nie mehr als main-courantier, Gästebuchhalter, arbeiten zu wollen. Gott sei Dank gehörten in der Vorsaison Korrespondenz und Wareneinkauf zu meinen Obliegenheiten, was wir im kleinen Team besorgten. Der Zahlenbeigerei der main-courante war ich eher abhold doch mit den allgemeinen Empfangsarbeiten war es ganz zufriedenstellend für mich. Praktische Erfahrung mit der Gästebuchhaltung war unerlässlich für das weitere Fortkommen.
Die herausragendsten Momentum der Saison waren ohne Zweifel Margots Wochenend - Besuche. Viele davon verbrachten wir bei Familie Jelen. Hans war der Erfinder der Keilhose (gleichzeitig mit Allard in Megève, Frankreich,) seine Frau Gret eine Freundin meiner Mutter. Mit ihren Söhnen Urs und Jan freuen wir uns auch heute noch zu treffen, bei den leider immer selteneren Besuchen in Arosa.
Frau Krafts Empfehlung bei ihrem Neffen hatte gewirkt: Im Februar bekam ich einen Vertrag als Korrespondent ins Gritti Palace Venedig. Nun ging es darum, ebenfalls für Margot eine Stelle in Venedig zu finden. Wir hielten es beide für ratsam, dass sie sich vor einer möglichen Heirat mit der Hotellerie vertraut machen würde. Dott. Natale Rusconi, der Vize-Direktor des Gritti Palace gab uns dazu nützliche Tipps, sodass es für sie im Hotel Marnin am Bacino Orseolo zum Klappen kam.

Dott. Natale Rusconi. Er hatte mich schon mit seiner Unterstützung zur Stellensuche für Margot beeindruckt, bevor wir uns persönlich begegnet waren. Wie spontan er auf meine eher schüchtern formulierte, schriftliche Frage einging! Seine gewinnende Art habe er von Fred Laubi, der damit das ganze Haus prägte und auch die Art "hands on" das Haus zu führen. Dott. Rusconi übersetzte das Deutschschweizerisch-nüchterne Wohlwollen seines Vorgesetzten in die italienische, spontane Herzlichkeit, die man im ganzen Haus spürte."Es wird Ihnen bei uns gefallen, Signor Thommen, meinte Personalchef Brocca, "wir sind hier wie eine Familie." So empfand ich es, vom ersten bis zum letzten Tag der beiden Sommer meiner Arbeit dort.
Entsprechend seinem Werdegang ging Rusconi unser Métier kultiviert an. Erst nach Erlangen von einem Lizenziat in Literatur und eines weiteren, ging er, dreissigjährig, als stagiaire in die Küche des Savoy Hotel nach London. Die Leidenschaft fürs Kulinarische liess ihn nie mehr los: er übersetzte den Pellaprat, damals ein massgebendes französisches Kochbuch ins Italienische, diktierte mir dafür die Rezepte. Er war einer der allerersten, welche schon in den Sechzigerjahren von der Grand Hotel Küche wegkamen, mit lokalen Spezialitäten, auch der cucina povera der Spitzenhotellerie einen sympathischen touch verlieh, (allerdings nicht zu prezzi poveri.) Auch denke ich, dass er der erste war, in einen Haus der Luxusklasse Kochkurse für seine Gäste einzuführen. Er unterhielt Kontakte zu berühmten Malern, wie ich an zwei kleineren Bildern von de Chirico in seinem Büro erkennen konnte. Jedermann, der in Venedig Rang und Nahmen hatte, kannte er, und selbstverständlich auch unter den Gästen. Der dottore unterhielt sich mit allen, auch Mitarbeitern mit derselben Freundlichkeit, ohne sich von irgend jemandem vereinnahmen zu lassen. Wir verspürten auf diese Weise kaum seine Strenge, mit der er den Regeln des Hauses Nachdruck verlieh: Bis 17 Uhr grauer Anzug, danach dunkelblauer. Sofort vom Büro aufspringen, wenn ein Gast sich dem Empfang nähert, selbstverständlich mit dem Veston immer zugeknöpft. Das Telefon sofort nach dem ersten Klingeln abnehmen. Rasch sah ich in Natale Rusconi mein Idol, dem ich zeitlebens nacheifern würde.
In der zweiten Saison kamen Spannungen auf zwischen uns beiden. Mir war so wohl im Gritti Palace, wo uns Mitarbeiter nicht nur eine familiäre, sondern geradezu eine verschworene Atmosphäre verband, sodass mir die zahlreichen Überstunden, die wir alle zusammen dort schoben leicht fielen. Es war schlicht und einfach faszinierend für mich! Auch Margot lobte den Arbeitsgeist, die herzliche Zusammenarbeit in ihrem Londra & Beaurivage. Vom Kaufmännischen her kommend, überlegte sie rationell, teilte ihre Arbeitszeit nach dem effektiven Aufwand ein und nicht nach der Stimmung, die gerade herrschte. Wenn ich dann mit bis zu zwei Stunden Verspätung bei ihr eintraf, war das Willkomm eher unterkühlt. Anstatt, dass ich auf sie gehört und dadurch unvergleichlich an Effizienz gewonnen hätte, legte ich ihr das als mangelndes Verständnis für die Eigenarten der gehobenen Hotellerie aus! Trotzdem überwog die Liebe, Venedig mit all seinen Festen nahm uns gefangen. All diese Annehmlichkeiten und Zerstreuungen erlaubten mir, über diese Meinungsverschiedenheit hinweg zu sehen. In jeder Hinsicht blieb Venedig prägend für unser späteres Leben.

Der Abschied war gar nicht so schmerzlich. Wir wussten ja, dass wir füreinander bestimmt waren. Vielleicht interessiert es einen möglichen Leser, wie sich eine solche Trennung in der Vor-Handyzeit, noch ohne E-Mail, SMS und all den heutigen Kontakt Apps ausnahm:

"Ja, ich habe gehört, dass Sie in die Schweiz zurück wollen um dort das Seminar für Unternehmensführung in Hotellerie und Restauration zu besuchen. Ja, warum nicht. Obschon ich Ihren Weggang bedaure," meinte Herr Laubi, als ich ihm meine Pläne darlegte. "Dann habe ich auch gehört, dass Sie heiraten wollen. Dazu möchte ich Ihnen einfach sagen, dass sich viele Türen schliessen, wenn man heiratet und dann Familie hat. Sagen Sie mir jetzt nicht, wir wollen noch keine Kinder. Kinder kommen, wann sie wollen. Und das ist gut so. Doch dann ist man weniger flexibel, mehr ortsgebunden und das schränkt Karrierechancen ein. Und noch etwas: Sie haben die Tendenz, längere Schritte zu machen, als Sie Beine haben. Seien Sie vorsichtig. Denken Sie vielleicht über all das nach. So oder so, ich wünsche Ihnen alles Gute."
Dass mir diese Worte gefreut hätten, wäre wohl übertrieben. Immerhin gestand ich Herrn Laubi zu, dass er offen und ehrlich mit mir gesprochen hatte. Das war zweifelsohne mit ein Grund, dass wir uns später anfreundeten, als ich meine Empfänge in Montreal und New York in den Hotels durchführte, die er leitete. Bis zu seinem Tod, im Jahr 2011, blieben wir einander verbunden. Die Nähe unserer Wohnorte half dabei, er und seine zweite Frau Christina in Castagnola, wir in Minusio. Fred hatte spät, erst mit zweiundvierzig geheiratet. Seine erste Ehe verlief nicht glücklich, wie mir Georges Marin einmal anvertraute, als ich ihn sehr viel später einmal in Paris besuchte.
Unser Wunsch, in in der Chiesa St. Maria dei Miracoli zu heiraten, erwies sich einerseits als zu kompliziert, mit all den Papieren und Ausweisen, die dafür zu erbringen waren. Andrerseits wäre die Reise dorthin für einige unserer Verwandten zu beschwerlich, für andere zu kostspielig gewesen. So heirateten wir am 11.11.1967 in der Martinskirche in Zürich. Unsere Hochzeitsreise verbrachten wir als Touristen in unserer Heimatstadt Zürich. Wir besuchten Oper, Schauspielhaus, Ausstellungen, genossen die besten Restaurants, trafen uns mit Freunden, Familie und Bekannten.
Teilnahmebedingung für diese Kurse war eine Führungsposition. Herr Candrian unterstützte meine Anmeldung mit dem Hinweis, dass ich zwar nicht Abteilungsleiter wäre, so doch eine wichtige Funktion in der administrativen Leitung von über fünfhundert Mitarbeitern aus zwanzig verschiedenen Nationen inne hätte. Das wurde vom organisierenden Schweizer Hotelier Verein akzeptiert.
Eines schönen Tages eröffnete mir Margot, dass sich unser Leben verändern würde: “Wir werden Eltern, Jürg“. Welch eine überwältigende Überraschung! Mir kam es vor, freudig und gleichzeitig ungläubig zu taumeln. Ich brauchte einige Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen. Dazu half die Suche nach Kinderbett, das Schwangerschaftsturnen mit Einbezug der werdenden Väter, Ende der sechziger Jahre eine absolute Neuheit. Margot sah man bis zuletzt ihre Schwangerschaft kaum an. Sie bewahrte ihre schöne Silhouette. Sie verstand es wunderbar, mich auf meine künftige Vaterschaft vorzubereiten, mich einzuführen in die Obliegenheiten, welchen wir entgegen gingen. Ihre Mutter, zu der ich ein herzliches Verhältnis pflegte, unterstützte uns beide mit Rat und Tat.
Strebsamkeit kann einem auch in die Quere kommen. Diese Bemerkung, die erste in meinem Tagebuch das ich seit 1968 führe, hatte sich tief in meine Seele geritzt. Unsinnig, aber so war es. Ich genoss mein Leben nach wie vor. Aber mein Ehrgeiz war aufgestachelt, die innere Ruhe verloren. Nach dem dritten Kurs im Herbst 68 streckte ich meine Fühler in der Hotellerie wieder aus, um nach Beendigung des Seminars mein Ziel zum Hoteldirektor weiter zu verfolgen. Vielleicht als Sektorverantwortlicher in einem Grossbetrieb, als Direktionsassistent in einem Familienbetrieb, Direktor eines kleineren Hotels einer Kette? Ich hatte keine Ahnung! Überall schrieb ich hin, in die CIGA nach Italien zuerst. Nach Belgien und natürlich nach Hongkong ins Peninsula, dem Traumziel jener, die besonders hoch hinaus wollten. Dann auch auf ein anonymes Inserat, mit welchem ein Directeur-adjoint, ein stellvertretender Direktor, für ein berühmtes Palace an der Côte d'Azur gesucht wurde.

1 x ohne Salz, 1 x ohne Butter und Milch 1 x ebenso und ohne Salz und 1 x mit Milch, gesalzen aber ohne Butter. Als Beilage zu Fisch, Fleisch oder Scampi, zumeist gegrillt oder pochiert, auf jeden Fall ohne Fett.
„Und das, ist das ohne Butter?“ – Er schmetterte mit der Gabel den Kartoffelstampf auf des Maîtres Rever – „und das, ohne Milch, und das ohne Salz,“ schrie er, während er den Smoking des Oberkellners immer weiter voll kleckerte. Major Leal, der das Ganze aus seiner Ecke beobachtet hatte sprang nun von seinem Stuhl auf, fuchtelte mit Messer und Gabel durch die Luft und schrie zur Melodie der Marseillaise durchs Restaurant: „aux armes Citoyen!, aux armes Citoyen“.
Aber auch das: Zu einem mitternächtlichen Gala-Empfang des Festival du film de Cannes im Eden Roc erschien ein Starlett. Gross gewachsen, „Beine bis zum Hals“, auf high heels und in hot pants, wie man die ultraknappen Shorts damals nannte, mit push-up BH, alles aus Jeansstoff. Anstelle vulgärer Nieten an den Nähten funkelten Diamanten in den Scheinwerfern des Eingangs. Mir war, als zelebriere diese Venus in Blue Jeans mit ihrem Auftritt im glitzernden Licht die neue Zeit des Überflusses, der ungehemmten Lust und der bedingungslosen Verzückung.

Im letzten Sommer, 1972, zeichneten sich im Hotel du Cap Spannungen ab. Die Zimmer im Untergeschoss vermieteten sich nicht so einfach. Den Stammgästen behagte die Gartenebene nicht. Obschon die Unterkünfte grosszügiger sind als jene der oberen Etagen, wirkliche, geräumige chambres-salon. Sehr elegant eingerichtet, alle Badezimmer mit grossen Marmorplatten rose du Portugal ausgekleidet. Der private Garten davor wirkt einladend. Doch von der Halle aus die Treppe runter – oder im zauberhaften, antiken Lift - anstatt in die oberen Stockwerke zu entschweben - dazu mussten wir jeden Gast erst einmal überreden. So verknurrten wir vorzugsweise neue Gäste des Hauses in den sous-sol, wie die Garten-Etage von den Stammgästen abschätzig bezeichnet wurde.
JC Superstar machte seine Zweifel am Resultat offen kund. Ausser Wolfgang Geisse und der Gattin des Eigentümers sprach niemand aus der Verwaltung französisch. Und JC kein Deutsch. Die Unterhaltungen und Diskussionen tätigte man in einem nicht sehr fliessenden Englisch, ausser mit den zwei genannten Französisch sprechenden Persönlichkeiten. Bei Maja Oetker versprühte Monsieur le directeur seinen ganzen südfranzösischen Charme, grosszügig und erfolgreich. Geisse schilderte er seine Zweifel unmissverständlich und zuweilen scharf formuliert. JC wusste diese vor allem auch an den geeigneten Stellen zu streuen.
„Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, mon cher Thommen“ sagte er zu mir eines Tages. „Sie haben das Zeug zum Direktor. Stellen Sie sich vor, ich habe kürzlich vernommen, dass das Mont d'Arbois in Megève eine neue Direktion sucht. Es handelt sich um das einzige „Palace des neiges“ Frankreichs, von denen Ihr in der Schweiz so viele habt. Es ist im Besitz von Edmond de Rothschild. Das wäre doch etwas für Sie! Wenn es Sie interessiert, leite ich Ihre Bewerbung gerne an die passende Stelle.“
Dafür war ich ihm sehr dankbar. Spannungen ertrug ich schlecht, umso mehr als diese sich akzentuierten. Natürlich glaubte ich verstanden zu haben, sowohl von Wolfgang Geisse wie auch von seinem Vorsetzten, Dr. Sandler, dass es im du Cap schon Entwicklungsmöglichkeiten gäbe. Ich müsse sie nur wahrnehmen.
Sowohl aus meinem Naturell heraus als auch berufsbedingt, bin ich harmoniesüchtig. Mir eine Position gegen jemanden zu erkämpfen, der mich darüber hinaus geradezu freundschaftlich behandelt hatte, ausgeschlossen! Mit meinem Hang zur Harmonie bin ich allerdings nicht alleine. Vor allem Hoteliers in Ferienbetrieben leben von der guten Atmosphäre, die unter Gästen, Mitarbeitern aber auch in der Beziehung zwischen Direktion und Verwaltungsrat herrscht. Der schlaue Fuchs JC hatte das schnell einmal festgestellt. Auch bei meiner Weiterempfehlung handelte er nicht unbedingt selbstvergessen. Wir hatten im Frühjahr Max Keller als Empfangschef engagiert, den späteren Direktor des Peninsula Hongkong und Palace St. Moritz. Trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten konnte ihm Keller in der aktuellen Position nicht gefährlich werden: Während ich von der Schweizer Besitzerfirma unter Vertrag stand, hatte Max Keller einen solchen direkt mit dem Hotel. Über diesen entschied Irondelle selbstständig.
Voller Stolz nahm ich die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in Paris an. Diese erging an mich und meine Frau, obschon ich mich als Direktor beworben hatte, nicht wir als Direktionsehepaar wie damals noch üblich. In meiner Laufbahn hatte ich das eine oder andere unglückliche Direktionsehepaar gesehen. Die Frau übernahm traditionsgemäss die hauswirtschaftliche Leitung, verhärmte dabei leider oft, wurde bissig. Niemals wollte ich das meiner Frau antun und mit ihr zusammen arbeiten. Sie sollte für die Kinder da sein und mir entspannte Gefährtin. Ob meiner damaligen Vorstellung von Ehe und Familie kann ich heute nur den Kopf schütteln.
Zu unserer grossen Überraschung empfing uns Monsieur le Baron höchst persönlich. Er schilderte, wie seine Mutter, die Baronne Maurice de Rothschild, nach dem ersten Weltkrieg zur Erholung ins Palace nach St. Moritz kommen wollte, aber nur unter der Bedingung, dass dort keine deutschen Gäste logieren würden. Der erste Gast, der ihr die Hand entgegen gestreckt haben soll, sei ein deutscher Offizier gewesen. Beleidigt, verletzt reiste sie ab und schwor sich, einen Konkurrenzort zu St. Moritz und seinen grossen Hotels zu schaffen. Ihren Skilehrer, Herrn Parodi nahm sie gleich mit. Er würde nicht nur fürs Hotel, sondern auch für die Planung der Luftseilbahnen und Skilifte verantwortlich sein. Megève erreichte zwar nie die Grösse von St. Moritz. Aber es wurde zu einem kleinen, sehr feinen Resort. Madame la Baronne zog sehr elegante Familien an, deren Nachfahren ihrem Sohn, Monsieur Edmond die Treue hielten und deren Kinder wiederum heute ihrem Enkel, Monsieur Benjamin.
"Es geht um nichts weniger als um die Bewahrung und Entwicklung der „corbeille de mariage“ meiner Mutter, welche die SFHM SA, société française des hôtels de montagne verwaltet. Sie umfasst vier Sektionen: die Skilifte und Seilbahnen, denen Maurice Milloz vorsteht. Die promotion immobilière unter der Leitung von Michel Petit, die Sektion Club, Golf, Tennis Reiten unter Christian Henrion, der gleichzeitig der directeur général der SFHM und damit auch wichtige Verbindungen zum directeur d'hôtel pflegt. Die vierte Sektion ist die Hotellerie. Der Linienvorgesetzte des Hoteliers ist Pierre Copin, ein Direktor meiner Bank.
Nebst dem Hôtel du Mont d'Arbois von 150 Betten, das im Winter etwa vier und im Sommer drei Monate geöffnet ist, gibt es das Chalet du Mont d'Arbois, ein Relais de Campagne, mit 13 Zimmern und eigenständigem Restaurant. Es ist das ganze Jahr in Betrieb. Dort empfangen wir die Interessenten für Ferienwohnungen, die wir auf dem Plateau du Mont d'Arbois erstellen, um sie auf unsere Atmosphäre einzustimmen.
Die Verantwortlichkeit des Hoteliers erstreckt sich weiter auf das Restaurant les mandarines, auf 1600 m.ü.M, im Winter zum Lunch geöffnet. Auf 1800 Metern liegt das Hôtel Idealsport, sehr sportlich, mit 60 Betten, eingeteilt in Zwei- bis Vierbettzimmer, dessen grosses Terrassenrestaurant tagsüber auch von Skiläufern geschätzt wird. Es ist von les mandarines aus nur mit dem ratrac erreichbar, mit dem Pistenfahrzeug, sowohl für Gäste wie für Mitarbeiter und auch für die Lieferungen. Beide werden nur im Winter betrieben. Weiter hinten im Tal befindet sich das Restaurant de la ferme Côte 2000, am Fuss des gleichnamigen Skilifts. Dieser, gegen Norden gewandt, ist vor allem im Frühjahr wegen seiner Schneesicherheit beliebt und im Sommer ist das Restaurant Ausgangsort für Wanderungen.
Sehen Sie, Monsieur et Madame Thommen, ich freue mich, Sie kennenzulernen und ich erzähle Ihnen gerne vom Hotel und Megève, dem ich sehr verbunden bin. Aber dass das klar ist: ich will ein Ehepaar, nicht nur einen Direktor. Es macht nichts, wenn die Frau nicht vom Fach ist. Aber es muss immer jemand von den beiden im Hotel sein. Es braucht eine Seele, mein Hotel. Wären Sie denn bereit, Madame Thommen, mit Ihrem Mann mitzuarbeiten?"
Als hätten wir uns abgesprochen, sagte Margot spontan zu. Damit hatte sie mich tief beeindruckt, denn sie kannte meine Einstellung zu Direktionsehepaaren.
"Aber ich muss Ihnen sagen, Sie beide scheinen mir sehr jung zu sein für diesen Posten. Wissen Sie, die SFHM ist ein panier de crabes, da ist jeder gegen jeden! Schrecklich! Da oben sind Sie dann ganz alleine. Die ideale Direktion wäre um die fünfundvierzig, mit richtigen Ellbogen um sich durchzusetzen! Doch wenn Sie meinen, die Position wäre etwas für Sie, sehen sie sich das Plateau du Mont d'Arbois einmal an und geben Sie uns Bescheid. Ich bitte Sie, das in nächster Zeit zu tun. Wir sind anfangs September und der jetzige Posten-Inhaber geht Ende Jahr nach Hamburg."
Diskretion gilt, in der Hotellerie, vor allem in der gehobenen, als die hervorstechendste Tugend unserer Zunft. In der Tat wurden Direktoren und Mitarbeiter solcher Häuser, in jenen Zeiten, in denen es noch nicht üblich war, Doppelzimmer an unverheiratete Paare abzugeben, Zeugen von Situationen, deren Verlautbarung nicht allen Gästen zum Vorteil gereicht hätte. Im Hohelied auf unsere Verschwiegenheit schwangen deshalb mehr Hoffnung der Gäste als Tatsachen mit.
Bereits als ich nach Megève fuhr, hatte man mir den Namen eines Kollegen aus Cannes zugetragen, der als bevorzugter Kandidat für die SFHM gehandelt wurde. Margot hatte aber beim Tennis rein zufällig von einer Freundin der Frau eben dieses Kandidaten erfahren, dass sie keinesfalls Lust verspüre, von der Côte d'Azur weg von all ihren Freundinnen in die Berge zu ziehen. Französinnen stehen oder standen zumindest damals im Ruf, verspielte Gattinnen und Partnerinnen zu sein. Aber beim Weg- oder Umziehen aus der gewohnten Umgebung, da hörte der Spass auf. Margot und ich konnten uns deshalb von allem Anfang an gute Chancen für diese Position ausrechnen.
Es war ein zauberhafter Septembertag, als der Chauffeur Marcel mich am Flughafen Genf abholte, damals noch etwas über eine Stunde von Megève entfernt. Direktor Hans Appel, mit dessen Frau Johanna ich an der Hotelfachschule Lausanne in derselbe Klasse gesessen hatte, berichtete mir begeistert von seiner Berufung nach Hamburg während er mich auf und durch die ganze Domäne führte. Er versprach, alles vorzubereiten, damit ich die Saison problemlos angehen könne. Das Personal würde engagiert sein, die Einkäufe getätigt, die Saisonorganisation aufgelistet. Er machte mich mit den Jahresangestellten bekannt, kommentierte deren Stärken und allfällige Schwächen und versicherte, dass mich das Team unterstützen würde. Kühler waren die Treffen im „centre administratif“, wo die Leitung der anderen Abteilungen arbeitete und auch das Büro des Hoteldirektors war. Er hoffe, dass ich mit Monsieur le Baron einig würde und ich mich auch kurzfristig vom Hôtel du Cap freimachen könne, denn er beginne am ersten Dezember in Hamburg.
Auf dem Rückflug am folgenden Tag liess ich mir das Treffen nochmals durch den Kopf gehen. Mit seinen ganzen Aussenbetrieben war der Betrieb wesentlich umfangreicher, als ich mir vorgestellt hatte. Doch ging ich die aufgezeichnete Organisation nochmals durch, notierte mir Fragen dazu und was ich allenfalls zu ändern gedächte. Es gab da noch Einiges zu klären, doch zum Grossteil schien mir das machbar. Den Leuten im centre administratif, die sich vor Hans Appel recht zugeknöpft zeigten, wollte ich erst einmal zuhören. Das musste doch zu schaffen sein!
Margot wartete gespannt auf meine Eindrücke. Wir diskutierten bis tief in die Nacht, obschon uns beiden klar war, dass wir zusagen würden. Wir waren beide einunddreissig, und übernahmen das einzige Palace des neiges de France!
Von Monsieur Copin liess ich mir versichern, dass eine Schliessung des defizitären Hotels niemals auch nur in Betracht gezogen werden könne. Im Gegenteil, man suche intensiv nach einer Lösung, um es tragbar zu gestalten. Amortisationen seien keine zu tätigen, denn diese würden durch die Gewinne der Immobiliensektion getragen.
Die Bedingungen entsprachen unseren Vorstellungen, wir unterzeichneten den Vertrag. Sowohl Herr Geisse wie auch Monsieur Irondelle zeigten sich kooperativ und liessen mich anfangs Dezember ziehen. Zuvor arrangierte Jean-Claude noch ein Treffen mit seinem Bruder, welcher früher ein Wintersporthotel auf der Alpe d'Huez geleitet hatte und mir einige höchst nützliche Hinweise gab:
„Ich bin für meine Gäste immer präsent. Ich offeriere meinen Gästen gerne und viel, dafür schalte ich keine Zeitungsinserate. Denken Sie daran, auch für schlechtes Wetter ein paar Unterhaltungen zu bieten. Seien Sie selbst sportlich und zeigen Sie sich auf den Pisten, dem Eisfeld!“
An den Übersiedlung erinnern wir uns nicht mehr. Schnell hatten wir eine Umzugsfirma organisiert, die unseren damals noch bescheidenen Hausrat vorbildlich packten und im Chalet Kisling, unserem neuen Wohnort unter Anleitung von Margot präzise einräumten. Patrick dreieinhalb, Claudine ein einviertel nahmen den Wechsel kaum wahr und erinnern sich nicht daran.
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Die ersten Festtage verliefen gut. Auch die distanzierteren Gäste zeigten sich bereits ab der ersten Cocktailparty du directeur aufgeschlossen und zugänglich. Bei der ersten war ich vor Aufregung einem Herzinfarkt nahe. Doch Madame Lacroix, die Elegante, Schöne unter den Schönen kam lächelnd auf mich zu: „Das ist wohl das erste Mal, dass man mir etwas im Mont d'Arbois offeriert“ Damit löste sie meinen Krampf und alles verlief in entspannter, fröhlicher Weise. Nie, nie hatte ich diese entscheidende Hilfeleistung vergessen, die sie mir unbewusst erbracht hatte!
Aber für Margot war die erste Zeit nicht einfach. Die Verpflegung, die vom Hotel in unser Chalet geliefert wurde und die Zimmermädchen, welche monatlich und auch für die saisonale Grossreinigungen bei uns mithalfen, erleichterten gewiss die Haushaltführung. Doch nun arbeitete sie erstmals in der Luxushotellerie, die ihr fremd war und hatte unsere Kinder einem Kindermädchen anzuvertrauen. Die ersten beiden, welche je eine Saison mit uns lebten, erwiesen sich als eher unselbständig. Für meine Frau bedeutete das fast ein weiteres Kind, wenn nicht gar zu hüten, so doch zum Ein- und Anweisen. Nachdem wir das dritte Kindermädchen gewechselt hatten, klammerte sich Claudine an Margot und sagte: „Du aber, Mamman, du bleibst doch, oder ?“ Doch dann kam Mathilde, die intelligente, sanfte, mit der wir noch über Jahre nach unserer Rückkehr in die Schweiz Kontakt pflegten, gefolgt von Cathy, mit der wir noch heute, trotz grosser Distanz zu ihrem Wohnort oberhalb Aix-en-Provence, befreundet geblieben sind.
Margot lebte sich dank ihrer kaufmännischen Ausbildung und beruflichen Praxis in der Werbung rasch ein. Sowohl an der Reception und dank ihres gesunden Menschenverstandes, gepaart mit einem ausgesprochenen Sinn fürs Praktische, auch in der Hauswirtschaft. Rasch hatte sie sich den Ruf als freundliche, sehr konsequente Vorgesetzte errungen. „Wenn du etwas willst“, hiess es unter den Mitarbeitern, „dann gehe besser zu ihm als zu ihr...“
Die Spannungen zwischen uns nahmen zu: Margot war wie ich mittelständischer Herkunft. Trotz des guten Ranges der Hotels Marnin und Londra & Beaurivage in Venedig, Umgang mit einer Kundschaft wie an diesem Ort kannte sie nicht. Instinktiv und sehr vernünftig hatte sie seit jeher eine Grenze zwischen beruflichen Kontakten und persönlichen Freundschaften gezogen. Beziehungen zu Gästen aufzubauen empfand sie als Aufgabe. Small talk war für sie oberflächlich, eine Verschwendung der eh knappen Zeit, die sie lieber mit ihren Kindern verbringen würde. Dazu kam, dass sie die Lebensart unserer Gäste nur sehr bedingt nachahmungswürdig empfand. Für mich hingegen war Gästepräsenz stimulierend. Unterhaltungen mit politischen Persönlichkeiten wie dem Bürgermeister von Bordeaux , dem Verleger „JJSS“ Jean-Jacques Servan Schreiber, mit Senatoren und Parlamentariern gaben mir da und dort interessante Hintergrund-Informationen über die politischen wie auch gesellschaftliche Geschehnisse. Wie mir das schmeichelte! Für die Familie hatten wir doch so viel Zeit in der Zwischensaison... „Ja klar. In der Zwischensaison holst du uns aus dem Kasten raus und kaum beginnt die Saison, willst du uns wieder darin versorgen“ ärgerte mich Margot. Wie viel Zeit musste vergehen bis ich begriff, dass die vielbesungene „Quality time“ der Kinder eben von deren Bedürfnissen und nicht der Agenda der Eltern bestimmt wird.
Irondelles Maxime, nach welcher jene Person das Hotel beherrscht, die Gäste und Mitarbeiter für sich zu gewinnen vermag, hatte ich mir tief verinnerlicht. Sie kam auch meiner Neugierde an Anderen, an meiner Freude am Schaffen eines harmonischen und stimulierenden Ambiente entgegen. Obschon ich blitzartig begriffen hatte, dass ich im Mont d'Arbois nur bestehen kann, wenn ich mich so gebe wie ich bin, ohne mondänen „Überschmäh“, wollte ich Margot nicht zugestehen, dass sie mit ihrem gesunden Menschenverstand und ihren Erfahrungen in der venezianischen Hotellerie es hier schon schaffen werde. Ich verlangte von ihr, dass sie sich ganz nach mir richte, wie etwa folgendes Beispiel illustriert:
Es war Mitternacht und wir waren gerade am weggehen. Ein Gästepaar, eben zurück vom Restaurant, welches wir ihnen im Dorf empfohlen hatten, erblickte uns und wollte seine Begeisterung über den Abend noch unbedingt bei einem Absacker aufleben lassen. Margot war müde. Obschon ich das klar feststellte, willigte ich ein, sehr zur Freude der Gäste, sehr zum Verdruss von Margot.
„Ich bin todmüde. War jetzt das wirklich notwendig, nochmals eine Stunde bei so blödem Geschwätz zu verlieren? Hätten die uns das nicht morgen erzählen können?“ knurrte sie auf dem Heimweg.
„Wann immer du kannst, musst du den Gast in seiner Begeisterung abholen. Das ist es, was seinen Eindruck über Haus und Leitung prägt. Morgen ist seine Begeisterung verflogen, die Erinnerung an den Restaurantbesuch ein fait divers unter vielen. Nichts mehr, was ihm eine prägende Erinnerung schafft. Und von diesen leben wir. Von begeisterten Erinnerungen.“
Nichts hätte – und hat mich später – von dieser Überzeugung abbringen können. Meine Toleranz auf diesem Gebiet war gleich null. Eine Haltung, die nicht mit der meinen identisch war oder ihr mindestens glich, entsprach für mich nicht dem beruflichen Ethos, das nach grösstmöglicher Identifikation mit dem Haus verlangte. Gerade in solchen Situationen hatte man sich zu beweisen!
Die Kundschaft des Mont d'Arbois bestand hauptsächlich aus liberalen Juden. Grossteils war es jenes elegante Pariser Set aus dem Umfeld des Eigentümers. Aus Frankreich kamen sie auch aus der Gegend von Marseille, wenige aus der France profonde, dem Zentrum des Landes. Vom Benelux waren es hauptsächlich Belgier, einige Engländer, praktisch keine Deutsche. Fast alle waren mit Israel verbunden. Drei Eigenschaften stachen aus den vielen hervor, die sie uns vermittelten: Grosszügigkeit, Lebensfreude und Witz, alles im Glanz von bestechender Eleganz. Deren Spass am Verhandeln der Konditionen schränkt ihre Grosszügigkeit in keiner Weise ein. Mir schien es oft mehr im intellektuellen Vergnügen begründet, als im eigentlichen Herausholen eines Vorteils.
Diese Grosszügigkeit fand ich auch in einem ganz anderen Bereich: Zu meinem entsetzten Erstaunen, fand ich am Faubourg St.Honoré 47, am Sitz von Edmond de Rothschild, also im eigentlichen Nervenzentrum des internationalen Kapitalismus unter diversen Zeitungen die Humanité aufliegen, das Zentralorgan der damals so mächtigen kommunistischen Partei Frankreichs. Nie hatte ich zuvor dieses Blatt auch nur anzurühren gewagt! Auf meine schüchterne Frage an Pierre Copin, meinen Vorgesetzten, antwortete er fast verständnislos: „Ist doch klar, dass wir das lesen. Schliesslich müssen wir wissen, was unsere Gegner im Schilde führen.“ Er sagte Gegner. Nicht Feinde.
An Galas und Festen, wie beispielsweise dem Showboat, in welches wir unser Restaurant für Sylvester verwandelt hatten, tanzten unsere Gäste schon beim Betreten des Restaurants, bevor sie sich an ihre Tische begeben hatten, zu den Klängen der ehemaligen haricots rouges. Welch ein fröhliches Einlassen auf die zauberhafte Atmosphäre, die wir mit grossem Aufwand geschaffen hatten! Nicht umsonst ist der schönste Trinkspruch, den ich kenne, ein jüdischer: „auf das Leben.“
Im Nachhinein kann ich in keiner Weise sagen, dass wir als Nichtjuden uns in irgend einer Art ausgegrenzt gefühlt hätten, ganz im Gegenteil. Ob sich das gleich verhalten hätte, wären wir nicht ihre Dienstleister, sondern Konkurrenten gewesen, vermag ich nicht zu sagen.
Wenn die ersten Monate waren für Margot nicht einfach waren, verkamen die ersten zwei Jahre unserer Zusammenarbeit zur Hölle: Obschon Margot ihre Arbeit gewissenhaft erledigte, genügte mir das nicht. Ihr Fehlen jeglicher Begeisterung für Mondänität empfand ich als Unfähigkeit, in einer Ambiance aufzugehen. Wer darin nicht aufgehen kann, vermag keine zu schaffen. Menschen, die sich nicht begeistern können, wovon leben die eigentlich?
Meine Haltung hatte überflüssige Kontrollen ihres Arbeitsgebiets zur Folge, die von Margot verständlicherweise negativ aufgenommen wurden und unsere Beziehung belasteten. Während sie mir vorwarf, ausgesprochen oder im Stillen, meine Verpflichtungen gegenüber der Familie nicht wahrzunehmen, war ich der Überzeugung, dass ihr das Verständnis für diese Art von Hotellerie abgehe – völlig abgehe - ganz zu schweigen vom mangelnden Einfühlungsvermögen in meine grosse Verantwortung! Wie wohl tat mir da das Scherzen mit den Gästen, das flirten, welches unser brillantes jüdisches Pariser Milieu, fröhlich und lustig kultivierte, ohne dem Inhalt irgend eine Bedeutung beizumessen. Wie man etwas sagt ist wichtig, nicht was – Hauptsache, es dient dem allgemeinen Amüsement. Auch das verbesserte Margots und meine Beziehung nicht unbedingt.
Im Moment, wo ich das schreibe, ist mir klar geworden, dass in der heutigen Hotellerie Margots Haltung aktuell ist und nicht die meine. Die meine entsprang wohl auch meiner Unsicherheit, der Situation gewachsen zu sein. Völlig daneben und umsonst: Bereits nach der Wintersaison wurde die elfmonatige Probezeit aufgehoben und unser Vertrag definitiv bestätigt. Mit den Kollegen der SFHM verstand ich mich auf Anhieb, denn mir leuchtete ein, dass der Gesamterfolg der Gesellschaft massgeblich war, nicht das Abheben des Hotels auf Kosten der anderen Abteilungen. Die Mehrkosten, die das beispielsweise bei der Schneeräumung durch die Seilbahngesellschaft mit sich brachte, gegenüber dem, was uns die Gemeinde berechnet hätte, wollte mein Vorgänger auf keinen Fall übernehmen und schuf sich so Schwierigkeiten. Nach wenigen Jahren befanden Verwaltungsrat und Gäste, dass wir beide die besten Direktoren seien, die den Mont d'Arbois je geführt hätten: nie hätte man je zuvor eine solche Wärme im Haus erlebt. Hätte ich Margot freier walten lassen, hätte das unserem Ansehen keinesfalls geschadet, uns beide hingegen wesentlich weniger gestresst und damit das Leben so sehr erleichtert!
Nach einem Jahr in der Wohnung von Appels im Chalet Kisling, eher ungünstig gelegen, zogen wir in ein Chalet inmitten grüner Wiesen im Gebiet le Maz, umgeben von Bauernhöfen. Es trug den Namen Le Fieuleu, nach einem Wind der Gegend. Patrick und Claudine bekundeten keinerlei Mühen, sich in ihren Schulklassen zurecht zu finden, fanden zu unserer Freude schnell Freunde, in der Schule selbst, der Nachbarschaft und auch in der Umgebung des Hotels. Dass es alles Einheimische waren und die beiden nun sehr naturverbunden lebten, machte uns besonders glücklich.
Auch wir wurden gut aufgenommen: noch im ersten Jahr wurden wir von Paul Duvillard in sein Bauernhaus eingeladen, zur Einsegnung seines neuen Hausaltars. Alle Alteingesessenen aus Megève waren da mit ihren Kindern, einfache Menschen, die an ihrer hergebrachten Lebensweise hingen. Für uns war das ein rührender Moment. Er zeigte uns, dass wir in ihrer Gemeinschaft aufgenommen waren.
Hotelierskinder in Häusern der gehobenen Kategorie haben es nicht einfach. Gerne werden sie von Gästen, zu denen sie nicht gehören, verwöhnt. Ebenso problematisch sind Aufmerksamkeiten der Angestellten. Beide Freundschaften sind heikel, denn allzu leicht könnten sie instrumentalisiert werden: Gäste messen der Beziehung zur Direktion oft Brillanz zu. Einige pflegen diese aus verstecktem, teilweise auch aus offenem Interesse heraus. Auf der Mitarbeiterseite läuft man Gefahr, als parteiisch zu gelten, wenn einzelne Mitarbeiter der Familie durch den Kontakt zu den Kindern näher stehen als andere. Margot hatte das sofort erkannt und von Anfang an darauf bestanden, ausserhalb des Hotels zu wohnen. Darin war ich mit ihr einig, obschon es natürlich sehr praktisch, bequem und schmeichelnd gewesen wäre, alle Dienste im Hotel in Anspruch zu nehmen, wenn wir dort gewohnt hätten.
Unsere Kindermädchen konnten sich nicht über mangelnden Besuch von kleinen Freunden und Freundinnen in unserem Chalet beklagen: Alle waren immer willkommen und kamen auch gerne. Einzelne dieser Freundschaften überdauern bis heute.
Wir betrachteten die Kindermädchen als Teil der Familie. Ihr Zimmer war ihr Refugium, in welchem niemand anders, auch nicht die Kinder, etwas verloren hatten. Sie teilten unseren Tisch bei allen Mahlzeiten. Wenn wir Ausflüge unternahmen oder Besuch hatten, waren sie oft dabei, es sei denn, sie zogen es vor, für sich zu sein oder auszugehen.
Wir hatten es mit den meisten Nurses sehr gut, mit allen, die länger als nur wenige Monate blieben. Wir schätzten ihre Mithilfe, das Interesse, die Zuneigung, welche sie Patrick und Claudine entgegen brachten. Sowohl Margot wie ich fanden den Einfluss der jungen Französinnen auf unser Leben bemerkenswert, oft sogar spannend. Mathilde und Cathy waren beide sehr angenehm und fröhlich. Cathy geradezu geistreich. „Ah Monsieur Thommen, un instant de honte est si vite passé- ein paar Gewissensbisse vergehen so schnell“ meinte sie, als ich sie bei einem Griff in die Pralinen an ihre Sorge um ihre Silhouette erinnerte. Ein ander Mal überraschte sie uns mit einem neuen eau de toilette. „Ich dachte, Sie wären treu, Cathy, nun überraschen Sie uns mit einem neuen Parfum?“ „Ich nicht treu, Monsieur Thommen? Ich bin sehr treu, Monsieur, so treu sogar, dass ich es mehreren bin!“
So angenehm eine Haushalt- oder Kinderhilfe sein kann die im Hause wohnt, man ist doch nie mehr ganz für sich. Das traf auch jene seltenen Male für die Ferien zu, wenn die jungen Damen ihren Urlaub aus familiären oder persönlichen Gründen nicht gleichzeitig mit dem unseren nehmen konnten. Dann kamen sie eben mit uns. In eine Wohnung nach Juan-les-Pins oder La Baule und genossen es mit uns, umso mehr als wir in diesen Wochen uns sehr gerne weitgehend selbst um unsere Kinder gekümmert haben.
Wie schön waren die Zwischensaisons! Megève wurde wieder zum Bauerndorf und die seltenen Pariser, die ihre prächtigen Chalets auch in dieser Jahreszeit besuchten, fielen nicht auf. In Bars und Beizen war man unter sich. Traf sich mit Handwerkern, Lehrern, Gemeindeangestellten und natürlich auch mit unseren benachbarten Bauern, den Mitarbeitern der Téléfériques. Die Restaurants waren grösstenteils geschlossen. Gerne erinnern wir uns an Abende, in denen Yves Ziegler, unser Vizedirektor, mit seiner Frau Marie-Hélène bei uns waren oder wir bei ihnen, denn sie wohnten unweit von uns im Maz. Michauds, sein alter-ego mit Frau, waren leider seltener dabei, da sie ein Chalet in einem entfernteren Dorfteil hatten und von ihren fünf Kindern nicht leicht weg konnten.
Yves war ein lustiger. Ein geborener Imitator. Sei es Général Charles de Gaulle, den Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing (dessen Familie Gäste des Mont d'Arbois waren) oder einen von uns, mich inklusive, er karikierte alle! Seine Frau Marie-Hélène war charmant, beide très vieille France. Das bedeutet, dass sie den Traditionen tief verbunden waren, diese aber mit Leichtigkeit und Eleganz lebten. Gerne erinnern wir uns auch Marie-Hélènes Mutter. Sie hatte acht, oder waren es gar elf Kinder geboren, sich nicht nur Witz und Geist bewahrt, sondern auch noch eine beneidenswerte Silhouette. Die Zieglers tauften ihre drei Töchter auf die Namen Astrid, Aude und Alix, damit die Initialen bei jeder auf AZ lauten.
Fachlich wie persönlich waren Yves und ich ähnlich gelagert. Ich erinnere mich nicht, dass wir irgend einmal grundlegende Differenzen gehabt hätten.
Michaud, der kaufmännische Vizedirektor, ergänzte uns beide vorzüglich mit seiner präzisen, skrupulösen Art, die ihm den Namen „oncle piquesous“ einbrachten. Auf Deutsch Onkel Dagobert Duck. Genau übersetzt heisst es Pfennigfuchser, Rappenklauber. Hätte ich besser auf ihn gehört, wäre das für den Betrieb vorteilhaft gewesen. Vielleicht nicht mehr so gemütlich und harmonisch und hätte schneller zu Wechseln in einzelnen Positionen geführt. Späte Einsicht...
Wir waren einen guten Monat im Dienst. Da überreichte man mir eines schönen Morgens im Namen des Restaurants eine Streikdrohung: zu lange Arbeitszeiten - zu niedrige Entlohnung. Insbesondere die Aushilfe auf den restaurants de montagne zum Lunch wurde angeprangert. Ich war überrascht, denn ich pflegte einen lockeren Umgang mit allen Angestellten, insbesondere mit jenen aus dem Restaurant, die ich ja bei jeder Mahlzeit begleitete und ich hatte nie irgendwelche Unzufriedenheit festgestellt. Gut, das Delegieren auf die Mandarines, Ideal Sport und an die Côte 2000 war mühsam. Aber sonst? Die Vertragsbedingungen hatte mein Vorgänger Hans Appel festgelegt und niemand hatte diese jemals mir gegenüber beanstandet. Ich wusste nur eines: wenn du das nicht schaffst, bist du geliefert. Das würde Monsieur Edmond beweisen, dass wir für diese Position eben doch zu jung sind.
Ich liess die Brigade zusammenrufen, alle, auch jene, die im Moment frei hatten. Nachdem ich sie zehn Minuten warten gelassen hatte begrüsste ich sie:
„Meine Herren, was Sie mir da unterbreiten bedeutet für mich eine persönliche Beleidigung. Die Bedingungen haben Sie mit meinem Vorgänger ausgemacht, niemand hat sie jemals bestritten. Und jetzt so was! Bevor ich auf Ihre Forderungen Stellung nehmen kann, muss ich das mit dem Eigentümer, Monsieur le Baron Edmond de Rothschild besprechen. Wir sehen uns in drei Tagen wieder. Inzwischen erwarte ich einen tadellosen Einsatz!" Schweigend gingen alle zurück an ihre Arbeit.
Im Büro liess ich mir vom Hôtel du Cap die Adressen von Obern und Kellnern geben, die nicht in einer Wintersaison arbeiteten. Ich rief Kollegen an, die ich mir in den vergangenen drei Jahren gemacht hatte, mir im „Falle des Falles“ einen oder zwei Kellner zu schicken. Kein einziger sagte spontan zu. Es wäre heikel, Streikbrecher zu schicken...
Am siège in Paris stellte man meinen Anruf gleich zum Baron durch. „Reden Sie mit den Leuten. Versprechen Sie ihnen eine gute Gratifikation, wenn die Saison reibungslos verläuft.“ Mit anderen Worten: „schauen Sie, wie Sie zu Rande kommen“. Die Gäste hatten die Streikdrohung irgendwie mitbekommen. Insbesondere Fred Lip, dessen Uhrenfabrik in Besançon seine Arbeiter als erste besetzt hatten, wunderte sich spöttisch, wie wir uns da wohl rauswinden würden.
Für den dritten Tag hatte ich sorgfältig einen strengen Zweireiher als Kleidung ausgewählt, mit rosa Hemd und roter Krawatte. Ich war pünktlich im kleinen Salon, wo sie alle auf mich warteten. Schweigend schaute ich in die Runde, jedem in die Augen. Nach einer gewissen Weile hob ich an:
„Meine Herren. Ich habe Ihren Brief sorgfältig analysiert, habe ihn mit meinen Kollegen im centre administratif besprochen und wie angekündigt, Monsieur le Baron von Ihren Forderungen unterrichtet.
Monsieur le Baron konnte nicht im Detail auf Ihre Forderungen eingehen. Er ist zu weit weg, geographisch und vom Geschäft. Er hat jedoch für jeden eine Gratifikation in Aussicht gestellt, wenn die Saison ordnungsgemäss verläuft. Es wäre mir somit ein Leichtes, mich hinter den Entscheid des Eigentümers zu stellen."
"Aber meine Herren,“ sagte ich nach einer Kunstpause und in gestärktem Tonfall „so läuft das nicht. Ich bin als Direktor nicht nur Vertreter des Eigentümers, ich bin auch euer Direktor. Wo korrekte Abmachungen getroffen worden sind, muss und will ich denen Nachdruck verschaffen. Wo Ungerechtigkeit oder Unregelmässigkeiten vorliegen, ist es meine Aufgabe, diese zu beheben.
Ich verstehe, dass diejenigen, welche in den Aussenrestaurants helfen müssen, während dem das Hotelrestaurant leer ist, diesen Dienst als zusätzliche Belastung empfinden. Ich schlage Ihnen vor, diese jedesmal mit FF 15 netto zu vergüten, was für diese Stunde Zusatzarbeit grosszügig ist, wie Sie mir zugestehen werden.
Es wird eine Liste täglich bereitliegen, auf welcher Sie die notwendige Anzahl der Extras für jedes Restaurant finden. Die Freiwilligen wollen sich dort bitte eintragen.
