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Von Jürg Thommen Schein und Sein - Ein Hoteliersleben
Es werden nur Texte von über 10 Internet-Seiten publiziert.
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Vollendete Autobiographien: 191
 
Jürg Thommen
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Papi, mein Vater / 31.10.2019 um 22.15 Uhr
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Die Ehe meiner Eltern / 18.11.2019 um 19.31 Uhr
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Bürgenstock Hotels and Resort. Mein letztes, glücklichstes Assignment als Hotelier / 20.11.2019 um 12.59 Uhr
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1.
Anstelle eines Vorworts.
2.
Schnappschuss aus den jungen Jahren meiner Eltern
3.
Mami, meine Geburt und meine Vornamen
4.
Papi, mein Vater
5.
Die Ehe meiner Eltern
6.
Mein Bruder Raeto
7.
Grosmami, meine Grossmutter väterlicherseits - oder warum aus mir ein Koch wurde.
8.
Mamis Grossfamilie in der ältesten Stadt der Schweiz
9.
Kindergarten: erste Erfahrungen mit der erweiterten Umwelt
10.
Erste Schuljahre
11.
Sekundarschule und/oder Gymnasium?
12.
Lehrzeit als Koch
13.
Freizeit
14.
Armee
15.
Wanderjahre: Engadin und Paris
16.
Perugia, Università per stranieri: eine Offenbarung
17.
Lausanne, École hôtelière
18.
Stagiaire de salle
19.
Als Kellner in Florenz
20.
Administrationskurs an der Hotelfachschule Lausanne
21.
Stagiaire am Empfang des Hotel Excelsior, Florenz
22.
Winter im alten Grand Hotel Tschuggen in Arosa 1966/67
23.
Verliebt in Venedig
24.
Manchester
25.
Erste Ehejahre und Patricks Geburt
26.
Vive la France!
27.
Megève. Von der Côte d'Azur in die Savoyer Alpen
28.
Sesshaft am Lago Maggiore
29.
Das neue Tschuggen Grand Hotel in Arosa
30.
Der historische Kronenhof Pontresina - Ein Grand Hotel von 1848
31.
Auf zu neuen Ufern
32.
Berater, Vermittler, Hotelier auf Zeit
33.
Familienfeste und Private Reisen
34.
Bürgenstock Hotels and Resort. Mein letztes, glücklichstes Assignment als Hotelier
35.
Ende 2005 -schon Rentner?
36.
Anhang: Ecuadorianisches Tagebuch - Journal équatorien
36.1.
Tagebuch Ukraine
Meinem Vater, der meinen Bruder und mich gelehrt hat, aus jeder Situation immer das Beste zu machen.
Anstelle eines Vorworts.
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1.  Anstelle eines Vorworts.

 

Nach dem Ende meiner Tage wird Gott mich fragen

 

Und, hast du es genossen, dein Leben?

Hast du rein gebissen wie in einen knackigen Apfel?

Hat dich Kinderlachen entzückt,

Disput und Auseinandersetzung, haben sie dich belebt,

Freundschaften bereichert?

Bist du aufgegangen in der Liebe,

stähltest du dich mutig im täglichen Kampf?

Verzauberte dich der Blüten Liebreiz,

Liessest du dich von der Schönheit der Natur überwältigen?

Sage mir, hast du es gesehen, gespürt, genossen, dein Leben

oder hätte ich all die Pracht umsonst erschaffen?

 

 

 

Schnappschuss aus den jungen Jahren meiner Eltern
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2.  Schnappschuss aus den jungen Jahren meiner Eltern

Meine Eltern würde man heute als Hipster bezeichnen, so wie die beiden in den Dreissigerjahren gelebt hatten. Den Schilderungen Mamis nach, verkehrte sie mit Freundinnen, die sie vom Beruf her kannte, schon bald im Freundeskreis von Papa, alles Seebacher. Besonders geprägt hatten den Kreis die Gebrüder Luzi und Gulli Schiavi, “Secondi”, deren Eltern von Mailand eingewandert waren. In ihrer Familie wurde die Italianità gepflegt. Luzi wie Gulli liebten Sportwagen, Gulli war Segelflieger und alle liebten schöne Frauen. Man verkehrte in den angesagten Lokalen, liebte das Tanzen und hatte es lustig. Der Absturz Gullis, kaum dreissig jährig riss eine schmerzliche Lücke in diesen Kreis

Auch später, als die meisten von ihnen geheiratet hatten und sich alle gesetzter gaben, trug Vater Massanzüge, fuhr immer ein schickes, wenn auch mittelständisches Auto. Mami als ehemalige Schneiderin, eine kurze Zeit sogar bei Grieder, einem der renommierten Modehäuser Zürichs, trug fast jedes Mal eine neue ihrer Kreationen an den zahlreichen Abenden der beiden ausser Haus. Wie seit jeher, zum Plaudern und Tanzen.Möglichst distinguiert, anders als die Andern, aber immer schön den Konventionen der Schönen und Reichen folgend, oder dem, was man dafür hielt. Wie es sich gehört, halt.

Der herannahende Krieg, nicht die Romantik, liess die beiden am 1. Juli 1939 fürs Heiraten entscheiden. Die Zeiten um sich ein eigenes Nest zu bauen waren günstig: Wohnungen in allen Preislagen standen nicht nur zahlreich zur Verfügung. Die ersten drei Monate wurden den neuen Mietern bei Unterzeichnung eines Mietvertrages von mindestens einem Jahr erlassen.