Die Grundlöhne habe ich durchgesehen. Sie entsprechen dem Gesamt-arbeitsvertrag. Ich sehe keinen Grund, in der laufenden Saison etwas zu ändern. Wer aber die nächste Saison zurückkommt, dessen Treue soll mit monatlich Ff 100 zusätzlich zum Gehalt belohnt werden.
Das ist mein Angebot, als euer Direktor. Als neuer Direktor des Mont d'Arbois. Nun haben Sie 10 Minuten, um darüber zu debattieren. Fühlen Sie sich frei. Sind Sie mit meinen Vorschlägen einverstanden, zerreisse ich hier und jetzt Ihren Brief, niemand soll von diesem Vorkommnis Schaden tragen, weder das Ereignis, noch Ihre Namen sollen irgendwo oder irgendwie festgehalten werden. Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass Ihr Vorgehen nicht der französischen Gesetzgebung entspricht. Sie befinden sich in einer illegalen Situation. Diese Tatsache und meine Vorkehrungen die ich mit befreundeten Betrieben getroffen habe erlauben mir, Sie allesamt fristlos zu entlassen und zu ersetzen, sollte der Streik tatsächlich ausbrechen."
Ich hatte mich entspannt. Blieb sitzen. Man hätte eine Fliege gehört. Die Atmosphäre war versteinert. Ich wartete.
„Nun, was machen wir?,“ fragte ich nach etwa zehn Minuten.
Stille.
„Monsieur Tabouret, Sie haben doch alles inszeniert, haben Sie vielleicht etwas zu sagen?“
„Vous êtes très fort Monsieur le directeur. Vous avez tourné tout à votre avantage“.(Sie sind sehr stark, Herr Direktor. Sie haben alles zu Ihrem Vorteil gedreht.)
Vor den Augen aller zerriss ich den Brief, drückte Tabouret zuerst, danach allen andern die Hand und die Saison ging geordnet, in angenehmer Atmosphäre weiter. Nicht nur das: während wir bis anhin Mühe gehabt hatten, Extras für die Aussenrestaurants zu motivieren, bemühten sich nun plötzlich alle drum. Es hatte uns dreimal nichts gekostet. Für den Kellnerbestand für die Sommersaison musste ich mir keine Sorgen machen, brauchte nicht einmal Stelleninserate zu platzieren.
Ganz klar. Ich hatte geblufft. Keiner meiner Kontakte hatte mir auch nur einen einzigen Kellner fest vermittelt. Mir bleibt die unangenehme Frage, ob ich wohl auch auf eine solche Lösung mit der doch verdienten Entschädigung für die Extras gekommen wäre, hätte Monsieur Tabouret das ganz einfach höflich angefragt. Und auch die Treueprämie. Er blieb ein ruhiger, angenehmer Mitarbeiter. Später bedauerte ich sogar, den Kontakt zu ihm verloren zu haben.
Eine anekdotische Begebenheit mit einem Mitarbeiter ereignete sich im Chalet du Mont d'Arbois während einer Zwischensaison. Wie eingangs erwähnt, war dieses ganzjährig geöffnet, um Interessenten von Wohnungen zur Verfügung zu stehen, welche unsere Gesellschaft, die SFHM erbaute. Frühjahr und Herbst waren immer ruhige Zeiten, in denen nicht viel passierte und schon gar nicht nachts. Ausser den drei Stützen dieses charmanten Kleinhotels, dem 2. chef de réception, dem tüchtigen und liebenswürdigen Koch Mous(tapha) und einem ebenso guten Kellner behielten wir ein paar Angestellte vom geschlossenen Hotel die es ebenfalls brauchte um einen einwandfreien Betrieb zu garantieren. Zumeist waren das solche, die keine Stelle für die Zwischensaison gefunden hatten. So auch ein chasseur als Nachtconcierge, Léon, ein etwas einfacher Mensch, der aber sehr umtriebig und dienstfertig war.
Madame Valéry Giscard d'Estaing, die Frau des französischen Staatspräsidenten, weilte bei uns zur Erholung von einer Operation. Ihr Privatsekretär, der sie begleitete, gab genaue Anweisung, Anrufe für Madame immer an ihn weiterzu- leiten und niemals direkt durchzustellen. Niemals!
Als meine Frau eines Morgens ihre Arbeit aufnehmen wollte, schlich Léon zerknirscht an sie heran: „Sie müssen mich entlassen, Madame Thommen. Entlassen Sie mich!“
„Was ist denn geschehen, Léon?“
„Furchtbares. Entlassen Sie mich, Madame la directrice!“
Er war dem Weinen nahe. „So erzählen Sie doch.“
„Gegen Mitternacht klingelte das Telefon. Man verlangte Madame d'Estaing. Ordnungsgemäss habe ich gefragt: Wen darf ich melden?“
„Le Président,“ war die kurze Antwort. Da habe ich die Nerven verloren, den Anruf direkt an Madame durchgestellt mit den Worten:
Madame la Présidente, je vous passe Giscard!“
Giscard nannte man den Präsidenten überall, wo es nicht offiziell zuging. Madame Giscard d'Estaing hatte das Vorkommnis später mit keinem Wort erwähnt.
Von Hans und Johanna Appel hatten wir den Hund geerbt. Sie hatten diesen drei Jahre zuvor von ihrem Vorgänger Petrak übernommen, der von Megève nach Kanada ging. „Tigre“ hiess er und entstammte einer Rasse von Schäferhunden, die lokal gezüchtet worden waren. Seinen Namen Tigre trug er zu Recht, er war ein wilder Kerl. Ein Koch hatte ihm früher angewöhnt, neben seinem Auto herzurennen. Dabei sprang er immer nahe am linken Vorderrad entlang, knurrte und bellte dieses stürmisch an. Eine bedauerliche Eigenschaft, welche diesem sonst so guten Gefährten unserer Kinder nicht viel Sympathien einbrachte. Das halbe Dorf kannte ihn aus unerfindlichen Gründen als chien du Baron, Hund des Barons. Niemand wagte ihm irgendwelche Grenzen zu setzen. Hin und wieder schlich er sich in die télécabine des mandarines, fuhr hinauf und schnupperte im Restaurant herum. Er liess sich von den Gästen da und dort einen Happen reichen, und kehrte wieder zur Kabine zurück. Im Glücksfall. Andernfalls machte er sich auf die Piste und trieb es mit den Skiläufern zu deren Schreck ähnlich wie mit den Autos. Gebissen hatte er niemals irgendwen. Habitués kannten ihn und amüsierten sich mit ihm auf der Piste. Recht erschöpft kehrte er dann ins Hotel zurück und erholte sich hinter dem Bürostuhl meiner Frau.
„Votre chien, le tigre, Monsieur le directeur, a voulu faire un enfant à ma fille,“ japste die sonst so charmante Madame Lacroix ins Telefon. Das Mädchen, an welchem unser Tigre so grossen Gefallen fand, dass er es zu bespringen versucht hatte, war eine junge Dalmatinerin, dem Madame ebenso wie sein Herrchen so zugetan waren, dass sie es zuweilen sogar auf ihrem Bett schlafen liessen. So jedenfalls berichteten meiner Frau der Valet und die Femme de chambre vom 2. Stock
„Seien Sie ganz unbesorgt, chère Madame,“ beruhigte ich sie. „Alles was mein Hund tut, ist im Preis Ihrer Vollpension eingeschlossen.“ So endete das Scharmützel in einem Gelächter.
Von berühmten Gästen gäbe es auch hier viel zu erzählen: vom Besuch der englischen Rothschilds, der berühmten Familie Oppenheimer aus Südafrika, Schauspielern wie Jacqueline Bisset, Sophia Loren, Monsieur 100'000 Volt Gilbert Bécault und viele andere.
Erwähnen möchte ich Hubert de Givenchy, Grand Seigneur der Haute Couture, und seinen Partner Philippe Venet. Jedes Jahr waren sie bei uns. Bei einem Drink war auch Bettina zugegen, das Supermodel der fünfziger und sechziger Jahre, Verlobte Ali Khans, dem designierten Aga Khan, der jung bei einem Autounfall ums Leben kam. Die Plauderei hatte ich auf die ewige Krawattenpflicht gelenkt. De Givenchy und Venet trugen grundsätzlich nur cashemere ensembles, Rollkragen-Pulli und Gilet Auch diese beiden Herren, trotz ihrer Berühmtheit, speisten im Vorzimmer des Restaurants, wo krawattenlose Gäste, etwa im Turtle-Neck bedient wurden. Beide fanden es unerlässlich, an der Krawattenpflicht festzuhalten. Bettina gab dazu ihre wunderbare Definition von Eleganz:
„Wenn Ihnen am Restauranteingang jemand durch seine Kleidung auffällt, Monsieur Thommen, dann ist die Person nach der Mode gekleidet. Fällt Ihnen jedoch jemand ihrer Erscheinung wegen auf, dann ist sie elegant. Eleganz ist nämlich nicht eine Frage der Kleidung, sondern des Herzens.“
Wesentlich weniger elegant behandelte das Thema ein „pied noir“ so nannte man französische Rückkehrer aus Algerien nach dessen Trennung von Frankreich. Monsieur Zizi,-welch ein Name – empörte sich dermassen, als ihm der Zutritt ohne Krawatte ins Restaurant verweigert wurde, dass er den Oberkellner Marcel Livertout angreifen wollte. Dieser flüchtete sich in die Nische hinter seinen schweren Schreibtisch aus Metall, mit zwei Schubladen-Korpus. Der untersetzte, bullenartige Mann packte das Pult und schleuderte es gegen den Restaurant-eingang. Mit der Brigade scharten wir uns um Marcel Livertout, verdankten Monsieur Zizi seinen Besuch und baten ihn eindringlich, sein Zimmer vor zwölf Uhr am folgenden Tag zu räumen.
Unglaublich, wie viele Diskussionen die Krawattenpflicht entfachte! Die Krawatte war ursprünglich ein Umhang der Landsknechte, mit welchem sie sich den Mund abwischten. Später wurde es zu jenem langlebigen Mode-Accessoire, welches im neunzehnten Jahrhundert Wohlhabende von einfachen Menschen unterschied: letztere hatten für solchen Firlefanz ganz einfach kein Geld. So war es damals einfach, den Herrn vom Knecht zu unterscheiden...
Lustiger behandelten das Thema zwei Franco-Libanesen, die mit ihren jungen Frauen fröhliche Ferien bei uns verbrachten. Die beiden Herren präsentierten sich im Turtle-Neck ohne ihre Frauen am Restauranteingang, wo Marcel Livertout die beiden stoppte.
„Sehen Sie den Herrn, der dort im blauen Anzug und Krawatte an Tisch 15 speist?,“ fragte der eine. „Das ist mein Chauffeur. Macht nichts, Marcel. So essen wir heute Abend eben ausser Haus.“
Anekdotenhalber erwähne ich hier die Geschichte der Damen in Hosen, denen der Zutritt zum Restaurant ebenfalls nicht gestattet war. Zu Beginn der sechziger Jahre, kurz vor dem mini-jupe, kam die Mode der Hosenanzüge für Damen auf. Über die Hosen trugen die Damen einen knielangen Kasak. Eine hübsche junge Frau, welche im Hosenanzug am Eingang eines eleganten Restaurants abblitzte, entfernte sich kurz, kam ohne Hose zurück und ging kurz danach am verdutzten maître d'hôtel vorbei ins Restaurant.
Idealerweise hält der Hotelier die Funktion des arbiter elegantiarum inne wie im alten Rom, der aufgrund der Erscheinung entschied, wer elegant genug war, um zu den Banketten zugelassen zu werden und wer nicht. Ein solches Amt ist wohl nur Besitzern vorbehalten, die einen kultivierten und weiten Begriff von Eleganz pflegen. Eine solche Rolle ist als Angestellter, auch in der Position des Direktors, nur schwer wahrzunehmen.
Aussergewöhnlich war die Organisation der Bilderberg-Meetings im Jahre 1974. Diese Treffen wurden in den Nachkriegsjahren von Prinz Bernhard der Niederlande ins Leben gerufen, um die transatlantischen Beziehungen zu verbessern und stärken. Diese Zusammenkunft versammelt eine gute Hundertschaft der bedeutendsten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, teilweise der Kultur aus aller Welt, um ohne Beisein von Presse und Medias frei über die Weltlage reden zu können und Ideen zu deren Verbesserung zu entwickeln. Ihre Abgeschiedenheit hat die Organisation völlig unbegründet in die Nähe von Verschwörungen gerückt.
Die hundertzehn Teilnehmer wurden von 350 Polizisten beschützt, von der Anreise am Flughafen Genf über die Fahrt zum Mont d'Arbois. Unser Gebiet war in jenen Tagen völlig abgeriegelt. David und Nelson Rockefeller, damals sechzig und achtundsechzig Jahre alt, wurden gebeten, ein Zimmer zu teilen. Nelson war zu jener Zeit Vizepräsident der Vereinigten Staaten, David der Kopf der Chase Manhatten Bank. Beide nahmen sie es mit Humor: „Seit unseren Kindertagen haben wir das nie mehr getan," Gianni Agnelli langweilte sich und liess sich eines schönen Abends per Helikopter ausfliegen.
Weniger banal zeigte sich die Präsenz des türkischen Delegierten. Zu jener Zeit herrschte Krieg auf Zypern. Einer unserer Rezeptionisten war griechisch-zypriotisch und ausgerechnet er sah am TV seinen Bruder im Kampf . „Wenn meinem Bruder etwas geschieht, bring ich den Türken da um,“ schwor er. Unnötig zu sagen, dass wir ihn nie ausser Acht liessen, ihn immer jemand begleitete der ihn diskret vom Fernsehen fern hielt. Das war damals sehr viel einfacher als heute. Wir filterten auch mögliche Anrufe an ihn, was die damaligen nur halbautomatischen Telefonzentralen mühelos erlaubten. Trotzdem: Gott sei Dank geschah seinem Bruder nichts. Der ganze Anlass lief ab wie geplant, Baron de Rothschild äusserte sich zufrieden.
Im Mai jenes Jahres unternahmen Margot und ich zusammen mit den Kindern fantastische Ferien. In unserem Renault R16 fuhren wir nach Genua, schifften ein nach Malaga, durchquerten Spanien über Sevilla und Jerez de la Frontera nach Portugal. Wie eigenartig, niemand wollte bei der Ankunft an der Grenze unsere Francs in Escudos wechseln. Alle redeten von Revolução, Revolução. Wir verstanden kein Wort. Erst bei Ankunft bei unseren Freunden Hans und Tami Rutishauser in Albufeira klärten sie uns auf, dass eine Revolution im Gange sei, die Nelkenrevolution! Doch unten an der Algarve spürte man nichts davon. Wir verlebten herrliche Wochen, bestaunten die wunderbare Landschaft, die damals noch weitgehend unverbaut war. Hans und Tami führten ein familienfreundliches Aparthotel, alles kleine Villen mit eigener Küche, was fürs Frühstück und Abendessen mit den Kindern ideal war.
Nach unserer Rückkehr stellte Monsieur Edmond das neue Projekt für den Mont d'Arbois vor: Das Hotel sollte sehr viel luxuriöser gestaltet werden, mit einer Erweiterung von Chalets und Wohnungen in privatem Eigentum, mit Hotelservice, schön ineinander verschachtelt und miteinander verbunden, .
Ich besuchte in der Folge ähnliche Einrichtungen, von denen es damals noch nicht viele gab, schloss auch Kontakte mit einer ähnlichen Organisation auf den Barbados, mit welchen ich bereits einen Wohnungs-Austausch erwog. Das Konzept konnte ich beeinflussen, sodass der Hotelservice nicht mehr im Verkaufspreis eingeschlossen war, wie das jemand aus Monsieur Edmonds Umfeld sehr zu meinem Entsetzen wünschte. Dieser Service würde nach Aufwand berechnet. Das Projekt begeisterte mich und ich kann nur bedauern, dass es nie zur Ausführung kam. Alexandre Lamblin, ein sehr begabter Architekt und Innendekorateur hatte tolle Skizzen entworfen und ich bin noch heute überzeugt, dass deren Realisierung erfolgreich geworden wäre.
Die Entwicklung zog sich über mehrere Jahre dahin. Monsieur Edmond war zahlreichen Beeinflussungen ausgesetzt, die mit immer neuen Einfällen die Idee verwässerten, verfremdeten. Es gab Stimmen, die sagten, seine Frau Nadine sei Megève nicht so zugetan, weil sie dort noch immer als die Schauspielerin galt, die sie gewesen war und nicht als wahre Baronne wahrgenommen würde. Gleichzeitig spürte man das Aufkommen der Linken in ganz Frankreich, bis schliesslich François Mitterand zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Der Baron sah rabenschwarz: „Nun kommen die Kommunisten ans Ruder. Niemand mehr wird auch nur einen einzigen Franc in Frankreich investieren,“ orakelte er. „Wir müssen zu einer Formel finden, die sich jede Sekretärin leisten kann.“ Die Folge war das aktuelle Time-sharing Modell.
„Ist diese Formel mit seiner Unzahl an Mitbesitzern denn auch wirklich erfolgs- versprechend?“ fragte ich Alain Mansion, die rechte Hand von Pierre Copin. „Wenn man alles Bestehende als abgeschrieben betrachtet, ja.“
„Na dann danke schön und Glückwunsch für diese geniale Idee. Mir wirft man vor, die Abschreibungen nicht erbringen zu können und man deshalb zu dieser Formel greife.“
Das war natürlich Unsinn. Niemand hatte mir irgendwann irgendetwas vorgeworfen. Ich hatte mich, noch ganz von Irondelles Haltung inspiriert, viel zu sehr und weit über meine Position als angestellter Direktor hinaus mit dem Mont d'Arbois identifiziert. Ein Fehler, den ich noch lange beibehalten würde.
„Das sei sein grösster Fehler gewesen,“ hatte er Annecy, seiner Erzieherin Catherine Pfeiffer, einer Davoserin anvertraut. Sie war uns wohl gesinnt und hatte uns das später, lange nach unserem Wegzug einmal erzählt.
Die Schliessung war für Herbst 1978 geplant. Die gesetzlichen Vorgaben verlangten, eine Betriebsschliessung ein Jahr im voraus den Mitarbeitern anzukündigen. Immerhin vermochte ich diese auf das folgende Frühjahr hinauszu- ziehen. Unser Argument, dass auf den Winter die Mitarbeiter grössere Schwierigkeiten hätten eine neue Stelle zu finden, wenn alle Kurorte am Meer schliessen und sich deren Angestellte ebenfalls auf den Arbeitsmarkt ergiessen, wurde Gott sei Dank erhört. Es leuchtete auch ein, die rentablere Wintersaison noch zu bestreiten.
Margot und ich setzten alles daran, damit ja keine Endzeitstimmung aufkam, weder unter den Gästen, und schon gar nicht unter den Mitarbeitern. Nachdem nun nach Jahren des Lavierens endlich ein Entscheid für die Zukunft gefallen war, wirkte das irgendwie erlösend auf uns alle.
Mit dem Pariser Juwelier Fred gestalteten wir einen Höhepunkt, der auch in der Presse Widerhall fand: Eine Soirée Offenbach mit Robert Manuel, dem Offenbachspezialisten seiner Zeit, mit seinen Sängern. Durch einen Bekannten gelang es uns, die Kostüme der Operette „La Péricole“ zu mieten, entworfen vom Kunstmaler Carzou, mit denen Fred die Gäste grosszügig einkleidete. Es wurde ein grossartiger Abend, mit einem ganz besonderen Clou: Unser Küchenchef, Michel Poitoux hatte fünf Jahre lang Gesangsunterricht am Konservatorium genommen. Er schritt in seiner Kochuniform als König Ménélas beim Quintett der Schönen Helena singend durch den Saal!
Meine Frau und ich dürfen den Mitarbeitern einen dicken Kranz winden: Niemand liess sich gehen, alle waren bis zum Schluss voll und ganz bei der Sache. Der Ruf des Mont d'Arbois und die Unterstützung, die wir den Stellensuchenden boten, hatten vielen zur Neuorientierung geholfen. Sicher ebenso sehr wie die Tatsache, dass bei Betriebsschliessungen der französische Staat ein volles Jahr 104% des Nettolohns leistete.
Überrascht hatte uns, wie sich die Gäste auf die 13 Zimmer im Chalet stürzten, dessen Preise auf die bevorstehende Sommersaison im Minimum verdoppelt wurden: Diejenigen, welche bei jeder kleinen Preiserhöhung am lautesten protestiert hatten, waren die ersten, die Anzahlungen auf ihren Sommerreservierungen leisteten...
Margot und ich waren drauf und dran gewesen, uns ein Chalet zu kaufen und uns um die französische Staatsbürgerschaft zu bemühen. Gut zwei Jahre zuvor brachten sich Patrick und Claudine Hand in Hand vor uns in Stellung: „Vous deux, vous êtes Suisses. Nous deux, on est Français –Ihr zwei seid Schweizer – wir beide sind Franzosen!"
Unsere Absicht Franzosen zu werden, stiess auf völliges Unverständnis in unserem Umfeld. „Was? Seid Ihr von Sinnen? Wir würden alles tun um den roten Pass zu erhalten und Ihr wollt Franzosen werden?“
Irgendwie ging alles zusammen: Die Timesharing Property hatte nichts mit dem zu tun, was wir unter Hotellerie verstanden, nämlich das individuelle Eingehen auf möglichst jeden Gast. Das wäre von schwierig bis unmöglich geworden: „Besitzer auf Zeit“ haben andere Erwartungen als ein Gast. Bei diesem Konzept hätten wir anstatt der Exzellenz den besten Preis anstreben müssen. Cathy hatte geheiratet und würde uns sowieso verlassen. Tigre war alt geworden, litt an den Folgen der Misshandlung, die ihm ein Nachbar mit seiner Mistgabel angetan hatte.
Die Frage stellte sich, unsere Karriere international zu entwickeln oder in die Schweiz zurückzukehren. In Frankreich selbst zeigte sich im Moment nichts auf dem Niveau der Leading Hotels of the World, dem das Mont d'Arbois bis anhin angehört hatte. International tätig zu sein hätte möglicherweise bedeutet, die Kinder an einer international school, möglicherweise in einem Internat weiter zu schulen. Das wollten wir auf keinen Fall, sondern viel eher vom guten Niveau der Schulen zu Hause profitieren.
Margot und ich hatten die Wahl zwischen dem National Luzern, dem Kurhaus Lenk und dem Palma au Lac in Locarno. Nach zehn Jahren Frankreich schien uns das Tessin die geeignetste Zuflucht zu sein. Gleichzeitig wollten wir, beide nunmehr gegen vierzig, ein bleibendes Hauptquartier aufschlagen. Grosser Nachteil der sehr vorteilhaften „freien Station“ eines Saison-Hoteliers ist der zwingende Wohnort- und Wohnungswechsel, der mit beruflichen Veränderungen einhergeht. Das ist für Kinder nicht unproblematisch. Sie sollen wissen, wo sie zu Hause sind und sich geborgen fühlen.
Unweit der Piccola Baronata, in welcher der russische Denker, Revolutionär und Anarchist Michail Bukanin 1869 Aufnahme gefunden hatte, kauften wir unsere erste Wohnung. Am 18. März 1979, nach einer kleinen Party zu Patricks zehntem Geburtstag und zum Abschied von allen kleinen Freunden der Kinder, reisten wir mit vollgepacktem Auto ins Tessin. Bei strömendem Regen trafen wir gegen drei Uhr früh im Hotel La Palma au Lac in Locarno ein.

Auch unter diesem strömenden Regen war die Gegend zauberhaft. Er sollte noch zehn Tage anhalten. „La Buzza“ nennt man dieses Phänomen hier. Es wäscht alles runter, treibt das morsche Holz der zahlreichen Bäche und Flüsse in den Lago Maggiore. Danach bricht gewöhnlich das sonnige Sommerhalbjahr an.
Wir waren beide neununddreissig. In diesem Alter sollte man sich langsam Gedanken zur Sesshaftigkeit machen. Patrick und Claudine sollten von jetzt an wissen, wo sie zu Hause sind und sich da geborgen fühlen. Mit dem Wohnungskauf ging die Unterzeichnung der Hypotheken einher, der Abschluss einer Lebensversicherung mit Sparanteil und einer reinen Risikoversicherung für den Fall, dass meine Gesundheit oder ich ganz abhanden käme. Der Versicherungsmakler war ein sehr gepflegt gekleideter Herr, der mir die Adresse seines Schneiders in Como anvertraute. Wenn das alles nicht vorteilhaft für Sesshaftigkeit war, was dann?
Wir fanden eine Wohnung inmitten eines grosszügigen Gartens mit bemerkenswertem Schwimmbecken. Ja, warum nicht Minusio? Ist ja wie Höngg in ZH, oder Schwamendingen, wo wir die ersten sehr glücklichen, verheirateten Jahre lebten. Oder Hottingen, wenn man's wohlhabender will. Zu Fuss, entlang dem Torrente Navegna hinunter, dann dem See entlang, erreichten wir in zwanzig Minuten unseren Arbeitsort, das Hotel La Palma au Lac. Damals rühmte es noch 5 Sterne und war Mitglied der Leading Hotels of the World.
Wir hatten schon von Frankreich aus mit den Schulbehörden einen Termin reserviert, um zu erfahren, wie das Schulsystem im Ticino funktioniert. Der Beamte erklärte es uns recht ausführlich. Plötzlich fragte er: „Sie leiten das La Palma au Lac. Wo genau wohnen Sie, wissen Sie das schon?“
„Am vicolo della pergola 12, in Minusio.“
"In Minusio? Nicht in Locarno? Ja dann müssen Sie sich mit den dortigen Schulbehörden treffen. Alles Gute.“ Damit war die Unterhaltung beendet.
Das war die erste Lektion in Tessiner Kirchturmpolitik. Mit der Schule in Minusio, geleitet von Silvano Fiscalini und die Mittelstufe von Annamaria Gélil, hätten wir es nicht besser treffen können. Schulleitung, Lehrer und Eltern kannten sich fast alle persönlich, man pflegte einen sehr angenehmen Kontakt. Das vermittelte den Kindern Vertrauen und erleichterte ihr Einleben in die neue Umgebung. An Besuchstagen in der Schule gab es sich, dass mehrere Elternpaare danach in der Campagna oder sonst wo zu Wein und Essen zusammensassen. Da und dort gab es eine Gruppe von Müttern, die sich nach den täglichen Kommissionen zum Kaffeeschwatz trafen. Unsere Kinder sind (2019) mittlerweile selbst dem halben Jahrhundert nahe. Diese Kreise treffen sich noch heute, in nur leicht veränderter Form.
Alles erschien uns klein. Klein unterteilt. Klein kariert. Tessin, das war doch die Côte d'azur oder die Riviera der Schweiz; wo aber bleibt die Grosszügigkeit von Cannes, die emsige, franco-italienische Urbanität Nizzas?
Damals hatte der Kanton Tessin eine Viertelmillion Einwohner und eine Unzahl Gemeinden. Trotz der Fusionswelle die seitdem losgetreten wurde, haben wir es auch bis heute noch nicht fertig gebracht, die Polizei der Gemeinden von Minusio (7'000 Ew), Muralto (3'000 Ew) und Locarno (15'000 Ew), allesamt in 30 minütiger Fussgängerdistanz, zusammenzulegen. Minusio ist nicht Muralto, Muralto nicht Locarno und Locarno und Ascona (5'500Ew) sind sich spinnefeind: wo Asconas Villenviertel beginnt endet Locarnos industrielle Zone. Ascona hatte bis vor wenigen Jahren einen Gemeinde-Steuersatz von 45% (heute 75%), Locarno einen solchen von 100%, Muralto von 85% und Minusio von 78%. Früher, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, soll die Gegend auch noch sprachlich unterschiedlich gewesen sein. Den Dialekt von Orselina, das oberhalb von Minusio liegt, sollen die Leute unten am See nicht verstanden haben. Damals anfangs des 20.Jh, als ein Schulmeister die Stelle im armen Orselina ablehnte, ablehnen musste, weil man ihn nicht mit Geld sondern nur mit Land bezahlen konnte, dessen qm kaum 20 Rappen wert gewesen sein soll. Womit hätte er denn seine Familie ernähren und kleiden können? Trotzdem, irgendwie vermittelt uns diese eng verwobene Struktur Geborgenheit, das Gefühl dazu zu gehören.
Patrick und Claudine sprachen bei unserer Ankunft kein Wort Italienisch. Glücklicherweise funktionierten die Schulen im Tessin damals schon ganztägig. Für die Kinder aus den Tälern boten sie einen Mittagstisch, für die Kleinen Schlafgelegenheit nach dem Essen, also alles das, worüber die Deutschschweiz und insbesondere Zürich heute noch, vierzig Jahre später werweisst, ob und wie so etwas einzuführen sei. Unsere Kinder beeindruckten uns, wie sie an die Sache herangingen. Wie überall Fremde, die nichts verstehen, wurden auch unsere beiden nicht eben spontan aufgenommen. Eine ausschliesslich italienischsprachige Studentin unterstützte uns im ersten Jahr in der Kinderbetreuung. Während den Schulferien, die hier zweieinhalb Monate dauerten, steckten wir Patrick und Claudine in die Tessiner Ferienkolonie in Sognono, am Ende des Val Verzasca. Erst nach zwei Wochen war der Elternbesuch erlaubt, dafür durften wir sie den Sonntag über nach Hause nehmen. Wir brachten sie nach einem wunderbaren gemeinsamen Tag abends wieder zurück. Hand in Hand standen Patrick und Claudine da und winkten uns beim Wegfahren. Wir fühlten uns den Tränen nahe, als wahre Rabeneltern. Doch ihre grosse Anstrengung wurde belohnt: sie sprachen und verstanden italienisch ganz ordentlich und ohne eine Klasse zu wiederholen, konnten sie im Herbst in die nächst höhere übertreten.
Der Hotel Betrieb war ein ganz anderer: Ganzjährig geöffnet. Obschon in einer Tourismusregion gelegen, war das La Palma au Lac mehr Stadt- als Ferienhotel. Das Hotel entsprach weder von der Lage her, wo es eine Durchfahrtstrasse vom See trennte, noch von seiner Substanz und schon gar nicht von seiner Inneneinrichtung her dem Niveau, welches Gäste von einem Leading Hotel of the World erwarten. Ursprünglich als Apartment Haus gedacht, hatte dieses Arturo Bolli erworben. Herr Bolli war ein pfiffiger Mann. Er verstand es, dieses Gebäude in eines der bestbekannten und geradezu berühmten Hotels der Schweiz zu entwickeln. Er hatte die Werbewirkung hochstehender Gastronomie begriffen. Diese war das Leitmotiv seiner ganzen Werbung und alles weitere, Zeitungsartikel, TV Sendungen waren die natürliche Konsequenz seiner Anstrengungen. Klar, dass er bei der populären Chaîne des Rôtisseurs Grand Officier war, den Club gastronomique Prosper Montagné – Académie Suisse des Gastronomes mitbegründete. Ja sogar die damals noch rein französische und sehr elitäre Vereinigung „Tradition et Qualité“ hatte ihn mit seinem Grill „Coq d'Or“ als erstes ausländisches Mitglied aufgenommen. Alle Korridore des Erdgeschosses im La Palma waren mit unzähligen Diplomen, Ehrenmeldungen, Auszeichnungen und Goldmedaillen geschmückt, welche seine Brigade an internationalen Kochkunstausstellungen errungen hatte. Küchenchef Artino de Marchi blieb dem Hause treu, auch als es in die Hände der Zentra AG überging, unsere Arbeitgeberin. Diese hatte die Schauküche im Grill eingerichtet. Diese Investition, die Leistungen der Chefs Artino de Marchi, Gérard Périard und nicht zuletzt meine Verbindungen zu Georges Prade, eine Grösse in französischen, kulinarischen Zirkeln machten, dass dieses Lokal mit den begehrten zwei Sternen vom Guide Michelin ausgezeichnet wurde.
Als einziges fünf Sterne Haus am Platz war es von den massgebenden Veranstaltern für Ehrengäste immer gefragt. Allen voran das internationale Filmfestival Locarno brachte manche Stars und wichtige Leute aus dem Filmbusiness im Hause unter.
Ein Jahresbetrieb verläuft ganz anders als ein Ferienhotel, welches nur im Winter und im Sommer geöffnet ist. Mit Ausnahme der „resident guests,“ den Langzeitmietern, sind die Aufenthalte kürzer. Die Highlights zu denen beispielsweise die Ostertage, der erste August gehörten, empfand ich weniger intensiv, als beispielsweise Weihnachten und Sylvester in der Berghotellerie wie Megève, den Karneval weniger ausgelassen. Das hatte hauptsächlich damit zu tun, dass es hauptsächlich Restaurant-Kunden von ausserhalb und weniger die Hotelgäste waren, welche das gros zu diesen Festivitäten bildeten. Die Stadtkundschaft lernten wir ebenfalls kennen, doch hatten wir beide niemals den vertrauten Kontakt wie zu Hausgästen, die Jahr für Jahr eine bis mehrere Wochen bei uns verbrachten.
Es war ein viel regelmässigerer Betrieb als Megève. Wir frühstückten mit den Kindern gemeinsam zu Hause, kamen danach zur Arbeit. Margot kümmerte sich um das, was man heute Front Office nennen würde, nämlich um Empfang, Conciergerie, Etage und Lingerie, während ich mich um Restauration, Personal, Kaufmännisches und Marketing kümmerte. Letztere beiden wurden weitgehend von der Zentrale in Stansstad gesteuert und entsprechend intensiv war das Reporting, welches mit jedem zusätzlichen Direktor in der Zentrale zunahm. Obschon die Mitarbeiter nur zu einem kleinen Teil in unseren Personalhäusern lebten, waren wir mit ihnen recht eng verbunden. Das hing wohl mit deren italienischer Mentalität zusammen: la famiglia. Diesem Geist, der auch der unsere war, waren sie natürlich zugetan.
Auch im Palma gab es Stammgäste, auf die wir Jahr für Jahr zählen konnten. Mit Rührung denke ich an Rabbi Carlebach aus Manchester zurück, sehr gerne an die Familie Reichlin, und viele andere. Darunter eine witzige, sehr charmante Berlinerin. Von einem Gast sagte sie: „Der? Ach, den kenne ich eigentlich nur vom Wegsehen.“
„Er kann aber sehr nett sein.“
„Wissen Sie, Herr Thommen, Leute die nett sein können interessieren mich nicht. Mich interessieren nur Leute, die nett sind.“
Besondere Aufmerksamkeit widmeten wir unseren Jahresgästen und solchen, die den grössten Teil des Jahres in der „Casa Palma,“ dem Apartment-House des Hotels, mit entsprechendem Service wohnten:
Professor Kempner war ursprünglich Berliner, der nach Amerika emigriert war. Kurz nach dem Beginn des Krieges hatten er und seine Frau sich aus den Augen verloren. Er kam als Offizier mit der amerikanischen Armee nach Europa zurück und war am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/1946 stellvertretender US-Ankläger. Ein paar Jahre später heiratete er seine damalige Gerichts-Assistentin. Ende der Fünfzigerjahre aber tauchte seine Frau wieder auf. So reisten sie überall im Trio umher und wohnten auch im La Palma zu dritt.
Kurz vor unserer Ankunft war der Dauermieter Salvador de Madariaga verstorben. Dieser frühere spanische Botschafter in Washington und beim Völkerbund in Genf war vor Franco nach Oxford entflohen, wo er eine Professur für spanische Literatur innehatte und sich auch als weltweit angesehener Journalist betätigte. Er war in der düsteren Zeit der dreissiger/vierziger Jahre bis in die sechziger hinein das gute liberale Gewissen Europas, Leitartikler von führenden westlichen Zeitungen. Seine Witwe Emilia „Mimi“ war uns sehr zugetan, auch den Kindern. Sie war mir eine wunderbare Spanisch Lehrerin. Als solche schenkte sie mir die Bücher ihres verstorbenen Gatten, wie etwa Francisco Cortez, das Herz von Jade, die witzigen dialogos famosos, in deren campos eliseos sich Goethe, Maria Stuart, Voltaire, Napoleon, Karl Marx und Präsident Washington über Faschismus und Kommunismus unterhalten.
Frau Gottlieb sagte man 20% an Metro Goldwin Meyer nach. Welch eine quirlige, charmante alte Witwe, ursprünglich Sudetendeutsche, die mit ihrem Mann in Mexico gelebt hatte, bevor sie ihr Leben zwischen Locarno und Gstaad aufteilte. In allen Vereinigungen war sie aktives Mitglied: Alliance Française, Angloswiss Club, dem spanischen, dem deutschen Club und sowieso im International Club.
Die anglo-irische Dichterin Sheila Wingfield, mit wahrem Namen Viscountess Powerscourt, war die mondänste von allen. Für sie hatte man zwei Zimmer im fünften Stock des Hotels zu einer eleganten Suite umgestaltet. Den Winter verlebte sie auf den Bahamas. Da sie nur Englisch, und Italienisch mit einem starken Akzent sprach, die anderen Dauergäste aber hauptsächlich Deutsch, nahm sie an den gemeinsamen Anlässen mit den übrigen Dauermietern kaum teil.
Dann gab es da eine Schweizer Rentnerin, deren Wohlergehen sehr vom Börsenkurs abging. Wie viele, die ihren Unterhalt hauptsächlich mit Geldanlagen bestreiten, hatte, ja pflegte sie geradezu eine ausgesprochen pessimistische Lebenshaltung. „Meinen Sie, es werde andauern, das schöne Wetter? Schon heute Nachmittag wird es regnen“ meinte sie, nachdem sie missgelaunt in den strahlend blauen Himmel blickte und die verfrühte Rückzahlung einer hochverzinslichen Anlag beklagte. „Sehen Sie, Frau Tanner, das schöne Wetter ist wie das Glück. Geniessen Sie es, wenn es da ist und fragen Sie nicht, wie lange es dauert,“ versuchte ich sie zu trösten.
Die gescheite Frau Gersmann, verbrachte hauptsächlich den Frühling und den Herbst, zuweilen auch den Winter bei uns. Die übrige Zeit lebte sie im Hotel Beau Rivage in Ouchy. Ihre bevorzugten Situation schien ihr die Weisheit Sacha Guitrys zu bestätigen, dass Geld zwar nicht glücklich macht, aber erlaubt, auf angenehme Art unglücklich zu sein: Ein Portier versuchte sie aufzumuntern, als sie mürrisch zu ihrem Apartment zog. Er wies sie darauf hin, wie gut es sie doch habe, an einem so schönen und vorzüglichen Ort wie unserem Hotel in Locarno zu wohnen:
„Schauen Sie doch mich an, wie ich ihre Koffer schleppe!“
„Ist doch klar: Sie haben's in den Muskeln, ich aber habe meine Muskeln im Kopf,“ schnauzte sie ihn an, während er gutmütig lachend ihr Gepäck zum Auspacken platzierte.
Eine bemerkenswerte Dame war Frau Orenstein. „Kennen Sie doch, Orenstein & Koppel? Vor dem Krieg bis zu 15'000 Angestellte.“ Wir erfuhren, wie die Familie im Zuge der Arisierung deutscher Unternehmungen enteignet wurde. Sie emigrierten und führten ihre Niederlassung in Südafrika weiter. Ihr Sohn war auch in Kenya tätig. Vielleicht war es dieses abenteuerliche Leben, das sie der Esoterik näher brachte. Aus dieser zog sie Kraft, um alle Ups und Downs, und auch die weite Streuung ihrer Familie von Afrika über Europa nach Australien zu meistern und zu ertragen. Sie beobachtete Margot und mich ebenso diskret wie genau: „Und wie geht es in der Ehe?“, pflegte sie mich zu fragen. Auf mein „oh danke, gut, nichts zu klagen,“ sah sie mir jeweils tief in die Augen und sagte: „Lernen Sie Ja zu sagen. Danach Danke“. Als wollte sie die Wirkung ihrer weisen Worte vertiefen, ruhten ihre Augen weiter in den meinen. Danach lief sie weiter. Ohne eine Antwort abzuwarten. Hin und wieder gab sie mir Schriften zu lesen, die mir Ruhe schenkten.
Ihre Enkelin Barbara kam ein bis zwei Mal pro Jahr für ein paar Tage auf Besuch. Was für eine tolle, junge Frau! Tolle Figur und ein Blick, der verriet, wie sie voll ins Leben biss. Sie erfreute uns immer mit prächtigen Protheas, wenn sie direkt aus Südafrika angereist kam. Frau Orenstein besuchten oft Verwandte und Bekannte, auch ihr Sohn, Barbaras Vater. Doch wenn sie mit Barbara zusammen war, bedeutete das einen Höhepunkt für die Grossmutter. Auch Barbara schien sich bei ihr sehr wohl zu fühlen.
„Übermorgen kommt Barbara wieder für ein paar Tage,“ kündigte uns Frau Orenstein nach einem guten Jahr an. „Sie kommt, um sich von mir zu verabschieden. Virulenter Krebs. Die Ärzte geben ihr noch maximal sechs Monate. Tun Sie nichts dergleichen, aber ich wollte, dass Sie das wissen.“
Welch ein Schock! Wir wussten, dass sie erst sechsundzwanzig war. Margot und ich mochten sie beide sehr. Wir machten uns gegenseitig Mut, um uns unbeschwert zu zeigen und all ihre Wünsche zu erfüllen.
Barbara kam, wiederum mit wunderschönen Protheas. Es war aber keine kranke Frau, die vor uns stand, sondern ein verklärtes, strahlendes Wesen. Barbara schöner denn je! Ihre Grossmutter und sie verlebten eine gute, schöne Zeit zusammen. Bei der Abreise meinten wir zu ihr: „Kommen Sie doch vor dem Winter nochmals, Sie wissen doch, Ihre Grossmutter freut sich so über jeden Ihrer Besuche.“
„Vor dem Winter? Oh nein, dann bin ich viel zu weit weg,“ lächelte sie zurück.
Es war April. Im August teilte uns Frau Orenstein Barbaras Tod mit. Barbara habe ihr von ihrem intensiven, packendem Leben geschwärmt. Das Glück aber, meinte Barbara, habe sie erst in ihrer Krankheit gefunden. Noch lange, lange, bewahrten wir ihre längst vertrocknete Prothea auf.
Namentlich im Winter, wenn es so ruhig war, luden wir diese resident guests auf einen high tea ein, besuchten mit ihnen Ausstellungen. Der Atelierbesuch beim bekannten Maler und Illustrator Horst Lemke wurde besonders geschätzt. Wenn es wieder wärmer wurde, fuhren wir zusammen in die Umgebung. Der Eigentümer der Zentra AG unterhielt auch eine Kunstgalerie, die Wechsel-Ausstellungen im Hause machte oder wir gingen zusammen direkt in die Galerie. Welch sympathische, und angenehm unverbindliche Momente!
Margot holte die Kinder zum Mittagessen, wir hatten einen Familientisch. Margot bestimmte das Menu, nach dem Essen rannten Claudine und Patrick zum nahen Spielplatz, bis Margot sie wieder zur Schule brachte. Während Margot abends meistens zu Hause blieb, war ich auch abends präsent, um im Restaurant und im Grill die Gäste zu begrüssen.
Claudine und ich schlenderten im ersten Jahr unter den Bögen der Piazza Grande entlang. “Möchtest du mich nicht zu einer Schokolade einladen, Papa?“ Meine achtjährige Tochter! Wir gingen zu Ravelli, jenes Kaffee, das in seiner Ausstattung im 1. Stock am ehesten den Cafés glich, wie wir sie in der Deutschschweiz kannten. Noch heute rührt mich die Erinnerung an diesen ersten gemeinsamen Ausgang. Ich weiss nicht, wer es mehr genoss, sie oder ich.
Claudine liebte es, mich hin und wieder beim Tour de Charme von Tisch zu Tisch zu begleiten. Patrick hasste das. Als ihm Frau Orenstein einmal durch seine blonden Locken fuhr um ihm Mahlzeit zu wünschen, fauchte er sie an: „Bon appétit“! Sie erschrak, die Arme, und traute sich in den Wochen danach kaum mehr an unseren Tisch. Er nahm Frau Orensteins Geste gar nicht als jenes Zeichen der Zuneigung, wie sie gedacht war. Er wollte, dass wir im Hotel während dem Essen ganz für uns blieben.
Schon ab zweitem Sommer bemühte ich mich, Patrick darauf vorzubereiten, dass er dieses Jahr zu den Festtagen nicht mehr im Pullover kommen könne, sondern als nun junger Mann einen Veston zu tragen habe. Ich übergehe hier seine pubertären Reaktionen auf meine insistenten Wiederholungen. Doch an einem regnerischen, kalten Dezembertag meinte er unverhofft: „Papi, du wolltest doch immer für mich einen Veston kaufen. Wollen wir das garstige Wetter heute dazu nutzen?“ Noch immer überrascht und ungläubig betrat ich mit ihm nur wenig später den Kleiderladen Monn. Ich glaubte meinen Augen und Ohren nicht zu trauen, als er einen Zweireiher-Veston in dunkelblauem Velours auswählte, dazu ein seidenes Turtleneck, graue lange Flanellhosen und dabei auch noch strahlte! Natürlich nicht so sehr wie sein stolzer Vater, der sich in seiner Erziehung voll und ganz bestätigt sah. Am folgenden Tag verstand ich den überraschenden Sinneswandel unseres Sohnes. Er war gerade bei Freunden, und auch Margot war ausser Haus. Ich entdeckte sein Schulzeugnis auf meinem Pult. Es war miserabel...
In der Schule lehrten sie damals schon Frühenglisch. Patrick und Claudine waren darin lausig. Ihre Lehrer trösteten uns: „Ihre Kinder sind zuerst zwei-, und jetzt im Tessin sogar dreisprachig aufgewachsen. Die Deutsch- und Französischkenntnisse haben die beiden sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Das Italienische haben sie sich fast automatisch in der Umgebung hier angeeignet. Die müssen nun erst erfahren, was das Erlernen einer Fremdsprache in der Praxis bedeutet, nämlich Vokabular repetieren bis es sitzt und erst noch Grammatik büffeln.“ Genau wie nach Patricks damaligem lausigen Zeugnis beschwichtigten die Lehrer: „Machen Sie sich keine Sorgen, die beiden sind nicht dumm. Sie müssen lernen eine Sprache zu lernen.“ Was für tolle Erzieher sie doch waren!
In unserer Freizeit genossen wir das vielseitige Tessin in all seinen Facetten: Im Winter zum Skilaufen auf Cimetta-Cardada, im Sommer kannten wir lauschige Plätze in den umgebenden Tälern, wir besuchten das nahe Italien, Como, Mailand.
Eigentlich eine sorglose Zeit. Die Zentra AG beabsichtigte zuerst, sich im Tessin auszubreiten, hatte mit dem La Palma au Lac auch das Grand Hotel von Arturo Bolli erworben, ein Jahr später das La Perla beim Flugplatz Agno. Dann aber ging es Schlag auf Schlag: Pacht des National Luzern, Kauf des Waldhaus Vulpera und danach auch die Bühlerhöhe bei Baden-Baden. Zum Teil war die Höhe der Pacht in Luzern und des Kaufpreises des Waldhaus Vulpera öffentlich. Zur Bühlerhöhe hatte ich verlässliche Informationen aus meiner Zeit bei Oetker. Ich teilte diese unserem Eigentümer mit. Der aber war daran nicht interessiert. Abstruse Ideen zu Betriebsführung der Bühlerhöhe und zur weiteren Expansion der Zentra AG wurden am Hauptsitz entwickelt. Ich spürte, dass das nicht gut kommen konnte und dass meine Zeit bei der Zentra AG abgelaufen war.

Die Vertragsverhandlungen mit dem Tschuggen waren unkompliziert und grosszügig. Man eignete sich auf einen Dreijahres Vertrag. Ohne Probezeit. Danach stillschweigende Erneuerung jeweils für ein Jahr. Zweimaliger Kündigungstermin von sechs Monaten auf Ende April und Ende Oktober. Es brauchte nun nur noch den Segen des Besitzers. Der Supermarkt Tycoon Karl-Heinz Kipp, seit einem Jahr Besitzer des Tschuggen, war ein ganz anderes Kaliber als Dr. Aegerter. Er wirkte fordernd, streng. Es war offensichtlich, dass Ambiance, Stimmungen, Mondanität und Glamour - im Luxusgeschäft unerlässliche Ingredienzen - für ihn Firlefanz waren. Ich war mir nicht sicher, wie ich mit ihm zurecht kommen würde. Doch da war auch seine Frau. Sie wirkte sanft. „Sie wird dir helfen, wenn es einmal schwierig werden sollte“, sagte ich mir.
Im Februar war die Familie Kipp wieder zu Gast. Sie waren erst seit einem Jahr die neuen Besitzer des Tschuggen.
Dr. Aegerter veranstaltete in den Jahren unserer Zusammenarbeit mit mir einen Meisterkurs. „Sehen Sie Herr Thommen, wenn Sie die Sonnenaufgangsfahrt nur im „Bun Dì“, dem Tagesprogramm, ankündigen und die Oberkellner beauftragen, die Reservierungen dafür aufzunehmen, wird kein einziger Gast um 4 Uhr früh aus den Federn kriechen. Sie müssen das machen! Gehen Sie von Tisch zu Tisch. Ihnen nein zu sagen getraut man weniger. Und machen Sie sich fürs erste Mal keine zu grossen Hoffnungen!“
Der Weisshorn Wirt Tobler hatte alles berggerecht vorbereitet und unsere Gemeinschaft, zu der wir zusammengewachsen waren, liess es sich gut gehen. Nicht allzulange danach, schwangen wir uns durch den unberührten Schnee, über frisch gepflügte Pisten, jubelnd und johlend! Vergessen die Mühe zum Aufstehen! Schadenfreudig über jene, die sich nicht dazu durchringen gemocht hatten, ging's die Hänge runter. Zum High tea, zum Apero an der Bar und auch während dem Dîner gab es nur ein Thema unter den Gästen: das grossartige Erlebnis!
Ich achtete streng darauf, Hotels einzuladen, welche vom Rufe her berühmter waren als das Tschuggen, gesellschaftlich noch höher angesiedelt. Das verlieh unserem Hause über die Jahre jenes internationale Flair, welches ich bei meinem Antritt vermisst hatte. Das verpflichtete auch, unsere Zimmer den gehobenen Ansprüchen anzupassen und ein paar Suiten einzurichten. Dr. Aegerter war der Ansicht, dass wir die beliebten Eckzimmer zuerst dran nehmen sollten, denn eine Renovation sollte sich kolonnenweise durchs Haus ziehen, der Leitungen wegen. „Die Eckzimmer vermieten wir bereits relativ teuer. Wenn wir den 7. und 8. Stock renovieren würden, erlaubte das eine zusätzliche, starke Preiserhöhung. Wir haben sowieso für nächstes Jahr vor, die Preise im 1. Stock zu belassen und jeden Stock 5 Fr. teurer als der untere zu berechnen. Wenn wir die obersten beiden Stockwerke, die beliebtesten von allen, schön gestalten, verlangen wir nochmals Fr. 50.- zusätzlich. Die Badezimmer sind zwar nicht gerade luxuriös, aber die machen wird dann, wenn wir die unteren Stockwerke kolonnenweise renovieren.“ Gesagt, getan.
Zwei Mal auf der MS.Europa, einmal von Bergen nach Hamburg, das andere Mal auf der Kreuzfahrt Venedig-Südamerika bestritten wir das Eröffnungs-Diner, zusammen mit den Chefs des Eden Rocs Ascona und des Carlton in St. Moritz, die ebenfalls zur Tschuggen Group gehörten. Die Verlosung von Aufenthalten in allen drei Häusern verlieh der Abendunterhaltung nach dem Dîner einen besonderen Anreiz. Alle diese Aktionen dienten der Kontaktpflege zu bestehenden und potentiellen Gästen. Besonders erfolgreich und langlebig waren die Beziehungen zum Schlossgarten in Stuttgart. Zum Einen, weil aus Baden-Würtemberg sehr viele unserer deutschen Gäste stammten, zum anderen, weil die Kontakte zu Direktor Wille Schrader und seinem Küchenchef, der gleichzeitig das F&B des Schlossgartens versah, Siggi Keck, auf Anhieb funktionierte. Fast alle diese Häuser vermittelten uns auch ausgezeichnete Mitarbeiter für die ganze Saison. Deren Verbindung zu den Gästen, die sie oft wiedererkannten, förderten die Verbundenheit der Gäste sowohl zum Tschuggen wie auch zu unseren Partnerhotels und generierten auch neue Kunden für alle Beteiligten.
Frau Dr. Bechtolsheimer, sehr an zeitgenössischer Kunst interessiert, hatte in einer Galerie Lithographien und einfachere Bilder ausgesucht, um alle Zimmer zu schmücken. Die Echos auf diese Schnellrenovation waren gelinde gesagt, verhalten. Trotzdem wollte ich das Vorhaben gut präsentieren und hatte vorgesehen, Artikel, eventuell gar Publireportagen in Kunstzeitungen über „zeitgenössische Kunst im Ferien-Hotel“ zu generieren. Der Galerist, bei dem man die Bilder gekauft hatte, lachte mich aus: „Was? Mit dieser Massenware? Wenn man damit wenigstens ein Thema verfolgt hätte, etwa Schweizer Maler oder was weiss ich. Aber da hat man kreuz und quer zusammengekauft. Vergessen Sie es, wenn Sie sich nicht lächerlich machen wollen!“
„Gefällt mir,“ meinte er schmunzelnd und verliess den Raum.
„Kipp hier. Was höre ich? Sie waren mit Ihrer Crew auf einer Belohnungsreise in Wien?"
„Jawohl Herr Kipp.“
„Wie kommen Sie nur dazu, und das ohne zu fragen?“
„Herr Kipp, das ist die fünfte Reise, die wir unternommen haben. Jedesmal um...“
„Das ist ja wohl kaum zu glauben....“
„Herr Kipp, es ist zwar schon 21 Uhr. Wenn es Ihnen nicht zu spät ist, darf ich rüber nach Ascona kommen und Ihnen das erklären?“
„Jawohl. Kommen Sie!“ und hängte auf.
„Na also. Und was sind nun Ihre Absichten?“
„Nun, Sie hören auf.“
„Es wäre natürlich vermessen von mir anzunehmen, dass ich der Einzige bin, der das Tschuggen führen kann. Für meine Nachfolge aber wünsche ich Ihnen ein gutes Händchen. Beabsichtigen Sie, dass ich die Saison noch vorbereite?“
„Nein. Sie gehen nach Arosa und räumen Ihr Büro.“

140 Jahre hatte das Unternehmen der einen und gleichen Familie Gredig gehört. Den Visionen des grossen Lorenzin Gredig verdankte es auch Landreserven und Wald hinter dem Bahnhof, auf der anderen Seite des Tals. Er wollte damit sicherstellen, dass der Blick seiner Gäste immer in eine unbefleckte Natur gleiten würde. Erbteilungen der nachfolgenden Generationen fiel diese erhabene Vision dann zum Opfer. Erhalten geblieben hingegen waren die Häuser entlang der Via Maistra bis fast zum Schlosshotel, jene gegenüber dem Hoteleingang waren bereits weiter vererbt. Hinter der protestantischen Kirche gehörte der Gesellschaft auch das, was den ganzen dortigen Nukleus bildete: Das grosse, mehrstöckige Wäschereigebäude, diverse Personalhäuser. Stallungen, die im Laufe der Jahrzehnte zu Garagen umfunktioniert worden waren mit Ausnahme jener, welche der Fuhrhalter Costa für seine Pferde weiterhin behielt, die im Winter Schlitten und im Sommer Kutschen ins Rosegtal zogen. Die höchstgelegene Veltliner Weinhandlung Europas mit mächtigen, prall gefüllten Fässern von 4'000 bis 30'000 Liter gehörte ebenfalls zum Betrieb.
Roland Maier, der Küchenchef, war eine weitere, starke Stütze. Er hatte nicht nur das Niveau der Küche angehoben, sondern auch die Brigade um einen Drittel reduziert. Von Stucki im Bruderholz war er als Sous-chef, verantwortlich fürs à la Carte Restaurant ins Tschuggen gekommen und folgte mir in den Kronenhof. Roberto, der Oberkellner des Kronenstübli, der dieses Restaurant wieder auf die frühere Beliebtheit zurückbrachte. Die Hausdamen, mit den den treuen Zimmermädchen und Portiers, Frau Spirk, die die Wäsche perfekt hielt und ihr Mann, der Unterhaltschef... Ach wie viele, tolle Menschen wir dort hatten! In diese Aufzählung gehörten noch viele.
Einen besonderen Gedanken möchte ich unseren jugoslawischen Service Mitarbeitern widmen. Bei meiner Ankunft war ich von ihnen nicht begeistert. Es fehlte ihnen an Schliff und Eleganz. Als ich dem Oberkellner, Ferruccio Piatta dell'Abondio, eine entsprechende Bemerkung machte, verteidigte er sie: „Schon möglich, dass ihr Auftreten nicht dem entspricht, wie Sie sich den Kronenhof wünschen. Was die aber krampfen! Niemand schiebt das Mobiliar so effizient und ohne mit der Wimper zu zucken umher wie die und dasselbe gilt für Überstunden. Und dann, achten Sie einmal darauf, wie jeder von ihnen von den Stammgästen geschätzt wird, denn während den recht intensiven Brigadewechseln sind sie dem Hause immer treu geblieben. Tatsächlich. Kein Gast hätte sich je über Stillosigkeit beklagt. Im Gegenteil, sie lobten ihre Anstrengungen, den Ansprüchen des Hauses zu genügen. Dank dessen machten sie echte Fortschritte. Johann beendete seine Karriere dort sogar als Oberkellner und Liubiscia erwies sich als pfiffiger, tüchtiger Unterhaltsmann in allen Bereichen, wenn er in der Zwischensaison dafür tätig war. Danke Ferruccio für das Zurechtrücken meines Blicks!
Weniger faszinierend aber umso dringender als die Fassadenrestauration war das Schamottieren der Öfen unserer Heizung, die noch immer Dampf betrieben war. Wenn wir den Zusammenbruch im kommenden Winter nicht riskieren wollten, galt es, unverzüglich daran zu gehen. Kostenpunkt: um die Fr. 50'000.- Unser Hauptaktionär, seines Zeichens Architekt, hatte bereits ein revolutionäres Projekt im Kopf. Dieses sollte unsere Energiekosten enorm senken. Es basierte auf Heizöl, welches gleichzeitig elektrischen Strom produzieren sollte. Kostenpunkt: 1 Mio. Innerhalb acht Jahren wäre diese Investition glatt amortisiert. Zwar liefen noch keine Anlagen, welche diese Prognosen hätten bestätigen können, aber bereits zwei weitere Hotels wären uns in der Planung weit voraus, berichtete unser Hauptaktionär.
Wie sich der gesamte Verwaltungsrat und auch ich – mit Ausnahme des Juristen – von der Begründung des Hauptaktionärs blenden liess, ist mir heute noch ein Rätsel: „In unserer prekären finanziellen Lage sind wir darauf angewiesen, diese aussergewöhnlichen Amortisationsmöglichkeiten zu nutzen. Die billige Lösung können wir uns gar nicht leisten!“
Gewitzt von der Erfahrung mit Herrn Kipp, der meine Bemerkungen zu seinen billigen Renovierungs-Vorhaben nicht geschätzt hatte, unterdrückte ich meine Skepsis.
Wohl waren wir seit längerem daran, Gestaltungs- und Zonenpläne für den Nukleus hinter der protestantischen Kirche zu entwickeln, doch war es ein Hin und Her: einmal war es die Baukommission der Gemeinde, welche Änderungswünsche hatte, das andere Mal jene des Kantons. Dazwischen verging viel, viel Zeit. Die Kosten für die Gestaltungs- und Zonenpläne stiegen und stiegen. Käufer zeigten sich keine, die das Projekt übernommen hätten. Nur noch das Engagement der Baufirma Costa hielt uns über Wasser, deren Inhaber sich sowohl gegenüber dem Kronenhof als Kulturgut wie auch Pontresina verpflichtet fühlte.
King hatte in die Buchhaltung gewechselt. Ich war zufällig da, als ein Lieferant am Telefon bei ihm ziemlich energisch auf die Bezahlung seiner Ausstände pochte. „Die zweite Mahnung gehe raus, meinen Sie? Ach wissen Sie, im Moment bezahlen wir niemanden vor der dritten. Aber wir bezahlen. Machen Sie sich keine Sorgen!“ Seelenruhig hängte er das Telefon wieder auf und lachte mich an. „Ja, so geht das im Moment, Herr Thommen....“
Ob uns die GKB, die Graubündner Kantonalbank wohl helfen würde? Schliesslich war der Kronenhof über Jahrzehnte treuer Kunde dieses Instituts gewesen. Aus seiner langen Geschichte heraus genoss unser Betrieb einen guten Namen.
Generaldirektor Monsch empfing unsere Delegation mit ausgesuchter Höflichkeit in seinem Büro. Aufmerksam hörte er den Ausführungen zu und schwieg einen langen Moment.

Kurt Wagner, der Vizedirektor aus dem Tschuggen, entwickelte die Villa Siemens in Bergisch Gladbach sehr erfolgreich ins Schlosshotel Lerbach. Sein Arbeitgeber, Thomas Althoff, hatte in Roquebrune-Cap-Martin eben die Pacht des Vista Palace erworben. Ob ich nicht die Übernahme begleiten würde, fragte mich Kurt. Als Mandat vorerst, und wenn man übereinkäme später als Direktor? Herr Althoff, dem er mein Interesse mitteilte, meinte sogar, dass er sich später eine Minderheitsbeteiligung vorstellen könnte.
Kurt hatte ja gleichentags wie Margot und ich 1979 im Hotel La Palma au Lac in Locarno zu arbeiten begonnen. Er als Kellner, der eben die Lehre im Hotel Imperial in Wien abgeschlossen hatte, wir als Direktionspaar. Grosse Angst hatte er, dass im Tessin niemand Deutsch verstehen würde! Trotz der Grundlosigkeit seiner Befürchtungen war er froh über die Deutschschweizer Direktion. Seine sprachlichen Fortschritte waren gross und beruflich war er ein Könner. Wie damals üblich, hatte er einen Saisonnier-Vertrag mit neun monatiger Gültigkeit. Um ihn auch im nächsten Jahr für uns zu gewinnen, empfahl ich ihm, von Januar bis Ende März doch die Università per stranieri in Perugia zu besuchen, wo es mir damals so gut gefiel und ich die Sprache gut erlernt hatte. Er folgte mit grosser Begeisterung meiner Empfehlung. Ähnliche Erfahrungen in Perugia wie ich und noch zwei weitere Saisons im La Palma schufen die Basis für eine Verbindung, die ihn Jahre später als Empfangschef ins Tschuggen nach Arosa führte, Vizedirektor wurde und seine Frau dort kennenlernte. Das alles begründet die auch heute noch lebendige Freundschaft.
Am Freitag, den 25. April 1997, beendete ich meine Arbeit im Kronenhof und war zwei Tage später in Roquebrune. Ich tat das nicht ohne Stolz, um der neuen Besitzerschaft zu demonstrieren, nicht auf sie angewiesen zu sein: Sie musste mich noch ein halbes Jahr bezahlen und gleichzeitig nahm ich meine Arbeit in Frankreich auf. Trost über den schmerzvollen Abgang vom Engadin, wo ich mich zu Hause fühlte und dem geliebten Kronenhof, der nicht mehr der meine war!
Nach einer so harten Trennung wäre es möglicherweise vernünftiger gewesen, zuerst zu mir selbst zu kommen. Doch muss man die Feste feiern wie sie fallen. Ich war glücklich, nach Frankreich zurückzukehren, erst noch an die französisch-italienische Grenze. Grenzsituationen hatten und haben auf mich seit jeher grosse Faszination.
Meine erste Begegnung beim Betreten des Vista Palace waren Prof. Schaupp und seine Frau, Stammkunden aus dem Tschuggen. Das Paar hatte damals das Dach über dem Olympiastadion in München entworfen und gebaut. Ich stellte sie gleich Herrn Althoff vor, der dort auf mich wartete, zusammen mit meinem alter-ego, dem Verwaltungsdirektor Axel Deitermann.
Das Hotel war klein mit seinen etwa vierzig Unterkünften, spektakulär auf den Felsen gebaut, welcher das Cap-Martin und Monte-Carlo überblickt. Sieben Lifte verbanden die zahlreichen Ebenen, die Restauration war unterteilt auf drei Stockwerke. Ein halbes Dutzend Suiten verfügten über einen privaten Mini-pool, alle Zimmer hatten zum Meer hin schrankenlose Fensterfronten von der Decke zum Boden. Die südliche Inneneinrichtung war gepflegt, jedoch etwas in die Jahre gekommen. Das Vista Palace gehörte zur Grundig- Stiftung, die es mit allem möglichen technischen Schnick-Schnack ausgestattet hatte: Storen, die sich bei Sonneneinfall automatisch senkten, sich ab einer gewissen Windstärke und unabhängig von der Sonne ebenso von selbst wieder hoben, ein fixes, allzu kleines Bedienungstablett integriert an der Vorderseite des Nachttisch, für besondere Beleuchtungszenarien, die Aircondition, den elektrischen Eingangs-Türöffner, die Anzeige bitte nicht stören/bitte Zimmer herrichten und eben für besagte Sonnenstoren. Normal begabte Menschen brauchten eine Woche, um so etwas bedienen zu können. Deshalb kam es zu ebenso komischen wie wütenden Situationen mit Zimmerbewohnern, die sich kaum daran gewöhnen konnten.
Mein Vorgänger, Patrice Glogg mit seiner begabten Frau Agnès hatten es verstanden, dem Haus einen urbanen Touch zu verleihen ohne der südlich geprägten Eleganz ihren Charme zu nehmen. Sie hatten das Haus wirklich geprägt. Nur eine Wahl von Agnès konnte ich nicht verstehen: die Uniformen der Hostessen. Ein zweireihiges, schwarzes Deux-pièces, mit ausgeschnittenem Jackett, alle 10 cm versehen mit 1 cm breitem Fischgrat-Muster und beidseitig parallel verlaufenden feinen grauen Linien. Die jungen Damen wirkten darin ausgemergelt. Sie hätten besser in eine Pompes funèbres, in ein Beerdigungsinstitut, als in ein Hotel gepasst. Mit Herrn Althoff kamen Gloggs zu keiner Übereinkunft. Sie verliessen das Vista Palace nach fünf Jahren dortiger Tätigkeit. Diese Tatsache begründete meinen Einsatz im Vista.
Das Haus machte mir den Eindruck, dass alle Abteilungen nicht nur selbständig, sondern losgelöst voneinander arbeiteten, wie das in grossen Kettenhotels der Fall sein kann. Für mich entsprach dieser Arbeitsstil weder der Grösse, noch der Art des Hotels, welches unter seinen ursprünglichen Besitzern „Vistaero“ hiess und lange den „Relais et Châteaux“ angehört hatte. Als solches wurde es von ihnen sehr persönlich geführt. Wahrzeichen des Hauses war damals ein grosses V auf dem Dach, das in die Nacht über der Küste leuchtete. Aber nur, wenn noch Zimmer frei waren. Wer also nachts eine Unterkunft benötigte, was im eleganten, lebensfreudigen Monte-Carlo ebenso zufällig wie oft vorkam, war sich bei leuchtendem V gewiss, im Vistaero willkommen zu sein. Den Ruf des Hauses veredelte das nicht unbedingt, doch einträglich war es allemal.
In Vista Palace wurde es umbenannt, als die Grundig-Stiftung es erworben und erweitert hatte, mit Konferenz- und Bankett-Räumlichkeiten, ja sogar mit einem Helikopter-Landeplatz. Herr Althoff war mächtig stolz auf diesen Zuwachs seiner Gruppe und schlug vor, uns am Telefon mit „Grand Hotel Vista Palace“ zu melden. Mit höflichem Hinweis auf die wirklichen Grand Hôtels, de Paris und Hermitage, im nahen Monte-Carlo, jene Monumente des ausgehenden 19.Jh. konnte ich ihn überzeugen, dass eine solche Ankündigung vielleicht nicht so überzeugend wäre. Gefallen hat ihm mein Einwand nicht.
Schon der Namenswechsel von Vistaero zu Vista Palace wurde damals von der Öffentlichkeit als unpassend wahrgenommen. Die Leading Hotels of the World, um deren Mitgliedschaft Herr Althoff warb, lehnten uns ab. Nicht als Werturteil, sondern weil es eben einem Palace nicht entsprach und die Small leading Hotels of the World damals noch nicht existierten.
Mir schwebte vor, dieses kleine Haus, das zu einem guten Teil von Stammkunden lebte, die mehrere Male pro Saison für Wochenende und Veranstaltungen kamen, so persönlich wie möglich zu führen. Der Empfangschef sollte Anschluss zu den Clés d'Or finden, den Concierges der grossen Hotels, die PR Abteilung mit den Vorständen der attraktivsten unter den zahllosen Vereinigungen und Clubs von Monte-Carlo, um immer auf dem Laufenden für brillante Veranstaltungen zu sein. Unsere Stammkunden sollten wir im voraus darauf aufmerksam machen, ihnen Zugang zum einen oder anderen Anlass verschaffen. Das ergäbe eine Kundenbindung, die einem kleinen, feinen Hotel entspricht. Sie liesse sich weiterentwickeln und den Anteil der Stammkunden ausweiten. Es ging darum, das Vista als Geheimtipp zu etablieren. Bereits konnte das Hotel auf Ferrari- und Oldtimer-Vereinigungen zählen, die zur guten Belegung des Hauses beitrugen. Leider sprach Herr Althoff kein Französisch. So erfolgreich seine deutschen Betriebe auch waren, deren Formel konnte nicht eins zu eins auf Frankreich und Monte-Carlo übertragen werden, wie er sich das vorstellte. So gut wir uns menschlich verstanden, auf beruflicher Ebene hatten wir unterschiedliche Auffassungen.
Franzosen sind trotz ihrer Lebensfreude eher reserviert, zumindest im ersten Kontakt. Mein direktes Zugehen stiess sowohl bei Gästen namentlich im Restaurant, wie auch bei Mitarbeitern auf Erstaunen, wenn zuweilen nicht gar auf Unverständnis. Lächelnd setzte ich mich darüber hinweg, gewann das Vertrauen beider. Die Mitarbeiter wurden nach kurzer Zeit auch im Team offener, die Zusammenarbeit und das ganze Ambiente lebendiger.
Mit den Mitarbeitern traf ich es gut: Ich sah mir schon einmal an, was sie leisteten, lobte sie, wo angebracht und unterstützte, wo notwendig. In der Tat gab es da und dort materielle und personelle Engpässe, die es zu überwinden galt.
Ich war ausgesprochen froh, dass Axel Deitermann sich um all die administrativen, buchhalterischen und inventarbezogenen Aspekte kümmerte, die eine Übernahme mit sich bringt, um mich mich ganz auf den Betrieb zu konzentrieren. Wir hatten es gut miteinander, kamen uns nie in die Quere, ausser vielleicht beim Dessert-Buffet, da wir beide recht verschleckt waren. Der Pâtissier Pascal war in der Tat ein Ausnahmetalent, von dessen einfallsreichen Kreationen mir ein Fenchel-Sorbet und ein Zichorien-Eis in süsser Erinnerung bleiben, nebst all den klassischen Nachspeisen, Patisseries und Croissants, die er mit seltener Meisterschaft herstellte.
Meine Position als Mandatsträger gefiel mir. Gleichzeitig beeindruckte sie mich: „Nun stehst du ganz alleine da. Erfolg oder Misserfolg hängen nur von dir ab. Nicht nur von deiner Leistung, auch von der Disziplin, mit der du deine administrativen Aufgaben erledigst und von der Klugheit, mit der du neue Mandate suchst. Hast du dazu auch den nötigen Durchhaltewillen?“ Ich war mittlerweile sechsundfünfzig, nicht gerade ein Alter um sich zum ersten Mal selbständig zu machen. „Um deinen Durchhaltewillen zu trainieren, unterziehst du dich jetzt einer schwierigen, langen und nutzlosen Anstrengung. Es geht um Lernwillen und Ausdauer, nicht um das, was du lernst. Ans Fortschreiten, so beschwerlich es auch ist. Doch was könnte das sein?“
Die Russen waren damals gerade daran, die neue Kundschaft im gehobenen europäischen Tourismus zu bilden. Patrice Glogg hatte für deren Akquisition Olga Bobrova aus Moskau betraut. Eine blitzgescheite Frau, welche die Gunst der Stunde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erkannte, und als damals 18-jährige die Reiseberatung „ars vitae“für vermögende Russen aufbaute. Ihre Kunden vermittelte sie ausschliesslich an allerbeste Adressen in Westeuropa. Für die Betreuung der bemerkenswert zahlreichen Gäste, die sie uns zuhielt, hatte mein Vorgänger eine ukrainische Studentin als Hostess aus Lvov, dem früheren Lemberg, eingestellt, auch eine Olga. Diese hatte den concours international de la dictée françaiseihres Landes gewonnen und damit ein Stipendium für ein halbes Jahr an der Uni in Sofia Antipolis. Um über die Runden zu kommen hütete sie das elfjährige Kind einer Familie in Nizza, führte unsere Russen in der Gegend umher, half im Service und überall dort mit, wo Not am Mann, respektive an der Frau war.
Die Russen! Ich erinnere mich an zwei junge Paare, das eine hatte zwei kleine Kinder. Beide Paare hatten jedes für sich während des ganzen Aufenthalts einen Ferrari und einen grossen Mercedes gemietet und gemeinsam eine Motoryacht. Nicht nur diese, alle Russen waren von überschäumender Lebensfreude, genossen den Moment und alles, was sich an Bestem bot. „Lerne doch Russisch!,“ sagte ich mir, „dann hast du deine schwierige und nutzlose Anstrengung. Allzu lange wird sie nicht sein. In zwei, drei Jahren wirst du das ordentlich können, wenn vielleicht auch nicht gerade beherrschen.“ Schliesslich bist du mündlich und schriftlich gut in vier Sprachen und verständigst dich darüber hinaus im Spanischen ganz ordentlich.
Was die Schwierigkeit, die Länge angeht, hätte ich es nicht besser treffen können. Nach zwanzig Jahren lese ich zwar Dostojevski, lieber Tschechow, aber mit welcher Mühe! Von fliessendem Reden keine Spur! Sicher aber hat mir die Anstrengung das Bestreiten meiner Selbständigkeit erleichtert in den fünf Jahren, die ich rückblickend als die beruflich segensreichsten bezeichne.
Dabei ergaben sich auch komische Situationen. Als ich mit meinen ersten Brocken eine russische Familie bei Tisch fragte: „Vkussno?, schmeckt es ihnen?,“ meinte die Dame: „Ach, Sie sprechen auch Japanisch?“ Später ging es dann schon besser. Doch als ich eines Tages der Hauptperson am Tisch von Russen aufwartete, um mich nach deren Zufriedenheit zu erkundigen, sprangen vom Nebentisch vier Männer auf und umringten mich sofort. Was mich amüsierte, beunruhigte die Bodyguards zutiefst und sie gaben es mit ihren Blicken zu verstehen.
Die Frauen, die mit ihnen reisten, waren zumeist jung, wunderschön und alle sehr elegant gekleidet. Olga Biganska stand neben mir in der Halle, als eine Gruppe von ihnen direkt an uns vorbeizog. „Oh, welch hübsche Höschen die Russinnen tragen,“ sagte ich zu ihr als ich feststellte, wie deren weisse Hosen Olga fesselten, durch welche jene durchschimmerten.
„Mein Höschen haben Sie aber noch nie gesehen, Herr Direktor“.
„Mit Ihrer Uniform besteht da keinerlei Risiko.“
„Das hat nichts mit meiner Uniform zu tun. Ich bin Ukrainerin, nicht Russin!,“ rief sie pathetisch aus.
„Hören Sie Olga, Sie haben doch relativ viel freie Zeit. Wären Sie bereit, mir Russischlektionen zu erteilen? Überlegen Sie das bitte doch einmal und sagen Sie mir auch, wieviel Sie dafür wollen.“
„Ich? Dafür will ich Deutschstunden!,“ kam es wie aus der Kanone zurück.
Diese Übereinkunft sollte mir nicht nur sprachlich weiterhelfen. Nebst ihrer geduldigen Lehrtätigkeit löste sie mir mehr als einmal zahlreiche Knöpfe in der Bedienung des mir damals nur rudimentär bekannten Computers. Ihre Beharrlichkeit, mit der sie sich an Frankreich festkrallte, ihr Draufgängertum, mit welcher sie ihre Karriere bis zum Doktorat an der école des mines als Chemikerin verfolgte, um heute in der Forschung eines bedeutenden französischen Unternehmens tätig zu sein, sollten mir als Beispiel in meiner Selbständigkeit dienen, wenn mich der Mut verlassen wollte. Olga wusste nur eines: in die Ukraine kehre ich nicht zurück.
Margot und ich führten unsere Wochenend-Ehe weiter, welche im Tschuggen begonnen hatte und uns auch in Pontresina recht gut bekommen war. Meine Frau pflegte unser Heim im Tessin als unser Quartier général. Nicht nur ihr war es wichtig, die Wurzeln zu pflegen, die wir hier vor zwanzig Jahren geschlagen hatten. Auch mir war der Rückzugsort lieb und teuer. Wir beide erinnerten uns nur zu gut, wie der Wegzug von Megève unsere Kinder geschmerzt hatte. Ihnen im Tessin ein Heim zu bieten, das immer das unsere bleiben würde, unabhängig davon, wohin meine beruflichen Orientierung mich verpflanzen würde, war für uns ein unverrückbares Ziel. Das auch für uns beide, jetzt wo die Kinder bereits in Zürich und Fribourg studierten und dort lebten. Margot hatte nicht zuletzt über die Schule mit diversen Eltern der Schulkameraden Freundschaft geschlossen, die sie sehr gerne pflegte. Sie kam und ging nach Roquebrune, wie sie nach Arosa und Pontresina gekommen war.
Die Kinder begleiteten sie über die Feiertage. Zusammen mit uns verlebten sie die ganzen Sommerferien in Roquebrune. Patrick und insbesondere Claudine waren begeistert von meiner neuen Position. Die Wohnung im Hotel selbst, auch die beiden Zimmer der Kinder hatten denselben spektakulären Blick übers Meer. Die Feuerwerke zum Wettstreit von Monaco im Juli und August waren von dort aus prächtig zu sehen. Die Küche im Hause war vorzüglich, Monte-Carlo das Mekka von Showbegeisterten, die ganze Côte d'Azur und insbesondere deren alter Teil bis Cannes, die Spielwiese der Schönen und Reichen. Welchen Twens würde so etwas nicht gefallen? Die Abende in den tollen Bars und Clubs dem Hafen entlang, die Superstars, denen man im Sporting in Abendkleid und weissem Dinner-Jacket zujubelte? Es war ein Leben in Dauer-Ekstase des Spektakulärsten, des Schönsten, Elegantesten, in einer kaum zu überbietenden Brillanz! Wer daran teilnahm, schien keine Sorgen zu kennen und Geld hatte offenbar ebensowenig Bedeutung, wie die Luft die man atmete. Alle schienen sich dauernd für irgendetwas zu belohnen, alle waren des amis, de très chers amis.
Von aussen vermochte man keine Rivalität unter ihnen zu erkennen, ebensowenig die strenge Hierarchie die in diesen Kreisen herrscht. Der bal des petits lits blancs fürs Rote Kreuz offenbarte solches den Eingeweihten. Die Teilnahme kostete damals sechstausend Francs, das fünffache des gesetzlichen Mindestmonatslohnes wie ich unpassenderweise hier anführe. Zutritt bekamen Einzahlende, deren Scherflein so lange auf einem Sperrkonto blieb, nur „auf Einladung“ hin. Die Tischzuteilung nahm das Komitee im Ermessen des gesellschaftlichen Ranges vor, welchen die Anfragenden bekleideten. Längst nicht alle Anfragen wurden erfüllt. Die Abgewiesenen erhielten ihre Anzahlung kommentarlos zurück. Wer dann schlussendlich zugelassen wurde und seine mondänen Ambitionen dadurch erfüllt glaubte, seinen Tisch aber in der Nähe zum Toiletten- oder Servicedurchgang zugeteilt bekam, konnte danach seine Koffer gleich wieder packen...
Eine Dauererektion soll dem Vernehmen nach in Schmerz übergehen. Permanente Exaltiertheit äussert sich weniger leidvoll. Sie verliert schlicht und einfach ihren Geschmack, entleert sich ihres Gehalts, endet im déja-vu. Das stellte ich im Kontakt mit lieben Gästen aus dem Tschuggen fest, die, in Monte-Carlo ansässig, mich mit fast wöchentlichem Besuch im Gourmet-Restaurant des Vista den ganzen langen Sommer über beehrten. Sorgen über die äusserst schwierige Schwangerschaft ihrer Tochter, die schliesslich ihr Kind verlor, und Betrübtheit über die zunehmende Entfernung von ihrem Sohn, der seine Hauptaufgabe darin sah, das Familienvermögen ebenso rasch wie unterhaltsam in Umlauf zu bringen, bestimmten ihr Leben, untermalt von gepflegter Langeweile.
Derweil schlug ich mich mit dem kyrillischen Alphabet und dem schwer einprägsamen, russischen Vokabular herum. Die Russisch Lektionen unterbrach ich bisweilen mit gemeinsamer Lektüre von einigen Gedichten aus Kästners lyrischer Hausapotheke, Geschichten aus „Tod in Sils Maria“. Das amüsierte Olga und bewahrte mich vor dem Ersticken an den sechs Fällen der russischen Grammatik. Olgas Mutter hatte rudimentäre Deutschkenntnisse, die sie ihrer Tochter erfolgreich vermittelt hatte. Olga verstand gut, begriff schnell. Welch eine Geduld sie dagegen mit mir hegen musste...
Wenn es mir zuviel wurde, liess ich sie aus ihrer Heimat erzählen. Der Vater stammte aus einer kultivierten und prominenten Familie. Ein „Klassenfeind“, der zum Kommunisten umerzogen worden war. Er leitete eine Mittelschule und seine Frau lehrte Mathematik. Olga schilderte mir die Schwierigkeiten, vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, aber auch die aktuellen, wie sie während einem halben Jahr keinen Lohn gesehen hatten und wie viel Wert das Geld in dieser Zeit verlor. „Und wie kommt man da zurecht?“ fragte ich sie ungläubig.„On s'arrange. Es gibt immer Mittel, sich zu arrangieren.“ Dabei strahlte sie ein Selbstvertrauen aus, das mich beschämte.
Wie lange könnte ich wohl ohne Lohn überleben, bevor's ans Eingemachte ging? Drei Monate, vier vielleicht? Wo müsste, könnte ich dann sparen? Solche Fragen stellte ich mir auch in Bezug auf meine Selbständigkeit, die Tatsache völlig ausblendend, dass ich im laufenden Jahr doppelt bezahlt war, einmal in der Schweiz, in Frankreich sogar steuerfrei, unsere angesparten Reserven vergessend. Doch war ich in Gedanken bereits im nächsten Jahr, wenn dieses Mandat abgelaufen sein würde. An eine Umwandlung in eine entlöhnte Direktion war aus verschiedensten Gründen nicht zu denken. Beunruhigt stellte ich fest, dass Steuern, Kranken- und Lebensversicherungen, Zinsen und Amortisation der Hypotheken bereits die Hälfte meiner komfortablen Einkünfte wegfrassen. Zu sparen gab es da nicht viel. Stipendien für Kinder zu beantragen die an zwei verschiedenen Unis studierten, hätte ich als erniedrigend empfunden. „On s'arrange“lachte mir im Geiste Olgas Gesicht entgegen.
Bei einem Besuch zu Hause erfuhr ich rein zufällig, dass Patrick und Claudine um einen Ausbildungskredit ersucht hatten. Was haben wir doch für wunderbare Kinder! Ohne dass wir darüber gesprochen hätten, strebten sie danach uns zu entlasten! Am Familientisch dankte ich ihnen gerührt. Sie sollen mir aber doch noch die Chance geben, auch ihre Kosten aus eigener Kraft zu bestreiten. „On s'arrange“.
Olga hatte nur ein Ziel: ihre beschränkte Aufenthalts- und Studienbewilligung zu verlängern. Wieviel die Familie dazu beigetragen hatte, bei der sie wohnte und deren Kind sie hütete, habe ich nie erfahren. Nicht viel, vermutlich, denn es waren einfache, ganz normale Leute.
Eines Tages wurde sie ins Polizeikommissariat gebeten wegen ihrer Aufenthaltsbewilligung.
„Wann, und nach wem frage ich dort?“
„Morgen um 15.15. Uhr. Geben sie einfach folgende Nummer an am Empfang.“
Damit war das Gespräch beendet.
Man führte sie in den dritten Stock, wie sie mir erzählte, und hiess sie auf dem Stuhl Platz zu nehmen, der vor einem blechernen Büro stand, wie sie damals in der französischen Administration üblich waren. Dahinter ein leerer Bürostuhl und in der Wand darüber ein blindes Fenster, wie sie bei Einvernahmen üblich sind. Nach geraumer Wartezeit kam schliesslich ein Beamter in Zivil. Er legte ein Dossier vor sich hin, das offensichtlich das ihre war:
„Guten Tag, Mademoiselle. Ihr Name, Vorname, Geburtsdatum, Wohnort“, alles wollte er wissen.
„Das haben Sie doch alles bereits in meinem Dossier,“ gab Olga zur Antwort, als die Fragerei immer weiter ging.
„Ja, aber wir wollen wissen, ob Sie die Wahrheit sagen. Und dann arbeiten Sie im Vista Palace, obschon Sie dazu Ihre Aufenthalts-Bewilligung nicht berechtigt.?“
„Nur aushilfsweise“. Man ruft mich jeweils, wenn für russisch sprechende Gäste Übersetzungen nötig sind“ untertrieb sie.
„Sie haben um Umwandlung Ihrer Bewilligung in eine permanente nachgesucht, ist mir bekannt. Gilt das noch immer?“
„Ja, natürlich. Ich würde gerne in Sofia Antipolis weiterstudieren.“
„Wenn Sie uns helfen, können wir vielleicht Ihnen helfen. Könnten Sie sich das vorstellen?“
„In was würde meine Hilfestellung bestehen?“
„Wir wären froh, wenn Sie uns die Ankunft von bestimmten Gästen aus dem Ostblock im Hause bestätigen möchten, sich deren Unterhaltung etwas aufmerksam verfolgen und uns darüber Bescheid geben würden? Mit der angemessenen Diskretion, versteht sich. Hier haben Sie einige Namen, die möglicherweise im Vista Palace absteigen werden. Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, dass Sie nicht mit Details der Arbeitsbewilligung behelligt würden.“ Ein klarer Wink, womit sie zu rechnen hätte, sollte sie nicht einwilligen.
Er reichte ihr einen anonymen Zettel mit etwa einem Dutzend Namen, bedankte sich fürs Kommen und verabschiedete sich.
Ein paar Tage bestätigte man Olga, dass ihr Gesuch um Jahresbewilligung zu Studien- und Arbeitszwecken bewilligt worden war. Das alles hatte sie mir kurz vor meiner Wegreise vom Vista Palace erzählt. Auch mit einem Lachen. Es ging um Frauenhandel. Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war, standen sehr viele Beamte der Geheimdienste ohne Beschäftigung da. So versprach sich die französische Administration neue Tätigkeiten für ihre Agenten, indem man der traite des blanches, dem Frauenhandel, nachging. Die Piste im Vista war dafür die falsche.
Olga doktorierte an der école des mines, ersuchte sobald es möglich wurde erfolgreich um die französische Staatsbürgerschaft. Danach lernte sie ihren Mann Arnaud kennen. Sie haben zwei reizende Kinder, Milan und Olena, leben in der Nähe von Paris. Ich freue mich über ihren persönlichen, familiären und beruflichen Erfolg und natürlich auch, dass wir heute noch Freunde und im Kontakt geblieben sind. Mit ihr, ihrer Familie und mit ihren Eltern in Lvov.

Doch was soll ich überhaupt verlangen? Welch eine Mühe ich doch verspürte, Beratung als Arbeit zu betrachten und entsprechend zu verrechnen! Garantiert war da gar nichts. Die Unsicherheit machte mir zu schaffen und trotzdem erloschen meine Existenzängste mit fortschreitender Planung. Es kam schlussendlich alles ziemlich automatisch: Wieviel möchtest du pro Jahr im Idealfall verdienen? fragte ich mich. 220 Arbeitstage hat das Jahr. Von diesen zählst du einen Drittel ab für Akquisition und Verwaltung. Verbleiben rund 150. Nun teilst du deinen angestrebten Jahresverdienst durch diese Zahl und kennst so deinen Tagespreis. Der entsprechende Stundenansatz wird 25% höher berechnet, wobei die Summe von acht Stunden immer auf den Tagesansatz reduziert wird. Es brauchte einiges an Disziplin, pro Kunde die Stunden zu notieren, zu verrechnen, seien sie an Ort und Stelle geleistet, am Telefon oder in der Erfassung der Probleme und dem Erarbeiten eines Lösungsvorschlags. Wo waren nur Susi Olgiati und all die anderen Assistentinnen, die mein Büro in Ordnung hielten? Wenn mich der Mut verlassen oder ich in Selbstmitleid über den verlorenen Kronenhof fallen wollte, dachte ich an Olga, an ihre Unerschrockenheit, ihren Durchhaltewillen und an ihren Humor. Das half mir immer wieder auf die Beine. On s'arrangera bien!
„Hast du immer noch den Eindruck, alle wüssten bestens Bescheid über das, was du zu bieten hast?“ fuhr es mir tröstlich durch den Kopf, als ich schon während meinem ersten Aufenthalt im Hause meine Notizen aufarbeitete. Damit zeigte sich eine neue Perspektive: Hotelier auf Zeit. Doch in diesem Hause war ich Beobachter, verfertigte meine Rapporte und entwickelte das Konzept zur Neupositionierung des Kurhauses. Die Präsentationen wurden vom Verwaltungsrat lebhaft verfolgt und diskutiert, abgeändert, weiter, in neue Richtungen entwickelt. Ich fühlte mich der Aufgabe gewachsen, sicher in Idee und Präsentation. Es war ein interessantes Jahr in jeder Beziehung. Hätte ich genau hingehört, wäre es möglicherweise viel müheloser gewesen. Es ging vor allem darum, den Direktor auszuwechseln. Wenige Jahre später wurde die ganze Anlage verkauft.
Sanary ist zwanzig Autominuten von Toulon und dem sehr touristischen Bandol entfernt. In seinem Hafen schaukeln zuerst einmal die Fischerboote, danach die Segler und erst weit hinten die Motoryachten. Ein idealer Ferienort: Der Tourismus gehört zu den Hauptaktivitäten. Er ist französisch geprägt. Sein Markt wurde unlängst zum schönsten von ganz Frankreich gekürt, unweit davon, direkt an der Mole, bieten kleine Fischer ihren Fang an: Wer auf Loup, wer auf Pajots und all die lokalen Fische spezialisiert ist, wer auf Thon, wer auf Langusten. Was für ein appetitliches Nebeneinander!
***
„Was meinen Sie dazu, reizt Sie eine solche Aufgabe, fühlen Sie sich gewachsen?“
„Nun, ich habe zeitlebens in der Luxushotellerie gearbeitet, in Häusern wo man sich ganz den individuellen Bedürfnisse der Gäste widmet.“
„Sehen Sie,“ meinte dieser, „ in einer maison bourgeoise ist man noch viel mehr als im Hotel dem Gast, der Arbeitgeberin ergeben. In unserem Falle handelt sich um eine ganz besondere Person. Diese beiden Aspekte bringen es mit sich, dass wir eine relativ hohe Personalfluktuation haben. Im Moment beispielsweise brauchen wir dringend ein Hausmeisterpaar in der Residenz, die sich ausserhalb der Schweiz befindet. Sollte Ihre Bewerbung zusagen, arbeiten Sie teils in der Verwaltung im Malcantone, wo Sie administrative Arbeiten erledigen, die zu einem grossen Teil in Kontakten zu ausgesuchten Vermittlungsagenturen bestehen. Dann reisen Sie an die Orte, wo sich die Gräfin gerade aufhält, beaufsichtigen das Personal, das Anwesen und machen sich Gedanken zu den Abläufen, zum Zustand der Anlage und unterbreiten mir gegebenenfalls Vorschläge zur Verbesserung und Vereinfachung. Diese besprechen wir gemeinsam, bevor wir sie der Herrschaft unterbreiten. Nein, mandatsmässig ist da gar nichts zu machen, das entspricht nicht unseren Gepflogenheiten. Wer für uns arbeitet, tut das zu hundert Prozent.
Wenige Tage nach unserem Treffen bestätigte mir der Vermögensverwalter, dass die Gräfin von meinem Dossier angetan sei, vor allem von meiner Haltung, mit beiden Füssen fest auf der Tradition zu stehen, um mit beiden Händen nach der Moderne zu greifen. Auf meine Gehaltsvorstellungen war man voll und ganz eingegangen: sie entsprachen meiner Entlohnung als Hoteldirektor.
Die Residenz, wohin ich etwa zur Hälfte meiner Arbeitszeit hinflog, war traumhaft: Zwei Villen in einem über sechs Hektare grossen Park, direkt am Wasser, die eine schlossähnlich, die andere in zeitgenössischer Architektur. Diese war früher der Geschäftssitz der Unternehmungen des verstorbenen Gatten. Das Wohnhaus hatte die Eigentümerin zauberhaft gestaltet und mit wenigen, aber erlesensten Bildern und Antiquitäten ausgestattet. Die Wellness-Anlage im Erdgeschoss hätte einem mittelgrossen Familienhotel höchste Ehre erwiesen. Im Park ein Jagdpavillon mit Kegelbahn und zahllosen Trophäen aus Afrika des Hausherrn. Ein Bootshaus mit einem prächtigen Riva gehörte dazu, in der Garage standen ein Ferrari, ein Lamborghini, ein grosser Audi, dazu ein Kleinwagen für die Botengänge des Personals. Das Stadthaus in London war an allerbester Lage, durch einen hübschen Garten mit einem Mews-House verbunden, in welchem die Dienstboten logierten, auch sie angenehm und komfortabel. In den Alpen besass man ein Chalet modernen Zuschnitts, das mich von aussen nicht beeindruckte, innen aber stattliche Gemütlichkeit ausstrahlte.
Diese Tätigkeit offenbarte mir den Lebensstil der Spitze meiner bisherigen Kundschaft. Dieser übersteigt nicht nur alle gängigen Vorstellungen von Reichtum. Er überstieg auch die meinen, trotz langer Jahre des Kontakts mit solchen Gästen. Doch im Hotel bleibt der Kunde Gast. Obschon bezahlend und dadurch Sprichwort gemäss König, bleibt er an die Gebräuche des Hauses gebunden. An seinem Wohnort jedoch ist der Angestellte Untergebener. Im positiven Fall herrschen Regeln, Abmachungen, die auch von den Arbeitgebern eingehalten werden. In Kontakten mit ähnlichen Familien, zu denen ich als Personalvermittler fand, konnte ich das oft feststellen. Das sind die positiven Beispiele, in welchen Dienstverhältnisse lange, oft bis zur Pensionierung dauern, danach in eine freundschaftliche, fast familiäre Beziehung münden.
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Es wird nicht vorgeschlagen und noch viel weniger eigenständig entschieden. Alles, auch Selbstverständliches, wird unterbreitet: was meinen Sie wenn...? Wenn es Ihnen recht/angenehm ist, dann würde ich jetzt das und das tun.... Wünschen Sie, dass ich....
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Der Dienst wurde nicht quittiert, weil es Zeit ist. Sondern man präsentiert sich zum Dienstende und spricht in etwa wie folgt vor: Es ist .... Uhr. Haben Sie noch einen Wunsch Madame, oder darf ich mich zurückziehen?
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Im Hause benimmt man sich diskret. Man ruft sich niemals zu. Im Office und beim Mittagessen, das in zwei Schichten eingenommen wird um die Dienstbereitschaft aufrechtzuerhalten wird nur leise gesprochen, und vor allem ist lautes Lachen zu unterlassen. Die Herrschaft könnte sonst meinen, man mache sich über sie lustig.
Eines schönen Tages rief mich ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem Tschuggen an: „Machst du noch immer Hotelier auf Zeit? Würde dich der Bürgenstock für sechs bis achtzehn Monate interessieren? Dann kontaktiere doch mal Jean-Jacques Gauer, der dort im VR sitzt.“

2001, zum 60. Geburtstag von Margot, erfüllte ich ihren lang gehegten Wunsch: Zurück nach Mexico, ganz Yucatan hinunter, wo sie und Vreni als junge Frauen nach ihrem Aufenthalt in den USA, vor ihrer Rückreise in die Schweiz Ferien, genossen hatten . Fly & Drive, welch eine tolle Möglichkeit Mexico-Tulum – Kohunlich – Palenque – Villahermosa mit Park La Venta – Campeche mit seinen abgerundeten Häusern, damit die bösen Geister sich nicht verstecken können – Uxmal – Saidul – Merida – Chichén Itza – zu besuchen. Danach Ausruhen in Playa del Carmen, in einem reizenden kleinen Strandhotel, das einer Mexikanerin und einem Schweizer gehörte.
Andere Reisen brachten uns zwei Mal nach Indien, nach Vietnam, nach Portugal, nach Saint-Malo zur Thalasso, ins Tal der Könige nach Aegypten. Die unterschiedlichen Eindrücke von Lebensweise, Kleidung, Gastronomie, von der Art sich zu unterhalten, bereicherten uns und gaben immer wieder neue Impulse. Berufliche, wie auch für unser privates und persönliches Sein.
Wir versuchen, alle ein bis drei Jahre für ein Wochenende mit der Familie irgendwo hinzureisen. Eigentlich war Istanbul auf dem Programm, doch ich sagte: Warum fahren wir nicht nach Palermo? Das kennen wir doch alle noch nicht. Vielleicht lernen wir sogar Albertos Eltern kennen? Damals waren er und Claudine nur befreundet. Trotzdem überraschten uns seine Eltern mit einer Gastfreundschaft, von der wir Schweizer nur träumen können:
„Ja selbstverständlich, nur ein Teller Pasta,“ meinte seine Mutter Ina auf unseren telefonischen Vorbehalt, dass wir mittags eigentlich fast nicht essen würden, besonders bei der gegenwärtigen Hitze. „Ja natürlich, das verstehen wir doch!“
Wir kamen pünktlich wie abgemacht um ein Uhr an. Neben Grossmutter, Vater, Mutter und Tante, die im Haushalt leben, waren weitere zehn Verwandte da, „selbstverständlich nur die engsten.“ Herzliches Kennenlernen, fröhliches gegenseitiges Beschnuppern beim Apero auf der hofinternen Terrasse und danach "der Teller Pasta" um einen langen Tisch. So viele Personen, dreizehn Sizilianer, vierzehn mit Alberto und wir fünf, können sich natürlich nicht auf eine Konversation einigen, sondern man führte deren drei gleichzeitig. Und alle nahmen an jeder teil! Albertos Mutter trug auf, was sie nur konnte und zelebrierte ihre Freude am Kochen und an Gästen aufs Schönste. Es war ein Lachen, ein Schmausen und ein Geplapper, das nur von gelegentlichen Trinksprüchen unterbrochen wurde. Gegen fünf Uhr endete Inas „Teller pasta“ mit der Bemerkung: In ganz Sizilien fand Alberto keine Frau, die schön genug für ihn gewesen wäre. Dafür brauchte es eine Schweizerin!
Obschon den Eltern klar war, dass, sollte aus der Freundschaft etwas werden, ihr Sohn für immer fern von ihnen in der Schweiz leben würde! In keinem Moment erfuhren wir und noch weniger Claudine auch nur den Hauch von Ablehnung, nicht einmal von Vorbehalt.
Zwei Jahre später, am 14. Juli 2007, feierten wir Claudines und Albertos Hochzeit in Palermo, in der prächtigen Chiesa Immacolata Concezione di Capo, ganz im sizilianischen Barock. Claudine hatte diese Kirche nicht nur ihrer Schönheit wegen bevorzugt, sondern auch weil Ina, ihre Schwiegermutter, dort zur Kirche ging, dort die Kommunion empfing und gefirmt wurde. Danach blieb sie vierzig Jahre geschlossen, wurde restauriert und öffnete gerade rechtzeitig für die Hochzeit von Claudine und Alberto. Wie stolz war ich, meine Tochter an meinem Arm die paar hundert Meter durch den Markt Capo zu geleiten, der zur Kirche führt. Rufe wie "Viva la sposa!" und "Tanti figli Maschi - Viele Söhne!," begleiteten uns bis zum Kirchenportal Die Händler rückten ihre Auslagen zurück, um in der schmalen Gasse Raum für den weiten Brautrock zu schaffen, viele winkten der Braut zu, lächelten, lachten. Ein befreundeter Tenor von Alberto aus dem Teatro Massimo sang zu den feierlichsten Momenten der Segnung des neuen Paares. Beim Hinaustreten ins noch immer lebendige Markttreiben wurden sie mit Reiskörnern beworfen, wie es die Tradition dort verlangt, Hurra Rufe begleiteten die ganze Gesellschaft zur unweiten Piazza Porta Carini. Alberto hatte mit der dortigen Trattoria "supra i mura" einen Empfang vorbereitet mit typisch sizilianischen Bräuchen und Spezialitäten: ein traditionelles "Teatro dei puppi", Marionetten; ein fröhlicher gelataio kratzte einen Eisblock zu "Grat.XXXXX, an seinem Stand, vollgeklebt mit den Reportagen von Zeitungen und Revuen aus aller Welt, die ihn portraitiert hatten, es gab "fritelle", gebackene Innereien die köstlich schmeckten, ein weiterer bot an seinem Stand "sfincione" an, eine dicke Pizza mit markantem Hefegeschmack und selbstverständlich durften am Tag der Santa Rosalia, der Stadtheiligen von Palermo auch die "babalucce" nicht fehlen, Schnecken al sugo. Auch einige Passanten und Markthändler mischten sich unter die Gesellschaft, es herrschte eine ausgelassene Fröhlichkeit bis wir nach 15 Uhr der heissen Sonne nicht mehr widerstanden und uns alle zur Siesta zurückzogen.
Nach 19 Uhr wurden wir alle nach Villa Bosco Grande gefahren. Ein zauberhafter Ort, erbaut im 18.Jh. in der sich die aristokratischen Latifundisten jener Zeit zu ihren Festen zusammenfanden. Alle, das waren gut fünfzig Sizilianer und etwas mehr Gäste aus der Schweiz. Ein Paar war sogar aus Shanghai extra angereist, Freunde und Kolleginnen von Alberto aus London. Für sizilianische Verhältnisse eine eher bescheidene Anzahl. Zu Hochzeiten finden sich gut und gerne bis zu dreihundert Geladene ein. Ein guter Teil der Schweizer begleitete uns anschliessend nach Cefalù, dem Saint-Tropez Siziliens, jedoch nicht so mondän, wo wir mit dem Brautpaar eine entzückende Woche am Strand verlebten. Täglich kam sizilianischer Besuch, aus Palermo und Catania, wo Alberto studiert hatte. Welch ein zauberhafter Einstieg in ihre Ehe.
Patrick und Simona hatten ebenfalls vorgehabt, im selben Jahr zu heiraten, liessen das Jahr aber ganz ihrer Schwester und Alberto. Sie schlossen ihren ehelichen Bund am 5. September des folgenden Jahres. Nachdem sie bereits seit zehn Jahre zusammen waren, verleitete mich das zum Spötteln, dass es sich hier mehr um eine Legalisierung ihrer Situation handle...
Die ersten Jahre hatten sie in Zürich verlebt und waren danach nach Meggen gezogen, wo sie sich sehr wohl fühlten. Deshalb beschlossen sie, die Gegend zur Kulisse ihrer Hochzeit zu machen. Wir trafen uns im Balm in Meggen, wo viele der Gäste wohnten: Das war zuerst einmal die Familie von Simona, mit der wir in den vergangenen Jahren eine herzliche Freundschaft geknüpft hatten. Ihre Verwandten, teilweise aus Italien, kamen dazu, Studienfreunde aus Fribourg, erste Freunde aus Frankreich, auch aus Deutschland.
Sie hatten das altehrwürdige Rathaus von Luzern ausgesucht, um ihren Bund fürs Leben zu schliessen. Die Zivilstandsbeamtin wusste, dass die beiden auf den kirchlichen Segen verzichteten. Sie zelebrierte die Eheschliessung besonders würdig, wie alle bemerkten und berührte damit das Brautpaar wie die Nahestehenden. Luzerns Altstadt, durch die wir zum See hinunter schlenderten bezauberte alle, besonders aber die Tessiner und Italiener. Dort wartete ein Schiff auf uns, das uns durchs Luzerner Seebecken über Kehrsiten und Hertenstein zur Anlagestelle von Schloss Meggenhorn brachte. Diese gute Stunde ermögliche jedem mit jedem zu plaudern, sich wo nötig einander vorzustellen, einander zuzuprosten. So entstieg dem Schiff eine wahrlich geschlossene Gesellschaft. Auf halbem Weg erwarteten uns die Feuerwehrkollegen Patricks mit einem alten Löschzug zu einem spassigen Umtrunk. Durch die Reben im Saft stiegen wir zur Schlossterrasse auf, wo der Aperitif serviert wurde. In dieser zeitlosen Atmosphäre erkundete man in wechselnden Grüppchen Park und Anlage ums Schloss.
Simona und Patrick waren seit Zuzug nach Meggen Stammgäste im exzellent geführten Hotel-Restaurant Balm. So hatten sie sich das Catering des Wirtepaares Sandra und Beat Stofer im Schloss Meggenhorn gesichert. Sie servierten ein Menu, das alle entzückte und lange in Erinnerung blieb. Studienkollegen überraschten mit witzigen Reminiszenzen über die beiden. Der Abend verflog köstlich und fröhlich, bis sich in den Morgenstunden auch die letzten Gäste verzogen, um einer glücklichen Zukunft entgegen zu träumen.

Als Jean-Jacques Gauer noch den Schweizerhof Bern seiner Familie geleitet hatte, veranstaltete ich mit diesem Hotel diverse Galas, zuerst im La Palma Locarno, danach im Tschuggen in Arosa. Wir kannten uns deshalb persönlich. Er leitete mich gleich weiter an Monsieur Förster, den CEO der Richemond Group.
Victor Armleder, Besitzer des gleichnamigen Hotels in Genf, hatte dieses einer französischen Investorengruppe verkauft, welche im Sinne hatte, eine Hotelgesellschaft in der Schweiz aufzubauen. Diese Gruppe erwarb innert weniger Jahre auch das Royal Savoy in Lausanne, den Schweizerhof in Bern, das Drei Könige in Basel und eben, den Bürgenstock. Für alle fünf Häuser zusammen hatte die Gruppe um die zweihundert Millionen Schweizerfranken bezahlt.
Man sei noch nicht entschlossen, ob man den Bürgenstock selber entwickeln oder verkaufen wolle. Bis man Genaueres wisse, suche man eine Übergangslösung. Er rechne mit mindestens sechs bis maximal achtzehn Monaten. Allerdings sei das „Bürgenstock Hotels & Resort“ so gross, dass sie sich nicht mit einer mandatsmässigen Betreuung begnügen könnten. Die Sozialversicherungen würden in dieser Form nur maximal vierzig Prozent meiner Arbeitskraft zulassen und das sei für eine so grosse Anlage zu wenig. Man suche jemanden, der sich voll und ganz dafür einsetzt.
„Darüber kann man reden. In diesem Falle muss es ein unbefristeter Vertrag sein, mit einer Mindestdauer von sechs Monaten und einer ebenso langen Kündigungszeit, jeweils auf Ende Monat. Ich brauche das, um meine Verbindungen danach wieder zu aktivieren.“
„Einverstanden. Können Sie mir gleich zusagen?“
„Geben Sie mir drei Tage Bedenkzeit. Ich werde Sie nicht hinhalten.“
Sehr zufrieden reiste ich von Lausanne, wo wir uns im Palace getroffen hatten, nach Hause zurück. Ich besprach mich mit Margot, die von der Sache sofort angetan war, und bestätigte Herrn Förster mein Interesse pünktlich. Er verwies mich an den Vizepräsidenten des Bürgenstock Hotels und Resort, dem ich administrativ unterstellt sein würde, Herr Max Ammann. Operativ aber würde ich die Anweisungen von ihm direkt erhalten.
Herr Ammann, Gründer und Inhaber der gleichnamigen Immobilien- & Ingenieur Unternehmung in Stansstad, hatte den Anstellungsvertrag bis auf wenige Präzisierungen schon vorbereitet, als ich bei ihm am Firmensitz vorsprach. Gemeinsame Freundschaften ebneten mir den Zugang zu ihm augenblicklich, dank denen er mich sozusagen indirekt kannte. Meine Erfahrung vom Mont-d'Arbois, ein ähnlich strukturiertes Resort wie der Bürgenstock, stärkte Herrn Ammanns Vertrauen in die gemeinsame beruflich unmittelbare Zukunft.
Patrice und Agnès Glogg hatten den Bürgenstock seit drei Jahren geleitet. Bei ihrer Ernennung hatte mich erstaunt, dass die beiden sehr urbanen Persönlichkeiten sich auf den Bürgenberg, wie der Ort ursprünglich hiess, verbannen liessen. Wir lachten alle drei beim Zusammentreffen. Er zeigte mir an einem Nachmittag die ganze Anlage und weg waren sie, Richtung Portugal. Dort übernahmen sie gemeinsam die Leitung eines Hotels an der Algarve.
Der Bürgenstock ist einer der attraktivsten Orte der Schweiz, geschaffen von den beiden Freunden Bucher und Durrer, von denen jeder die Schwester des andern geheiratet hatte. Waghalsig war der erste, genauer Planer der andere. Ihre Geschichte lohnte ein eigenes Buch. Gut illustriert ist sie im 1998 erschienen Band des Brunner Verlags, Edition Magma: „Hotelkönig, Fabrikant Franz Josef Bucher, Bergbahnbauer, Erfinder Josef Durrer und Kunstmaler, Phantast, Beda Durrer“.
Von dort oben geniesst man eine wahrhaft dramatische Aussicht über fünf Seen: den Sempacher-, Hallwiler-, Baldegger-, den Zuger-, und zu Füssen den Vierwaldstättersee. Das alte Grand Hotel war das schönste in seinen Proportionen. Es wurde in nur 2 Jahren, ab 1870 am stärksten Punkt des Kraftortes gebaut, als welcher der ganze Berg anerkannt wird. Ansteigend fügt sich der Bürgenstock-Club an, mit Aussichtsbad, Restaurant und Gesellschaftsräumen. Ein zauberhafter Ort des gehobenen Wohlseins! Wenn man an ihm vorbeischlenderte, kam man zur Piazzetta, wohin die Bürgenstockbahn von Kehrsiten aus führt. Gesäumt war die Piazzetta von einer Kunstgalerie und einem Kiosk, an dem sich die Tageskundschaft gerne bediente. Die Terrasse des Parkhotels überblickte die Piazzetta. Sie war beliebter Treffpunkt, sowohl für Hotel- wie für Tagesgäste. Der Weg führt weiter an der historischen Wetterstation vorbei, entlang der Terrasse des Palace-Hotels. Etwas weiter führte die achtzigjährige Françoise Ebneter zusammen mit Frau Manser die Boutique für Stickereien, wie man sie schon anfangs der Nullerjahre nur noch selten fand. Mit einer Mauer davon getrennt, die Terrasse der Villa Daniel. Der grosse Geiger Nathan Milstein hatte sie in früheren Jahren gemietet, ebenso wie zuvor die Komponisten von „My fair Lady“. Ihretwegen hatte man die Mauern um das Anwesen hochziehen müssen, so gerne wollten sich Passanten auf der Terrasse niederlassen, wenn die beiden am Spielen waren. Das Haus diente später der Familie Schindler als Sommerhaus und während zwölf Jahren bewohnte es Sophia Loren jeden Sommer. Und nun diente es als Direktionsvilla. „Stellt euch vor,“ erklärte ich spasseshalber, wenn ich eine Auswahl an Gästen über das Resort führte, „ jeden Tag nehme ich mein Bad in Sophia Lorens Wanne!“ Gegenüber befindet sich die Taverne, ein volkstümliches Restaurant, im hinteren Teil mit bemerkenswerten, antiken Bauernmöbel. Von dort führt das eine Strässchen zur Kapelle, berühmt geworden durch Audrey Hepburn und Mel Ferrers Hochzeit. Wie viele Paare nach ihnen hatten dort ihren Bund fürs Leben segnen lassen! Weiter hinten erblickt man den Spycher, den der frühere Besitzer, Fritz Frey in Appenzell gefunden hatte, demontieren liess und originalgetreu wieder aufbaute. Er diente eine Zeitlang als Nightclub, später als private Event Location.
Etwa drei Kilometer weiter, nachdem man das Waldhotel passiert hatte welches damals noch der Familie von Véronique und Leander Kummer-Amstutz gehörte und von ihr sehr gepflegt geführt worden war, gelangte man zum 9 Loch Golf Platz. Ein typisches kleines Bauernhaus war in das sehr beliebte Clubhouse umgestaltet worden.
Diese ganze Anlage galt es zu pflegen, zu unterhalten und vor allem auch zu füllen. Entwicklungsvorschläge waren von der Richmond Group ausdrücklich unerwünscht. Mit anderen Worten, wie ein Grossvater hütete ich hier einen Enkel, den ich abends wieder zurückgeben könnte.
Der Bürgenstock ist enorm wetterabhängig: bei schönem Wetter glich er einem Bienenhaus, bei ungünstiger Witterung und im Winter zuweilen einer Geisterstätte. Er war auch sehr beliebt für Konferenzen: in einer knappen Stunde vom Flughafen Zürich erreichbar, nahe bei Luzern und doch weit genug, damit die Teilnehmer den Organisatoren nicht davonlaufen wie es in Städten leicht der Fall sein kann. Bedeutende Schweizer Unternehmungen und eine der feinsten Privatbanken Zürichs buchten uns dafür regelmässig. In den Sommermonaten erfreuten wir uns einer sehr angenehmen Privatkundschaft. Die raschen Direktionswechsel – die Gloggs waren nur drei Jahre geblieben, Rolf Brönnimann zuvor auch nicht länger, obschon er das Resort stark geprägt hatte bewirkten, dass sich die Luzerner Kundschaft etwas abgewendet hatte. Private hatten sich allgemein ziemlich ausgedünnt. Seit mindestens zehn Jahren verdüsterte Unsicherheit die Zukunft des Resorts, während denen nur noch Unterhaltsarbeiten aber keine Erneuerungen mehr getätigt worden waren. Die Spa des Clubs war nicht mehr gepflegt, wie das erwartet worden war. Im Team, das sich viel zu sehr auf die Nachteile der Anlage konzentrierte, hatte sich eine zum Teil recht entmutigte Haltung breit gemacht.
Trotzdem fühlte ich mich ausgesprochen entspannt: als Consultant würde ich wie der Arzt Rezepte verschreiben, als Hotelier darauf achten, dass diese auch befolgt würden. An die einführende Sitzung mit dem Kader hatten sich einige erlaubt, mit etwa zehn Minuten Verspätung einzutreffen. „Sie werden entschuldigen, dass ich pünktlich begonnen habe. Ich habe die Gewohnheit, zu jenen Leuten nett zu sein, die es mit mir sind. Diese wollte ich nicht warten lassen.“ Damit war der Tarif ein für allemal durchgegeben.
Ich stellte mich vor und bat sie, in den ersten fünfzehn Minuten die dringlichsten Probleme und Anliegen vorzutragen. Wie erwartet betraf das die Konferenzräume, die nicht mehr up-to-date waren, die Wetterabhängigkeit, der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern usw, usw. Jemand mutiger meinte, mit dem Betriebsklima stünde es auch nicht zum Besten.
Alles, was Sie hier vorgetragen haben, entspricht meinen Beobachtungen. Doch finde ich diese unvollständig. Niemand spricht von der absolut einmaligen Lage, der tollen Aussicht, der Geschichte des Ortes und seinen Traditionen. Sehen Sie: wir haben hier doch einen ganz tollen Organismus, na ja mit Nachteilen, einem Klumpfuss sozusagen, wenn ich an die Konferenzräumlichkeiten denke. Na und? Ist jemand mit einem Klumpfuss zu Misserfolg verdammt? Wechseln Sie ihre Blickweise. Wir können auch einmal ins nahe Nottwil ins Paraplegiker-Zentrum fahren. Menschen, wie Sie und ich haben dort enorme Handicaps zu überwinden, müssen sich auf das Positive konzentrieren, das ihnen bleibt. Der Bürgenstock bietet einmalige Vorteile. Diese wollen wir hervorheben. Die Nachteile behalten wir im Hinterkopf, reden aber niemals darüber. Fasst Mut. Macht einander Mut. Das ist es, was das Betriebsklima verbessern wird. Das hängt nämlich nicht vom Verwaltungsrat ab, sondern einzig und allein von uns. Wie mir miteinander umgehen. Wie wir uns helfen, aushelfen über die einzelnen Arbeitsstätten und den Stellenbeschrieb hinaus.
Wie lange ich unter euch sein werde, weiss ich nicht. Sicher ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes, anderthalb gar? Aber eines weiss ich: diese Zeit, wie lange immer sie dauert, wollen wir, ja wir alle zusammen so gestalten, dass sie uns positiv und schön in Erinnerung bleiben wird."
Auch da gelang es mir, die Mitarbeiter ziemlich rasch mit Ideen zur Zusammenarbeit zu überzeugen. Das Glück wollte es, dass ich die fröhliche, unglaublich arbeitsame Beatrice Amstutz, die Margot und ich noch vom Hotel Orselina her kannten, für die Leitung des Clubs engagieren konnte. Sie verstand es, die Mitarbeiter ins beste Licht zu setzen und so für sich zu gewinnen. Diese verdienten das auch. Antonello Contu war ein Maître von Weltniveau, der bestens mit Armin Amrein zusammenarbeitete. „AA“ hatte sich in den langen Jahren seiner Tätigkeit im Club zu einem der bekanntesten Küchenchefs der Schweiz entwickelt. So war Beatrice Club-Members, Gästen, Mitarbeitern gerade dank ihrer persönlichen Zurücknahme eine strahlende Gastgeberin und geschickte Vorgesetzte. Für Daniel Moos, der seit Jahren Konzerte mit tollen Sängern dort organisierte, schufen wir gemeinsam den Rahmen auf der Terrasse für seine „Opera sotto le stelle“. Der riesige Schirm bot dafür ideale akustische Verhältnisse. Daniel kreierte tolle Abende mit unterschiedlichsten Ensembles und Sängern, welche wieder zahlreiche Musikliebhaber zurückbrachte.
Mit grosser Effizienz und ebensolcher Diskretion war Johanna Hussauf seit bald zwanzig Jahren im Bürgenstock tätig, während einigen Jahren sogar als Co-Direktorin. Jetzt war sie verantwortlich für den Front-Office und den Event-Bereich. Auch sie bewies, zusammen mit ihrem Eventteam und den Receptionistinnen, dass Frauen, besonders in Führungspositionen, sich bis zum Umfallen einsetzen, wenn man sie respektvoll behandelt und nett zu ihnen ist. Alle leisteten unter Johannas Anleitung nicht nur grossartige Arbeit. Johanna war allen Organisatoren und Verantwortlichen von Events die Ansprechpartnerin und Garantin für Kontinuität. Sie war es, die in jener Zeit der raschen Direktions- und Personalwechsel das Vertrauen dieser in den Bürgenstock hoch hielt. Ihre Zurückhaltung ging so weit, dass sie nicht an die Feier der dreissig Jahre von Armin Amrein und die zwanzig Jahre für Antonello Contu kommen wollte. Nur Margots Insistenz brachte sie dazu trotzdem zu kommen, wo wir sie dann entsprechend überraschten:
Nachdem ich die Sterne gewürdigt hatte, für welche die beiden Herren standen, fragte ich die anwesenden Club-Members und Gäste: "Wir freuen uns am Leuchten der Sterne, wenn wir sie am Himmelszelt betrachten. Haben Sie sich schon einmal gefragt, welch eine Kraft es ist, die die Sterne dort oben hält?"
"Wir im Bürgenstock schon. Wir haben uns nicht nur die Frage gestellt. Wir haben sie auch beantwortet, welche Kraft die Sterne des Bürgenstocks oben und zusammenhält: Es ist Johanna Hussauf, die sich seit ebenfalls zwanzig Jahren dafür einsetzt, dass sie nicht nur oben bleiben, sie bringt sie zum Strahlen! Mit Fachwissen, mit Klugheit und respektvoller Zuwendung für alle, seien es Gäste, Club-Members oder Mitarbeiter in jedwelcher Position im Bürgenstock. Welch glücklicher Direktor ich doch bin, enge Mitarbeiter dieses Formats zu haben! Wir stiessen alle zusammen an, zum Dank für ihre Mitarbeit und auf weitere solch glückliche, erfolgreiche Jahre.
Barbara Stiemerling, die Sales- & Marketing Direktorin, mochte ich als Person gut. Beruflich aber hatten wir das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Wir kamen nicht zusammen. Während ich in meiner Search of Excellence durch die Einzigartigkeit des Bürgenstocks zu überzeugen versuchte, litt sie unter dem zugegebenermassen nicht mehr up-to-daten Zustand der Kongressanlagen. Diese Haltung hatte durchaus ihre Berechtigung. So verabschiedete sich mein Tschuggen Gast, Dr. Baur, bei seiner Erkundung für eine mögliche erneute Durchführung der Bilderberg meetings sehr diskret, nachdem er den Stillstand der räumlichen Entwicklung wahrgenommen hatte. Barbara sah deshalb das Hauptargument für ihr Handeln im Zugestehen von Sonderpreisen. Mich nervte das, liess sie das spüren, hin und wieder in einer Art, die ich später bereute. Sorry, Barbara!
Eine Sonderstellung nahm der technische Dienst ein, der gleichzeitig die voll ausgebildete Feuerwehr für den Bürgenstocks war. Es waren Fachleute, die sich der frühere Besitzer Fritz Frey herangezogen hatte. Ihm und dem Resort blieben sie auch nach dem Konkurs und der Übernahme durch die Richmond-Gruppe treu ergeben. Wer meine bisherigen Ausführungen gelesen hat, erinnert sich, dass ich um Bau- und Unterhaltsfragen gerne einen Bogen gemacht hatte. Hier aber waren diese Aspekte von einer dermassen grossen Bedeutung, dass ich an den wöchentlichen Sitzungen des technischen Dienstes frühmorgens um sieben Uhr teilnahm und eine Menge dazu lernen konnte. Dabei entdeckte ich die Innerschweizer: woher sie alle stammten, sie bildeten eine verschworene Einheit, die sich aber äusseren Einflüssen wie meine nun einmal waren, durchaus zugänglich zeigten.
Um mich im Housekeeping zu entlasten, überzeugte ich Bärbel Rolke. Ich hatte sie damals für „meine“ Gräfin engagiert, kennen und schätzen gelernt. Marco an der Bar, Pasquale im Restaurant sowie der junge deutsche Küchenchef Peter Müller, den ich fürs Parkhotel engagiert und unter die Fittiche von Armin Amrein gestellt hatte, bildeten dort eine ebenso sympathische wie effiziente Mannschaft.
Der F&B Manager Philipp Moser, letzter in einer langen Reihe, machte sich für den Solidaritätslauf der Stadt Luzern stark. Chefärzte aus dem Kantonsspital, die Brauerei Eichhof, die frühere Kantons- und spätere Ständerätin Helen Leumann und weitere Honoratioren des Kantons sassen nicht nur im Organisationskomitee, sondern legten selbst Hand an. Im 2003 schwebte ihnen ein Picknick auf dem Bürgenstock vor, an dem etwa tausend Leute teilnehmen sollten.
Wir empfingen deren Abgesandte, wie man das eben macht, schon einmal zu Kaffee und Gipfeli am gedeckten Konferenztisch. Sie erläuterten das Vorhaben, dessen Gewinn vollumfänglich einer sozialen Institution zu Gute kommt. Dieser Idealismus überzeugte uns, wir entwickelten mit ihnen zusammen das Projekt: Die Teilnehmer sollten per Schiff in Kehrsiten ankommen, per Bürgenstock-Bahn hochfahren. Auf dem Felsenweg und hauptsächlich auf dem Hammetschwand wollten sie Grill- und weitere Imbiss-Stände einrichten, die von ihnen persönlich gehalten würden. Phlipp zeigte ein Engagement, das die Organisatoren geradezu verdutzte: Sie hätten kaum gewagt, bei uns anzuklopfen und nun würden sie nicht nur sehr nett empfangen, sondern auch noch so kooperativ unterstützt! Offenbar war das unter den früheren Besitzern des Bürgenstocks nicht so. Trotz höchst durchschnittlichem Wetter wurde der Lauf ein voller Erfolg.
Zu verdienen gab es für uns nichts. Die Folgen waren dagegen unmittelbar und ausserordentlich positiv. Der Anlass rückte den Bürgenstock, der den Luzernern nie eigentlicher Hausberg gewesen war, wie man der Lokalgeschichte entnehmen kann, in ein positives Licht. Sämtliche Anlagen sahen wieder mehr Luzerner als Kunden und Gäste. Frau Ständerätin Leumann organisierte zum Dank den sechzigsten Geburtstag ihres Gatten bei uns, zu dem alle geladen waren, die in Stadt und Region Rang und Namen hatten. Das wiederum überzeugte die Offiziersgesellschaft, ihr Jahrestreffen bei uns durchzuführen. Alles PR Aktionen, die überzeugten, nichts kosteten und sich als einträglich erwiesen.
Nach dem Wegzug von Philipp Moser strukturierte ich das F&B um. Wenn die Grösse der Restauration durchaus eine solche Position rechtfertigte, hatten seine zahlreichen Vorgänger nicht immer den Ansprüchen genügt. Vor allem hatten diese ihrer Fantasie in der Ausgestaltung der Weinkarte freien Lauf gelassen und die Bestände ihrer Vorgänger einfach liegen lassen. Die Unübersichtlichkeit hatte das Verlustrisiko erhöht und beachtliches Kapital gebunden. Darüber hinaus war ich zur Überzeugung gekommen, dass bei Spitzen-Oberkellnern, wie wir sie glücklicherweise hatten und einem Küchenchef wie Armin Amrein, nicht ein neuer F&B Manager, sondern eine Dienstleistungsstelle in Form von Chef-Einkäufer notwendig war. Im Team sollen sie das kulinarische Programm festlegen und die Einkäufe darauf ausrichten. Armin Amrein, mittlerweile mit 17 Punkten im Gault & Millau, war nicht nur ein hervorragender Koch, sondern auch ein gewiefter Organisator, hatte Führungspersönlichkeit und war in in lebensmittelhygienischen Belangen von pingeliger Gründlichkeit. Ihn ernannte ich zum Küchendirektor, zum „culinary art director“ mit entsprechendem Salär. So würde ein eventuelles Abwerben für Konkurrenten teuer werden. Je bekannter Mitarbeiter werden, umso stärker ist ein Betrieb diesem Risiko ausgesetzt.
Als Einkäufer meldete sich Corsin Gartmann, ein etwa 25jähriger Mann. Schnurstracks inventarisierte dieser Keller und Warenlager, organisierte einen „Weinmarkt“ in den einzelnen Restaurants, welcher unsere Restposten für alle Gäste und insbesondere für die Servicebrigade sichtbar machte und sich dank dem im Nu verkauften. Mit einem Kollegen, den er mitbrachte, aktualisierte er das ganze Inventurprogramm. Alle beteiligten Stellen hatten nun direkt Einsicht in aktualisierte Lagerbestände. Damit gelang es ihnen, Verkäufe und Einkäufe in allen Sparten entsprechend effizient zu steuern.
Die Jahre 2002-2005 fielen mit Restriktionen bei unseren Kongressveranstaltern zusammen. Das führte zu rückläufigen Einnahmen in unserem einträglichsten Sektor. Vreni Eisele und Françoise Schnidrig in der Buchhaltung zeigten mit ihren Zahlen Einsparungsmöglichkeiten auf. Das jederzeit informierte und mittlerweile zusammengeschweiste Team nahm diese auf und kompensierten damit grossteils die Umsatzverluste.
Immer wieder erfeuten mich Besuche von Gästen aus dem Tschuggen wie auch aus dem Kronenhof. Dann meldete sich Dr. Falk, der Hauptkunde aus dem Kronenhof: Er organisierte einen Ärztekongress, der nicht nur den Bürgenstock ganz in Beschlag nahm, sondern auch einen guten Teil der gehobenen Luzerner Hotellerie, inklusive dem KKL als Plenarsaal. Schlussendlich meldete sich ebenfalls das EDA, das Eidgenössische Departement des Äussern, welches im März 2004 die Zypern-Konferenz für die UNO unter Schirmherrschaft seines unvergesslichen Generalsekretärs Kofi Anans bei uns organisierte.
Bei einem solchen Meeting reduziert sich die Rolle des Hoteliers weg vom Gastgeber ganz auf jene des Dienstleisters. Es war das EDA, welches organisatorisch verantwortlich war. Ein junger, sehr kluger Diplomat verfügte, dass der gesamte Bürgenstock ausschliesslich den Konferenzteilnehmern reserviert blieb. Die akkreditierten Journalisten logierte er in Fürigen, Stansstad und Luzern. Er begründete diesen Schritt mit der Verhandlungsfreiheit für die Teilnehmer, welche durch Anwesenheit von Medien sofort auf ihre lokale Interessen eingeschränkt würden und nicht lösungsorientiert arbeiten könnten. Der Erfolg der Konferenz gab ihm recht.
Eine wichtige Rolle spielte die Kantonspolizei. Über einhundert Leute waren mit der Sicherheit betraut. Sie hatte mithilfe der Armee alle Zugänge zum Resort abgeriegelt. Während der Dauer der Vorbereitungen und der Konferenz selbst herrschte ein Flugverbot in der Gegend. Darüber hinaus zirkulierten viele Sicherheitsleute in Zivil auf dem Resort.
Jedermann, der im Bürgenstock wohnte oder arbeitete, wurde nur mit seinem persönlichen Badge zugelassen, den man gut sichtbar tragen musste. Hotelgäste und Clubmitglieder erhielten aufgrund ihrer Gästekarten unpersönliche, jedoch nummerierte passe-partouts, welche bei jedem Besuch registriert wurden. Ich erinnere mich gerne an Herrn Schnellmann, langjähriges und emsiges Clubmitglied, dem man aufgrund der momentanen Verfügbarkeit einen passe-partout in den türkischen Farben ausgehändigt hatte. In der Halle des Parkhotels herrschte reger Betrieb, den er sich nicht entgehen lassen wollte. Überall, in jeder Salonecke, auf jeder Gesprächsinsel sassen und diskutierten Delegationsmitglieder untereinander. Er setzte sich einer der Inseln zu, wo lediglich vier Herren miteinander plauderten. Kaum hatten die vier Griechen seinen türkischen Badge bemerkt, sprangen sie auf und wechselten den Tisch.
Eine griechisch- und eine türkisch-zypriotische Delegation sollten sich im Ristorante Tintoretto, das dafür vorbereitet worden war, zu Vorgesprächen treffen, und zwar auf einen genau vorbestimmten Zeitpunkt, die eine durch den Haupt-, die andere durch den Eingang vom Korridor aus. Die einen waren einige wenige Augenblicke früher da. Sie wurden wieder rausgeschickt, denn es war protokollarisch unumgänglich, dass beide zum genau gleichen Zeitpunkt durch ihre Türe eintrafen.
Herr Güll, damaliger türkischer Aussenminister, reiste an einem trüben Tag an. Ich begleitete ihn zu seiner Suite im Palace. Er schritt schnurstracks zum Fenster, riss den Vorhang auf, blickte auf den Nebel und sagte streng: “Mir steht eine Suite mit Blick auf den See zu.“
„Haben Sie ein paar Stunden Geduld, Exzellenz, lächelte ich ihm zu „dann wird der Nebel verschwunden sein und der schönste aller Schweizer Seen wird zu Ihren Füssen liegen.“ Vor der Abreise überreichte er mir ein schmuckes Stück türkischer Kunsthandarbeit. Rezep Tayeb Erdogan, damals Premierminister, schenkte mir ein signiertes Buch über die Türkei.
Soweit ich mich erinnere, bezahlte jeder Teilnehmer die Rechnung für Zimmer und persönliche Auslagen selbst. Transport- und Sicherheitskosten gingen zu Lasten der Eidgenossenschaft. Offizielle Dîners wurden von offiziellen Stellen und einzelnen Botschaften gesponsert.
Für uns alle vom Bürgenstock, die daran mitgewirkt hatten, war es ein denkwürdiger Einsatz. Stellvertretend für alle sei der Kellner José erwähnt, der ausschliesslich Kofi Anan zugeteilt wurde. Die Zusammenarbeit mit den örtlich Zuständigen, der Kantonspolizei, Vertretern des Regierungsrates machten mir Nidwalden und die Innerschweiz noch sympathischer, noch lieber als sie mir ohnehin schon war. Sie rückte den Bürgenstock auch wieder mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung, die lokale Kundschaft nahm zu unserer Freude weiter zu und es entstanden daraus auch nette persönliche Beziehungen. Namentlich der Club lebte wieder auf. Beatrice Amstutz kannte viele der Mitglieder aus ihrem Hotel Orselina. Ihr Charme, ihre Tüchtigkeit, gepaart mit detaillierten Kenntnissen der Gäste, vereint mit Armin Amreins Küche und den Aufmerksamkeiten von Maître Antonello Contu machten den Bürgenstock Club nicht nur wieder zu jenem mondänen Treffpunkt, der er früher gewesen war, sondern auch zu einem sympathischen, gesellschaftlichen Zentrum der Innerschweiz.
Auch international hatte die Konferenz einen tollen Werbeeffekt: während der ganzen Dauer figurierte die Gesamtansicht unseres Resorts auf der Titelseite von Bloomberg. Die Hundertschaft nationaler und vor allem internationaler Journalisten, die zur Hauptsache in Fürigen untergebracht waren und vom erwähnten Diplomaten dort vom Fortgang der Konferenz laufend unterrichtet wurden, trugen unseren Namen in alle Welt.
Das alles machte mein letztes Jahr als Hotelier zum glücklichsten meiner ganzen, abwechslungsreichen und erfreulichen Karriere. Das Team hatte sich gut zusammengefunden und arbeitete im positiven Sinne routiniert. Dazu hatten auch die Weiterbildungsseminare für Kader mitgeholfen. Georges Beutler, mittlerweile zum Personalchef avanciert, öffnete regelmässig den Spycher für die Mitarbeiter und jährlich organisierte er ein tolles, fröhliches Personalfest. So hielt er die Truppe bei Laune. Der frühere Lido, Badestrand neben der Talstation der Bürgenstock-Bahn war für die Mitarbeiter offen, einige spielten Tennis, wenn die Plätze frei waren. Armin Amrein sagte mir sogar, dass er in den dreissig Jahren seiner Tätigkeit auf dem Bürgenstock niemals eine solche Zusammenarbeit wie jetzt erlebt habe. Ich stelle mir vor und hoffe, dass viele der damaligen Teammitglieder ebenso gerne wie ich an diese Zeit zurück denken.
Die Tatsache, dass von mir keine Weiterentwicklung erwartet, ja nicht einmal erwünscht war, wie ich auf den einen oder anderen Vorschlag bemerken musste, gab mir grosse Gelassenheit. Ich stand täglich um sechs Uhr auf, joggte zwei bis viermal die Woche von meiner Villa Daniel den Felsenweg hinauf zum Hammetschwand-Lift, machte meine Morgentoilette, las mit Vorliebe etwas Schönes, Spirituelles oder übte Alphorn, das ich mir dort erworben hatte. Wenn ich dann zwischen acht und halb neun, nach meinem Frühstück, zur Arbeit ging, hatte ich das Beste vom Tag schon für mich genossen. Welch eine Entspanntheit mir das schenkte!
Sechs Monate vor dem Verkauf der ganzen Anlage an die Qatari wechselte Victor Armleder seine eigenen Berater, die nun direkter auf den Betrieb Einfluss nehmen wollten. Damit war das Ende meines Einsatzes auf dem Bürgenstock besiegelt.
Eigentlich hatte ich vorgesehen, bis siebzig zu arbeiten. Meine Kontakte zu Profile Paris, welches auf Hotelleitung international spezialisiert war, hätte mir mit Sicherheit eine Position irgendwo im Ausland gefunden. Doch auch das wäre nur noch für gut fünf Jahre gewesen. Die grosse Anstrengung kam mir in den Sinn, welche das Zusammenschweissen des Teams hier erfordert hatte. Es muss mein Schutzengel gewesen sein, der mir damals ins Gewissen geredet hatte: „Wo hast du eigentlich den Garantieschein, dass alles so wie bis jetzt bis neunzig weitergehen wird? Wann willst du eigentlich beginnen, dich an dein Zuhause mit Margot zu gewöhnen? Du kannst dir die Pensionierung doch leisten! Noch bist du fit genug, jetzt deine altruistischen Gedanken in Tat umzusetzen, die du damals im Cap d'Antibes gesponnen hattest..."

Alle frisch Pensionierten beeilen sich darauf hinzuweisen, dass sie noch immer dieses tun, in jenem VR oder in der anderen Vereinigung tätig sind, nach wie vor der bisherigen Arbeitsstätte zur Verfügung stehen, um die jungen Nachfolger von ihrer Erfahrung profitieren zu lassen. Mich liessen solche Aussagen etwas ratlos. Ja was gilt jetzt? Weiter das Gleiche, oder die Freiheit, die sich uns auftut, nach eigener Lust und Laune zu gestalten?
Margots Bedenken, ob ich ohne mein Publikum, also Gäste, Mitarbeiter, die offiziellen Kontakte überhaupt auszuhalten wäre, waren nicht ganz unverständlich. Dazu verunsicherte, dass es über zwei Jahre dauerte, bis die Höhe unserer Rente und Besteuerung feststand, die sich aus diversen Einkünften aus der Schweiz und aus Frankreich zusammensetzt.
Der Hotelier ist ein hochspezialisierter Generalist. Sachlich gesehen, hält er Hof: Er ist der Major Domus besorgt um Sicherheit von Gästen und Mitarbeiter. Dass alle Einrichtungen reibungslos funktionieren. Dass nicht nur alles vorausschauend einwandfrei unterhalten wird, sondern alles auch tadellos sauber und mit gutem Geschmack präsentiert, die Berufskleidung des Teams, ebenso wie die Blumenarrangements. Erst danach kommt das F&B, das leibliche Wohl und zwar ebenso für Mitarbeiter wie Gäste. Markting, PR, der monatliche, konzentrierte Rapport über Zahlen und Geschehnisse, vergangene und zukünftige an die vorgesetzten Stellen sind weitere seiner Obliegenheiten. Dann, last, not leastkommen die Menschen: Viel mehr als einen Beruf auszuüben, zelebriert der Hotelier eine Lebensart, un art de vivre, wie die Franzosen treffend formulieren. Sie beruht auf Gastfreundschaft. Um jene gewinnende Stimmung zu schaffen, die Gastfreundschaft auszeichnet, gehört Identifizierung mit möglichst jedem einzelnen Gast, das sorgfältige Festhalten ihrer Namen, Vorlieben und Abneigungen. Eine, zumeist aber zwei Wochen Aufenthaltsdauer und mehr der Gäste verpflichten einen Hotelier und seine Mannschaft zu dieser Haltung. Die Mitarbeiter erleichtern den Zugang zum Gast aber nur, wenn sie sich zum Team zugehörig empfinden. Auch das erreicht man mit persönlicher Aufmerksamkeit. Möglichst für jeden von ihnen, mit klarer Zielsetzung, Begleitung, Anleitung, Lob, Dank. In Ferienhotels, wo die Gäste länger bleiben, ist es nicht das schnelle „du,“ beim Klang der Champagnergläser an der Directors Cocktailparty, an glänzenden Empfängen der Mode-, Uhren- und Schmuckbranche oft im Verbund mit befreundeten Spitzenhotels, das dem Gast Gewissheit vermittelt, als Gast be – und erkannt, als Freund des Hauses willkommen zu sein. Es ist die achtsame Präsenz des Hoteliers und seiner Leute. Glanz und Glitter darum herum ist nur der Rahmen, in dem solche Verbindungen entstehen. Daraus abzutreten, ist in der Tat nicht ganz einfach.
Meiner Frau Margot war klar, mit der Funktion gibt man einen ganz wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit ab. Mir scheint, dass Frauen besser Berufliches von Privatem unterscheiden können als wir Männer. Margot auf jeden Fall vermochte das in den Jahren unserer Zusammenarbeit souverän. Bei ihrem ganzen, bemerkenswerten Pflichtbewusstsein hatte sie ihr Wesen nie mit ihrer Funktion verknüpft.
Die fünf Jahre Selbstständigkeit zwischen Kronenhof und Bürgenstock während denen ich von zu Hause aus arbeitete, im Homeoffice, wie man heute sagen würde, hatten mich auf meine definitive Heimkehr vorbereitet. Dank dieser Vorbereitung wirkten die täglich langen Stunden, die das Hotel bis anhin von mir abverlangt hatte, nicht bedrohend wie ein grosses Loch, ein Grab gar. Wie die meisten frisch Pensionierten unternahmen Margot und ich viele Ausflüge und Reisen zu unser beider Vergnügen. Doch das genügte nicht.
Die paar Anfragen für Mitarbeiter für grossbürgerliche Haushalte waren deshalb willkommen, ebenso wie jene zur Unterstützung eines jungen Direktors. Vor allem aber die Einsätze für Swisscontact ermöglichten mir die Balance zu finden. Sie entsprachen meinen früheren sozialen Ambitionen zwar nicht ganz: Die Leitung einer Hotelfachschule in Südamerika übernimmt man für mehrere Jahre. Man führt junge Menschen zur beruflichen Reife. Begleitet die Entwicklung, stellt das Resultat fest. Einsätze für Swisscontact dauern in der Regel einen Monat. Senior Experts geben Gesuchstellern in jenen Ländern, welche von der Schweiz unterstützt werden, einen Blick von aussen auf deren Probleme. Sie zeichnen Lösungsansätze auf, helfen mit, diese in Tat umzusetzen. Das schlussendliche Resultat stellt man allerdings nur bedingt fest, wenn überhaupt.
Bewusst suchte ich nach Aufgabenstellungen und Problemen wie ich sie bisher nicht gekannt hatte: Mit Menschen von fremder Mentalität, in anders sprachlichen Ländern, in einem mir unbekannten ökonomischen Umfeld. Kurzum, es sollte es eine Herausforderung sein.
Ich schrieb mich für Südamerika und russischsprachige Gebiete ein. Erstere, um mein Spanisch aufzufrischen, letztere um mein langes, schwieriges Lernen des Russischen an Ort und Stelle einzusetzen.
Swisscontact bezahlt Flug und Versicherungen und einen unbeutenden Spesensatz. Die Gesuchsteller kommen für den gesamten Aufenthalt der Experten auf. Zielsetzung und Aufwand sind vertraglich genau festgelegt und das Umfeld des Einsatzes ist klar umschrieben.
Die Vorbereitung eines Mandats beschäftigte mich jeweils einen guten Monat. Das betraf das Familiarisieren mit Land und Leuten, heute einfacher dank Internet und Websites. Wo vorhanden, studierte ich die Websites der Betriebe, Vereinigungen und Institutionen, wo und mit denen ich zu tun haben würde. Ich versuchte auch mit den Auftraggebern im Voraus per E-Mail Kontakt aufzunehmen. Die Nachbehandlung konnte ebenfalls ein paar Wochen bis zu zwei Monaten dauern.
Wer näheres Interesse für solche Mandate aufbringt, wirft vielleicht einen Blick in die Tagebücher im Anhang, die ausschnittsweise meine Erfahrungen wiedergeben.
Nach einem Einsatz in Bulgarien, zwei in Ecuador, war die Lecture über Tourismus- und Hotelmanagement an der Uni von Jalta mein siebter und an jener von Zhytomir mein neunter Einsatz in der Ukraine. Diese gefielen mir besonders gut. Die Umstände in Zhytomir brachten mich allerdings an meine Grenzen, wo ich aufgrund mangelnder technischer Einrichtungen viel improvisieren musste, hauptsächlich in Englisch und wenig auf Russisch, während drei bis fünf Lektionen täglich, von denen jede 90 Minuten dauerte. Ein Fingerzeig für mich, mit fünfundsiebzig Jahren nun definitiv Schluss zu machen.
Ich bedaure das ganz ausserordentlich. Die hoffnungslose Stimmung in Kiew aufgrund des andauernden Krieges im Osten des Landes und die eingeschränkten Perspektiven machen Mandate, welche den Horizont öffnen und Mut zusprechen, doppelt nötig. Schade, dass ich nicht mehr vermag solche Aufgaben zu übernehmen. Zum Unglück des Landes hat sich Swisscontact auch aus der Ukraine zurück gezogen.
Man hat vielleicht festgestellt, dass ich bis jetzt unter dem Titel Pensionierung vor allem neue Aufgaben abgehandelt habe. Sie werden sich fragen, wie denn Pensionierte ihren normalen Alltag verleben, was sie sich im Paar zu sagen haben, welchen Hobbies sie nachgehen, ob gar die Muse sie küsst. Die unterschiedlichen Tätigkeiten von meiner Frau und mir, auch der getrennte Haushalt über viele Jahre, hat unsere Vorstellungen vom dritten Lebensabschnitt ungleich geformt. So strebt meine Frau nach einem Leben ganz für uns, in dem hauptsächlich Familie und Jugendfreunde ihren Platz haben, Einladungen sind auf möglichst wenige Menschen zu beschränken, dafür aber umso intensiver: „Endlich wir sein! Im Paar! In der Familie! Ein Leben lang zogen wir andere Menschen, die Kindermädchen, Gäste, Beziehungen in unser Privatleben mit ein; öffneten, erweiterten wir es, wie du zu sagen pflegtest. Jetzt reicht's doch, oder?“
Ich hingegen erfreue mich einer recht ausgedehnten Korrespondenz. Mit möglichst allen fernen Freunden, mit Mitarbeitern, mit denen wir seit Jahren verbunden sind, zu denen auch der eine oder andere Kontakt aus meinen Einsätzen für Swisscontact zählt. Gerne hätte ich an unserem Tisch möglichst oft acht Personen. Eine Zahl, die dank ihrer Grösse mehrere Meinungen erlaubt und doch klein genug ist, damit das Gespräch nicht auseinander fällt.
Eigentlich hatte ich gehofft, im „Ruhestand“ mindestens drei Mal im Jahr je einen Monat in einer Stadt zu verbringen. In Paris, Rom, London, Hamburg. Aber auch in weniger bedeutenden wie Toulouse - la cité rose, Palermo, die Heimat unseres Alberto, Salamanca und viele andere. Eine Wohnung zu mieten, das Leben der dortigen Bürger zu beobachten, zu teilen und Teil zu haben, wo immer möglich! Unsere Sprachkenntnisse lebendig zu erhalten! Dazwischen zurück für zwei, drei Monate in unser schönes Tessin.
Margot braucht Wurzeln, seit jeher. Sie bevorzugt kürzere Reisen. Und ich finde diese auch schön. Wir hoffen selbstverständlich, dass unsere Gesundheit das weiterhin erlauben wird. Diese für mich eingeschränkte Reisetätigkeit fasse ich auf als Zeichen zu grösserer Konzentration. Gleich einem Lichtstrahl, der umso stärker leuchtet, je mehr er sich bündelt.
Wir lesen beide gerne. Eine lang vergessene Gewohnheit haben wir wieder aufgenommen: einander vorzulesen. So teilen wir uns ein Buch recht intensiv. Doch vorlesen strengt an. Wir kommen jeweils nicht sehr weit. Dafür besprechen wir das Gelesene jedesmal und sofort miteinander. Das ergibt schöne Nähe.
Es ist uns sogar gelungen, ein besonders gefährliches Minenfeld zu entschärfen: die Küche. Meine Frau wusste zu Beginn meiner Pensionierung „meine kulinarische Unterstützung“ gar nicht zu schätzen, die hauptsächlich in Fragen bestand, wie und ob sie gesalzen habe, nicht dieses anstelle ihres üblichen Gewürzes verwenden wolle usw. Zudem steht bei gegenseitiger Hilfe in der Küche das andere immer am falschen Ort und im Wege. Frägt dauernd, reich mir dies, gib mir das, könntest du schnell... Das kitzelt an Empfindlichkeiten, die ihren Ursprung in meinem Erstberuf als Koch haben. Pragmatisch näherten uns an, in dem sie eher für Fleisch, ich für Fisch zuständig bin. Ich bei Einladungen, sie für den Alltag. Während ich stolz meine klassischen Rezepte der damaligen nouvelle cuisine zelebriere, mussten wir bei Einladungen sowohl bei Sohn wie Tochter feststellen, wie die beiden uns mit zeitgemässer Küche immer mehr um die Ohren kochen. Obschon wir solch höchst willkommene Einladungen nicht als Angriff empfinden, schmieden diese uns zusammen. Wir dürfen nicht ohne Stolz sagen, dass sich unser gemeinsamer Küchendienst nicht nur zu einem friedlichem, sondern zuweilen zu einem geradezu erfreulichen und zumeist amüsanten gewandelt hat. Auf jeden Fall habe ich dabei begriffen, dass sich das Heim zum Hof halten, wie oben beschrieben, nicht eignet.
Während wir den ganzen Sommer über fast täglich in unserem Pool schwimmen, wechseln wir gegen Ende September zum Lido Locarno: Meine Frau zur Unterwassergym und ich zum freien Schwimmen. Die Notwendigkeit für Bewegung macht sich immer dringender bemerkbar, in diesen reifen Jahren...
Die Settimane musicali di Ascona ab September sind reizvoll, die Konzerte des OSI, Orchestra della Svizzera Italiana bereichern Herbst und Winter. Ab Oktober besuchen wir mit grossem Interesse Vorträge der ATTE Associazione Ticinese Terza Età, die uns verschiedenste Wissensgebiete aus Kunst, Literatur, Religionen, Musik und vielem mehr nahebringen. Tolle Lektoren, zumeist emeritierte Professoren umliegender Universitäten und Lehrer unserer Gymnasien, stellen sich hierfür in verdankenswerter Weise zur Verfügung. Im Winterhalbjahr bildet das Abonnement im Teatro di Locarno seit vielen Jahren unser basso continuo. Beste italienische Schauspieler und Truppen beehren den Ticino. Ein bis zwei Besuche mit der Biblioteca popolare di Ascona in der Mailänder Scala geben den Wintermonaten weitere kulturelle Höhepunkte. Es ist sogar so, dass die Vielzahl an Angeboten uns von den durchaus bemerkenswerten Kleintheatern fern hält.
Last, not least, schreibe ich gerne und regelmässig. Wie jetzt, für meet-my-life. Mir will scheinen als befinde ich mich wieder am Setzkasten, wie damals, in der ersten Klasse der Primarschule. Glücklich wie damals, Buchstaben an Buchstaben, Wort an Wort zu reihen, Sätze zu bilden, die mit etwas Glück zu Geschichten werden. Stoff liegt dazu ja im Übermass da. Der Rückblick macht mich zufrieden. Versöhnt mich da und dort, lässt mich schmunzeln, erzeugt Dankbarkeit...

Journal équatorien 7 mai au 14 juin 2009
Dimanche, 10 mai 2009
Me voici déjà depuis 3 jours à Machala, sur ma mission à l’hôtel Oro. C’est la fête des mères et il y a exactement deux mois que je suis fait opérer.
Il est grand temps que je confie à mon journal mes impressions intimes de ce voyage. Aussi veux-je retenir ici, en ce début de mission, à ce que je me suis attendu et les buts que je poursuis :
Les raisons de mon départ sont bien sûr, la recherche du défi par le côtoiement du nouveau, de la mentalité si différente, de la langue espagnole et de confronter tout cela avec mes conceptions de jusqu’alors. Ce n’est pas du tout comme Margot voudrait toujours me suggérer une peur de vieillir, pas du tout. Ma réaction au diagnostic du cancer de la prostate est preuve que cela n’est pas une de mes préoccupations. C’est que je considère un devoir d’aller de temps en temps à mes limites, tout en tenant compte de mes ressources.
Une des raisons est aussi de m’éloigner de Margot, de ma famille et de mon entourage habituel. Pas comme on pourrait croire pour courir le guilledoux ou aventures. Je me sens libéré de toutes ces contraintes et m’en félicite. Non, c’est plutôt pour contempler mon propre bonheur actuel sous d’autres angles. Pour mieux apprécier encore l’harmonie, le bien-être dont nous jouissons depuis quelques années. Mais aussi pour voir si je ne peux pas transmettre un tant soit peu de ce que j’ai reçu à d’autres.
Mon but est donc d’aider à mettre en pratique les résultats de l’analyse, plutôt sombres, pour l’Orohotel de Machala. De travailler de façon déterminée, en respectant les délais que nous nous imposerons, Jorge et moi. J’entrevois une possibilité d’établir un cours de formation, voir apprentissage pour les jeunes qui travaillent ici. Une fois établi la stratégie, de les faire passer 6 mois dans chaque département. Si cela réussissait, je le considérerais un vrai succès.
Dans la file d’attente à l’aéroport de Milan je me suis surpris de ne pas avoir d’attente en quelque sorte que ce soit. Je sentais de vouloir laisser venir les choses à moi. Une attitude qui me faisait peur toute ma vie, craignant de me laisser aller dès que l’on ne se pose plus de buts. Alors que c’est tout le contraire : un flottement doux. Une ouverture attentive sur l’instant et sur ce qui nous alentoure. Je le savais depuis longtemps, le pratiquait aussi de temps à autre mais là, je le ressentais pleinement et entièrement.
Le voyage de 16 heures et demie, Milan – Amsterdam - Guayaquil, suivi par près de trois heures en voiture jusqu’à Machala m’éprouvait. L’arrivée ici, dans le centre poussiéreux et miteux de cette ville de port, le petit hôtel qui a vu ses beaux jours, la chambre qui serait la mienne pour 4 semaines me demandaient toutes mes énergies pour pouvoir laisser venir.
Le charme sud-américain, même d’employés inconnus, m’apaisait. Le repas simple du soir était exquis. Je laisserai voir venir.
Ponctuellement le lendemain à huit heures, Jorge Alex Serrano, ingénieur, fils de la famille propriétaire, bananiers fortunés, m’attendait à la réception. Homme d’une quarantaine, de très bonne présentation, cultivé, sportif et d’une énergie contagieuse. Il suggérait aussitôt un tour de la ville pour que je puisse me faire une idée. Il se révéla entrepreneur éclairé, socialement ouvert aux besoins de ses employés dont certains travaillent depuis l’ouverture il y a 27 ans, dans l’hôtel. Outre à ses fonctions de directeur commercial dans l’OBSA, l’affaire de famille, il est président de la chambre de commerce de Machala, s’engage politiquement de façon progressive. Il paye ses impôts et soutient le maire qui fait beaucoup pour la ville, depuis qu’il a pu évincer la clique corrupte qui régnait jusqu’il y a 4 ans.
Curieux, en compagnie de sa mère, son énergie semble s’évaporer. Elle, sud-américaine au charisme impressionnant et aux beaux restes, semble savoir ce qu’elle veut. Et ce qu’elle ne veut pas. Elle s’occupe de l’administration mais aujourd’hui, elle saluait les clients, aidait à l’office, était omniprésente et infatigable. A première vue, je lui ai donné 10-15 ans de moins que moi. De plus près voisine-t-elle peut-être mon âge.
Tous les jours, je vais 1-3 x sur la place Juan Montalvo, la principale et typique pour les villes équatoriennes avec son centre arboré, fleuri et aux multiples jeux d’eau. C’est agréable de m’assoir sur un banc, regarder les gens qui flânent, les enfants qui courent, les pigeons qui volent, les marchands ambulants qui vendent et les attrayantes surveillantes qui surveillent…Il fait entre 30-35°, mais à l’ombre c’est supportable. Le soir la température tombe aux alentours de 27º. Il n’y a pas de café ou de glacerie avec terrasse, rien. Ni sur cette place ni ailleurs. Il n’y a rien à faire dans cette ville que de flâner à travers les stands de marché de bas de gamme, ou de venir ici. Aujourd’hui j’ai connu Lenin. Un jeune d’une vingtaine d’année, cloué dans une chaise roulante par une ms avancée mais je crois que c’est plutôt une sla, sclérose latérale amyotrophe, ce qui est nettement pire. Il faisait la manche et j’ai essayé de bavarder un peu avec lui. Il s’exprime difficilement. Il ne faut pas être médecin pour deviner que dans peu de temps, il ne sera plus à même d’actionner sa chaise roulante.
Hier par contre je suis allé hier à Jambeli, l’île qui longe la côte et où Machala va nager. On y accoste par une lance dans une demi-heure. Ce que c’est pauvre, et entretenue en conséquence ! Je me suis changé dans l’endroit le moins en déconfiture mais pour sûre, Margot ne serait entrée dans ces cabines. Etait-ce cette impression qui frappa mes parents, en arrivant au Brésil dans ce village, dont je ne me rappelle plus le nom ? Ça les devait avoir drôlement secoué, du moins du prime abord…
J’ai tout de même longé toute la plage et, tout à la fin, je me suis jeté dans le pacifique avec l’entrain que provoque son teint sombre par le sable presque noir. Sorti, je m’aperçois d’un « hospedaje los Iguanos » un petit jardin ombragé de palmiers d’un aspect très privé. Je suis quand même entré pour demander aux deux petites filles si je pouvais y rester pour la journée. «Il faut que je demande à ma grand-mère. » Mais je vous connais, vous êtes le Suisse qui travaille à l’Orohotel ! » Avec fierté la grand-mère m’amena dans les arrières, me faisant voir sa charmante auberge, très simple mais proprette et aux jolis coins de jardin entre les bungalows. « Ah si vous me louez une chambre, je reste volontiers pour la nuit. Mais il vous faudra que vous préveniez l’Orohotel où l’on ne sait pas que je ne retourne pas le soir. »
« No se preocupe! » disait elle et alla me trancher des papayas du jardin. J’ai passé tout l’après-midi au jardin à observer un Léguan, de toutes petites tourterelles se chamailler, à lire. Le soir, tout seul, j’ai observé un magnifique coucher de soleil. La nuit tomba d’un coup, peu après 18 heures. A 19 heures je dormais, bercé par le bruit des vagues. La température tomba à environs 23°, nul besoin d’air conditionné. Reposé je me levais à 6 heures pour reprendre la lance car je voulais observer « la grosse bourre » de la fête des mères.
« No se preocupe » a un semblable effet comme en Italie : Aucun. « Je me suis fait du souci » m’acceuillait la réceptionniste et le jeune valet d’étage me questionna d‘un air gêné: « vous n’avez donc pas dormi ici ?» Quel doux rappel du pensionat de Neuchâtel ! Et moi j’avais bien récupéré des fatigues du voyage.
Mardi, 12 mai 2009
Récit d’hier :
C’est un pays incroyablement jeune. Assis au Parco Juan Montalvo j’ai tout le loisir d’observer. La ribambelle d’enfants qui y court et s’y amuse ! A 20 ans, les femmes ont au moins leur premier enfant. Elles sont grand-mères quand les filles de nos latitudes font leur premier bébé. Bien sûr, car elles ne cachent pas leurs charmes ! Ravissantes et délicates jusqu’à 16-18 ans, elles s’épanouissent rapidement et avec le plus grand naturel. C’est peut-être le soleil généreux et éternel ici qui veut ça.
Leur comportement n’a pas cette agressivité érotique que je retrouve dans nos revues et dans nos rues, tout en restant très sensuel.
« Ah, vous êtes consultant ? De la Suisse ? Peut être pourriez-vous m’aider, car je suis actif dans une fondation. Nous sommes 18 membres… » Me demandait un type qui s’était installé sur mon banc au Parc.
« Et en quoi pensez-vous que je pourrais vous être utile ? »
« Dans le fundrasising. Dans la recherche de fonds. »
« Ce n’est pas du tout mon domaine, je suis d ans le tourisme. »
« Ah. » dît il et un long (et bienvenu) silence s’en suivit.
« Vous cherchez peut-être des femmes ? Hein ? cherchez vous des femmes ? »
« Non. »
« Mais vous savez, elles sont très chaudes ici…. »
« Merci, non »
« Comment non ? Mais vous avez des problèmes peut-être » ajouta-t-il en
illustrant sa pensée avec son index.
« Oui. Je sors d’une opération et cela ne m’intéresse pas. »
J’espérais le faire vendre ses propos ailleurs. Mais comme c’était le seul banc ombragé du parc où l’on pouvait s’asseoir en évitant jeunes couples et mères seules, il n’avait pas plus envie que moi de céder la place.
« Alors cela doit être la prostate. C’est embêtant la prostate. Ça fait mal ? » « Hein, ça fait très mal ? » Insista-t-il sur mon silence.
« Il y a plus agréable, mais il y a surtout pire. »
« C’est intéressant, car voyez-vous, moi j’ai toujours mal ici. Croyez-vous
que ce soit la prostate ? Non, mais regardez, c’est ici, juste en dessous
de la rate ! »
« Je ne suis pas médecin, mais la prostate ne fait pas mal. Ça vous
empêche de pisser, c’est tout. »
Il me forçait à le regarder, le petit homme grassouillet de la soixantaine, mal rasé, à la chemise rayée, fraîche de trois jours.
« Je suis aussi masseur. Je masse le coup, les bras les jambes. Surtout les
jambes. C’est merveilleux contre le stress. »
« Et vous avez beaucoup de clients dans votre cabinet ? »
« Pas vraiment. A vrai dire, je n’en ai qu’un seul. »
« Alors je vous souhaite d’en trouver beaucoup d’autres » lui disais-je « il
faut que je retourne à mon travail. Bonne chance. »
C’était deux heures et demie. L’après midi je le passais dans ma chambre à préparer la réunion du lendemain. Cette chambre disparate en bleu ciel, en compagnie de mon ordinateur et comme seul bruit de fond le ronronnement de l’air conditionné. C’est une chambre à grand lit plus un autre. Cela fait beaucoup pour moi tout seul. Collé au mur que le grand lit longe, il y a une coiffeuse longue et étroite, style nordique, qui me sert de bureau. Ce décor sobre, égayé uniquement par une prise de courant, de deux interrupteurs et de celui de la porte d’entrée, permet une concentration maximale…
J’espère bien sûr que les lecteurs de ces lignes me confirmeront le résultat de cette concentration. De surcroît, je cherche à l’intensifier par un régime se basant sur les succulents fruits tropicaux, salades et soupes. Cela fera du bien à mon cholestérol mais c’est un tort : On fait une cuisine originelle ici, rustique et très goûteuse. Maria, la gouvernante qui m’avait accueilli sur l’île de Jambeli, excelle en desserts et pâtisseries.
Les soupes sont très variées : de la simple soupe aux légumes décrite plus haut en passant par une aux favouilles, une de poissons, de crevettes, de langoustes même jusqu’à la « Bullavese » , probablement une lointaine cousine de la française! Aujourd’hui à midi on servait une soupe à base de mais frais, une sorte blanche, provenant des Andes, de pommes de terre et un peu d’agneau. A part du persil, ils aiment ici la coriandre fraîche dans les soupes et sauces.
Cela s’emploi aussi pour l’ajillo, une sorte de marinade de poivrons piquants, de « tomates de arbol » délicieuses, poussant sur les arbres, d’ail frais peu de vinaigre et huile d’olive. Cela se sert dès que l’on est assis à table, ici avec un pain blanc, huilé aux herbes fraîches et toasté, à Abraspungo où j’étais en 2007, avec de délicieuses brioches.
Jeudi, 14 mai 2009
Hier, nos sommes allé à l’hôtel Oro Verde, le meilleur dans la ville. Il avait été fondé toute une chaine de ce nom en Amérique du Sud par Caspar E. Manz, du St. Gotthard de Zurich. Mais aujourd’hui c’est géré par d’autres personnes. Le but de notre visite fut peu noble, c'est-à-dire, de débaucher la sous directrice. Jorge Alex est depuis quelques mois en contact avec elle. Maintenant, il souhaite faire avancer les choses.
Nous, c’était Jorge Alex, Socrate, le directeur de leur entreprise de limonade, « un pezzo d’uomo » de 40 ans, lucide et sympathique et moi. « Et comment vous vous arrangez avec votre famille, de partir comme ça et précisément en Amérique du Sud ? Qu'en dit votre épouse? » Voulait-il savoir.
« Ma récente opération à la prostate la tranquillise beaucoup. » Un gros et chaleureux rire le secoua.
Le déjeuner, très animé me reportait dans l’ambiance de « mes » hôtels. La candidate parait sévère, mais très capable.
Ce matin j’ai fait beaucoup de préparatifs pour les réunions à venir. Ensuite je suis allé au Parc. Sur mon chemin, j’ai retrouvé le type fil de fer qui se dit propriétaire d’une mine d’or. Je l’avais rencontré au coin Internet il y a quelques jours, lorsque je n’allais pas encore chez les bananiers pour expédier mes mails. Il voudrait bien me vendre une partie de sa mine. « Donnez-moi l’or et gardez les pierres »
Je crois qu’il n’a pas apprécié. Mais que ne dirait pas ma famille, avoir une mine d’or dans son héritage ?
La réunion F&B s’est de nouveau passée merveilleusement bien. Les gens voudrait travailler, voudrait faire mieux, mais la personne actuellement à la tête n’est pas de l’hôtellerie et fait office de frein. J’espère vraiment que le choix de Jorge soit le bon, ses employés le mériteraient.
Vendredi, le 15 mai 2009
Voilà, la première semaine s’est achevée. Le temps change. Le soir il fait agréable, autour des 24°.
Je passe en révision ce que j’ai fait. Le plus précieux à mon avis, c’était de mettre cuisiniers et salle ensemble, chose que l’on me décrivait impossible. Au contraire : ils regorgeaient de très bonnes idées ! Ils me faisaient entendre entre les mots que personne ne les écouteraient jamais.
Les propositions que nous avons formulées ensemble devraient faire repartir le restaurant et je veillerai à ce que l’on accorde les crédits nécessaires pour faire une présentation de carte et menus convenables, pour réaliser le service chauffeur tous les jours et aussi le soir. Une question primordiale pour un hôtel/Restaurant en plein centre sans parking et, de nuit, dans un quartier peu sûr. Qu’une publicité élégante soit imprimée à poser sur toutes les tables. Que l’affreuse illumination soit modifiée afin de créer une atmosphère différente le soir. Que nous rendrons l’offre et le service du soir plus de fête. Et que l’on ramone immédiatement les aérations crasseuses de la cuisine qui représentent un véritable danger d’incendie !
Cela semble peu. Mais j’ai déjà abordé les conclusions, tenant compte des (in)décision de la ville pour le quartier, proposé comment réaliser un boutique-hôtel à moindres frais (à l’instar du Zig-Zag Rockhotel de Zurich), analysé leur archaïque système de caisse et sur ces bases, demandé renseignements approfondis et devis à une firme équatorienne qui me semble être à la hauteur de la tâche. C’est peut-être pas beaucoup, mais important, essentiel même. Mais ce soir, je suis un peu mélancolique. Peut-être la conséquence de mon régime que j’ai suivi avec trop de rigueur. Je lâcherai un peu ce soir.
Dimanche, 17 mai 2009
J’avais dîné d’une belle brochette de langoustines et de volaille, arrosé d’une bière locale le vendredi soir. Cela a aidé. En plus, la température nocturne, tombée à 24°, permet de faire à moins du bruyant air conditionné.
Samedi excursion à la forêt pétrifiée de Poyango, à une centaine de km de route, dont la moitié en piteux état. Nasly m’avait organisé un chauffeur, Mauricio, qui se présentait ponctuellement à 8 heures avec sa mère Ruth. Myrna, une collègue de l’institut de tourisme où Nasly enseigne par son second job, faisait office guide. Mauricio est ingénieur foréstier, responsable pour la conformité écologique du département de L’Oro, homme intéressant à l’esprit ouvert. Myrna charmante et bien ferré sur son sujet, même avec des connaissances sur la Suisse ! Ruth une femme de la cinquantaine bien présentant et charmante.
Les arbres pétrifiés se trouvent dans une forêt bien vivante, avec une riche faune et flore. C’est ce qui la différencie des trois autres dont deux aux USA, qui se trouvent toutes les trois dans un désert. J’ai vu de magnifiques papillons, mariposas en espagnol, et pris des photos d’iguanes, d’une sauterelle de grande dimension et bien sûr, d’arbres pétrifiés. Impressionnant d’avoir un pied dans le présent, l’autre dans un passé vieux de plus de cent millions d’années !
Au retour, nous avons fait un détour par le port de Huatalca. C’est le dernier bout de l’Ecuador à la frontière péruvienne. Les rivalités centenaires se sont calmées ces derniers temps. Néanmoins l’annonce d’un fiancé péruvien provoquerait des infarctus dans la famille de Myrna, me réponda-t-elle sur ma question précise.
Huatalca est un petit port de pêcheurs qui est en train de se moderniser, au bord d’une forêt de mangroves. Misérable et d'un charme fou ! J’espère beaucoup que les modernisations ne seront pas la fin de ce charme.
On y pêche des araignées de mer, los cangrejos, très populaires ici. La culture de la crevette est un des importants articles d’exportation, en forte croissance. J’ignore si le cangrejo en fait également partie. Le restaurant en terrasse, au bord de la mangrove et au dessus des canaux, est typique, et offre en spectacle la vue sur une grande variété d’oiseaux qui picorent les favouilles dans les canaux en marée basse.
La sopa de cangrejos était délicieuse, agrémentée encore par du poulpe, de marsupions, de poisson et de clams. C’est un des repas les plus sensuels que l’on peut s’imaginer, aussi par la simplicité du service : tables couvertes de verre, de toutes petites serviettes en papier. Chacun reçoit une petite planche et un marteau en bois pour casser les araignées : Alors ça tape, ça gicle, ça suce goulûment, les mains qui collent la bière qui coule. Non seulement à torse, mais tout nu il faudrait faire ces repas là !
Il était intéressant d’entendre des efforts écologiques que l’Ecuador entreprend : Machala vient de subir une amande de $ 60'000 et infligé un délai de 6 mois pour présenter un plan concret de mise en conformité de sa décharge publique. Selon Mauricio, le suivi de ces actions est garanti. Ce genre d’efforts sont d’autant plus louables que le pays est pauvre et la discipline dans l’accomplissement de ses obligations fiscales encore nouvelle et loin d’être généralisée.
Aujourd’hui je me suis levé tard, à 7.30 heures. Eh oui, ici on commence à travailler à 8 heures et se lever à 7.30 heures est tard. Demain, le retournerai sur l’île de Jambeli pour la journée. Mais avant de partir, je tiens à rédiger ce petit rapport pour les miens et pour mes souvenirs de plus tard.
En sortant à 10 heures de l’hôtel il faisait du crachin. Cela n’a aucune importance, car il fait quand-même environs 25°. La lance, un hors-bord pour 40 personnes était plein. Les trois dames devant moi, dans la quarantaine, voulait savoir d’où je venais et ce que je faisais à Machala. « Prends garde à toi, on vole ici », se congédièrent-elles. La grand-mère du petit Henrique avec qui j’avais bavardé, mère d’un abogado, regrettait que je ne veuille partager leur table et me fila sa carte de visite, pour que je téléphone si mon temps à Quito me le permettait. En arrivant aux dos iguanas, Doña Nancy, propriétaire de L’Orohotel, la mère de Jorge Alex, était là avec deux amies clientes, plus un couple me convia à leur table. Je préférais nager et me promener tant qu’il était encore serein et les rejoignis ensuite.
On est immédiatement intégré, chez les équatoriens, la bise est obligatoire, aussi pour les inconnus, grippe ou pas grippe. Je ne puis encore le juger, mais j’ai l’impression que cet accueil, pour aussi sympa qu’il soit, tienne plus de l’informalité américaine que d’un réel intérêt au prochain.
On papotait, mangeait, papotait. C’était visiblement de la bonne société qui se connait bien. Autrement les dames n’aurait pas porté tous les bijoux dont elles s'arboraient.
L’après midi se présenta sous de mauvaises auspices, puisque j’avais porté le fascinant livre « l’uomo verso l’assoluto » dans l’espoir de le terminer. Mais en me changeant, mes lunettes tombèrent et une des lentes avait sauté de la monture. Voilà qui promet bien, après que mon aide auriculaire droit est déjà tombé en panne peu après mon arrivée au pays !
J’en parlais à Mari, gouvernante et pâtissière de l’hôtel et à son mari Julio de l’intérêt de ce livre, qui traite aussi les religions des Mayas et des Incas, raison de l’avoir emmené avec moi. Julio me posa en passant quelques questions sur mes intérêts en la matière et commença ensuite à me brosser un merveilleux tableau de l’histoire de la religion des Aztèques, l’influence subi par les espagnols et combien les anciens mythes étaient encore vivants chez les indigenos. Jamais ils n'en parleraient aux blancs ou aux mistecas. Nous convenions que c’était justement cette défiance qui tenait vivants leurs rites. J’en aurai à lire pour des mois et des années.
Mari et Julio partaient à 16 heures. « Restes, mais soit gentil de bien fermer la porte. Hasta luego, George », comme ils m’appellent ici et m’abandonnèrent leur auberge, vide à cette heure ci. Je me retrempais pour une belle nage, et marchais longuement pour me sécher sur l’immense plage libre. Peu de jeunes me croisaient, saluant tous aimablement. C’est le bonheur, m’avouais-je. Cette liberté de faire ce qui me plaît. Cet accueil, et puis tomber sur des gens comme Julio, qui m’oriente dans ce qui m’intéresse depuis bien longtemps et à quoi je me suis si peu donné, l’histoire et la psychologie de la religion.
J’avais pris le dernier bateau à 18 heures, à la main un platano asado une de ses bananes vertes grillées, délicieuses, qui me fera de dîner. C’est incroyable avec combien peu on peut se nourrir dans les régions tropicales !
Ici, la nuit tombe tôt, vers19 heures. Les derniers rayons de soleil nous caressaient le dos. Pour moi, c’est la plus harmonieuse heure de la journée et en effet, cette harmonie gagna le bateau. Le bruit régulier du hors-bord, les vagues légères tranquillisaient les enfants. Les tout petits pendaient au biberon ou aux seins de leurs jeunes mamans. Les plus grands perdaient leur regard dans le loin. Le bonheur familial régnait chez les parents. Les jeunes couples, apaisés de leurs passions durant la journée, se blottirent doucement l’un contre l'autre, heureux de leur union. Et moi, passager non concerné, me laissa doucement gagner par cette harmonie générale dans laquelle nous nous dirigions vers la terre ferme.
Mardi, 19 mai 2009
Une journée ordinaire
Je me cassai le nez à la porte de la poste, où j’allais pour poster une carte d’anniversaire pour Heinz. Cela prend deux semaines par courrier ordinaire, comme j’ai appris en envoyant une de ces horribles cartes d’ici à Rudi Blaschke, pour ses 75 ans. L’express c’est $ 40.00.
C’est à 8.30 que l’on ouvre me faisait comprendre le costaud gardien de l’intérieur. Tous les employés étaient en place, masquée contre la grippe, la TV allumée. J’avais beau lui montrer les 9.35 heures sur mon chronomètre suisse à travers la porte vitrée et d’autres autour de moi la même chose sur des modèles peut-être moins précieux, l’homme montrait stoïquement sur la vieille horloge qui indiquait 8.20 heures.
Bien que cela ne soit pas un privilège dans ce pays, je profitais de ce petit quart d’heure à prendre le soleil matinal. Les deux équatoriens devant moi commençaient à s’impatienter lorsque la porte s’ouvrit. Le jeune, type entrepreneur, avait des cds dans une enveloppe feutrée que la (très jolie) postière le fit ouvrir, le gratifia d’une pile de formulaires à remplir et le renvoya. La dame devant moi subit un sort similaire parce qu’elle avait écrit l’adresse du destinataire de manière à ne plus pouvoir apposer l’expéditeur sur le devant de l’enveloppe. « Mais elle sur le recto ! » protesta-t-elle. Le règlement étant le règlement et les équatoriens n’ayant pas la même chance comme nous helvètes qui, sauf la pizza et le café crème, peuvent tout acheter à la poste, s’en alla chez elle pour écrire correctement son enveloppe.
« correo ordinario por favor » disais-je aux grands yeux noirs leur tendant mon enveloppe. Le reste du joli visage dont je me rappelais de ma dernière visite étant, presqu’à l’instar d’un tchador, dissimulé sous la « mascherina » antigrippe.
Elle s’installa devant son ordinateur et commença à taper lentement expéditeur et destinataire dans un masque qui me rappela les complications des premiers modèles du Fidelio.
“Su numero de pasaporte, por favor”
« Mais vous l’avez de la dernière fois »
Elle me lança un regard tellement implorant que je lui fis tendrement « F2083367 ! »
« Je veux le voir »
« Mais ce n’est pas une lettre enregistrée » Me rappelant du sort de mes prédécesseurs, je m’empressais à sortir rapidement la copie couleur que je garde toujours sur moi car dans un pays comme l’Equateur, il n’est pas conseillable de porter l’original sur soi. Heureusement, ma mémoire ne m’avait pas fait défaut, le numéro était juste.
« C’est la peur de la grippe qui règne », lui fis-je.
« Ah si ! »
« Alors pas de besito, selon la jolie coutume équatorienne, quand vous
saluez vos amis ? »
« Ah no »
« Alors pensez au danger qui règne en Suisse ! Non seulement que l’on ne porte pas de mascherina, mais on donne deux besitos »
« Ah si ? »
« Ah si, et à celles qui m’en donnent deux d’ailleurs je leur raconte qu’en Suisse on en donne trois… »
La TV marche partout et toujours et bien sûr, aussi à la Cafeteria las Tejas, comme s’appelle le restaurant de l’Orohotel. Mangeant toujours seul et ne la regardant jamais sur le petit écran de ma chambre, j’apprécie assez. D’abord, les nouvelles de 12.30 me rappellent celles radiophoniques de mon enfance quand Maman, mon frère et moi on devait manger en silence. La courte durée de ce silence imposé, une bonne dizaine de minutes, était supportable. Deuxièmement, les informations révèlent beaucoup sur le pays et les gens que je visite.
Les nouvelles internationales ici sont encore bien plus brèves que celles de mon enfance. On les frôle à peine et les place en troisième ou quatrième position. En premier lieu, beaucoup est consacrée à la santé : le traitement de l’obésité, l’implantation de cheveux, le traitement de l’incontinence avec images à l’appui et même la transplantation d’organes avec grand angle sur le cœur ou la hanche ouverte. Sujets relativement peu appétissants à l’heure du déjeuner.
Dans un premier temps je soupçonnais le gouvernement d’une lutte subversive contre les trop grosses portions, dont on voit les fâcheuses conséquences à chaque pas. Il n’en est rien. Tout au contraire : c’est le prélude logique à ce que les Equatoriens aiment le plus, le crime et les accidents. La semaine a été gratifiante en la matière. De grosses saisies de drogues, Coca par tonnes, héroïne par centaines de kilos, arrestation de quelques violeurs et chose particulièrement succulente, le lynchage à quelque part de plusieurs personnes avec un bûcher en apothéose. Ce climax fût encore dépassé grâce à la chute d’un bus touristique dans un ravin, profond d’une bonne centaine de mètres. Les prises de vue de l’ascension hasardeuse des brancards, avec le râle et les gémissements des pauvres secourus, devaient satisfaire les plus exigeants en la matière.
Jeudi, 21 mai 2009
« Si je vous invitais à prendre une glace avec moi, serait-ce de la corruption de fonctionnaire publique ? »
« Bien sûr, mais je viens quand même. Allez-y je vous rejoindrai ! »
Je le demandai à la jolie agent de garde du parc Juan Montalvo qui, au début de mon séjour ici, m’avait rappelé qu’il n’était pas permis de s’appuyer aux balustrades autour de la fontaine.
Marilène, 31 ans, 3 enfants de 12, 9 et 2 ans, le mari parti en Espagne. « Quand reviendra-t-il ? » Je ne pense pas qu’il revienne, il y a tellement longtemps que je n’ai de ses nouvelles ». Sa mère garde les deux petits, sa grand-mère paternelle la grande quand elle est au travail.
Fille simple, sans formation. L’organisme chargé de la garde du parc est privé. La formation que leur donne leur employeur ? Aucune. Il faut bien présenter, savoir parler aux gens. Elles sont toutes belles, en effet et vêtues d’uniformes parfaitement moulants.
Elles sont au parc, font leur ronde, la papote avec les visiteurs réguliers. Quelle idée de formation pourrait leur venir en tête ? Machala n’a pas de potentiel touristique, encore qu’on pourrait le développer jusqu’à un certain niveau. Jamais personne ne leur parle dans une autre langue que l’Espagnol, le castillan, comme on l’appelle ici. Les bonnes places de travail sont rares et il me semble, réservées à ceux qui sortent d’université, au moins pour ce qui en est de celles dans les firmes importantes.
« Lénin ? Oh le pauvre ! C’est vrai, on ne le voit plus depuis quelques jours. En général des membres de sa famille viennent le placer ici dans sa chaise roulante et le laisse jusqu’au lendemain. Alors il dort au parc. Je ne sais même pas comme il fait pour manger, pour aller à la toilette. Il ne peut pas se lever de sa chaise roulante ; c’est terrible. »
Elle est gentille mais j’ai eu tort de l’inviter à cette glace. Mon anonymat est rompu. Elle vient vers moi dès qu’elle m’aperçoit et m’empêche de regarder tranquillement ce qui se passe autour de moi.
Certes, un étranger ici, quelque soit son âge, a son attirance, est quelque chose d’exclusif. Je l’ai vu hier en tenant une conférence sur « el servicio al cliente en la información y comercialisación turistica » au Collegio fiscal Simon Bolivar.Ce terme pompeux désignait une conversation avec une quarantaine de jeunes de 16,17 ans, pour deux tiers des filles, sur ce qui est important dans la vie, la formation professionnelle, ma carrière et sur ce qui me plaisait en Ecuador et quoi moins. La photo de groupe que les enseignants voulaient prendre ensuite développa dans un shooting, où en petit groupes ou en individuelle, chacune voulait sa photo souvenir. Pour aussi flatteur que cela ait été pour moi, leur manque évident de contacts internationaux, la pauvreté de leur moyens d’enseignement me donnait à penser. Je donnerai l’adresse de Swisscontact Quito à Nasly, pour qu’elle puisse prendre contact avec le responsable, Heinz Allemann. Qu’il l’avise quand un autre senior expert se présentera dans la province pour qu’ils puissent répéter l’expérience de hier au collège Simon Bolivar.
S’en suivit un agréable déjeuner simple au Porto Bolivar avec Nasly, Myrna « la douce » et Marí « la svelte » à l’agressivité européenne. Après ces 4 heures en conversation espagnole j’étais à bout et méritait bien un petit somme.
Samedi, 23 mai 2009
La réunion n’avait pas lieu hier au soir. Elle devait avoir pour objet mes conclusions, recommandant une nouvelle conception de l’entreprise, d’importants investissements immobiliers, le renouvellement de leurs installations électroniques pour permettre un système de caisse et de comptabilité efficace. L’excursion du lendemain à Zaruma en compagnie de Jorge Alex, sa femme Paola et leurs trois enfants annulée. En fin de compte ils se faisaient remplacer par un ami, un de leurs anciens employés. Je prenais cela pour un mauvais présage, leur ayant transmis mes conclusions à lire deux jours avant.
Washington, Ex Mineur, ex Bananier, ex collaborateur de Jorge A. converti en fabricant d’articles de publicité se présenta à 8 heures pile. D’où vient donc cette fausse réputation que les américains du sud ne connaissent pas l’heure ? Serait-ce Swatch qui, les ayant inondés de ses produits, à avoir changé par là totalement les coutumes locales ?
La route, bien asphaltée, menait dans l’arrière-pays sur les montagnes à la forêt en bonne partie encore vierge. Quelle variété d’arbres, d’arbustes, de palmiers, de fougères géantes, cocotiers, bananiers, arbres de café et de cacao, de cannes à sucre ! Le tout, pêle-mêle et impénétrable, fondait dans une abondance d’un vert intense et vif. Ce que l’air devenait agréable en gagnant de la hauteur, bienfaisant même.
A 800 m d’altitude environs, nous nous arrêtâmes à une réserve de colibris. Ils sont beaux à voir, ces oiseaux minuscules, colorés aux yeux et bec immenses! Quelle rapidité dans leurs battements d’aile, se tenant fixe en l’air, semblable aux libellules.
Au village de Piñas, nous avons pris le beau-père de Washington pour qu’il nous fasse de guide. Il n’en savait pas plus que moi, mais ici, il y a toujours quelqu’un qui se rajoute. Tant à Piñas qu’à Zaruma on est fier du bon climat et aussi, que ce sont des villages presque exclusivement de blancs. Ce n’est pas que l’on soit raciste par ici, mais à la TV, les présentateurs et animatrices sont pour la très grande majorité des blancs. Washington, lui-même métissé, m’a expliqué qu’il en était pareil à l’administration publique, à la police et bien sûr, dans les bons postes des grandes entreprises.
A Zaruma, nous recevait l’érudit directeur de l’office de tourisme, Tito. Il nous expliquait que la ville était de souche juive. Leurs ancêtres avaient fui la catholique Espagne en 1536 avec ses conquistadores. Ils n’avaient pourtant pas le droit de pratiquer leur religion. L’inquisition les suivait et encore aujourd’hui, malgré leur race juive pure, on ne trouve pas de Synagogue ici.
L’Espagne pratiquait la charité à sa façon. Dans les trois siècles de leur présence ici, ses conquistadores avaient exporté 2700 tonnes d’or vers leur pays natal qui en avait grandement besoin pour payer la dette extérieure contractée par Philippe II. Que l’on se l’imagine, deux mille sept cents tonnes, avec les moyens et les bateaux d’alors ! Les espagnols avaient asservi la population indigène, les faisant travailler dans des conditions horribles, avant de les massacrer et extirper la race entière. En cela ils étaient inspirés et aidés par l’église catholique et sa sainte inquisition. Dans leur souci constant d’assurer le salut des âmes de ces pauvres sauvages, elle le leur assurait par voie directe. Et au retour ces flibustiers et criminels se virent anoblis pour services à la patrie rendus et vénérés par le monde entier. Néanmoins, le pape, aux alentours de 1850 déclara dans une de ces bulles qu’aussi les indigènes avaient une âme et seraient à considérer comme des êtres humains à part entière…
Pardonnez-moi cette excursion si subjective dans l’histoire du pays qui m’accueille.
Zaruma est une jolie petite ville, style coloniale, dans son centre historique construit pour beaucoup en bois de teck. Comme à Piñas, on ne connait pas de criminalité ici. C’est l’avantage de petites villes, où chacun connait tout le monde et tout le monde chacun. La grande violence est commise par des gens de nulle part, sans famille ni culture, qui n’ont rien à perdre.
Zaruma dort sur l’or. Littéralement. Les mines, découvertes des centaines d’années avant que les Espagnols arrivent, rendent toujours et se trouvent en dessous du village. La plus grande, la « Sexmo », est exploitée par une importante firme internationale. Le nom provient des anciennes taxes que les Espagnols prélevaient, le quinto, un joli 20% et rien en échange ! Cette mine fût fortunée de ne payer que le 6e.
Une seule galerie de la sexmo se visite, ce que bien sûr, nous avons fait. Encore aujourd’hui, faire le mineur, c’est un travail infernal et qui s’y voue, aura fait bien plus que le purgatoire sur terre. Washington m’expliquait que les véritables galeries ne sont pas de cette confortable hauteur de près de 2m comme nous les avons vues, mais d’un à un mètre vingt environs. On travaille donc en position courbée, accroupie, à genoux et ceci 8-10 heures par jour! Il avait fait cela durant deux ans parce que cela l’intéressait de connaître ce travail et comme jeune pris par l’odeur d’aventure. Aujourd’hui il est partenaire d’une mine, mais elle ne produit pas encore. Là aussi, on vit de l’espoir.
Sur notre chemin vers Portovelo, lieu originel de la course vers l’or des Incas autour de 1300, j’ai pris des photos d’une mine moyenne et de l’entrée d’une petite, où ils travaillent à 8 personnes seulement. La plus part de ces mines sont artisanales n’employant que très peu d’ouvriers. Tous travaillent 24/24 heures. Il n’y a aucune propriété foncière et c’est au plus rapide qui gagne. Une veine une fois découverte on la suit n’importe où qu’elle porte et cela peut très bien se croiser avec celle du voisin.
On y observe encore les ruines de la « South American Development Company », active entre 1896 et 1950. Bien qu’originaire de l’Amérique du Nord, ils semblaient inspirés par les espagnols en ce qui concerne le traitement des indigènes : ils finissaient par imprimer leur propre monnaie qui n’avait cours à nulle part ailleurs pour payer leurs ouvriers. Ils abandonnèrent le terrain après émeutes et déboires avec le gouvernement équatorien.
Nous avons fait un assez long détour sur une ancienne route provinciale sur le retour. Ces routes se comparent aux anciennes routes militaires au sud de la France. La pluie avait rendue le vert de la forêt encore plus vif. On s’éloignait dangereusement de la civilisation, la route devint boueuse, tout comme mon état d’âme. Seul le passé aventureux de Washington et son corps musclé réconfortait ma confiance. Nous parcourions la dernière centaine de mètres à pied pour arriver à un taudis immonde, enfouis dans le bois.
C’était pourtant là, le but de notre voyage, une espèce de ferme, où l’on brûlait dela tragua de caña de l’eau de vie de canne à sucre. Dans une construction en planches brutes où nous ne mettrions pas les chèvres vivait une petite famille! La pluie avait rendu les alentours gras. En contrebas, tout près du four et de l’alambique, 4 cochons diffusaient leur odeur typique, se mélangeant à celle de la lie refroidie. Trois chiens mi-sauvage rôdait autour et une demie douzaine de volailles, que le maître des lieux nourrissait au maïs pur. Oui, au maïs pur. Même pas les volailles de Bresse sont nourries si exclusivement. Cela couterait bien trop cher, m’avait fait le calcul Monsieur Olive il y a bien des années, un client de l’Hôtel du Cap d’Antibes.
Si cette première surprise découlait d’une certaine logique, vu que le maïs aussi pousse comme il veut dans ce coin, la deuxième l’était beaucoup moins. Le paysan portait un T-shirt troué, certes, mais parfaitement propre. De même se présentait sa femme et sa petite fille. Ils avaient tous les trois les cheveux parfaitement en ordre et nous recevaient avec un esprit ouvert, une cordialité comme si nous nous connaissions depuis toujours Comment font-ils donc ? Mais c’est ça, les Equatoriens !
Le gars me montra avec fierté sa presse de canne au diesel, laquelle remplace depuis peu celle qu’avait tourné sa mule, pour lui, son père et son grand-père. Habitué bon gré, mal gré à la fétide odeur, les choses devenaient plus intéressant pour moi: Rien ne se perd.
Le jus de canne se divise : une partie pour en faire du sucre, l’autre pour l’eau de vie et cette partie est dirigée dans des bacs en plastic à fermenter. Ensuite elle vient au four, constitué par deux vieux tonneaux reposant en horizontale sur des briques, passe par l’alambique et se recueille dans d’anciens récipients en plastic crasseux pour huile à moteur. La grande partie servira aux moulins d’or comme combustible, payé un peu plus cher que l’essence. Seule une petite part est diluée aux alentours de 40° pour buts alimentaires. Les feuilles et les cannes à sucre essorées sont séchées et serviront de combustible pour le four. Les cendres à la fin, sont utilisées comme fertilisant.
Tandis que le père de Washington se laissait entrainer à la dégustation – son fils ne boit rien quand il conduit – mon vieux et pieux mensonge d’une récente jaunisse m’épargna de devoir en faire de même. J’observais les fleurs partout, les arbres de mangues, les mandariniers. Même du cacao et du café poussait là et le patron se mit à cueillir quelques grains pour moi, nous offrit de ses fruits, au père son Schnapps et nous tous trois son large sourire.
Réconciliés avec l’aspect pauvre, nous étions forcés d’admettre qu’il ne manquait plus que le fatal pommier pour se croire réellement au paradis ! Une fois de plus, la leçon était forte : Combien, et surtout jusqu’à quand encore, te laisseras-tu influencer par l’aspects extérieur des choses ? Quand seras tu enfin capable de ce regard clinique, qui ne s’intéresse qu’à l’essentiel ? Bien sûr, ce n’est pas une vertu d’hôteliers.
Dienstag, 3. Juni 2009
« Sind die Serranos und ihre OBSA ausschliesslich Exporteure oder auch sind sie auch Bananenpoduzenten ?» fragte ich Washington auf unserem Weg nach Zaruma.
„Nein, sie sind auch Produzenten auf einigen eigenen Hektaren.“
„Sind einige Hektaren in Ecuador 3, 10 oder 20?“
„Oh, gut tausend dürften es schon sein.“
Wiederum pünktlich wie ein Schweizer Chronometer holte mich Wiliam um 7 Uhr ab. Wir fuhren nach El Guabo, einem der vielen Orte Ecuadors, wo Bananen produziert werden. Rund 3000 Bananeros bepflanzen in Ecuador etwa 200'000 ha. Das Land ist der bedeutendste Bananenexporteur der Welt, daher nennt sich Machala stolz „capital bananera mundial.“ Zwar rangiert Ecuador in der Produktion erst auf dem dritten Platz, hinter Indien, Brasilien und Indonesien. „Die fressen ihre Früchte selber“ meinte Jorge Alex, als er mir die Rangliste erklärte.
Wir fuhren eine gute halbe Stunde entlang der Strasse nach Quito, die von nichts anderem gesäumt ist als von Plantagen. Nichts als Bananenbäume, links und rechts. Hin und wieder eine Strecke lang blumige Büsche am Rand, Wahrzeichen von Don Servios Besitz. Dann bogen wir ein in die Plantage „La Mina“, den Weg entlang bis zum privaten Flugfeld. Erstaunlich, die fast penible Kontrolle am Eingangstor zur Plantage, nachdem die Felder selbst ungesäumt sind und man diese ohne Hindernis durchqueren kann, allerdings nur zu Fuss. Lust dazu überkommt wohl niemanden, denn man könnte sich in den Weiten verlaufen. Alles ist sehr eintönig: Unter einem grünen Dach der riesigen Blätter hängt an jedem Baum ein einziger racimo,verpackt in blauen Plastik der ihn vor Ungeziefer schützt. Jener verdeckt wiederum die Kunststoffblätter welche jede „Hand“ säuberlich von der nächsten trennen, damit sich diese nicht gegenseitig verletzen, Narben auf den Früchten hinterlassen, was sie für den Export unbrauchbar machen würde. Am Boden verfaulen Blätter und alte Bäume, die bei jeder Ernte abgeschlagen werden. Sie bestehen zu 80% aus Wasser. Das befeuchtet den Boden gibt wieder ihre Nährsalze ab.
Auf dem Flugfeld rollte eine erste Maschine ab, ein polnisches Fabrikat, aufgetankt mit Fungiziden, die über die einzelnen Felder ganz exakt versprüht werden müssen. Eine weitere rückte heran welche unbetankt entferntere Plantagen anflog und auf deren Flugpiste dort die Chemikalien auftanken wird. Alles ist hier sauber, alle Vorsichtsmassnahmen präzise, für jeden sichtbar und verständlich aufgelistet. Diese militärische Nüchternheit kontrastiert mit den Blumenbeeten, die lieblich den kleinen Bürotrakt umsäumen.
Capitan Jorge ist ein ehemaliger Hilton Réceptionist. Er wechselte aufgrund der zahlreichen Gays einer südamerikanischen Fluglinie dorthin als Stewart und bildete sich später zum Piloten weiter. Er hob seine einmotorige Skyhawk mit uns ab. Durch einen immensen grünen Teppich, dessen eintöniges Muster von einigen Kakaoplantagen aufgelockert wurde, krümmten sich Flüsse wie Wasserschlangen. Riesige Crevettenbassins säumten den entfernten Horizont.
Weder der Kakao noch die Crevetten haben etwas mit der ORO BANANAS SA zu tun und doch hat man von hier oben den Eindruck, Don Servios Besitz sei grenzenlos. Der umsichtige, kluge Geschäftsmann, der heute über achtzig itt, hatte seine Unternehmung am 12. Januar 1970 gegründet. Nach und nach baute und baut er sie aus, nicht nur durch ständige Plantagenzukäufe, wie jene 1000 ha. die zu den Seinen im vergangenen September dazukamen. Offensichtlich strebt er eine vollständige Autonomie an.
Die APACSA ist die kleine Fluggesellschaft, die mit 6 Apparaten die Felder präzise besprüht, ihn und seine Familie dorthin bringt, wohin sie ihre Geschäfte rufen. Die NEMALAB sind die eigenen Laboratorien, 1998 gegründet, nach den holländischen Wageningen Evaluation Programmes for Analytical Laboratories ausgerichtet. CABANA SA ist die Lastwagenflotte, die jeden Punkt in Ecuador erreicht, gefüllte Bananenschachteln abholt und vom Puerto Simon Bolivar in Machala in die ganze Welt verschickt. PICKUEL fabriziert den besonderen Plastic zum Schutz der Bananenbüschel, und zur Verpackung. „Aber eine Kartonage besitzt er nicht auch noch, mit denen er seine eigenen Bananen verpackt. Mit 100’000 Schachteln pro Woche à 42lbs, etwa 20kg, zu denen nochmals so viele von seinen Zulieferern kommen, doch auch ein ganz netter Markt?“ fragte ich mit leicht ironischem Unterton. „Nein nein, selbstverständlich nicht. Davon ist er Teilhaber“
Die zahlreichen Arbeitsgänge die sorgfältigst ausgeführt werden müssen, bis wir eine schöne, makellose Banane beissen dürfen haben mir die Leute auf der Finca von Jorge Alex geduldig erklärt und demonstriert. Jede Banane, die billigste aller Früchte bei uns, wird mir in Zukunft dankbare Erinnerungen an all die Angestellten der Bananeros wecken:
Das Umhüllen des jungen, ca. 80cm langen Triebs, das delikate Schützen aller „Hände“, das ständige Beobachten der Blätter indem man die Plantagen Meilen weit, kreuz und quer durchläuft, ob nicht Pilze oder Ungeziefer sie befallen, das Veranlassen geeigneter Gegenmaßnahmen, sei es Besprühen aus der Luft, oder durch Pflanzen und Wespen als natürliches Gegengift, das Inspizieren jedes einzelnen Baumes, von dem nur der beste der weiteren Triebe belassen und die übrigen abgeschlagen werden. Wenn dann nach 9 Monaten der neue Baum seine Frucht gut entwickelt hat, ist die Ernte eine mühsame, noch nicht durch Maschinen rationalisiert wie es heute in den Weinbergen möglich ist.
Die Baumkrone wird leicht gekrümmt, und der ca. 30 kg schwere Bananenbüschel langsam und sorgfältig mit dem scharfen Messer an einem ca. 2m langen Speer abgetrennt, damit er ohne Schaden auf der Schulter der Pflücker landet, welche diese mit einem Luftkissen abgefedert haben. Der Schnitter schlägt die Baumkrone ab, der Pflücker trägt den racimozum nächsten Geleise des Hängelifts, welcher die Plantage alle 50 m durchläuft. Sobald er dort hängt, rollt er langsam zur Verpackung, welche Kilometer weit entfernt sein kann. Schnitter und Pflücker gehen zum nächsten Baum…1 Angestellter pro 2 ha. Auf jeder wachsen 1400-1450 Pflanzen.
Die kleine Finca von Jorge Alex ist „nur“ 30 ha gross. Dank der Übersichtlichkeit werden die Früchte besonders gepflegt und sind entsprechend schön und makellos. Daneben hat er dort noch Melonen, Limetten, Guanabanas, Mangos, Passions- und weitere Früchte die alle mehrmals pro Jahr reifen. Bienen und eine Hühnerzucht erlauben eine paradiesische Selbstversorgung umso mehr, als die Eltern auch noch eine Rinderzucht und Pferde halten.
Und wer ist der wortkarge Don Servio der mit seiner Doña Nancy, der „Reina del Orohotel“ zu den angesehensten Unternehmern der Provinz, wenn nicht gar des Landes zählt? Einer, der im Ruf steht, von den Ersten im Lande zu sein, der all seinen Mitarbeitern die Seguros, die Krankenversicherung bezahlt, was auch heute noch lange nicht überall der Fall ist? Einer, der vom Rotary, und allen Handelskammern geehrt wurde als weitsichtiger Unternehmer, wie man auf den Auszeichnungen im Warteraum vor und in seinem Büro sehen kann? Ist er ein besonderer Günstling des Schicksals? Ist er ein Nabab, der alles in Gold verwandelt, das er berührt?
Schon als wir mit Capitan Jorge auf Quote waren, fühlte ich mich in dieser flachen, eintönigen Weite verloren. Gut, winkte gegen Osten die Sierra aus nicht allzu ferner Distanz. Ob ich hier in diesem Reichtum leben, mein Schicksal mit jenem der Familie tauschen möchte?
Der Geschäftssitz der OBSA ist für hiesige Verhältnisse repräsentativ, mehr gegen innen als nach Aussen, wo Wächter während 24 Stunden alle Eingänge bewachen. Keine Gorillas, sympathische Leute. Überhaupt, ich möchte jetzt endlich einmal einen unsympathischen Ecuadorianer kennen lernen! Alle sind freundlich zu mir in der Firma. Und auch untereinander scheint ein sehr guter, netter Ton zu herrschen. Das jedenfalls glaube ich während meinen Besuchen jeden Tag feststellen zu können.
Don Servios Büro ist rund 100qm gross, wenn man den angrenzenden Konferenzraum mit einberechnet. Kostbar und eher schwer möbliert. Eine grosse, gedrechselte Bibliothek dominiert den Raum, bestückt (und hinter verschlossenem Glas) mit den schönsten Werken von Otard, Marie-Brizard, Rémy-Martin und weiteren, feinsten Likören und Schnäpsen aus der grossen weiten Welt (Ausser aus der Schweiz). Mein aktives Studium und anerkennenden Worte heiterten seine Mine auf, die ich anfänglich als abweisend empfunden hatte. Zum Schluss brachte ich ihn doch noch zum Lachen als ich ihm empfahl, gleich mit dem Austrinken zu beginnen, da es sonst seine Erben tun würden.
Das Büro von Jorge Alex ist halb so gross, sachlich modern, relativ stillos eingerichtet. Auch hier, kein Buch. Kein Zeichen von Kunst, ausser zwei schönen alten Fotos vom Hafen aus den 30er Jahren. Und die zeigen wie Bananen von Hand auf die Schiffe gebracht werden.
Mein Fahrer von heute morgen führte mich am einfachen Haus in El Guabo vorbei, wo der Sohn mit seiner Familie wohnt. „Ach, ich dachte sie wohnten auf der Finca?“ „Das ist hier nicht üblich.“
In der Tat war ich überrascht als wir auf der Finca Tendales herumliefen. Eine solche hat nichts mit den stolzen spanischen Gütern und amerikanischen Ranches zu tun, auf welchen man la douceur de vivre zu pflegen bemüht ist. Das hier ist einfachste, sachlichste Arbeits-Einrichtung. Der einzige Schmuck sind die blühenden Pflanzen, die hier gezogen werden und auch das hat den Anschein einer Grossgärtnerei. Nichts, was der Freundlichkeit der Menschen hier entsprechen würde, nichts Liebevolles, wie ich doch Jorge Alex und seine Frau Paola empfinde. Unverwandt mit der strahlenden Nancy.
Die Stadt hat hier kein Theater. 6 Kinosääle in einem Shoppingmall, das schon. Keine Konzerte. Die Stadt eröffnet demnächst una casa de cultura. Ein Bau von scheusslicher Architektur, eine Imitation, und erst noch eine misslungene, von Kolonialstil.
Doña Nancy und Don Servio haben den grossen Erfolg gekannt und sind gleichzeitig von bittersten Schicksalsschlägen heimgesucht worden, wie ich diese Tage erfuhr: Der älteste Bruder von Jorge Alex ist krank. Eine Magenbandage ist geplatzt. Er ist sympathisch. Er wirkt ungesund und ist fett. Ich verstehe ihn nicht gut. Deshalb vermag ich auch nichts Genaueres über seinen geistig-psychischen Zustand zu sagen, der mir sonderbar scheint. Aber Servio Agusto ist gar nicht der Älteste. Der Erstgeborene kam in der Blüte seiner Jugend ums Leben, als er mit ein paar Jungen Russisch Roulette spielte. Ihn hatte es getroffen. Wie wenn die Familie damit nicht schon genug geschlagen wäre, starb vor 6 Jahren auch die Tochter an Krebs, innerhalb ganz weniger Monate, man spricht von zweien, und hinterliess drei minderjährige Kinder.
Wie trösten sich solche Menschen? Wie bringen sie ihre Fröhlichkeit und Herzlichkeit zu Stande? Jorge Alex hat seine Schwester ein einziges Mal erwähnt und hatte Tränen in den Augen. Ich bin nach dem heutigen Tag, der mir die Dürftigkeit lebendiger Kultur offenbarte, bedrückt. Obschon ich persönlich zeitgenössische Kultur moderat geniesse und oft Mühe mit dem Kulturteil der verschiedenen Zeitungen habe.
Ich versuche, diesen Menschen nach zu spüren, mit ihnen zu fühlen. Entweder hat eine solche Schicksals Bewältigung einen Mangel an Tiefgang an sich, was ich persönlich nicht glaube, dann aber etwas wirklich Heroisches!
Nacht
Die riesigen Hallen, an denen die 40t Trucks anlegen um ihre Last auszuspucken
Hoch oben gleissende weisse Lampen die die Halle in ein unwirlickliches Licht…
Die Schachteln, die im Sekundentakt aus den tiefen Längen der Wagen auf Rollbändern schiessen.
Die dunklen Männer, die sie unermüdlich, immer zwei gegenüber, wie Automaten abfangen und auf die nahen Paletten beigen
Die Wagen leer, die Männer im nakten Oberkörper, glänzend vor Schweiss, den Blick erschöpft und trotzdem stolz, es wieder geschafft haben. Sie treten aus dem Halbschatten, ihre sehnigen, nassen Körper glänzen in diesem Licht , es sind schöne Männer, die in diesem Moment der Erschöpfung an ihre Frauen denken, ein eigenartiger Moment der Lust, jener vergleichbar mit der ermatteten Ekstase.
Freitag, 5. Juni 2009 22.40 Uhr
Koffern gepackt, letzte PC files auf den PC Réception übertragen. Ich fühle mich etwas ausgelaugt. Auch irgendwie unerfüllt, jetzt, wo alles vorüber ist. Ein bisschen wie nach der Lehrabschlussprüfung, als sich trotz gutem Resultat Leere anstatt Freude einstellte. Die Mitarbeiter waren alle sehr, sehr nett und haben eine Riesentorte nach der letzten Mitarbeitersitzung auffahren lassen. Es war ein richtig schönes Vertrauensverhältnis. Die Leute hörten interessiert zu und machten so gut mit, wie sie können.
Auch die Besitzer waren ja nett. Doña Nancy setzte sich etwa zu mir im Restaurant und liess sich von der Machalener Gentry hoffieren. Auch als sie auf Jambeli mit ihren Freundinnen war, lud sie mich gleich an ihren Tisch. Sie erinnert mich an Mutter Amstutz im Hotel Orselina. Wie strahlte sie, wenn alles in Ordnung war und die Gäste an ihrem Tisch wie eine Prozession vor dem Allerheiligsten vorbei zogen. Aber es musste alles in Ordnung sein! Nancy übersieht grosszügig Dreck und Nachlässigkeit.
Jorge Alex steckt bis über die Ohren in wichtigeren und sicher auch einträglicheren Arbeiten. Er hat mir jedes Mal sehr nette Mitarbeiter auf die Ausflüge mitgegeben, sei es nach Zaruma, wohin er nicht kommen konnte, sei es auf die Plantage. Auf die Plantage sogar den Supervisor, und zwei Piloten überflogen mit uns in mehr als einer Stunde Besitz und Gebiet. Bei seinen Blitzbesuchen haben wir auch etwa einen Früchteteller zusammen gegessen, nachdem ich auch einen verlangt hatte.
Nach mehrmaligen Aufforderungen und halben Einladungen habe ich heute Doña Nancy zugesagt, um 18 Uhr zu ihr in ihr Haus nach el Guabo zu kommen. Voller Stolz hat sie mir das ganze bemerkenswert grosse Anwesen gezeigt, mit den vielen Pflanzen und Blumen und vor allem ihre zahlreichen und sehr schönen Orchideen. Eigenartig. Das ganze Areal ist sicher über eine ha. gross und von einer 2.4 m hohen Mauer umgeben. Unmittelbar daran und gleich neben ihrer Villa über dem kleinen Rosengarten, erheben sich jene armseligen Häuser mit direkter Sicht in den Garten! Tja, das sind halt los vecinos, die Nachbarn meinte sie Achsel zuckend. Ein grosses Haus von schwer verständlicher, verwinkelter Architektur, mit kostbaren, schweren Möbeln überfrachtet.
Man sass ein bisschen im Salon, sie hat mir die Herkunft der zahllosen Vasen und Nippes erklärt und freute sich, dass ich die chinesische Schwarzlakierung erkannte, das Herend Porzellan, das Kristall aus Böhmen, die Eier von Fabergé (vemutlich falsche) usw. Die Gespräche waren jene Belanglosigkeiten einer Cocktailparty, ohne irgendeinen Bezug auf die Familie oder aufs Hotel. Vielleicht streifte man einmal das oder jenes, um danach schnell ein anderes, unverwandtes Thema anzuschneiden. Danach sass man in das Frühstückszimmer neben der Küche. Sie offerierte mir ein Glas Sojamilch. Am TV lief eine der Serien, die auch hier um 18 Uhr laufen, das Telefon läutete genau acht mal, sie schenkte mir zwei peruanische Figuren die ich vermutlich in Guayaquil zurücklassen werde und dann ging ich wieder.
Nie waren Paola, die nette Frau von Jorge Alex, mit ihren Kindern auf Jambeli. Möglicherweise ein Zufall. Jorge Alex sagt es auf jeden Fall so. Mir hinterlässt das einen etwas schalen Geschmack. Nie war man einmal einfach zusammen, trank ein Glas und spasste. Die Treffen mit Jorge Alex hatten immer einen geschäftlichen Hintergrund.
Bin ich zu anspruchsvoll? Erwarte ich zuviel? Ich habe ja eigentlich einen Monat gratis für die gearbeitet. Dass man mich immer und überall fragt, wann kommst du wieder, das reicht mir nicht. Im Gegensatz dazu waren die Kontakte mit den Mitarbeitern anders, erfüllender obschon auch diese ausschliesslich beruflich waren. Ist diese Gesellschaftsschicht einfach so, mit dieser ständigen Befürchtung, es könnte persönlich werden? Jorge Alex wird mich morgen mit seinem persönlichen Bodyguard in seinem Auto nach Guayaquil chauffieren lassen. Ich denke, das ist hier einfach so. Man macht das einfach nicht anders.
Eines glaube ich nicht, dass ich verletzt bin weil man mir die Ehre nicht angetan hätte. Diesbezüglich war ich lange Jahre empfindlich. Das habe ich nun doch Jahre hinter mir und dafür habe ich mich in der Arbeit selber einfach zu wohl gefühlt und mich amüsiert dabei. Offenbar bin ich noch immer ein Hôtelier unserer Generation, die von einer gewissen Harmoniesucht geprägt ist.
Samstag, 6. Juni 2009
Gepackt hatte ich schon am Vorabend, nachdem ich mir ein Filet Mignon gegönnt hatte, das hier an die 300 gr. wiegt. Nach der ausgiebigen Früchte Kur war ich schon nach weniger als der Hälfte satt.
Ich erwachte um sieben, schüttelte noch die letzten Hände. Es war rührend. Wer mir dankte, für alles was ich ihnen beigebracht hatte. Du musst wiederkommen! Und die liebe ältere ama de llaves, die Gouvernante, hatte fast etwas Tränen in den Augen. Sie reagierten deshalb so, weil endlich einmal jemand sie begleitete, anhörte, ihre Anliegen formulierte, weiterleitete und verschiedene Lösungen vorschlagen konnte.
Um 8.30 Uhr kam Young, Jorge A’s Bodyguard, brachte mich ins Büro, wo sein sich Chef und Socrates, der fröhliche, blitzgescheite Direktor der Getränkefabrik zum Abschlussgespräch einfanden. „Nachdem deine Eltern das Hotel auf keinen Fall schliessen wollen, seid Ihr zu investieren verdammt. Oder willst du, dass es heisst, das schmuddeligste Haus am Platze sei jenes der Serranos? Oder was Gott verhüten möge, bei einem Brandfall Leute drinn verbrennen nur weil die Serranos keine Feuerausgänge und Löschstränge installiert haben?“ Herzliches gegenseitiges Verdanken, ein letztes Foto der beiden für welche Socrates schnell seinen prominenten Bauch einzog. „Socrates, meine Kamera ist plötzlich so schwer! Wenn ich wegen dieser Aufnahme beim Rückflug Übergewicht bezahlen muss, schicke ich dir die Rechnung!“ Lachen, Umarmen, Abreise.
„Wir kommen jetzt in Guayaquil an. Die Stadt ist ziemlich gefährlich“ meinte Young und legte seine entsicherte Pistole in Griffnähe. Ich weiss das aus den Nachrichten am TV. Täglich sah ich sie mir an, den ich ass immer alleine. Unglücksfälle und Verbrechen, das absolute Lieblingsthema der Ecuadorianosund zu 90% aus dieser Stadt, flimmern täglich in aller Deutlichkeit über die Tische der Cafetería las Tejas“, wie das Restaurant im Orohotel heisst. Guayaquil ist etwa so wie New York in den 50er und 60er Jahren, lange vor Rudi Giulianis Einzug als Mayor der Stadt.
Im Zentrum vergisst man das schnell: „Willkommen zurück in der Zivilisation!“ sagte ich mir beim Anblick der Bäume und Blumen, die hier die Strassenseiten trennen, beim Anblick von schönen Schaufenstern, vom Rathaus, dessen Galerie an jene von Vittorio Emanuele in Mailand erinnert und von Eiffel entworfen wurde. Das Hotel Continental, Hilton artig, wo alles stimmt aber ohne übertriebenen Luxus, mit einem angenehmen Arbeitsplatz im Zimmer an welchem ich diese Zeilen jetzt eintippe, Guest amenities von internationalem Flair, einfach herrlich!
Ein schneller Lunch und ab auf den Malecon, die schicke Promenade entlang der Küste. Wenn man von dort auf die weite Bucht hinaussieht, verspürt man sofort die Weltoffenheit dieser Stadt. Hier landeten die Spaniervor 500 Jahren . Seeräuber und Korsaren fielen hier ein, finanziert von Spaniens Gegenmächten, die sich damit ebenfalls ein Stück vom fabelhaften Goldschatz und vom Kakao holen wollten. Dieses historische Bewusstsein verdrängen auch die modernen Hochhäuser nicht. Weltläufigkeit vermitteln einem die vor gelagerten Inseln. Malerisch versperren sie den Blick aufs offene Meer und regen damit die Sehnsucht nach der weiten Welt erst recht an. Mir will scheinen, als wären diese langgezogenen Inseln Guayaquils Bikini…
Sonntag, 7. Juni 2009
Die Heimreise, die näher rückt macht es, dass ich wieder ins Deutsche zurückfalle. So sehr mich Guayaquil begeistert und ich den Besuch hier keinesfalls missen möchte, ich freue mich nun sehr, wieder zu Hause zu sein.
Über Mittag war ich im Parco historico, einer Art städtischen Ballenberg Museums, eingebettet in die Botanik Ecuadors. Eine geschickte PR Aktion des Banco Central del Ecuador, der sich die Unterstützung sämtlicher Museen und die eigene Entwicklung einiger eigenen zur Aufgabe gemacht hat. Die 34° machten mich nicht sonderlich unternehmungslustig. So genoss ich hauptsächlich den Tropenwald, in welchem zahlreiche Tierarten, die alle mehr oder weniger bedroht sind, in einer Art Zoo gehalten werden. Grossbürgerliche Häuser, die früher am Malecon standen und durch Hochhäuser ersetzt wurden, sind dort wieder aufgebaut worden wie jenes des Dr. Coronel, dem Begründer der medizinischen Fakultät von Guayaquil. Ebenso das Hospicio welches, man höre und staune, im Zuge des frühen Kapitalismus soziale Aufgaben erfüllte.
Zwei Stunden in der Hitze reichten mir. Mein Taxi fuhr mich ins Hotel zurück, wo ich eine Stunde tief schlief und danach den Expreso de Guayaquil las. Für den Abend hatte ich mir den Cerro St. Anna und La Peña vorgenommen, ein Hügel am Ende des Malecons, an dem farbige Häuser kleben und wo sich viele sehr einfache touristische Restaurants befinden.
Auf der obersten der der nummerierten Treppenstufen angelangt, genau an der 437. begann ich mit meiner Minikamera zu fotografieren sobald ich mich an die überwältigende Aussicht gewöhnt hatte. Plötzlich fand ich mich von vier Gassenjungen umrahmt. Ich erinnerte mich der Erzählung von Nancys Freundin, welcher ein solcher Junge die Ohrringe abgerissen hatte, als sie am Rotlicht wartete um die Strasse überqueren zu können.
„Nun, wir werden schon sehen wie das ausgeht“ sagte ich mir und zeigte ihnen geduldig die Aufnahmen, beantwortete die Fragen zur Kamera, woher ich sei und wo denn die Schweiz überhaupt sei usw. Sie begleiteten mich bis ganz hinauf zum Faro.Mit wachsender Begeisterung erklärten sie mir die verschiedenen Stadtteile. Staunten, wie man auf der Aufnahme den Mond zu sehen bekam, der fürs Auge noch von Wolken verdeckt war. Kevin,der Gescheiteste und mit 14 Jahren auch der Älteste von allen, zeigte sich aufgeweckt und von sehr guten Manieren. Er liess mir immer den Vortritt, erzählte, dass seine Mutter in Spanien arbeite und er bei seiner abuela,der Grossmutter aufwachse. So nett und unschuldig es war, mir wird bei derartigen Gelegenheiten immer mulmig zu Mute, als Pädophiler verdächtigt zu werden. „Habt Ihr Lust auf ein Eis? Ich möchte nun langsam zurück.“ Ich kaufte vier an einem Kiosk, verabschiedete mich indem ich ihnen empfahl, unbedingt Englisch zu lernen. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass natürliche Freundlichkeiten nicht möglich sein sollen, nur weil einige Verkorkste und krank Veranlagte Missbrauch betrieben.
Sie würden auch nach Hause gehen und mich noch ein Stück weit begleiten meinten sie und so war mein erster Versuch gescheitert, mich von ihnen zu befreien. Sie waren zu freundlich und zu neugierig, um sie einfach weg zu schicken. Vor dem IMAX meinte Kevin treuherzig, dass sie noch nie in einem Kino gewesen wären.
Im Geiste hörte ich schon Margots warnende Stimme, wie lange ich mich wohl noch ausnehmen lassen wolle und überhaupt, dass ich mich nur zu solch übertriebenen Gesten hinreissen lasse weil ich zu schwach sei, nein zu sagen und es offenbar noch immer nötig habe, mich als Gutmenschen wenn nicht gar als Benefactor feiern zu lassen.
„Warum soll ich ihnen den Eintritt nicht bezahlen? Antwortete ich ihr im Geiste, als ich die Billete löste.“ Die insgesamt $14 entsprechen doch gerade Mal dem, was ein anständiger Christ bei der Sonntagsmesse in den Opferstock gibt, oder? Im Übrigen: sähe die Welt nicht besser aus, wenn alle, die es sich leisten können, denjenigen denen es weniger gut geht etwas entgegen kommen würden?“ Margots Geist verstummte und die vier dankten es mir mit einem herzlichen Händedruck. „Cuidadote! Pass gut auf dich auf, verlass den Malecon nicht. Hier hat’s überall Polizei und so kann dir nichts passieren!“
Zu Mittag hatte ich nur einen platano asado, eine gegrillte grüne Banane gegessen und in Glas Maracuya dazu getrunken. Ich verspürte Lust auf ein schönes Dîner. Der Yacht Club war geschlossen. Im Grillroom des Hotels hatte es sechs Gäste. Die drei Gänge mit zwei Gläsern Chardonnay kosteten $ 63. 25% mehr als der Wochenlohn eines Arbeiters auf den Bananenplantagen. Ich habe es genossen.
Montag, 15. Juni 2009
Je suis bien rentré, après un vol agréable, malgré la durée exagérée du voyage: Parti de l’hôtel Quito à 6h du matin, rentrée à Minusio à 10 h du lendemain. Déduction faite du fuseau horaire, cela fait exactement 21 heures…
Quelle sont les conséquences que j’en tire, avant même d’être remis du jet lag ?
Tout d’abord, que l’absence de distractions de tout genre m’a fait du bien. C’est ce qui m’a permis de me concentrer sur ce qui se passe effectivement et sur ce qui ne se passe pas. De décrire ce que je ressentais, dans mon alcôve isolée. De châtier mon écriture. Vus les échos des nombreux amis « qui j’ai fait bénéficier de ces effusions » cela semble m’avoir réussi. Je ne me suis point ennuyé et, j’ajouterais non sans surprise, étais surpris de la bonne compagnie que je tenais à moi-même. Surpris aussi de l’exigence envers les femmes. Un joli visage et le corps bien moulé ne me suffisaient plus. La tête, ce qu’il y a dedans, voilà ce qui me faisait du bien. Combien me semble loin le temps où mes aspirations allèrent surtout vers un confort sentimental !
Être défié dans tous les sens par ma mission fût une cure de jouvence. La problématique fût aussi complète que complexe, dans une langue que je ne maitrise pas comme le français ou l’italien, et d’une mentalité et de niveaux d’instruction souvent différents. Avec tout ceci venir à bout dans ces quatre semaines. Je pense avoir bien réussi et en suis content.
Ce qui m’a manqué ? Peut-être le temps pour mettre en pratique ce que nous avions élaboré tous ensemble. Il est bien naturel que la confiance s’était établi dans l’esprit et le cœur des employés seulement après trois semaines. C’est là qu’ils on commencé à s’ouvrir, à se confier. Il m’aurait fallu deux autres semaines pour mieux entrainer les standards, accompagner chacun, du moins les cadres, les encourager encore plus à réaliser leurs nombreuses bonnes initiatives et de prendre les responsabilités qui en découleront. De faire les efforts nécessaires de la capacitación, d’apprendre l’anglais ! Jorge Alex, le fils de propriétaires, est maintenant mûr et préparé pour les changements qui s’imposent et, me parait-il, disposé à honorer ceux qui se mettent en avant.
En ce qui me concerne, je suis heureux et reconnaissant pour ce défi. Physiquement je me sens en très bonne forme. Je suis de nouveau en dessous des 75kgs fatidiques, ma pensée est plus rapide, décisive qu’avant mon départ. C’était bien. Merci, sort, ange gardien ou qui m’a guidé vers l’Ecuador : tu as bien fait les choses !
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5. Reise 2012: Kiew, Kahrkov, Lvov. 16. November – 1. Dezember 2012
Samstag, 17.11. 6 Uhr
Eigentlich ist es ja schon 7 Uhr. Man geht eine Stunde vor hier. Gut hatte ich geschlafen, döste aber bereits eine gute Stunde vor mich hin. Jene Unruhe erfasst mich wie jedes Mal vor etwas Unbekanntem. Jenes Unbekannte, wofür ich diese Mandate ja immer wieder antrete.
Dabei bin ich hier noch nicht auf terre inconnue. Eveline, die Sekretärin der belgischen Botschaft hat mich und Oksana in ihrer Wohnung willkommen geheissen, wie immer, wenn ich in die Ukraine komme und in Kiew bin. Oksana ist nun eine Assistentin der Swisscontact Verantwortlichen für das Land. Bei ihrer Familie wohnte ich bei meinem ersten Mandat, 2006, in Bar, Vinnitsa. Wir sind immer im Kontakt geblieben und einmal hatte ich die beiden für eine Woche ins Tessin eingeladen, 2008 war es, glaube ich.
Sie haben mich gestern am Flughafen abgeholt, Borscht, Pielmeni und eine Apfeltorte zum köstlichen Abendessen zubereitet wofür sie lange in der Küche gestanden sind, die Lieben. Wir haben einige Fotos angesehen, von Oksanas neuem Haus, das sie 2009 mit ihrer Familie, unweit von Bar bezogen hat und seither daran herum werkelt. Jenes von Evelines, das sie für ihren Ruhestand in 7 Jahren ausbaut und renoviert. Beide wohnen in der tiefsten Provinz, Eveline etwa 150km von Kiew entfernt. Der nächstgrössere Ort ist 7km von Evelines Haus entfernt. Es soll eine gute Klinik dort geben und alles, was man halt so braucht.
Neuntausend Euros hat Eveline dafür bezahlt und investiert nochmals etwa fünfundzwanzig Tausend bis sie es ihren Wünschen entsprechen wird. Ihre Absicht ist es, den Sommer über hier und im Winter in Belgien zu leben. So komme sie mit ihrer Rente, die klein sein würde, besser zu Recht. Ihr Beruf der Botschaftssekretärin wurde vom Staat Belgien aufgehoben, wie in allen Nationen. Diese Funktionen werden nun von Einheimischen zu günstigeren Konditionen ausgeführt. Wohin das führt, haben wir in der Schweiz vor einigen Jahren erlebt mit den Visas, die nun eben korrupt gehandelt werden. Doch das ist eine andere Geschichte.
Eveline hat die letzten 2 Jahre in der belgischen Botschaft von Moskau gearbeitet, ist seit Juli zurück und richtet ihre einfache Wohnung mit Geschmack ein. Frisch, welterfahren und etwas studentisches hat das Ambiente. Eveline ist alleinstehend. Nie hatte sie die Absicht gehabt zu heiraten. Als Kind der dritten Generation wohlhabender Fabrikanten musste sie miterleben, wie ihre Eltern ihr Vermögen verprasst und eine miserable Ehe geführt hatten, wo Alkohol, Spiel und Prügel den basso continuo bildeten. Ob sie deshalb so wenig auf ihr Äusseres legt und gelegt hat, seit ich sie kenne? Sie hat etwas alternatives an sich, modefeindliches. Dabei könnte sie sich sehr gut präsentieren, wollte sie das.
Oksana hingegen ist mit einem schönen und liebenswürdigen Faulpelz verheiratet. Ihre Familie habe ich schon früher beschrieben. Die Kinder sind wohl geraten, Vannja studiert Forstingénieur und hat noch immer das Kochen zum Hobby, Vassilina arbeitet als Fremdenführerin in Tschernobyl.
Es ist grau und neblig draussen. Margot hatte möglicherweise doch recht, mich nicht zu begleiten. Es ist nicht die gute Jahreszeit. Die Wohnung liegt im dritten Stock und gibt auf die Baumkronen einer grossen Grünfläche hin, einziges Vis-à-vis ein Hochhaus etwa 500 m entfernt, die anderen Wohnhäuser sind niedrig und rahmen diesen Park rechteckig ein.
Wir sind am Abend mit gemischten Erwartungen in die Oper gegangen. Ein modernes Ballett, vom Komponisten dirigiert. „Wenn's uns nicht gefällt, gehen wir nach der Pause“ meinte Eveline. In der Tat hat es uns nicht gefallen; wir waren hingerissen! Der 75 jährige Miroslav Skorek war schon in sowjetischer Zeit ein anerkannter Komponist, mit zahlreichen Auszeichnungen. Sicher gehört seine Musik nicht zu der progressivsten, doch welch schöne Harmonien gehen in zeitgemässe Tongebilde über und zurück, in seinem Stück „Carrefours“, Wegkreuzungen. Das Bühnenbild wurde projiziert, mechanische Drucke von Schnüren aus dem 19 Jh, schlicht und grossartig, dessen Wirkung von den Tänzern noch überboten wurde. Wie sich herausstellen sollte, ist Miroslav Skorek der Cousin von Olgas Vater Jaroslav.
Dem Wetter zufolge verspürten wir wenig Lust, nach einem Restaurant oder Kaffee Ausschau zu halten, soupierten gemütlich und einträchtig zu Hause. Sonntags kurzer Besuch in einem Kloster, wo die innbrünstig Gläubigen eine Ikone aus Moskau verehrten, die hier für einen Monat ausgestellt wird, Mittagessen in einem russischen kleinen Restaurant und ab nach Kharkov.
Donnerstag, 22. November 2012: Willkommen in Kharkov!
„Ob die schon 25 ist?“ fragte ich mich, als sich am Samstag, 17. November, ein blondes, luchsartiges Geschöpf im riesigen, leeren Flughafen auf mich zu bewegte, wo gerade mal sechs Flugzeuge standen. Bei ihrem Anblick dankte ich sofort meinem Schutzengel für all die Jahre die er mir gegeben hatte. Ich wagte mir nicht nicht vorzustellen, was passierte, wäre ich nur halb so alt wie jetzt gewesen.
„Anna Viktorovna Larina. Ich heisse Sie, Gospodin Jürg Thommen, in der Ukraine herzlich willkommen“. Nach Austausch recht formeller Begrüssungsfreundlichkeiten wies sie auf ein grösseres, Schuppenartiges Gebäude hin: So sei es vorher gewesen, erklärte sie. Den Flughafen habe man speziell für die Fussball Europameisterschaften gebaut.
Sie fuhr mich in ihrem Range Rover in die Stadt, die die zu Sowjet Zeiten das Rüstungszentrum der UDSSR war. Ich erwartete eine Industriebrache, die ihre Bestimmung sucht. Was für eine Überraschung: breite Avenues wie in Paris, die stalinistischen Prachtbauten kommen in der grossen Weite toll zur Geltung. 30 (dreissig!) Universitäten gibt es hier, 80 Bibliotheken, 7 Theater und zahlreiche Museen. Die Stadt ist voller junger Menschen, welche über riesige Plätze schlendern, von denen jener der Freiheit der grösste auf dem europäischen Kontinent sein soll.
Anna Victorovna Larina ist einunddreissig und führt ihr Geschäft, Elite Time, selbständig seit 2006: Vermietung von nunmehr ca. 80 möblierten Wohnungen, Übersetzungsdienste und ein Reisebüro im Aufbau. Ja, die Organisations-probleme im Betrieb seien gross, meinte sie auf meine Frage nach der geschäftlichen Entwicklung seit unseren ersten Mail Kontakten. Dabei ging es um das Buchungssystem: Jede Assistentin betreut „ihre“ Kunden, die dann auch rund um die Uhr anrufen, während 7 Tagen die Woche. Der Bonus einer jeden ist abhängig von der Anzahl der Reservierungen, was eine Vertretung untereinander verunmöglicht. Zum andern sind Organisation und Kontrolle der Reinigungsfrauen der Wohnungen zu verbessern, welche verstreut über die riesige Stadt liegen.
Im Vergleich zu dem was aber jetzt anstehe, seien jene Probleme zu ihren liebsten geworden. Wären die Ereignisse nicht so kurz vor meiner Anreise passiert, hätte sie meinen Besuch abgesagt: Man wolle ihr ihr Geschäft wegnehmen! Ein früherer Geschäftspartner, der ihr damals drei Wohnungen zur Vermietung überlassen hatte, war zur Ansicht gekommen, dass dies nicht ein Geschäft für eine Frau sei und er die Aktien übernehmen würde. Im Oktober hatte sie das Ansinnen abgewiesen und die Beziehung abgebrochen, die, wie ich später hören sollte, eben nicht nur geschäftlich war. Wie viel er denn dafür geboten habe? „Ach, ich dachte, Sie kennen die Ukraine, Gospodin Thommen? Hier bezahlt man nicht. Hier nimmt man“.
Vor zwei Wochen seien plötzlich Polizeibeamte in ihren Büros aufgetaucht und hätten wegen Steuerhinterziehung grosses Aufheben gemacht. Die ersten „Besuche“ konnte sie mit 1000 US$ beilegen. Einige Tage später kamen andere und dann noch andere, die sie ebenfalls mit Geld abzuspeisen vermochte. Die letzten aber hätten sie und drei ihrer Assistentinnen an Handschellen während Stunden im Konferenzzimmer eingesperrt, das Büro komplett durchsucht und durchwühlt.
„Haben Sie in der Stadtverwaltung nachgefragt was da los sei oder wenigstens einen Advokaten beigezogen?“
„So einfach ist das nicht. In der Stadt weiss man nie, wer mit wem verbandelt ist. Gott sei Dank habe ich in Kiew Beziehungen. Man wird dort im Zentralregister nachforschen, ob effektiv was da dran ist.
Anna Victorovna war all die Tage sehr angespannt. Am Mittwoch dann eine erste Erleichterung. In den Straf- und Suchregistern habe man nichts ist gegen die Elite Time gefunden. Doch solle man den schriftlichen Bericht abwarten.
Ich bin heute Freitag, 23. November gegen 10 Uhr ins Büro gekommen, nachdem ich zu Hause das Motivations-meeting für Anna und ihre sechs Assistentinnen in groben Zügen für den Nachmittag vorbereitet hatte.
Auf Annas Büro lag die definitive Bestätigung, dass die Steuerbehörden keinerlei Untersuchung veranlasst hätten. Die Damen konnten aufatmen und waren leicht fürs Geschäftliche zu motivieren! Die vergangene Woche war ja so was von anstrengend; der Verursacher der Aufregung war offensichtlich ihr ehemaliger Partner, die Durchsuchung der Büros sein „coup monté“.
„Kein Gericht wird wegen Steuerhinterziehung klagen, denn wir hinterziehen alle. Wollte man dieses Vergehen ahnden, müsste man alle Ukrainer einsperren!“ meinte Anna. Nun sind alle beruhigt. Für dieses Mal. Nie ist es eine Garantie auf immer. Zu viele sind es, welche die Rechtsunsicherheit zu ihren Gunsten ausnützen wollen.
Anna wird am Montag Nachmittag für die Woche nach Dnjepropetrowsk fahren, wo sie einen Managementkurs absolviert. Sie meinte, meine Präsenz sei während ihrer Abwesenheit besonders wichtig. Ich würde Ruhe bringen, bei gleichzeitiger Erarbeitung der Verbesserungsvorschläge.
Nettes Abendessen mit der zuckersüssen Nastassja, ihrer 6 jährigen Tochter Annas, nach einem kurzen Besuch im Skrovorni Kloster. Auf den Besuch im Park verzichtete ich, nicht zuletzt weil ich nicht einsah, was es wohl in dunkler Nacht in einem Park zu sehen gäbe.
Am Montag 18.11. 2012 vormittag
hatte sie mich ihrer Ex-Schwiegermutter, Dozentin für Architektur für eine Stadtführung anvertraut. Interessanter Morgen, obschon ich kaum die Hälfte verstanden hatte, da Tatjana nur Russisch spricht. Business lunch und Hotelbesichtigung im Kharkiv Palace, extra für die Fussball Europameisterschaft gebaut. Elegant, standardisierter, durchgezogener Luxus in Mahagoni-braun. Zimmer 160 – 300 €, die Suiten bis 500. Ein drittel unserer Zimmerpreise in der Schweiz, die sich bei der gegenwärtigen Belegung sicher noch diskutieren lassen würden. Am Nachmittag Besichtigung einiger weiterer Wohnungen von Elite Time. Ich war aufs erste mit meiner Unterkunft nicht allzu glücklich hier. Die anderen Logis sind zwar schöner, befinden sich aber in Häusern mit noch schäbigeren Treppenhäusern und vom Büro zu weit entfernt. Hier muss ich nur über die Strasse.
Abends übergab mich Anna Viktoria, der Assistentin für den Aufbau ihres Reisebüros, die sich auf netteste Art ihrer Aufgabe entledigte: Der Gorki Park ist eine Art Tivoli mit einer Chilbi, die einen guten Teil derjenigen unseres Knabenschiessens ausmacht. Sogar mit einer elektrischen Schmalspurbahn, die Wagen in etwa halber Grösse jener der Rhätischen Bahn! Wir blieben nicht sehr lange. Die Kälte entmutigte die Kharkiver es uns gleich zu tun.
Dienstags 19.11.2012
Sitzung am Vormittag mit dem Zuständigen für den Unterhalt und Besuch weiterer Wohnungen um einen Eindruck des Angebots von Elite Time zu haben. Abends Sitzung mit dem Programmierer der neuen Website, welcher offensichtlich sachverständig ist. Dank dem Studium von Martin Küttels Leitfaden und cd ist mir klar, was es für eine touristische Website braucht.
Die Besprechungen werden laufend unterbrochen durch Handy Anrufe. Die Kunden sind alle auf „ihre“ Assistentin fixiert, deren Bonus von der Anzahl der Reservierungen abhängt, sodass man es sich nicht erlauben kann, nicht zu antworten. 7 auf 7 Tage. 24 auf 24 Stunden. Trotzdem verlieren die Frauen den Faden der Sitzung nie. Wer schnell rausgeht, springt danach sofort wieder auf den fahrenden Zug. Alle 6 Frauen haben einen Master Universitätsabschluss, sind rasch im denken und handeln. Sie sind in den zwanzigern und kommen alle von der gleichen Uni, die Anna durchlaufen hat. Unkompliziert, charmant, klug, hübsch. Kokett sind nur Olga, Jana, Natalja. Natascha und Nadeshda sind es nicht. Und Nina Alexandrovna die Hauptbuchhalterin ist gut über fünfzig. Sie schon gar nicht. Alle begegnen ihr mit Respekt, was sich schon darin äussert, dass sie mit ihrem Patronym Alexandrovna angesprochen wird, dem Vornamen ihres Vaters. Wäre ich von hier, würde man mich mit Jürg Ernestovitsch anreden Patrick mit Patrick Jürgovitsch und Claudine mit Jürgovna.(Oder Jürgovitschova?)
Was den anderen Damen an Koketterie abgeht, kompensiert Anna Victorovna allemal: Langgliedrig, Luchsartig, mit schön geschwungenen Lippen, herrlich gewölbtem Busen kleidet sie sich sehr modisch und sorgfältig. Hätte ich die Hälfte meines Alters wäre ich dieser blitzgescheiten Schönheit möglicherweise total verfallen. Mein heutiges aber erlaubt mir einen zweiten Blick. Dieser zweite Blick offenbart, dass da nicht alles von der Natur geschenkt wurde und meine Bewunderung für all die Schönheit zur Hälfte dem Chirurgen für sein ausserordentlich hohes Können zusteht. Ob mir es gefallen hätte, dass sich Margot nachhelfen liesse? Wohl kaum. Aber ich schmunzle ob der täglichen Modeschau.
Alle diese Frauen haben ihr Schicksal: Tatjanas Mann verliess seine Frau und Kind, zahlte keine Alimente, klaute ihr Auto und brannte durch. Er wurde geschnappt und sass ein. Beim Rauskommen bat er seine Frau, die Klage zurück zu ziehen, er würde die Alimente bezahlen. Was sie tat und er nicht. Die Hälfte ihres Salärs von 1000€, was für die Ukraine sehr hoch ist, braucht sie für die Miete. Mit dem Rest muss sie sich und das Kind durchbringen.
Jana wurde von ihrem Freund sitzen gelassen als sie schwanger war. Natalja hat auch ihr Kreuz, doch erinnere ich mich nicht mehr genau daran. Annas Eltern waren beide Musiklehrer und verdienten zusammen 400 €. Davon gingen immer 100 auf die Seite um Sohn und Tochter das Studium zu erlauben. Ihr Bruder ist Elektroingenieur, glücklich verheiratet mit zwei Kindern. Sie beide haben es geschafft.
Maxim, Annas Ex, ist Architekt. Als sie heirateten, war er arbeitslos und als er nach einem Jahr etwas fand, hatte er keine Lust zu arbeiten. Er begann, wenn auch moderat, langsam zu trinken. Als nach drei Jahren die Tochter geboren wurde fand er die Umtriebe zu anstrengend für ihn und zog zu Mamma zurück. Nach acht Jahren reichte Anna die Scheidung ein und erst als Maxim alleine war, begann er wieder Sport zu treiben, hörte auf zu trinken und ist heute erfolgreich. Sie sind wieder gut befreundet, Maxim hilft Anna wann immer nötig, aber die Liebe sei gestorben, meint sie.
Bis jetzt entwickle ich meine Verbesserungsvorschläge weitgehend alleine, informiere zwischen zwei Türen und hole mir die Bestätigung, auf dem rechten Weg zu sein. Alles ist immer im Fluss, zwischen zwei Türen, Besuchen oder unterbrochenen Besprechungen. Und trotzdem, die machen's gut! Vermutlich werde ich mir eine Gouvernante aus der Schweiz holen müssen um die femmes de ménage einzufuchsen. Wir werden sehen.
Samstag, 24. november 2012
Es ist 17.30 Uhr, ich bin etwas erschöpft. Nicht müde, das ist etwas anderes, körperliches. Ich bin es geistig. Dabei bin ich ja ganz allein, ohne jeden Druck. Und trotzdem. Ich brauche erstaunlicherweise etwas Ruhe.
Ich bin heute gegen 10 Uhr ins Büro gegangen, nachdem ich zu Hause das meeting in groben Zügen vorbereitet hatte, um Anna und vor allem ihre Damen wieder etwas zu motivieren. Anna wird am Montag Nachmittag für die Woche nach Dnjepropetrowsk fahren, wo sie einen Managementkurs absolviert. Die Woche war ja recht anstrengend, erst gestern traf die definitive Bestätigung ein, dass mit den Steuerbehörden wirklich nichts sei und die Damen aufatmen konnten. Für dieses Mal. Nie ist es eine Garantie auf immer. Zu Viele sind es, welche die Rechtsunsicherheit zu ihren Gunsten ausnützen wollen.
Es gab auch hin und wieder Geschrei in den Büros. Die Oktoberlöhne sind auch noch nicht bezahlt. Die Ukrainerinnen sind schön, aber ziemlich schnell giftig. Das legt sich dann wieder sehr schnell und man macht weiter, ein Herz und eine Seele. Man sagt ja, die Ukrainer wären die Italiener des Ostens. Etwas scheint schon dran zu sein.
Na ja. Vor der gewünschten Sitzung hatte ich von Anna verlangt bekannt zu geben, wann ihre Mitarbeiterinnen ihr Geld sehen werden. Sonst ist die Motivation schwierig. „Senza soldi, l'amore non si fa.“ Hat internationale Gültigkeit.
Russisch mache ich überhaupt keine Fortschritte: Anna und Olga reden nur französisch mit mir, denn jetzt haben sie ja endlich wieder die Möglichkeit, es mit jemandem zu praktizieren. Nächste Woche wird's dann in sprachlicher Hinsicht besser. Ich bedaure, dass ich Anna nicht mehr sehen werde. Sie ist intelligent und lustig. Wir essen täglich miteinander zu Mittag im Restaurant, dass sich im Parterre des Bürohauses befindet. Würde ich mit ihr in einem Schweizer Restaurant auftauchen, würden alle verstohlen nach uns blicken, aha, der Alte hat aber ein attraktives Häschen. Hier kümmert das niemanden.
Sie hat mich zum Mittagessen zu sich nach Hause eingeladen, für 14 Uhr, und mich gebührend vor ihren Kochaversionen gewarnt. Kurz vor zwei verschob sie dann nochmals um eine Stunde. Das erlaubte mir, den Rapport fertig zu stellen, der eigentlich für Ende nächster Woche vorgesehen ist. Sie liest ihn jetzt bis morgen, und wird mir dann sagen, wo sie Vertiefung wünschst.
Es war lustig. Viktor, ihr Vater war da. Siebenundsechzig. Ein verbrauchter, alter Mann, der seit Annas Scheidung zu der Tochter Nastassja sieht. Maxim, ihr Ex, verbringt jedes Wochenende mit seiner kleinen Tochter. Die Kleine war furchtbar schüchtern. Als sie aber die zwei Tafeln Schokolade sah, war alle Schüchternheit weggeblasen, sie sang und tanzte zu Grossvaters Klavierspiel. Nach anderthalb Stunden ging Anna ins Fitness, Maxim und Nastassja blieben noch ein wenig, gingen dann spazieren. Viktor spielte für mich. Beethoven, Jazz und Chopin. Musiklehrer war er und spielt auch heute noch gut. Viktor hinkt, scheint an Ischias zu leiden, sodass er mich nicht wie vorgesehen zurück begleiten konnte. Doch Anna kam bereits nach einer halben Stunde wieder und fuhr mich nach Hause. Ich bedankte mich für ihr Angebot, etwas für mich heute Abend zu arrangieren. Ich bin ganz gerne alleine. Es war schön, in eine ukrainische Familie eingeladen worden zu sein. Sie wohnen auf 50m2 ca., im Hochparterre eines Blocks, der mit drei anderen gleichartigen Gebäuden eine Grünfläche von ca. 50 x 50 m mit Bäumen, einen grossen Kinderspielplatz und wenige Parkplätze einschliesst.
Anna wirkt unruhig. Dieses Kommen und Gehen. Sie will es beruflich unbedingt schaffen und schaffen heisst für sie, in der schönen Welt Einzug halten. Jene der Journale. Lifestyle. Hin und wieder redet sie mit dem französischen, gutturalen R. Warum das alles? Warum hat sie sich bloss unters Messer eines Schönheits-Chirurgen gelegt? Ich vergesse immer, dass sie erst einunddreissig ist. In diesem Alter sind auch die Frauen noch nicht gefestigt. Wenn ich an meine einunddreissig Jahre denke! An den Sprung in die schöne Welt des Cap d'Antibes-Eden Roc...
Ich wärme mir zu Hause meinen potage bonne femme, Lauch und Kartoffeln, esse etwas Wurst und Käse, trinke ein Bier. Vielleicht etwas TV. Wenn mir die lokalen Sender nicht zusagen, kann ich alle Sender der Welt auf dem Laptop abrufen. Etwas frisch ist es hier. Achtzehn Grad vielleicht, trotz warmen Heizkörpern. Werde mir noch ein paar Turnschuhe kaufen und morgen im Laufe des Tages ins Fitness gehen, welches sich im Bürohaus geradezu anbietet.
Sonntag, 25. November 2012
Anna kam mit Nastassja gegen halb elf ins Büro. Heute Brunette, mit mêches. Sie installierte die Tochter in ihrem Büro, wo sich die Kleine einige Trickfilme ansah und sich still hielt. Sie gab mir Karten fürs Ballett, die sie besorgt hatte und wohin mich ihre Schwiegermamma begleiten wird. Schon als sie das vorschlug hatte ich bestimmt, die Billette zu bezahlen. „Nichts da, Sie sind unser Gast.“ Nach Dank und den Höflichkeitsbezeugungen für gestern begannen wir zu arbeiten.
Sie hatte meinen Rapport gelesen. In vielem sind wir uns einig. Die Oktober Saläre seien bezahlt und auch das Fixum von November. Das wird die Sitzungen mit den Damen erleichtern.
Danach gingen wir zum Mittagessen. Das heisst, warten Sie schnell....So. Jetzt gehen wir, komm, Nastassjunka die sich schon länger langweilt und noch immer ruhig ist. Was meinen Sie, Viktoria? Entschuldigen Sie mich einen Augenblick Jürg...
Ich hatte der Kleinen ihre Jacke angezogen und wir warteten zu zweit. „Aaaaannaaaaa, rief ich fröhlich und laut durch die Büros. Aaaaannaaaa, wiederholte ich klagend. Schlussendlich holte ich sie weg von ihren Gesprächspartnerinnen und wir zogen los. Wiederum in jenes traditionelle Lokal, wo wir zum ersten Mal waren. Die Küche ist dort ausgezeichnet. Auf dem viertelstündigen Weg dorthin klingelte das Telefon zwei Mal und zweimal musste sie dringend und nur ganz schnell anrufen. Nastassia sass ruhig im Fond und guckte umher. „Ich reise ja morgen und möchte heute Abend noch meine Manicure besorgen. Meine Manicure ist leider unerreichbar.“ Ich wusste nicht, dass man nur frisch maniküriert einem Managementkurs teilnehmen konnte, ignorierte das und scherzte mit Nastassja ein wenig.
„Wann und wieviel Zeit verbringen Sie denn mit Nastassja?“
„Oh fast jeden Abend.“
„ Und was spielt Ihr denn so?“
„Spielen? Die Aufgaben machen wir zusammen. Ich kann nicht spielen. Lese Ihr ein Geschichtchen bevor ich sie ins Bett bringe. Und dann eben am Sonntag, Sie sehen ja“
„Ich dachte, die Wochenende wäre Maxims Tage.“
„Wir wechseln uns ab. Ergänzen uns, sozusagen.“
Im Restaurant war niemand als wir gegen 14.15 Uhr eintrafen, man machte ihr den erwartet grossen Bahnhof. Sie war ja einmal Teilhaberin davon gewesen.
„Sie sind mein Gast (bin ich schon von Vertrags wegen) und müssen sich meinen Bestellungen fügen. Ich habe ein ukrainisches Menu zusammen gestellt.“
Natürlich Borschts und Pielmeni, jene dicken, Ravioli ähnlichen Teigtaschen, je eine Sorte mit Kartoffeln und Pilzen, Kohl, Fleisch und Frischkäse und die ich seit meiner Ankunft schon drei Mal gegessen hatte. „Ich hätte dasselbe gewählt, ma chère. Sie erraten meine Gedanken! Gerade als ich heute morgen meine Schuhe anzog und mir sagte, dass ich die halbhohen umsonst mitgenommen habe, riefen Sie mich an um mir zu sagen, dass es draussen schneie. Sie sind ja geradezu gefährlich, wie Sie meine Besorgnis des Moments erraten!“
Nastassja war installiert und das Telefon klingelte. Es sollte noch dreimal klingeln während dem Essen. Als sie dann ihr notebook hervorholte um schnell die heutigen Reservationen durch zu sehen, ging Natassjonka gesättigt vom Tisch um nach der Musik zu tanzen, die aus dem Flachbildschirm quoll.
„Anna, die Zeit die Sie mit Ihrem Kind verbringen, oder eben nicht verbringen, ist das Einzige im Leben, dass Sie nie mehr nachholen können. Der heutige Morgen ist vergangen, gleich wie die sechs Jahre Ihrer wirklich süssen und lieben Tochter.“
„Ja schon. Und das Geschäft? Ich muss doch arbeiten!“
„Natürlich müssen Sie das. Wie wir alle. Aber nicht NUR arbeiten. Was ich am Meisten bereue in meinem Leben ist die Zeit, die nicht oder unaufmerksam mit meinen Kindern verbracht habe. Es ist Gott sei Dank trotzdem noch gut gekommen. Wenn wir im Geschäft zurück sind, zeichne ich Ihnen den Lebenskreis. Er ist in 6 Teile aufgeteilt, die sich ausgleichen müssen: Arbeit – Familie (und Ihr ich) – Gesundheit – Finanzen – Öffentlichkeit – Spiritualität & Ethik. Sie können wohl zeitweise den einen oder andern Aspekt mehr betonen, danach aber müssen Sie wieder einmal ausgleichen sonst rächt sich das.“
Ein anderes Telephon ersparte ihr das Eingehen auf meine Argumente. Spontan kam mir Diego Glaus in den Sinn, der sich von seiner Frau unter anderem deswegen scheiden liess, weil sie dauernd am Telephon hing und Handyrechnungen von bis zu Fr. 600.- hatte.
Sie brachte mich zurück und beschloss, für heute nicht mehr zu arbeiten. Eine Freundin von ihr feiere heute Geburtstag und sie wolle um vier dort kurz vorbei gehen. Maxim würde mich abholen und mit Tatjana zur Oper bringen. Keinesfalls sollte ich vergessen, sie danach anzurufen, damit sie mich zurück bringe. Und noch etwas: Tatjana wird bestimmt versuchen, mich von ihrer Ansicht zu überzeugen, dass ich als Dozentin einer Hochschule besser dastehen würde. „Nun sind Sie gewappnet!“
Vor dem Frühstück hatte ich in Lukas Niederbergers kleiner Betlektüre gelesen. Was Wunder, dass ich auf dem Heimweg ein Stossgebet zum Himmel richtete, für alle (über)reifen Männer, die mit jungen Frauen verbandelt oder verheiratet sind.(Umgekehrt gilt auch)
Ich hatte mich gerade noch für eine Viertelstunde hingelegt, als das Handy klingelte und mir ankündigte, der Wagen warte schon unten auf mich. Tatjana sass im Taxi und wir fuhren dreiviertel Stunden zu früh zum Theater. Von Ferne ein imposanter, aus der Nähe und vor allem innen, ein grässlicher Bau. Eine Art alte Opéra de la Bastille, aber von schwerfälligem Geschmack. In den eiskalten Wandelgängen hunderte von Kiosken, wie auf einem alternativen Markt. Das Ballet war nett, eine moderne Interpretation des Aschenbrödels, auf Musik von Johann Strauss. Sehr gute Tänzer, zeitweilige Schwächen in der Choreographie, alles in allem aber eine charmante Vorstellung. Danach lud ich Tatjana zu einem kleinen Souper ins Kharkov Palace ein, was sie sehr gerne annahm. Solche Einladungen sind für sie selten. Geschieden, immer noch berufstätig, Englischlehrerin, deren Englisch ich aber noch schlechter verstehe als ihr Russisch, verdient sie sich so noch etwas zu ihrer Pension von 400 Franken dazu. Es war ein angenehmes Beisammensein und lehrte mich wieder etwas über die Lebensbedingungen hier. Früher, unter dem Kommunismus hatten sie keine Geldsorgen: Wohnung, medizinische Versorgung waren gratis, reisen innerhalb des kommunistischen Blocks kostete praktisch nichts.Die Läden seien zwar leer gewesen, aber die privaten Kühlschränke voll. Sie seien als Private auch nie Schikanen ausgesetzt gewesen, wobei sie darauf hinwis, die stalinistische Zeit nicht mehr gekannt zu haben. Ihre Pension sei eine eher grosszügige. Sie erzählte von einer betagten Bekannten, die gerade soviel erhält, um ihren Wohnungszins zu bezahlen. Wenn die Kinder nicht helfen würden, wäre es nicht zu machen. Krank zu werden kann sie sich gar nicht leisten. Was machen aber die, die keine Kinder haben?
Die ganze Halle war gut besetzt von jungen, offenbar erfolgreichen Russen und Ukrainern, zum Teil mit ihren Familien, gekleidet wie alt Achtundsechziger, was ich nie mochte und jetzt immer weniger mag. Das Bild dieser stillos Unbesorgten vor mir und Tatjanas Erzählung in den Ohren erzeugte eine bisher unbekannte Spannung in mir. Dabei merkte ich, dass mir dieses Hotel wie eine Insel vorkam, beim Überqueren eines etwas unwirtlichen Flusses. Mir war, als unterbräche ich Exerzitien. Oder einen Hungerstreik. Als bräche ich ein Gelübde, nämlich das Leben jener zu teilen, die zu unterstützen ich für zwei Wochen ausgezogen war. Nur zwei Wochen! Natürlich gehört meine Mandantin Anna nicht zu den Benachteiligten, wenigstens lebt sie so, als hätte sie nichts damit zu tun. Ihre Ankunft bestätigte das, doch lehnte sie meine Einladung ab, mit uns etwas zu essen. Ich dankte ihr, mir vor der Abreise ihre Maniküre vorgeführt zu haben. „ Sie nehmen die Details wahr, Jürg!“ „Bei schönen Frauen alle, angenehmen Abend und bis morgen, Anna. Danke, dass Sie noch vorbei gekommen sind“. Diese masslose Übertreibung, diese glatte Lüge liess mich noch etwas tiefer im Morast meiner Erkenntnis versinken. Wenigstens war mir wohl mit Tatjana, die das zweite Glas ukrainischen Roten langsam träge machte.Sie redete gar nicht über Anna. Als ich das gestrige Treffen bei Anna mit Maxim, ihrem Sohn erwähnte, meinte sie nur kurz, dass Annas Wohnung die ihre sei.
Es gibt da so viele Ungereimtheiten. Ich bin aber Consultant, weder Beicht- noch Gross- oder irgendwelcher Vater hier. Da halte ich mich schön raus. Noch vor nicht allzu vielen Jahren hätte ich mich berufen gefühlt, darauf anzusprechen. Mit der Zeit lernt man alles. Was sage ich immer? Weisheit ist ein Geschenk, das uns dargebracht wird, wenn es nichts mehr nützt...*
Ich wollte Sonja mein Tagebuch schicken, wie ich es immer tue, wenn ich auf meinen Mandatsreisen bin und habe nach einem Briefumschlag verlangt.
„Was bitte?“
„Na ein Couvert, um diesen Brief zu versenden.“
„Tut mir leid. Haben wir nicht. Müssen Sie auf der Post verlangen.“
„Und wo ist die Post, bitte“
„Gehe nie dorthin, tut mir leid, weiss es nicht.“
Dann sind wir also bei der Gesellschaft angelangt, die nicht nur ein Papierloses Büro, sondern auch eine Brieffreie Existenz führt. Ob dieser Fortschritt zum Glück beiträgt, wage ich nicht zu beurteilen.
Dienstag, 27. November 2012
Gestern war ich um 9 Uhr im Büro, es war ein Hin und ein Her, ein Sitzen und ein Telephonieren, alles, was noch vor Abreise des Bosses Anna aufgetragen und gemacht werden musste, ein Kommen und ein Gehen von Gästen, Reinigungsfrauen, der Rapport wurde nochmals zusammen durchgegangen, abgeändert wo notwendig und erklärt, Mittagessen um 15 Uhr, dazwischen Piroschki eine trockene Sorte einer Art von Panetone, um 18 Uhr ging ich.
Unter dem feinen Schneefall bekam ich Lust etwas umher zu schlendern. Bei der Franzuskaja Bulotschnaja (boulangerie française) stoppte ich für einen Espresso und eine schmale Tranche Kirschenstrudel. Den riesigen Lenin Prospekt geht jedermann schnellen Schrittes. Die Geschäfte werden zumindest nicht bei dieser Witterung von den Passanten gemustert. Man läuft, Hände in den Taschen und die Mütze über die Ohren in die Stirne gezogen. Über den Freiheitsplatz gelangte ich zur Sumskaja, der Einkaufsstrasse. Schöne Geschäfte hat es dort, mit einer Überzahl an Schuhgeschäften. Schon in Ushgorod, vergangenen Mai fiel mir auf, dass die koketten Ukrainerinnen verrückt nach Schuhen sind. Sie haben Chic!
Ich stoppte in einer Buchhandlung für das Hörbuch von Bulgakovs Meister und Margherita, was leider nicht vorhanden war. Dafür eine Kurzgeschichte von Gogol, die ich erstand. Es gab auch eine zauberhafte Ausgabe von Rilkes Gedichten. Leider aber D/U und nicht D/R. Es war acht Uhr geworden und ich ging zurück. Eigentlich in der Absicht, die heutige Sitzung noch vorzubereiten. Aber rien n'allait plus. Ich wärmte mir den Rest der Kartoffel-Lauchsuppe und machte mir von Tatjanas Äpfeln, die sie mir als Gegengeschenk für die Tafel Schokolade gebracht hatte Apfelschnitze. Welch ein intensiver Geschmack, diese kleinen Dinger voller Flecken! Danach ab ins Bett. Ohne Musik. Noch zwei Seiten lesen.
Die Vorbereitungen besorgte ich um sieben Uhr früh. Die Google Übersetzung entpuppte sich als ungenügend. Olga hatte simultan zu übersetzen. Ziemlich mühselig, aber produktiv. Die Damen sind von meinen Vorschlägen entzückt, die sie von ihrem Handy ausser Geschäftszeit entbinden, Pikett-Dienst vorbehalten.
Der grosse Brocken steht aber noch vor uns: die Systematisierung von Wohnungspflege und -kontrolle, das Marketing und der Telephondienst. Ob wir das alles schaffen?
Über Mittag hat mich Irina Kovtun, die Vertreterin von Swisscontact abgeholt um eine Hotelfachschule zu besuchen. Sie kam mit Victor, dem Besitzer eines Bauernhofes, der Green Tourisme betreibt, um mit ihm anlässlich einer Projektpräsentation zu den Schülern zu sprechen. Welch eine Disziplin in dieser Schule, und trotzdem, welch eine natürliche Freundlichkeit. Wie gut sie ihre Projekte präsentierten und was für kluge Fragen sie stellten! Für mich hatte es den angenehmen Nebeneffekt, dass ich wieder einmal Russisch verstanden habe. Morgen Vormittag fahren wir auf seine Farm, er hat dort ebenfalls Projekte und am Nachmittag fahre ich mit meinen Damen im Büro weiter.
Jetzt sind natürlich alle weg oder beschäftigt und ich stehe mit abgesägten Hosen da. Nun, ich will schon die Fragen und Probleme behandeln, die heute morgen angeschnitten wurden.
Donnerstag, 29. November 2012
Heute ist der letzte ganze Tag hier, und wir haben das Housekeeping noch immer nicht im Detail durchgenommen! Ich will das im Flugzeug nach Kiew gründlich erforschen. Weshalb diese magere Ausbeute? Sind es die Umstände? Braucht es tatsächlich so lange, bis man die Situation erfasst? Rückschauend klar, ist alles einfach. Oder habe ich nun jene Limite erreicht, nach welcher Produktivität nur noch in kleinen, zögernden Schritten erreicht wird? Dann wäre es ja Zeit aufzuhören. Vielleicht nur noch bestehende Mandate upzudaten, sofern das überhaupt gewünscht wird. Gerne käme ich doch noch 3-4 x in die Ukraine. Dann wäre ich 75. Damit hätte ich möglicherweise auch die Limite an Glaubwürdigkeit erreicht. Natürlich arbeitet Dr. Hans Vontobel mit 93 noch. Die Umstände sind doch sehr verschieden.
Freitag, 30. Dezember 2012
Alles Quatsch! Wie jedesmal hat es auch diesmal geklappt. Ich brauche auch dieses Gefühl, wieder einmal an meine Grenzen zu kommen. Auch wenn diese Grenzen möglicherweise immer enger gezogen sind. Ich sitze jetzt auf dem Flughafen und warte auch das boarding.
Irina hat mich gestern zum Ballett in die Oper eingeladen, nachdem wir gestern miteinander Victors Bauernhof besucht hatten. Was für eine lustige Geschichte: Er wohnt in Kharkov, besitzt eine Reiseagentur und, wenn ich recht verstanden habe, sitzt in irgendeinem Tourismus Ministerium. Er suchte altes Holz für sein Haus und wurde auch zu einem interessanten Preis fündig. Als er 80 km aus der Stadt fuhr um es abzuholen wartete er neben einem kleinen Blockhaus. Ja, wo denn jetzt das Holz sei? Wollte er wissen. Das sei es ja, dieses Blockhaus. Tja, dann suche er Holz anderswo und nehme dies als seine Datscha.
Er möchte hier etwas grünen Tourismus betreiben, was denn hier zu investieren wäre, meinte er zu Hans Leu, den ehemaligen Boss von Schweiz Tourismus, ebenfalls ein SC Senior Expert. Gar nichts, meinte dieser. Fangen Sie einfach an. Sie sehen ja dann, ob und was für welche Leute kommen. Mittlerweile hat er noch einige erbärmliche Hütten zugekauft, die er dort als Mehrbettunterkünfte vermietet. 200Gr löst er gerade Mal für jenes Haus, das noch am ehesten diese Benennung verdienen würde, mit einem zerfallenden Holzfeuerherd, zwei Zimmern und eine jener hübschen Veranden, so typisch für Landhäuser dieser Gegend. Der Flecken wurde zu einer billigen Ferienunterkunft für einfache Menschen. Die gehen in den Wald, suchen Pilze und lassen die Kinder in freiem Feld spielen. Dreimal pro Jahr organisiert er volkstümliche Treffen für welche behelfsmässig Tische gezimmert wurden, darüber Latten als Dächer. Babuschkas aus der Umgebung kochen in ihren Häusern bei diesen Anlässen und bringen Borscht und Pielmeni her.
Ostro- und Visigoten hätten dort gewohnt, die Skipetaren, vor hunderten und tausenden von Jahren. Unter der Leitung des archäologischen Institutes der Uni Kharkov werden vereinzelte Ausgrabungen dort gemacht, unweit seiner Behausung. Ein Sommercamp von Freiwilligen, immer unter der Leitung eines Professors bauten dort zwei Typen eines Lehmhauses jener Zeit, entsprechend den Angaben die man davon hat. Nun plant er einen Teich anzulegen und darum herum Lehmhäuser zu erstellen. Ich hoffe, solche wie ich sie in den Karpaten und nicht jene archäologisch nachempfundenen. Letztere machen keinen sehr soliden Eindruck. Früchteplantagen hat er vorgesehen und dann die Möglichkeit, auf seinem Land Datschas zu erstellen. Und dies, und das, und jenes, was ich nicht alles verstanden habe. Wenn meine Gesprächspartner nicht deutlich artikulieren und Viktor tut das nicht, verstehe ich, wenn überhaupt etwas, nur schlecht.
Warum ich das so ausführlich beschreiben? Weil mich diese langsame Entwicklung, Schritt um Schritt, fasziniert. Dieses langsame und beständige Betrachten der Möglichkeiten und ihr Ausprobieren. Die Sonnenalp, dieser Vorzeigebetrieb in Sonnthofen hatte so begonnen. „Denk an mich“, diese heute potente Fundraising Organisation zu Gunsten von Behindertenferien ebenfalls. Hatten bünzlig angefangen, sich mit Kleinstspenden begnügt. Dank dem Radio Fenster und Beharrlichkeit sind sie zu einer der beliebtesten Spendenorganisation der Schweiz geworden. Oder Hiestand, mit dem Besten aller Gipfel, der sich erst nach Jahren weiteren, süssen Frischbackwaren verschrieb. Nur hatte der in meinen Augen den unverzeihlichen Fehler begangen, nochmals das Gleiche zu starten, nachdem er sein mittlerweile Grossunternehmen zu einem dreistelligen Millionenbetrag verkauft hatte.
Doch schweife ich ab: Das Ballett war viel besser als jenes, zu dem mich Anna und Tatjana eingeladen hatten, der anschliessende Imbiss im Kharkiv Palace anregend: „Vergiss das, mit deinem Alter“ meinte Irina, als ich ihr meine Bedenken für weitere Mandate anvertraute. „Du kannst dich zu den Junior Experts zählen, denn das Durchschnittsalter beträgt 75 Jahre.“
Freitag, 30. November 2012
8.15 Uhr. Bereits habe ich eingecheckt. Über eine Stunde bleibt mir noch bis zum boarding; wie herrlich, über eine Stunde reine Musse. Eine Stunde während welcher ich mich in der blitzsauberen, geräumigen Abflughalle in Kharkov dem Betrachten der Passagiere, der vorbeieilenden Stewardessen und dem Aufsichtspersonal hingeben kann. Wie herrlich, und wie banal. Warum aber sollte das Banale, das Alltägliche, Unspektakuläre und Unwichtige kein Glück enthalten? Dieser Moment des zwecklosen Seins liess mich die Zeit vollkommen vergessen, rief Margot an, um mit ihr den Moment zu teilen, mein Restguthaben auf meinem ukrainischen Chip verbratend. Ich hatte es bereits bei Ankunft am Flughafen, eine Stunde zuvor versucht, jedoch ohne Erfolg. Ich vermutete sie unter der Dusche, dass sie gleich mir den letzten Moment des Alleinseins geniessen würde.
„Weisst du, wie früh es ist?“ hiess sie mich am Telephon willkommen. „Es ist jetzt 7.15 Uhr, zwei Stunden früher als bei dir in Kharkov. Zuvor hattest du aufgehängt, als ich gerade das Telephon erreichte“ holte sie mich auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Wir freuen uns beide aufs Wiedersehen. Sie stellt den Wodka kalt, besorgt crème fraîche und schiebt auf meinen Anruf aus Zürich hin die Kartoffeln in den Ofen, damit wir unser Wiedersehen bei Pommes Tsarineentsprechend meinem jetzigen Aufenthalt feiern können.
6. Reise: Krim, Jalta und retour nach Kharkov. 7.-24.4.2013
„Ich sitze im Zug zum Flughafen für Jalta und freue mich aufs Ungewisse“. So schreibe ich auf die Verdankung der letzten Geburtstagswünsche, die per sms oder mail eingegangen sind. Wir rauschen durch die Leventina, vorbei an den kleinen Orten, die sich an den Berg drücken. Noch Steindächer auf Bauernhäuser, arte povera, aber arte gewiss, prominente Villen, Kleinpaläste erfolgreicher Emigranten die zurück gekehrt waren um zu zeigen, was sie erreicht hatten in der Fremde. Oft als Wohltäter ihrer armseligen Gemeinde. Die schlanken, eleganten Kirchtürme an Gotteshäusern, welche die Seele schon bei deren Anblick erheben. Jedes Mal rühren mich diese Ortsbilder.
Was wollen sie mir sagen? Der Baustil von damals bezeugt Mut, Zuversicht, Ergebenheit und nicht nur Glaube, sondern Gewissheit, als Mensch und Gemeinschaft Teil von etwas Grösserem, Absolutem zu sein. Mut und Zuversicht brauchte es wohl, um dem unwirtlichen Boden um diese Krachen herum das Notwendige fürs Überleben abzuringen. Die knappen Mittel und die Kinderschar erzeugten Hoffnung, dass es später weitergehe, dass der Sohn, zumindest der älteste, das Haus einmal bewohnen würde, das man deshalb mit umso grösserer Hingabe und Opfersinn baute. Sicherheit gab es keine, der ROI, war noch nicht erfunden, der Ertrag aus der Investition und damit der Begriff der Amortisation. Es galt ,die Münder zu stopfen, und das Haus für alle Zeiten zu erbauen. Wie kamen die Menschen von damals nur auf diese Formensprache, die damals so schön war, dass sie uns heute noch berührt und, wenn die Häuser erhalten bleiben, es auch immer tun werden! Woher hatten diese einfachen Menschen, die oft ihr Dorf nie verlassen hatten, bloss den Sinn für diese schlanken, zum Himmels strebenden Kirchtürme, aufgelockert durch Zwei- und Einbogen Fenster ? Eindrückliche Zeugen längst versunkener Zeiten.
Vielerorts sind diese Ortsbilder ausgefranst durch Bauten aus den fünfziger- bis achtziger Jahre. Diese sind vor allem eines: billig und zumeist hässlich. Ob wenigstens der ROI dort stimmte, vermag ich nicht zu sagen. Eines aber ist sicher, das Verschwinden solcher Bauten wird, wenn überhaupt, eher als wohltätig empfunden werden.
Von Zürich flogen wir mit einer Stunde Verspätung ab. Der siebenundzwanzig jährige Sohn meiner Sitznachbarin, Larissa aus Kiev, studierte zwei Jahre in Lugano, wo es ihm nicht so gut gefiel wie jetzt in Bern, wo er seit vier Jahren bei einer grossen Firma angestellt ist. Das Paradies sei das, und er bemühe sich nun darum, Schweizer zu werden. Austausch der Visitenkarten, der Sohn soll mich einmal anrufen, wenn er wieder im Tessin sei. Ja gerne und da seien ihre Angaben, bei meinem nächsten Besuch sei ich als ihr Gast willkommen. Das sagte sie mir in perfektem Spanisch. Gelernt hatte sie es als Mitarbeiterin einer Organisation, welche bedürftigen Kindern Ferien in Spanien besorgt.
Der vorgesehene Zwischenstopp in Kiev von drei Stunden erlaubte mir trotz der verspäteten Ankunft gemütlich auf den Flug nach Simferopol zu gelangen. Ich stiess beim Umsteigen auf einen Schweizer, welcher der Liebe wegen in die Ukraine kam. So nannte er die dritte Internet Bekanntschaft, auf die er jetzt all seine Hoffnungen setzt. Sie sei zwar etwas jünger als er, sagte er mir, als er stolz das Bild einer hübschen Brunette zeigte. Fünfundzwanzig, und er erst dreiundvierzig. Üblicherweise schätze man ihn zehn Jahre jünger ein. Nach drei gescheiterten Versuchen, wovon einer ganz klar krimineller Natur, denn die Telefonnummer über welche sie anrief, war aus Kiev während dem sie Ufa in Russland als ihre Wohnadresse angab, setze er nun all seine Hoffnungen in diese junge Frau. Dreimal hätte er sie schon besucht. „Was meinen Sie davon, und was denken Sie von den Ukrainerinnen?“ „Nun, für mich als alter Mann präsentiert sich die Situation anders. Die Ukrainerinnen, mit denen ich es durch meine Mandate zu tun hatte, machten mir allesamt den Eindruck von starken, klugen Frauen, die wissen, was sie wollen. Dazu haben sie auch allen Grund, denn auf die Männer hier ist in selten Verlass. Vielleicht sollten Sie Ihre Auserwählte für drei Monate in die Schweiz kommen lassen, bevor Ihr beide euch ernsthaften Gedanken hingebt. Im Osten leben oft drei Generationen zusammen. Die Familienbande scheinen mir enger zu sein als bei uns. In der Schweiz sind wir darüber hinaus ziemlich eng in Regeln eingebunden. Diesen kulturellen Unterschieden sollten Sie Rechnung tragen. Viel Glück wünsche ich Ihnen.“
In Simferopol ging es ziemlich lange, bis wir das Gepäck hatten, auf das wir in einem offenen, zügigen Durchgang warten mussten. Drei bis fünf Grad waren es vielleicht. Drei bis fünf Grad, und das soll das Cannes des Ostens sein? Marina und ihr Mann, ein Anästhesist und (Rhenologe??) warteten auf mich. Ein gut aussehendes Paar um die fünfzig, die bereits zwei Enkel haben, Pavel „Pasch“ und Anton „ Antosch“ Deren Eltern, Xenia und Ivan, wohnen im obersten Stock der dreistöckigen Villa. Sie hatten sich an der Uni beim Studium für Journalismus in Moskau kennen gelernt. Die jüngere Schwester von Xenia studiert Management irgendwo auswärts, weshalb ich ihre Wohnung im ersten Stock zur Verfügung habe. Das Bad/Toilette teile ich mit der jungen Familie. Das Haus, an der Ulizza Bolschevitskaia 23, etwas ausserhalb des Zentrums gelegen, bietet eine schöne Sicht, durch Bäume, bebaute Hügel mit kleinem Meerblick. Die Babuschka, Sergeis Mutter, hat ebenfalls eine kleine Wohnung, zum Garteneingang gelegen. Es war ursprünglich Marinas Grosselternhaus, das sie ausgebaut haben. Die Zimmer sind von grosszügiger, wohltuender Proportion. Bewacht wird das Anwesen von „Nord“ einem deutschen Schäfer dem die Sanftheit aus den Augen trieft. Das Haus hat nichts von westlicher Bauqualität. Trotz der nicht alltäglichen Position, welche Marina und Sergei besetzen, wirken vor allem die Fenster dürftig und die kleine Elektroheizung schwach. Heute Montag war es zwischen 4-6 Grad, ohne den angekündigten Regen, Gott sei Dank. Der Garten ist noch nicht sommerlich bestellt. Ich hatte es angenehmer erwartet, in Erinnerung an meinen Aufenthalt vor einem Jahr in den Karpaten.
Die beiden Buben, knapp drei und 18 Monate konnten es kaum erwarten, mich zu begrüssen. Sie schickten den Vater zu mir in die Küche, ich möge doch das Frühstück bei ihnen oben einnehmen und auch seine Frau Xenia kennen lernen. Es ist ein Haus der Harmonie. Die Kleinen sind natürlich und überhaupt nicht aufdringlich. Und doch, glaube ich einen Schleier der Traurigkeit, Bedrücktheit zu empfinden. Ob Marina und Sergei Schwierigkeiten miteinander haben, finanzielle Probleme oder war Marina einfach müde? Es lastet so viel auf ihr.
Montag, 8. April 2013
Marina hat mich in ihr Institut mitgenommen doch zuvor gingen wir ans Meer, besichtigten das älteste Hotel, das Orenda. Es gehört einem Russen, der es offenbar recht gut restauriert. Man hat einen modernen Zimmerflügel geplant und gleichzeitig die Verwandlung des Rotonden artigen Restaurantdaches in einen Garten. Geführt hat uns die etwa vierzig jährige Viktoria Timchenko, Deputy General Manager S&M. Effizient, klug, witzig.
Jalta wird gerne mit Cannes verglichen. Mir scheint das alte Nizza besser zu zutreffen, vom alten Markt über den alten Hafen. Luxuriöse Schiffe sieht man allerdings kaum. Vielleicht ist es im Sommer besser. Überall hat es noch Villen aus der vorrevolutionären Zeit. Die meisten harren aber noch der Restauration. Natürlich ragen auch hier bereits zahlreiche Hochhäuser in den Himmel, wie es ja auch an der Côte ist.
Das Institut „Republican higher educational institution Crimean University for the humanities, Yalta, Institute of Economics & Management“ ist voller Leben, aber wohl kaum die Sorbonne. Überall hat's zwar Lap- und desktops, doch habe ich den Eindruck, dass der Einsatz des Lehrkörpers bessere Bedingungen verdiente. Es hat so einen Geruch von 1970, schlecht unterhalten. Wir haben schlussendlich die Präsentation für den ersten Tag hingekriegt. Es macht den Anschein, dass es den Studenten im Englischen an Praxis gebricht. Und die Übersetzerin macht Russisch Deutsch. Unnütz. Meine Vorträge sind alle auf Englisch. Wir werden ja sehen, morgen.
Zu Mittag nahmen wir im Institut einen Tee mit einigen Biscuits. Zu Hause um 15 Uhr gab es eine gute Gelberbs-suppe, danach eine Art von Champignonrisotto mit einer ukrainischen Ratatouille, eigentlich die französische, mit Karotten ergänzt. Dazu trinkt man „Kompott“ den Sirup eines Früchtekompott. Es ist jetzt Fastenzeit. Fleisch ässen sie fast nie. Fisch an hohen Feiertagen. Mir soll das Recht sein. Ich will ja das Leben meiner Gastgeber teilen.
Mir ist kalt. Ich habe eine Stunde geschlafen. Das Tagebuch bringt mich immer wieder aufs Gleis. Ausgehen will ich heute Abend allerdings nicht mehr. Arbeiten mag ich auch nicht mehr. Gestern auf der Reise von 8 – 24 Uhr, heute die vielen neuen Eindrücke. Ich schlottere. Lieber ein heisses Bad oder eine heisse Dusche und unter die Decke. Vielleicht noch mit einem Dafalgan.
Dienstag, 9. April 2013
Ich habe von halb neun bis um halb sieben tief geschlafen und bin wunderbar erholt. Gott sei Dank keine Erkältung, wie sich den Tag über bestätigen wird. Vormittags bin ich in aller Ruhe den Stoff durchgegangen. Nachdem mich die Vorbereitungen auf diese Vortragsreihe zuweilen in unwürdige Zustände und Raserei gebracht hatte – was ich nicht nur bedaure sondern mich deren schäme – erstaunt mich meine heutige Gelassenheit. Mit dem Bonus des Fremden, des Westlers, die ja alle wissen wie man es macht, wird es schon gehen. Keine Spur von Lampenfieber. Heute habe ich ja auch nur eine Lektion (90 min) zu bestreiten.
Wie jung die alle sind, 20, 22 vielleicht? Ob sie wohl denken, wie alt der da vorne ist? Das beschäftigt mich nicht. Der Stick für die Präsentation funktioniert endlich. Ich stehe vor den knapp 20 Studenten. Erwartungsvoll und mit leuchtenden Augen blicken mich die meisten an. Auf den hintersten Bänken sitzen, oder liegen fast die „cancres“, deren ich mich sofort annehmen werde.
„Doch bevor wir darüber reden, was Sie eh aus dem Internet herunterladen können, erzählen Sie mir doch einmal, was für Sie das Wichtigste im Leben ist,“ fragte ich Sie, während ich durch die Bänke lief und ihnen in die Augen sah.
„Die Gesundheit! Die Familie! Gut vorwärtskommen in Studium und Beruf! Die Freunde! Die Liebe?,“ fragte eine Stimme zaghaft.
„Das hat man nicht immer, Familie, Erfolg in Beruf. Auf auf Freunde ist nicht immer Verlass. Und die Liebe... Was ist dann das Wichtigste im Leben, in Ihrem Leben?“
Langsam kamen sie darauf, dass es darum geht, sich am Hier und Jetzt zu erfreuen, an dem, was das Hier und Jetzt hergibt, wenn es auch einmal nicht so erfreulich ist, wie wir uns das vorgestellt haben. Alle lachten mich aus, als ich sie fragte, ob die Freude am Leben bedeute, jeden Tag sich zu amüsieren, Champagner zu trinken und auf jeden Fall, immer verliebt zu sein. Sie kamen überein, dass es die Entwicklung unserer Anlagen und Fähigkeiten ist, und diesen Ausdruck zu geben, was uns Lebensfreude schenkt. Dass wir uns daran begeistern sollen, was immer die Lage hergibt. Das dass nicht immer funktioniere, sei ja klar. Aber zu 80% sollte es das schon. Und wer sich jetzt gerade in den anderen 20% befinde und es ihm/ihr lieber wäre, dürfe die Lektion ohne weiteres verlassen. Niemand ging. Die „cancres“ erwachten.
Meine Vorstellung fesselt sie, die Ausführungen über den Tourismus von den Anfängen bis zur Moderne scheint ihnen noch nicht geläufig zu sein. Selbst bei der Projektion der organizational Hotelchart, dem Organigramm folgen sie interessiert. Wie Claudine empfohlen hatte, lasse ich Zeit für deren Betrachtung, gebe Gelegenheit für Fragen. Anekdoten aus meinem Werdegang interessieren offenbar am meisten. Genauso hatte es mir Alberto, unser Schwiegersohn vorausgesagt und empfohlen. Mir schmeichelt es, gut anzukommen und ihr Klatschen am Ende der Stunde ermutigt mich für die kommenden Tage.
Zum Abendessen zu Hause bin ich alleine mit Marina. Zusätzlich zum Gestrigen, einige Salate, die wir beim „Gastronom“eingekauft haben und ziehe mich früh zurück. Schlafe tief.
Mittwoch, 10. April 2013
Heute ist die erste Doppelstunde, d.h 2 x 90 min plus 10 min Pause. Ich benutze den Morgen, um den Stoff einzuteilen und die Dokumente zu drucken, die sich für die Projektion nicht eignen. Nachdem wir gestern die verschiedenen Abteilungen eines Hotels angesehen haben, erkläre ich aus meiner Sicht, was in jeder zu tun ist, welches seine wirkliche Funktion ist. Wie Recht hatte doch Alberto, als er mir nahe legte, nicht aus Büchern und Internet, sondern aus der eigenen Praxis zu schöpfen! Unglaublich wie das ankommt. Die Aufzeichnung ihrer zukünftigen Karriere liess ich in fünf Gruppen à 4 aufteilen und sie anschliessend vortragen. Wie dankbar nahmen sie die Empfehlungen wahr zur Position des Redners, des direkten Augenkontakts mit den Zuhörern vor der eigenen Vorstellung, wie auch Hinweise zur Gestik. Wir brauchten allerdings länger als vorgesehen. Fast enttäuscht nahmen wir mitten in den Ausführungen über die Aufgaben des GM war, dass die Zeit abgelaufen war. „Also, lest das zu Hause durch, stellt morgen bitte Fragen, wenn Ihr welche haben solltet. So sparen wir Zeit.
Marina ging mit mir durch kleine Gässchen, um mir eher versteckte, sehenswerte Orte und Häuser zu zeigen. Wie herunter gekommen diese Stadt doch ist, die eine wirkliche Perle sein könnte! Margot würde es hier nicht gefallen.
Nach dem Abendessen, auch mit Sergei, Xenia und den beiden Buben, kredenzten sie einen roten Muskateller. Er würde jeden Porto überrunden! Blumig, nervig schmeichelnd, 16 Grad und 15% Restsüsse. Die Buben sind entzückend. Pasch ist zugänglich, ohne jede Zudringlichkeit oder Übertreibung. Als seine Grossmutter ein Pack Schokoladenkekse öffnete, gab er zuerst ihr eins, bevor er ins seine biss. Wenn er vom Mezzanin aus die Papierflieger über die Küche losschickt, die ihm sein Grossvater fortwährend bastelt, ist er ganz lebendig und bleibt doch im Rahmen! Mit vielleicht der Ausnahme von Ferdi & Ursis Damian, habe ich so etwas noch nie gesehen. Nun bin ich müde. Nicht einmal mehr lesen mag ich.
Donnerstag, 11. April 2013
Marina ist mit mir durch verschlungene Gassen den Hügel entlang zum Institut gegangen. Vorbei an alten Villen, versunkenen Gärten und Hütten, Baracken. Obschon sie zu meinen Lieblingsbäumen gehören, stimmen mich die vielen Zypressen heute wehmütig. Der lang vermisste Sonnenschein, die Bäume, die noch nicht einmal zaghaft ausschlagen, die kargen Blumen bringen die Lieblosigkeit, die Resignation aus kommunistischer Zeit, welche für mich die Stadt prägen, erst recht hervor. Lausig die Wege, ungepflegt die Häuser, verkommene Verzierungen aus vergessenen Tagen zeugen nicht nur von Geldmangel, sondern auch von Mutlosigkeit. Von Desinteresse. Von völligem Mangel an Sinn für die Gemeinschaft, welche über die eigene Familie hinausgeht. Nie würde ich es wagen, einen Vorwurf zu formulieren oder gar zu erheben! Es zeigt mir, wohin eine verfehlte politische Ausrichtung führen kann. Ich bin durchaus nicht sicher, ob solch ein Zerfall von Sitte und Kultur nicht auch bei uns möglich wäre. Tatsache ist, dass Menschen wie Marina und Sergei unter diesen Zuständen leiden. Hilflos leiden. „Was willst du? Die Politiker interessieren sich nicht darum und bei uns herrscht die Korruption“, sagte sie, auf grässliche und zweifelsohne auch gefährlich gebaute Monster von Hochhäusern zeigend. Jalta erschien mir heute morgen wie eine alte Kurtisane nach anstrengender Nacht, bevor sie sich schminken konnte.
Ob ich nicht etwas an der heutigen „praktisch-wissenschaftlichen Konferenz über internationale Wirtschaft, Management & Logistik“ für den Lehrkörper und die Studenten etwas aus der Schweiz erzählen möchte? Zwar war ich unvorbereitet. Es gelang mir aber gut, nach der Überwindung der Wechselkurs bedingten Schwierigkeiten unseres Tourismus die Gründe für den Erfolg des 4.wichtigsten Wirtschaftszweiges anzuschneiden. Anderthalb Jahrhunderte ohne Kriege, haben zweifelsohne viel dazu beigetragen. Ich kam auf unser föderalistisches Staatswesen zu sprechen, welches ich als aus der Not und Armut geboren empfinde. Man war erstaunt zu hören, dass die Schweizer Jahrhunderte lang Reisläufer gewesen waren, und noch bis zum 2. Weltkrieg noch zahlreich emigrierten, bis zum 1. Weltkrieg auch nach Russland. Wir hätten auf unserer kargen Scholle begriffen, dass wir nur in Gemeinschaft den Schwierigkeiten trotzen und unser Leben bestreiten konnten. Gleichzeitig zwang die schwierige Geographie zu einer föderalistischen Organisation für die ich unsere Flurgemeinschaften als Beispiel nahm. So kam ich auf die Tourismusstruktur zu sprechen mit den diversen Vereinen, Verbänden, welche in unserem Sinne lobieren würden. Eine gute Werbung seien doch die Euro championships gewesen, welche die Ukraine im Westen ins Bewusstsein rückte. Jetzt wünsche ich der Ukraine im Allgemeinen und der autonomen Republik Krim im Besonderen, auf dieser Welle die anstehenden Probleme gemeinsam anzupacken.
Marina zwinkerte mir zu, mit erhobenem Daumen. Der Leiter der Innovationsabteilung will mich am kommenden Mittwoch sprechen und der junge Chef der Abteilung internationale Beziehungen hofft ein gemeinsames Bier oder Essen.
Die Studenten zeigten sich am Nachmittag selbst bei den trockenen Materien der Klassifikation und den Kennzahlen aufmerksam und partizipativ. Aufgeblüht sind sie bei der Gruppenarbeit - wie immer – über die Gründe, welche Menschen zum Arbeiten bringen und das Ende der zwei Lektionen (3 Std zusammen!) war für uns alle zu schnell da.
Was hatte ich mir nicht für Sorgen gemacht während den vergangenen zweieinhalb Monaten, mich mit diesem Mandat übernommen zu haben!
Versandt am 11.4. an Familie, Madeleine & Liz
Samstag, 13. April
Im Glauben den Umschlag beim Durchgang der Sicherheitskontrolle im Flughafens Kiev verloren zu haben, hoffte ich eigentlich nur noch, dass das Geld jemandem in die Hände gefallen sei, der es wirklich nötig hat. Von denen gibt es hier viele. In meinem Portemonnaie steckte etwa ein Durchschnittslohn für ein Trimester. Beiläufig hatte ich meine Vermutungen einmal Marina anvertraut. „Nein, wir haben es gefunden und aufs Kästchen gelegt. Haben Sie es nicht gesehen?“
Meine Gastfamilie hatte das Couvert mit meinen € und CHF in ihrem Wagen gefunden und wortlos auf das Kästchen am Eingang gelegt, wo all unsere Schuhe lagern, jene von Xenias Familie und meine und dann darauf ein paar Gegenstände, die bei jedem Hauseingang mehr oder weniger ordentlich aufbewahrt werden.
Natürlich freute mich das und hatte alsogleich vorgeschlagen, Sie und die Familie zu einem tollen Essen in einem schönen Restaurant ihrer Wahl einzuladen. Vielleicht am Besten in ein italienisches, das ihren vegetarischen Wünschen mit Pasta und Fisch doch gut entgegen käme. Auch auf mehrmaliges Nachfragen haben sie nicht reagiert. Verständlich, dass ich Marina und ihre Kollegin Dr. Olga Köppl ins Theaterkaffee nach der Eröffnungsfeier des Jaltaer Frühlingsfestival eingeladen und beide zu Blintschiki mit Lachs, smetana und einem Glas Sauvignon gedrängt hatte. Beide haben es genossen und mir hat der Moment Freude bereitet. Aber ich frage mich doch, was es denn ist, was mich hindert, einfach nur Gesellschafter zu sein. Anzunehmen, was man mir schenkt, ohne es noch anreichern oder gar grosszügig überbieten zu wollen. Das kann ich (noch immer) nicht.
Samstag, 13. April 2013
Gestern war die erste Woche zu Ende. Wir führten die Gedanken weiter was die Menschen zum Arbeiten bringt. Alle Studierenden hatten gestern nach klarer Information verlangt. Wie man in der Praxis informiert, wussten sie nicht. Wir haben deshalb eine Geschäftspolitik (Tschuggen) durchgenommen, die sämtlichen „Stakeholders“ bekannt sein soll, die direkt Beteiligten diesem Credo nachleben sollen und alle sich gegenseitig dafür belangen können. Anhand des Arbeitsbeschrieb des Empfangschefs des Royal Hotels in Devin, Bulgarien, legte ich dar, wie die Verantwortlichkeiten entsprechend dem (flach)hierarchischen Niveau schriftlich dargestellt werden. Ihr Schweigen im Raum schien mir geradezu aufdringlich, umso mehr als dass nur etwa zwei Drittel der Klasse anwesend war. Freitag halt. Kaum begannen wir die Gruppenübung in der die einen ihre Erwartungen an ihren Arbeitgeber formulierten und die Andern es umgekehrt machten, kam Leben in den Raum. In einem Rollenspiel stellten wir die Haltungen einander gegenüber und sie suchten engagiert, die Erwartungen in Übereinstimmung zu bringen.
Natürlich freute mich das Aufleben der Klasse. Es überraschte mich, dass ich auch die Stille ohne innere Rührung aushalten konnte. So ist es jetzt eben heute, sagte ich mir. Ein echter persönlicher Fortschritt. Unvorbereitet ging ich das nächste Thema an: Marketing & Promotion einer Unternehmung: im Hause – lokal – national – international. Ganz einfach schilderte ich meine Überzeugung, die auf der Gewissheit der äusserst knappen Mittel eines Hotels beruhen die dazu zwingen, dass die Gästegewinnung deren „Fidelisierung“ eben anders angegangen werden müssen: Persönlicher, durch informierten Empfang, Erkundigung, ob alles zufriedenstellend ist, Geburtstags- und vor allem Jubiläumswünsche, Verhalten bei Krankheit, Verabschiedung, Kontakt von einem Besuch auf den Andern über die langweiligen Verkaufselemente hinaus, Abwechslung der Gastronomie in Angebot und Service, Grosszügigkeit bei Stammgästen, spontan dargebracht, aber genau geplant.
Gewinnung neuer Gäste über joint ventures mit Modehäusern und Juwelieren, Clubs, bekannten Hotels leicht über unser eigenem Niveau, in Städten und entgegengesetzten Kurorten usw. usw. Und immer wieder: der Mut, den es braucht, etwas Neues anzupacken und durchzuziehen. Immer, immer wieder. Und die Schilderung meiner eigenen Unsicherheit und Nervosität beim ersten Cocktail, bei Kontaktaufnahmen, beim Telefonmarketing! Das zog.
Auch hier ging die Zeit zu schnell vorbei. Nein, so etwas hätten sie jetzt noch nie gehört, meinte auch die verantwortliche Dr. Marina Ryndach. Für sie beinhalte Marketing im Wesentlichen Reklame.
Danach besuchten wir mit Dr. Olga Köppel und einem halben Dutzend Studenten die Villa Elena, das Prestigehotel an Ort, welches ab kommendem Jahr auch den Leading Hotels of the World angehören soll. Wie hölzern das eben fertig gestelltes Haus wirkt. Der absolute Wille alles perfekt zu machen, versteift die ganze Atmosphäre. Ich lud die Professorin zum Aperitif dort ein. Danach wusste sie einen kleinen „Traktir“, eine ukrainische Trattoria, wo es eine herrliche Fischsuppe zum halben Preis eines Aperitifs in der Villa Elena gab, eine Yxa, Uchá: Karpfe, Salm, Pangasius fangfrisch in einer Lauch/Zwiebel/Kartoffelbrühe, Pfeffer, Dill wenig Lorbeer. Dazu wurde wurden Pirogi gereicht, ein mit Reis, Champignons, und Zwiebeln gefülltes Hefegebäck, ähnlich dem Teig für den Kulibiak, die russische Salmpastete, die ich hier noch niemals gesehen hatte. Köstlich, smatchno, wie man hier sagen würde.
Olga ist eine „28 jährige Mitvierzigerin“. 28 wenn man sie anguckt, 45 wenn man ihr zuhört, in ihrem perfekten Hochdeutsch von schwäbischer Weichheit. In Wahrheit ist sie 37, hat eine Tochter von 13 und ein Söhnchen von 3 Jahren. Ihren Mann, Prof. Köppl hatte sie im Studium in Deutschland kennen gelernt, wo er auch noch weiterhin lehrt und gleichzeitig in Unternehmungen für Sonnenpanele arbeitet und forscht. Sie führen die gleiche Ehe wie Margot und ich zwischen Arosa und Minusio, nur halt weiter entfernt. Interessante Begegnung.
Heute Samstag bin ich erst um halb neun aufgestanden. Kaum von der Dusche zurück, lud mich Marina zum Frühstück mit ihnen ein. Oh Soleil! endlich ein Sonnenhimmel, auch wenn noch etwas überzogen! Serghei und Marina hatten mich zur Eröffnungsfeier des Jaltaer Frühlingsfestivals für 13 Uhr eingeladen. Am Vormittag wollten wir der Küste entlang fahren, die kleine Kirche auf dem Felsvorsprung von Sofor besuchen, von wo aus man eine prächtige Aussicht geniesst, den Alupka Palast besichtigen, dessen Erbauer, Graf Vorontsov reicher als der Russische Imperator gewesen sein soll. Die Sonne hatte die feuchte Luft erwärmt, sodass sie die Kirche über Sofor in einen Neben eingehüllt war, um welchen La Turbie sie beneidet hätte. Graf Vorontsov hatte im 19.Jh sein Geld als Diplomat in England verdient und hier an schönster Stelle einen prachtvollen Palast im Tudor Stil hingebaut, umgeben von einem grossen Park, welcher ein englischer Landschaftsarchitekt entworfen hatte. Das Anwesen ist heute ein staatliches Museum, gut unterhalten. Wenn man Jalta hört, denkt man genau an einen solchen Garten oder zumindest an die reichhaltige Vegetation, die dort gedeiht.
Der Jaltaer Frühlingsfestival, der eigentlich den Auftakt eines Musik Wettbewerbs ist, findet im Tschechow Theater statt. Es dürfte etwa 5-600 Plätze haben. Hier wurde Tschechows Möve uraufgeführt, 1900. Von erfrischender Spontanität, etwas provinziell, etwas gymnasiastisch aber mit Super Darbietungen. Prokofiews Klavierkonzert, gespielt von einem jungen Pianisten war packend. Muss ich haben!
Danach Tee mit Marina und Olga, Spaziergang und nach Hause. Gemütlicher Ausklang des Tages beim Abendessen mit Serghei und Marina.
Sonntag,14. April
Die ersten warmen Sonnenstrahlen seit meiner Ankunft in Jalta laden mich schon um sechs Uhr fünfzehn ein, aufzustehen. Herrlich, wenn auch nur von kurzer Dauer. Nach dem Frühstück unten bei meinen Gastgebern steige ich nochmals in meine Wohnung um meine leichten schwarzen Hosen doch gegen einen warmen Flanell zu tauschen. Wir holen Marinas Studienfreundin Oxana ab, um mit ihr nach Livadia zu fahren. Dort fand 1945 die Jalta Konferenz statt, anlässlich welcher Churchill, Roosevelt und Gastgeber Stalin Deutschland kochten und unter sich aufteilten.
Im Umschwung der dortigen Sommerresidenz des Zaren Nikolaus II steht eine kleine Kirche, dessen weit herum anerkannter Chor von einer Kollegin Marinas geleitet wird. Ein orthodoxer Gottesdienst dauert drei Stunden. Serghei, der einen frommen Eindruck macht, hatte nach etwa einer dreiviertel Stunde dem etwas eintönigen Singsang orthodoxer Fastenzeit genügend gelauscht. Wir gingen zusammen zu einem Bänklein mit schöner Aussicht gegen Jalta, wo Tschechow gerne an seinen Werken schuf. Unter uns, in einem 28ha grossen Park, die Sommervilla der russischen Präsidentschaft.
Anatoli Fiodorovitsch, der fünfundsiebzig jährige ehemalige ärztliche Leiter des „Pensionats“ wie Kurhäuser hier genannt werden, kam gemächlich auf seinen jüngeren Kollegen Serghei zu . Er hatte sich sehr für die Restauration des kleinen Kirchleins eingesetzt, das 1894 im georgischen Stil erbaut wurde. Aufgrund seiner Position konnte er sich erfolgreich dafür einsetzen. „Viele der Präsidenten habe ich behandelt. Chruschtschow, Andropov, Breschniew, Jelzin und Tchernomyrdin. Einfach sei keiner gewesen“ meinte er auf meine Frage, welcher der Schwierigste, wer der Umgänglichste gewesen wäre. Während des Kommunismus verkam die Kirche zum Lagerschuppen. Mosaiken, die mich an jene byzantinischer Kirchen und türkischer Moscheen erinnern, tragen Spuren von dieser Misshandlung.
„Jaja, in der Schweiz sei er auch gewesen. Was für eine angenehme Stadt Zürich doch sei. Und Lugano sei klimatisch Jalta ja sehr ähnlich. Genf hingegen wäre weniger sein Fall. Ein schönes Land, die Schweiz.“
Serghei, stolz auf die Beziehung seiner Frau zu einem „Spezialisten im Tourismus“ hatte meine Vorlesung an ihrem Institut angetönt. „Jalta hat viele Partnerschaften: Nizza, Acapulco, Santa Barbara in Kalifornien, Baden-Baden, und noch viele, und Arosa.“
„Wie bitte?“
„Arosa. In der Schweiz.“
„Das kenn ich allerdings sehr gut, dort habe ich neun Jahre ein Hotel geleitet, das Tschuggen Grand Hotel. Aber weder der Ober- noch der Untersee haben mit dem schwarzen Meer viel gemeinsam.“
„Mit einer Delegation bin ich dort gewesen. Man hatte uns eingeladen. Oben, ganz oben steht dieses Hotel“
Die Erinnerung an die Initiative von Florenz Schaffner, dem damaligen Kurdirektor tauchte auf. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion und der Hoffnungen auf diesen gewaltigen Markt, hielt er eine solche Partnerschaft für angebracht. Sie stiess auf wenig Begeisterung in der Bevölkerung. Auch bei uns Hoteliers. Vage erinnerte ich mich an ein oder zwei Empfänge, damals. Unsere heutige Wiederbegegnung überraschte uns beide, auch wenn wir uns an die Details nicht mehr erinnern.
Beim Spaziergang durch die Gärten des Livadia Palace kühlte sich das Wetter ab. Ein leichter Regen setzte ein. Ich lud Marina, Oxana und Serghei zum Mittagessen in das repräsentative Restaurant dort ein. Ein Fischgrat blieb in Marinas Hals stecken. Souverän nahm Serghei zwei Gabeln, entfernte sich mit Marina und erlöste sie in kurzer Zeit. Während ihrer Abwesenheit klärte mich Oxana auf, dass ich Sergheis Tätigkeit nicht verstanden hätte. Er sei wohl Anästhesist und bekannter Manipulator, als welcher er sich um Muskelschmerzen aus falscher Haltung, kümmere. Als solcher hat er den russischen Astronauten behandelt, der als erster sechs Monate im All verbrachte und dessen Muskeln nach Rückkehr völlig abgebaut waren. Darüber hinaus ist er spezialisiert in Reanimation. Besonders sei er am Übergang vom Leben zum Tod, am eigentlichen Sterbemoment interessiert. Er habe überdies die Fähigkeit, die Aura der Menschen wahr zu nehmen.
Am Nachmittag fuhren wir nach dem Weingut Massandra. Zar Alexander hatte es gegründet und Golitzin, der in der Nähe herrliche Weine produzierte, als Betriebsleiter bestellt. Dieser machte seine Arbeit so erfolgreich, das der Zar ihn zum Grafen adelte. Die Grafen Golitzin sind auch heute noch Besitzer dieses Guts. Einer der ihren lebte Ende der neunziger Jahre in Nizza und tut es hoffentlich heute noch. Wenn ich vom Vista Palace, dessen Übernahme durch Althoff ich 1997 begleitete, zur orthodoxen Kirche ging, war es als hielte die Messe an, wenn der zwei Meter grosse Graf die Kirche betrat, wirkungsvoll seine Kreuzzeichen schlug und und sich rituell bis zum Boden verneigte.
Die Weine, zum allergrössten Teil herrliche Dessertweine und „Portwein“, der den originalen stolz den Rang zu halten vermag, sind alle vorzüglich. Preislisten liegen nur in provisorischem, geschmacklosem Druck auf. Die Internetseite gibt's nur auf Russisch und Preise sind dort keine ersichtlich. Auch da klärte mich Oxana auf: Um das Gut tobe ein Übernahmekampf. Die Gegner seien keine feinen Leute. Um die Golitzins in die Knie zu zwingen, schrecken diese vor gar nichts zurück, bauen sogar Häuser in die Rebberge, welche das Gut zugemietet hat.
Das ist also das grosse Geld, von dem ich mich so beeindrucken liess, sobald es alt genug war, am Besten einige Generationen und Brandys gleich, bis sie den beissenden Alkohol verloren hatte. Darüber hatte doch Aldous Huxley in seinem „Point counter Point“ schon gespottet. Aber ich wollte es für meine Zeit nicht wahrhaben, schrieb solche Machenschaften längst vergangenen Zeiten zu.
Zum Abendessen war auch Sacha da, die jüngere Tochter mit ihrem Freund Serghei, den ich den II. nannte. Und Xenia mit Ivan, und den Schätzchen Pasch und Antoscha, die am Boden rumkrochen und spielten. So sei es jeden Sonntagabend, und hin und wieder auch unter der Woche.
Danach bereitete ich noch die morgige Lektion vor. Bis halb zwei. Und genoss es, wieder einmal vom arbeiten und vielen Eindrücken tot müde ins Bett zu sinken.
Mittwoch, 17. Apri 2013
Was war nur montags? Was gestern? Die Tage verlaufen so gedrängt, mein Leben ist so intensiv, diese Tage. Heute war vielleicht der erfolgreichste, obschon es gar nicht danach aussah. Ich hatte aufgetragen, Träume nieder zu schreiben, wo sie sich in 5 und als wen oder als was sie sich in zehn Jahren sehen. Darauf würde ich meinen heutigen Unterricht aufbauen.
Um 9.30 Uhr holte uns der Chauffeur des Hotels Orenda ab um uns zum F&B Mgr. Zu bringen. Er hätte zwar keine Möglichkeit, meine Dienste zu nutzen aber es würde ihn sehr freuen, mich kennen zu lernen. Etwas erstaunt war ich schon, denn ich hatte meine Dienste weder ihm noch sonst jemandem angeboten, aber für ein Nachtessen an einem einladenden Ort bin ich immer zu haben. Das wird morgen der Fall sein.
Danach besuchten wir Tschechows Haus. Eine „junge Frau von 95 Jahren“ führte uns umher. Ja, Ihr lest richtig: eine junge Frau von 95. Vermutlich war sie damals die Hausangestellte. Heute gibt sie sich als die Freundin von Tschechows Frau aus. In der Tat, sind Freundschaften zwischen Herrschaften und Bediensteten gar nicht so selten. Ich habe das bei unseren Gästen beobachten können. Wir allerdings betrachteten uns nie als Herrschaft, damals in Frankreich. Vielleicht sind wir gerade deshalb mit einem unserer Kindermädchen, Catherine, vertraut geworden und befreundet geblieben. Alla Vasilieva auf jeden Fall sprühte vor Erinnerungen, die sie geschickt und elegant mit der heutigen Zeit zu verbinden wusste und erzählte Bemerkenswertes und Amüsantes aus Tschechows Lebensgewohnheiten. Wir mussten uns beeilen, um rechtzeitig zur Lektion zurück zu sein.
Da wurde es schwieriger: Wer die Aufgaben wegen mangelnden Englisch Kenntnissen nicht machen konnte, wer kein Internet zu Hause hat und wer freimütig bekannte, es schlicht und einfach vergessen zu haben. „Na ja, was machen wir jetzt? Ich habe darauf meine heutige Lektion aufgebaut. Eure Träume habt Ihr wohl aufgeschrieben, oder?“
Der Besuch bei Tschechow hatte mich wohl etwas dramatisch gestimmt. Jedenfalls gelang es mir, sie von der Wichtigkeit des Traumes zu überzeugen, ihnen die Hemmungen davor zu nehmen. „Jeder Traum verwirklicht sich. Wenn Ihr, die Ihr mit eurem Studium gute Voraussetzungen mitbringt, euch auf Reisen seht und in zehn Jahren in einer beruflichen und persönlichen Situation, die euch Genugtuung und Freude bringt, habt Ihr recht. Zweifelt Ihr aber an euren Gaben und seht die Zukunft düster, mit einem Mann der trinkt und einer Frau, die nicht nur euch treu ist, habt ihr auch recht. Seid euch der Macht eurer Gedanken bewusst, pflegt sie, konzentriert euch auf das Gute. Ihr denkt, man könne auch nicht oder nichts träumen? Auch dann habt Ihr recht. Ihr werdet warten, bis etwas geschieht, hoffen, dass das Schicksal euch eine glückliche Fügung vorbehält und warten. Derweil ziehen die Jahre ins Land, Ihr habt vielleicht eine Familie, eine gute sogar, doch die Jahre ziehen an euch vorbei. Unmerklich werdet Ihr alt, eure Familie löst sich auf weil eure Kinder ihrerseits heiraten. Ihr betrachtet euch eines morgens im Spiegel und stellt fest, euer Leben nicht selbst gestaltet, eure Bestimmung nicht gesucht habt. So ist sie an euch vorbei gezogen... Ich begann diese Sätze inmitten der Bänke, laut, verständlich, lief langsam, schrittweise rückwärts, die Tonlage in stetem decrescendo. Die Wirkung war verblüffend.
Also, seid mutig. Ich gebe euch eine Viertelstunde. Notiert eure Wünsche, euern Traum. Jeder für sich. Danach werden wir sehen, wie man den Traum notiert, ihn in einen Plan umsetzt, diesen terminiert, Alternativen für Schwierigkeiten sucht und schlussendlich, Schritt um Schritt, seinem Zeil näher kommt. Los also!
Man hörte nicht einmal Fliegen summen und so nahmen wir es an die Hand. Danach analysierten wir die Websites von Clubmed als Zeitgemässe Ferienformel, Accor-Novotel als grösste Kreuzfahrt-Reederei der Welt, Disney-World war leider nicht runter zu laden, noch Mövenpick, deren Geschichte schön illustriert, wie man ein Grossunternehmen mit Wertschätzung der Mitstreiter aufbaut, ohne jemals die Grösse angestrebt zu haben, die Ueli Prager damit erreichte. Wir gingen zusammen in die Job & Karriereseite der Unternehmungen: Da seht Ihr, 160'000 Mitarbeiter bei Novotel, 50'000 bei Carnival, ebenso viel bei Clubmed. Warum solltet nicht Ihr einer von jenen sein? Nur Mut, die suchen euch!
Ausser den Wenigen, die bereits neben dem Studium in einem Hotel tätig sind, sind alle furchtbar Praxisfremd. Haben keine Ahnung, was die Welt ausserhalb von Jalta noch bietet.
Gestern begleiteten mich Ena, Svieta und Katya 2 nach der Lektion in den Nikitinsky botanischen Garten, zudem eine eher schmale Strasse der Küste entlang führt, durch Gärten, Reben und Olivenhaine. Montags Tamara Nikolaeva, Katya 2 und Nadja erneut zum Livadia Palace, der geschlossen war. Doch bekam ich delikate Tschebeurrecks zum Mittagessen, das Tamara arrangiert hatte. Sie sind alle so zuvorkommend, gerade zu lieb zu mir, der ich ihr Grossvater sein könnte! Danke, mein Schicksal! Erst recht, da ich das nie erträumt habe. Es war ein sonniger, aber trotzdem kalter Tag.
Donnerstag, 18.4.2013
Letzter Tag, letzte Lektionen. Eine um elf Uhr, zwei um 1 Uhr, Schluss 16 Uhr.
Alla Vassilieva 2 Schokoladen gebracht. Ausgeruht, fühlte mich geistig etwas ausgelaugt.
19 Uhr Dinner, eingeladen mit Marina von Viktor Dimitrevitsch, Deputy-General Manager des Orenda Hotels
Karamelisierte Birne mit Kreuzanis und Käse blinis, Salat von Rucola, Erdbeeren und Pflaumen an Gorgonzola
Turbot aus dem schwarzen Meer an Knoblauch grilliert, glasierte Schalotten, Cherrytomaten
Châteaubriand aus hiesiger Zucht mit Sce. Bearnaise
Carré d'agneau an cramberry sauce, (ausgezeichnet, trotz etwas langer Bratzeit)
Vareniki mit Kohl und Smetana
Vareniki mit Sauerkirschen und Honig
Trockene Weine aus Massandra, nichts Besonderes:
Aligoté, Careviv?? eine georgische Traubensorte.
Interessiert an Training: Victor soll mir schildern, wo meine Unterstützung den grössten Nutzen bringen könnte.
Er ist verletzt von Chief security u. anderen, die ihn angeschwärzt hatten. GD hatte bei vollem Hotel ein Diner von 200 Gedecken akzeptiert, das nicht i.O. Serviert werden konnte. Unsicher?
Sein grosses Thema: die Liebe als alles schaffende Kraft.
Geschenk nach Rückkehr: Escoffiers souvenir culinaires auf Englisch, hoffentlich gibt's und finde ich das .
Freitag, 19. April 2013
Wir haben gestern ziemlich viel und auch sehr gut gegessen und uns zu dritt zwei Flaschen genehmigt. Mein Erwachen war entsprechend und gab mir erneut Gelegenheit, der gourmandise abzuschwören und einfach vernünftiger zu geniessen. Etwas weniger halt. Eben vernünftiger.
Ich begrüsste Serghei, als er um acht Uhr das Haus verliess. Die Haustüre war abgeschlossen. Ich freute mich auf einen Vormittag alleine. Zügig hatte ich gepackt, nahm Tee mit etwas Früchte zum Frühstück. Ein Haufen Papier lag umher, den ich abgeräumt haben wollte: Rezepte übertragen, Visitenkarten ins Adressbuch aufgenommen, den File Jalta geordnet, jenen Freunden, die mir zum Geburtstag gratuliert hatten, einen Gruss aus Jalta schicken, sofern ich es noch nicht getan hatte und es waren derer eine ganze Menge. Zwar hatte ich den Rapport für Swisscontact noch nicht verfasst, als Marina mich zum Mittagessen rief. Trotzdem war ich mit dem Erreichten zufrieden und freute mich darauf, zum zweiten Mal schon ohne diesen ganzen Wulst an Paperasse von meiner Mission zurück zu kehren.
Die Studenten waren reizend. Die Fotosession wollte nicht aufhören, sie dankten freudig und immer wieder. Im Lehrerzimmer hatte man einen kleinen Empfang für mich organisiert, ich möge doch bald wieder kommen. Natürlich freut mich dieser Erfolg. Was mir vor allem aber gut getan hat, ist, dass ich wieder einmal richtig gefordert worden bin, dass ich etwas Neues, Unbekanntes angegangen war.
Serghei, Marina und Oksana zeigten mir das 80km entfernte Sebastopol, ehe sie mich nach Simferopol an und in den Zug begleiteten. Welch ein gewinnender Ort, Sebastopol! Nachdem wir ziemlich lange durch gesichtslose Quartiere gefahren waren, erreichten wir jene Bucht, wo der erblindete Fürst Vladimir 980 gestrandet war und gelobt hatte, sich taufen zu lassen und Gott zu dienen, wenn er ihm helfe. So geschah es, und von diesem Ort breitete sich der russisch-orthodoxe Glauben aus. Wie genau das war, vermag ich nicht zu sagen, denn die Sache hängt auch mit einem Schisma zusammen. Item. Sebastopol hat zahlreiche, malerische Buchten. Jene des Fürsten Vladimir, mit einer ausgedehnten griechischen Ruinenstadt, über welcher eine neuere Kirche thront. Die Seefront, wo sich Theater und weitere vorrevolutionäre Bauten befinden, hat etwas Majestätisches, Stolzes. In der Art erinnert es mich an Oslo, das ich 1973 anlässlich eines Relaiskongresses besucht hatte.
Auf der Hinfahrt hatten wir in Balaklava gestoppt. Eine enge Bucht, seit Urzeiten von Seefahrern benutzt und von wo aus im 2. Weltkrieg die russischen Unterseeboote ausliefen. Genuesische Wachttürme überblicken das Ganze, das etwas von Portofino haben könnte, wenn etwas mehr Charme die Bauten bestimmte. An Charme gebricht's hier an manchen Orten. Weshalb bloss? Wenn die Menschen nicht so offen und so Gastfreundlich wären, ich wüsste nicht, weshalb ich nochmals hierher zurück kehren sollte. Hier in Jalta habe ich mit Serghei, Marina, ihren Kindern und Enkeln und ihre Freundin Oksana, wunderbare Menschen kennen gelernt.
Samstag, 20. April
Die Zugsfahrt nach Kharkov, von 20.20. Uhr bis 7.50 hatte den Vorteil, keine Zeit zu verlieren. Durch den langen Aufenthalt in Kiev bis zum Weiterflug nach Kharkov hätte ich einen ganzen Tag gebraucht. Bequem war's nicht: Das Rollmaterial stammt gewiss noch aus den vierziger oder fünfziger Jahren, rüttelte und schüttelte, sodass man weder lesen noch am Labtop arbeiten konnte. Ich teilte das Abteil mit einer jungen Mutter mit ihrem fünfjährigen Söhnchen. Sie hatte nur eine Couchette gebucht, unten, mir gegenüber. Die freundliche Schaffnerin kontrollierte das genau und nahm die überzählige Bettwäsche aus dem Abteil. Ich überliess ihr meine Liege und stieg hinauf. Der Kleine hatte am Morgen ein schwieriges Erwachen. Meine Slideshow über das Ticino versöhnte ihn dann aber rasch mit seinem Schicksal.
Anna erwartete mich am Wagonausgang. Sie hat ihre natürliche, dunkelblonde Haarfarbe. Ihr Lachen wirkt überzeugender. Nachdem sie mich in eine ihrer neuen Wohnungen gebracht hatte, holte sie mich zwei Stunden später ab. Wir besuchten diverse ihrer Mietobjekte. Es scheint gut zu gehen, sie hat mehrere dazu gekauft. Wir sprachen mit den Reinigungsfrauen, die sich offensichtlich meiner erinnern. Das System der geteilten Büros, das administrative in einer „gated community“ um vor Überfällen wie letzten Herbst geschützt zu sein, und die Verkaufsbüros in einer unscheinbaren Parterre-Wohnung, hat sich erwartungsgemäss nicht bewährt. Nun wird sie im Juni wieder alles in neuen Büros zusammen ziehen.
Anna schlug einen Hight Tea im Kharkiv Palace anstelle des Lunch vor. Es war ja auch schon fünfzehn Uhr. Auf der ausladenden Terrasse vor dem Café fotografierten junge Leute Models und alberten herum. Die Models waren sichtlich Amateure, wie der unsichere Gang auf ihren extremen high heels offenbarte. Der Küchenchef, der während einer kurzen Abwesenheit von Anna am Tisch vorbei lief und über das Panorama witzelte, kam nochmals vorbei, warf einen bewundernden Blick auf Anna, die zwischenzeitlich zurück gekehrt war. Er erzählte von der Mutter, welche von ihrem Sohn wünschte, dass seine erste Frau eine Russin sei.
„Warum denn, Mamma?“
„Russinnen sind starke Frauen. Sie werden dich das Leben lehren. Und deine zweite soll aus der Ukraine stammen.“
„Aus der Ukraine?“„Ja, aus der Ukraine. Dort leben die schönsten und zärtlichsten aller Frauen. Deine dritte aber soll eine Jüdin sein.“
„Ausgerechnet!“
„Selbstverständlich eine Jüdin. Keine andere kümmert sich liebevoller um das Grab ihres verstorbenen Gatten.“
„Sehen Sie Anna, auch wenn Sie nur Vierteljüdin sind, wie sie mir im Herbst anvertrauten, wären Sie meine perfekte dritte Frau“ brachte ich sie zum Lachen. „Leider geht das nicht. Mir fehlt nämlich die zweite...“
Ich habe heute Annas Mutter kennen gelernt. Sie kränkelt, laut Anna. Eine zierliche, sympathische Frau. Sie kümmert sich gerne um ihr Enkelpärchens vom Sohn, welches sich nun auf ein Schwesterchen freut. Von ihrem Mann Viktor hat sie ein total getrenntes Leben, obschon die beiden verheiratet geblieben sind. Dieser gärtnert und verdient sich so ein Zubrot und sieht nach Anastassja, Annas Tochter.
„Ja, im Westen ist man im Alter vielleicht schon fröhlicher gestimmt“ meinte Anna auf meine Bemerkung, dass ich heute alles viel weniger ernst nehme und mich umso mehr freue. Man mache sich in der Jugend zu viele Sorgen. Es war ein Gespräch über Anastassjas Erziehung und Verwöhnen. „Bei uns ist das nicht so. Sehen Sie, meine Mutter hat 48 Jahre am Konservatorium gelehrt und hat nun eine Rente von 150 € monatlich. Davon gehen schon mal an die 50 € für Gas und Elektrisch weg. Mit dem Rest kann man leben, solange man nicht krank wird. Wie das wäre, ohne meine Unterstützung weiss ich auch nicht“.
Sonntag, 21.4.
So langsam wird mir die Zeit lang und ich freue mich auf zu Hause, trotz der anregenden Gesellschaft. Vorgesehen war, dass wir nach 10 Uhr einige Apartments miteinander besichtigen würden und danach an der Website weiter arbeiten.
Am Nachmittag würde ich Anna und Nastjusha in ein Waisenhaus aufs Land begleiten. Anna hat alte Kleider dort abzuliefern und kümmert sich um eines der dortigen Mädchen. Es sind zum Teil echte Waisen, zum Teil eine Art Verdingkinder, welche die Eltern weggeben weil sie schon nicht wissen, wie sie anderen durchfüttern sollen. Wieder andere entstammen Problemfamilien, deren Eltern trinken, im Knast landeten oder sonstwie einfach verdufteten.Wie natürlich diese Kinder sind: Sie guckten verwundert, als wir in den Garten einfuhren, grüssten danach freundlich. Sie nahmen Nastjusha sofort als Spielgefährtin auf, die ebenso natürlich auf sie zuging. Anna ist wichtig, dass ihre Tochter ihr Daheim nicht als selbstverständlich nimmt und auch andere Verhältnisse kennen lernt.
Das Gebäude ist alt, dürftig, aber blitzsauber. Ich hatte noch zwei Tafeln Schokolade, die ich Svetlana, der dortigen Leiterin gab, die uns im zweiten Stock in einem grossen, leeren Raum erwartete. Ein Junge sass dort am Fenster, einen Atlas in der Hand. „Aus der Schweiz sind Sie?“ Sofort schlug er nach und hielt die wesentlichen Angaben fest: „4 Sprachen, (noch) 7 Mio. Einwohner. Hauptstadt Bern. Reiches Land, ja?“ „Bogdan, zehn“ antwortete auf die Frage nach seinem Namen und Alter. „Jürg? Ist das Juri, Georg auf Russisch?“ Ein Mädchen hatte sich unaufdringlich zu uns gesellt. „Kak tebia savut?“ „My name is Jana“ antwortete sie auf Englisch. Es ergab sich eine nette Konversation über Länder und Reisen. „Oh, er wisse genau, wie er nach Amerika komme,“ erklärte Bogdan, „über Ungarn, Österreich, Deutschland und dann an die Atlantikküste Frankreichs.“ Geografie, Geschichte und Mathe seien eben seine Lieblingsfächer. Doch schon unterbrach Anna unsere Plauderei. Sie nahm die dreizehnjährige Oksana mit ins nächste Dorf um ihr dort Kleider zu kaufen. Svetlana kam um sich zu verabschieden, nachdem es Bogdan und Jana getan hatten. „Wenn Sie mich als Kind wollen, komme ich sofort mit“ rief mir Bogdan nach, als Anna und ich bereits unter der Türe standen.
Das gab mir einen Stich ins Herz. Ein so kluger, aufgeweckter und sympathischer Junge: „Wenn Sie mich als Kinde wollen, komme ich sofort mit.“ Obschon ich ihm eine beeindruckende Lebensgestaltung aus eigener Kraft zutraue, schmerzt mich diese Frage. Den Geist im Hause empfinde ich als vorbildlich, die älteren Damen und Svetlana, um die 45, schenken den Kindern sicher alle Zuneigung, die sie vermögen. Wie aber sieht es wohl in einem Kinderherzen aus, das die Nähe von Eltern nie verspürt hat oder wenn, dann in negativer Spiegelung? Anna verriet mir, dass sie mit sechzehn ein Kind, einen Jungen verloren hätte. Unter Tränen und mit stockender Stimme gestand sie, überzeugt zu sein, dass dieses Kind irgendwo lebe. Leider könne man nicht allen helfen, aber das sei der tiefere Grund, weshalb sie dieses Waisenhaus unterstütze. Wenigstens wolle sie sich um die dreizehnjährige Oksana weiter kümmern.
Mir will scheinen, dass ich Moment wichtige Erfahrungen mit einer lebenslangen Verspätung mache. Vielleicht ist es ja so, dass sie sich früher schon präsentierten, ich sie aber erst jetzt zulasse.
Jetzt muss ich aber noch an diese Website. Es ist halb sechs. In einer Stunde gehe ich mit Tatjana, Annas Schwiegermutter ins Konzert.
Montag, 22. 4. 2013
Besichtigung des Hauptbüros
Kritisches Durchgehen der Websites: 2!
Starker Pfnüsel. Abends kurzes Treffen mit Irina Kovtun von Swisscontact.
Sie hat gute Echos von Marina. Ich habe ihr offen gesagt, wie angenehm die Menschen dort sind, doch wie hoffnungslos sich die Situation präsentiert: Das Verkommen der Stadt Jalta, die eine Perle sein könnte, wollte man die architektonische Substanz nur anständig und stilgerecht restaurieren. Aber nichts da: Magaratsch, ein berühmtes Weingut mit hochkompetenten Oenologen wurde geschlossen und Baulöwen geopfert. Unglaubliche Bausünden von reichen Leuten, die nichts anderes als kurzfristiger Profit interessiert, entstellen das Antlitz der Küste. Im Kirov, ein wunderbarer Park siecht eine Gründervilla und ein hässlicher sowjetischer Hotelbau vor sich hin, wie man sie leider durchaus auch bei uns und an der Adria Küste sieht. Dieser Sitz sollte das Wahrzeichen der Stadt und Anziehungspunkt für Gäste wie Bevölkerung sein! Hilflos zuckte der Direktor die Schultern und meinte, sie seien daran, Pläne zu schmieden. Das Hotel Rossija, das im 19.jh als erstes über elektrisches Licht und Lifte verfügte, vom weitgereisten Tschechow als bestes Hotel Europas besungen, wurde zwar schön renoviert, aber vollständig in Wohnungen umfunktioniert. Es ist voraus zu sehen, dass sich die Promotoren aus dem Staub machen werden, sobald das letzte Apartment verkauft sein wird. Privatinteressen, Kompetenz- und Verständnismangel für die heutige Lage wie auch für die Zukunft prägen das Bild. Wovon soll denn Krim leben, wenn nicht von Tourismus und etwas Weinbau? So ist das bei uns, meine Irina Kovtun. Unsere Politiker handeln streng nach dem napoleonischen Grundsatz: „Für meine Freunde alles, für die Andern habe ich das Gesetz.“
Ich ziehe in eine andere Wohnung, ins Zentrum in die Stadt. Danach trafen wir noch Andrey I, der Web-Marketingspezialist von Annas Seite www.kharkov-apartment.com. Warum diese auf den Suchmaschinen so weit hinten ist, und zwar sowohl in englischer wie auch in der russischen Ausgabe, vermag er nicht zu sagen.
Anna ist sehr rücksichtsvoll: sie half mir, mein Gepäck in den 4. Stock zu schleppen und bestand darauf, dass ich sie anrufe, sollte sich mein Zustand verschlechtern.
Dienstag, 23. April 2013
Anna hatte gestern erzählt, wie ergeben Maxim ihr seit der Scheidung ist. Wie er gelitten hatte, als sie kurz danach einen Mann kennen lernte, eine vorübergehende Beziehung einging. Er kümmert sich rührend um die Tochter, macht alles, um Anna angenehm und behilflich zu sein. Er wird es wohl sein, der mich morgen um 5 Uhr früh zum Flughafen bringen wird, denn ihr geschäftlicher Tag beginnt nie vor 10 Uhr. Ich habe ihr Brels „ne me quitte pas“ aus youtube gesandt. Sie hat von Brel noch nie gehört. Wäre schön, wenn sie dies Maxim wieder etwas näher bringen würde.
Wir werden heute Andrey II treffen, der für die zweite Website, für air-bnb zuständig ist. Diese erstellt er kostenlos. Sie ist fliessender in der Handhabung, eleganter im Design entworfen als die erste. Er gibt sich mit allfälligen Kommissionen zufrieden, sollte die site tatsächlich solche produzieren. Das sei eben Teil seiner intensiven Verehrung für sie, meint Anna. Sie wollte mir nicht verraten, welchen Platz Andrey II auf ihrer Warteliste besetze. Das sei zu privat. „Macht nichts“, sagte ich. „Ich werde das auf Google nachsehen“. Sie hat ein ansteckendes Lachen und es gefällt mir, sie zu amüsieren. Danach will sie mit Olga und mir meinen Rapport vom November weiter durchgehen, den wir gestern zu lesen begonnen haben. Durchaus erstaunlich, dass sie Verschiedenes umzusetzen vermochte in einer Zeit, welche durch Umzug und Aufteilung der Büros nicht einfach war.
Zum Businesslunch lädt sie mich und Irina Kovtun ins Kharkov Palace ein. Sie ist gerne grosszügig und sehr elegant, schätzt Zuvorkommenheit, betont aber hin und wieder, dass sie „ihr jüdisches Viertel“ vor Übertreibungen behüte. Binde mir gleich eine Krawatte um! Das Wetter verdüstert sich wieder.
Einen schlechten Morgen habe sie heute, meinte Anna, als sie im Auto angerauscht kam. Sie trug casual chic, den ich eher straschni chic, grässlichen Chic nennen würde, nämlich zerschlissene Jeans, eine hübsche, dunkelblau geblumte Bluse auf grau-braunem Hintergrund und ein braunes, ungefüttertes Manchesterjäckchen mit fein und locker gestrickten Manschetten und Kragen in dunkelbrauner und Kupferfarbener Wolle . Ich war sehr zufrieden mit mir selbst, dass ich mich jeglicher Bemerkung enthalten hatte, mich erinnernd, dass sie zehn Jahre jünger als unsere Tochter ist. Sie legt Wert auf meine Begutachtung, wie sie mehrmals sagte. Hätte sie mich heute danach gefragt, wäre meine Reaktion vermutlich folgende gewesen: „Wünschen Sie, dass ich Ihnen als Freund oder homme de goût antworte?“
Ich wusste, dass sie verabredet war, den Vertrag ihrer neuen Büros zu unterzeichnen. Da sei doch der Wachmann faul auf seinem Stuhl gehockt, hätte in die Röhre gekuckt, ohne sie zu grüssen, geschweige denn, sich zu erheben. Sie wäre mit dem Direktor verabredet, wo sie ihn finden könne. Der sei nicht da, antwortete er, ohne aufzublicken. „Ich bin nicht dafür da, weder um Sie anzublicken und schon gar nicht um mich zu erheben für Sie,“ meinte er auf Annas Hinweis auf sein Benehmen, „ich bin dazu da, das Gebäude zu bewachen.“ Ein Relikt aus sowjetischer Zeit.
Der Vertrag sah dann auch sehr vorteilhaft aus: 200 grivna monatlich für ein Büro mit drei Räumen, was lächerliche 24 Schweizerfranken ausmacht. Sie unterzeichnete, alles wurde ordnungsgemäss registriert. Effektiv bezahlt sie aber monatlich 5000 grivna. In diesem Wirtschaftssystem ist man zu Schwarzgeld gezwungen, wenn man überleben will.
Zur Geschichte vom letzten Herbst:
Der Partner, welcher ihr damals drei Wohnungen zur Vermietung überliess, war gleichzeitig ihr Liebhaber. Er stellte ihr einen Bekannten vor, einen Polizeioffizier aus Kharkov. Dieser gab ihr ebenfalls seine Wohnung zur Vermietung. Einmal richteten Mieter beachtliche Schäden an. Der neue Bekannte wurde wütend, bestand sogleich auf Bezahlung der Schäden in sehr brüsker, unhöflicher Art. Der Polizist wurde ungehalten, bezichtigte sie der Steuerhinterziehung und weiterer Verfehlungen und zettelte Untersuchungen an. Ihr Liebhaber kam etwa zur gleichen Zeit in geschäftliche Schwierigkeiten und verlangte, bei Anna ins Geschäft einzusteigen. Anna lehnte ab. Sie vermische aus Prinzip nichts Privates und Geschäftliches. Nun war er plötzlich nicht mehr ihr Lover. Er unterstützte seinen Bekannten in seinen Forderungen.
Nebst den geschäftlichen Schwierigkeiten war es ihm unerträglich, dass eine Frau so selbständig handelte. Desgleichen war es für den Polizisten, den sie mit einigen Tausend $ ruhig, aber nicht zufrieden stellte. Anna entschuldigte, bedauerte, unterwarf sich. Das sei typisch für die Ukraine. Man lebe hier in einem alles bestimmenden Patriarchat. Als Frau dürfe man einen Mann nie direkt konfrontieren, sondern müsse hingebungsvoll, schmeichelnd und schwach auftreten und alles mit vielen Komplimenten für den Mann überzuckern. Nur so gelinge es, seine Position als Frau zu behaupten.
Einer ihrer Bekannten aus Kiew in hoher Position konnte feststellen, dass nichts Haltbares an den Vorwürfen gegen Anna war und empörte sich über die unverhältnismässige Vorgehensweise der Kharkover Polizei. Er stoppte die Aktion, und zwei der fehlbaren Beamten in Kharkov wurde gekündigt.
Ihr Ex-lover entschuldigte sich später. Für Anna wurde einmal mehr klar, wie unerträglich eine selbständige Frau für die ukrainischen Männer ist. In der Ukraine sind die Frauen in Überzahl. Deshalb brauchen sich die Männer auch gar nicht anzustrengen. Zu einer Frau kommt jeder! Wenn Männer darüber hinaus noch über Geld verfügen, sind sie oft unausstehlich. Beziehungen funktionieren hier halt ebenfalls nach den Gesetzen des Marketings, nach Angebot und Nachrage, meint sie.
Ich denke, dass meine Miteidgenossen, die der Liebe wegen in die Ukraine reisen, vor allem auf den ersten Teil der Komödie reinfallen. Die Ukrainerinnen ihrerseits schätzen den zivilisierteren Auftritt von uns Schweizern, auch wenn das zuweilen etwas eintönig daherkommt.
Rückflug:
Nicht ein einziges Mal habe ich in all dieser Zeit mein Russisch Grammatikbuch geöffnet. Praktiziert habe ich nur, wenn es nicht möglich war, mich in einer anderen Sprachen zu verständigen. Und das nach 15 Jahren! Das Zuhören verlangt von mir eine kaum zu erbringende Konzentration. Auch dann verstehe ich höchstens 40-60%, doch meine Gesprächspartner wissen nicht, was ich schlussendlich mitbekommen habe. Sollte ich im September wieder hingehen, will ich nun endlich täglich lesen, Satzanalysen machen, und regelmässig – was immer das heissen mag – TV, Hörbuch oder Radio hören.
Wenn es dann noch immer nicht klappen sollte, gebe ich auf und konzentriere mich auf die anderen Sprachen, die ebenfalls unterhalten werden wollen. Heute geht es schliesslich nicht mehr um diese Durchhalteübung, die ich fürs Bestehen in meiner Selbständigkeit unbedingt brauchte. ( Kaum habe ich das geschrieben, komme ich mit der Sitznachbarin ins Gespräch. Sie versteht offenbar keine Fremdsprache und wir plauderten Russisch schön fliessend miteinander.... ach!)
Zum Trost gereicht mir der Eindruck, dass ich präziser schreibe. Auf Deutsch. Sogar meine gestrenge Margot meint, dass diese Ausgabe meines ukrainischen Tagebuches das Beste sei, was ich bisher geschrieben hätte. Ich hoffe, dass ihr Urteil nicht nur auf dem Auslassen von Begebenheiten mit Frauen beruht.
Endlich habe ich Carla Porta Musas Buch, „ le stagioni di Chiara“ das diese mir im Kronenhof freundschaftlich gewidmet hatte, gelesen und vor allem genossen. Im letzten Drittel wird die Handlung zwar ziemlich voraussehbar, wirkt dadurch konventionell und etwas süsslich. Es ist ein Buch für Frauen, welches die seelische, geistige Entwicklung einer Frau beschreibt, die sie durch ihre Beziehungen zu Männern erfährt. Eine sehr subtile Schilderung in einem schönen, ungekünstelten Italienisch. Die Aufteilung der Erzählung in kurze, prägnante Episoden bringt mich auf die Idee, mein Tagebuch, auf jeden Fall jene über 400 Seiten seit meiner Selbständigkeit vor 16 Jahren, auf die gleiche Art zu konzentrieren (kompostieren?) auf vielleicht 60-80 Seiten? Sollte genügend lesenswerter Stoff vorhanden sein, und sei es nur die Suche nach mir selbst, kann ich vielleicht das Eine oder Andere aus den beiden dicken Ordnern dazu nehmen, die mein Leben seit 1968 aufzeichnen, wenn auch ziemlich lückenhaft? Dann müsste es in der dritten Person geschrieben sein um nicht zur Nabelschau zu verkommen, was ein TB über weite Teile ja wohl immer ist.
Mit dem Einbeziehen von Familie, Persönlichkeiten denen ich begegnet bin und da und dort einer Hotelbegebenheit, könnte ich das vielleicht auflockern? Es wären da auch noch ein paar Briefe, deren Wiederlesen mich ganz zufrieden macht. Nichts soll für die Veröffentlichung bestimmt sein. Der Marketingmässige Aufwand um Erfolg zu haben, ist dafür viel zu gross (in meinem Alter) und eine Publikation im Eigenverlag, die man dann allen Freunden und Bekannten gratis aufzwingt, ist peinlich. Einfach so, um zu sehen, ob ich nicht doch noch einmal etwa Grösseres auf die Reihe bringe?
Der Rückblick auf frühere Anstrengungen ist dazu nicht ermunternd: wenn ich schon einmal etwas Längeres an die Hand nahm, gebrach es mir oft an Kraft, dieses den Vorstellungen gemäss durchzuziehen. Ich erinnere mich noch gut an Allan Fentons Bemerkung über sein witziges Buch the shadow of the tycoon, welche Anstrengung es ihm abverlangt hatte, täglich konsequent von 9-12 daran zu arbeiten. Und er war damals um die fünfzig! Aber beschäftigen und unterhalten würde mich so ein Projekt allemal. Ich wäre dann, wie die Franzosen sagen würden, ein écrivant, im Unterschied zum publizierenden écrivain.
Wir sind gelandet. Aussteigen! Ah, wie schön, wie gepflegt und wie Vertrauensspendend ist es in unserer Schweiz!