Man entschied sich für eine hübsche Dreizimmer-Wohnung an der Möhrlistrasse 90 im Zürcher Kreis 6. Der grosse Balkon gab auf eine schöne Wiese mit Birken . Auch der Sandkasten für die Kinder, die in diesem Haus geboren würden, war schon da, Röbi Kleinknecht, Marianne und Käthi Heusser und eben wir zwei, Raeto und ich. Später, als ich etwa zwölf war, zogen wir in die Möhrlistrasse 91 um, in eine grosszügige Viereinhalb- Zimmerwohnung mit Berliner Zimmer.

Es war ein Wohngebiet für Angestellte am Fusse des wohlhabenden Zürichbergs. Eher für Bessergestellte. Genossenschafts-Wohnungen gab es da keine. Solche befanden sich an der unterhalb parallel verlaufenden Winterthurerstrasse.

 

 

 

Mami, meine Geburt und meine Vornamen
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3.  Mami, meine Geburt und meine Vornamen

Mein Mami, Christina, wurde am 6. März 1909 in die Familie Naeff-Schildknecht mit elf Geschwistern in Chur geboren. Sie ging „auf dem Hof“ zur Schule, wenige Schritte vom „Naeffen-Hüsli“ entfernt. Sie grenzte ans benachbarte Bischof-Schloss an. Ingenbohler Schwestern unterrichteten Gott ergeben, mit wenig pädagogischem Können oder Talent. Ausser dem Katechismus und dem Rosenkranz hätte sie dort wenig gelernt, berichtete uns Mami. Wen wunderts, dass ihr die älteste Stadt der Schweiz bald einmal zu eng wurde. Christina ging nach Zürich, wo sie Schneiderin wurde wie man später noch lesen wird.

Christina nannten alle Marti. Niemand wusste warum. Freunde der Eltern bedauerten das, ebenso Vater, doch nur ihre Freundin Betty nannte sie als einzige Christina. Ich wurde auf die Namen Ernst Jürg getauft. Nach meinem Vater der erste, nach der Churer Herkunft der Mutter mein zweiter Vorname. Ich wurde nur Jürg gerufen. Von den Eltern, von der zahlreichen mütterlichen Verwandtschaft, den Bekannten und Freunden meiner Eltern. Von meinen Spielkameraden sowieso. Als Jürg figurierte ich im Pass meiner Mutter, entsprechend dem damaligen Familienrecht. Später in meinem eigenen. Erst bei Eröffnung eines Pensionierten-Kontos bei der Postfinance musste ich mit dem nüchternen Ernst Bekanntschaft machen. Die Banken, und auch die Post, seit einigen Jahren zur Postfinance mutiert, verlangten nun plötzlich nach Identitätskarten zur Kontoeröffnung. Und die lautet eigenartigerweise auf Ernst Jürg.

Fertig lustig mit der Jahrzehnte alten Hochschätzung der Anonymität, der die Geldinstitute seit jeher gehuldigt hatten. Seit 2006 heisse ich deshalb Ernst Jürg. Im täglichen Umgang verwende ich aber noch immer, und nicht ohne Stolz, meinen romanischen Vornamen Jürg.

Meine Geburt, am 4. April 1941, in der Pflegerinnenschule Zürich war eine schwierige. Steisslage. Ungewissheit ob und wie ich überleben würde. Berühmte Professoren kümmerten sich um mich. Das besänftigte die Angst meiner Eltern, schmeichelte ihrer Eitelkeit und geriet dank deren professoralen Fähigkeiten zu meinem Glück.

 

Papi, mein Vater
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4.  Papi, mein Vater

Mein Vater Ernst Thommen kam in Seebach ZH zur Welt, 1909. Was sein Vater arbeitete, habe ich vergessen. Dieser starb an einer Blinddarmentzündung, als sein Sohn, also mein Vater, vier war. Dieser Verlust hatte meinen Vater geprägt. Zeitlebens und trotz seiner zahlreichen, eher versteckten Eskapaden, kämpfte er dafür seinen Söhnen das zu bieten, was er vermisst hatte: eine Familie.

Aus seinen Erinnerungen ist mir die verschworene Bubenbande aus Seebach gegenwärtig. Ihre Erzfeinde seien die Örliker gewesen. In den Kampf gegeneinander seien sie auf offenem Feld gezogen. Bewaffnet mit Bohnenstickeln, mit langen Schnüren von Rosskastanien, mit denen sie auf die Feinde eindroschen. Geschützt hatten sie sich mit Schildern aus Fassdeckeln. Es soll dermassen zugegangen sein, dass sogar einmal ein Bub zu Tode gekommen sei. Die Seebacher seien immer als Sieger hervorgegangen! Luzi und Gulli Schiavi, Jakob „Jack“ Lenzin, Walti Hofmann, Emil „Migg“ Eichenberger bildeten den Kern der Bande. Sie überdauerte, bis einer nach dem Anderen wegstarb, in hohem Alter. Papi ging zu Herrn Rudolf Schoch zur Schule, der auch der Primarlehrer von mir werden sollte. Zeugnisse legte Papi vor, deren Noten mich allesamt beschämten. Wenigstens solange, bis mir mein Schulfreund Hans Bänninger in der fünften Klasse sagte, früher wären 5er, ja gar 6er viel leichter vergeben worden. Ehrenwort von seinem Vater!

Eigentlich wäre Ernst gerne Zugführer geworden. Zur damaligen Zeit erforderte das eine vierjährige, schulische, somit unbezahlte Ausbildung. Das war seiner alleinerziehenden Mutter nicht möglich. Sie schickte ihn deshalb zur Firma Grambach Glashandel AG in Seebach, die ihren Ernst als kaufmännischen Lehrling aufnahm. Dieses Ausweichen auf das Mögliche hatte beim jungen Ernst keine Depression zur Folge, noch war eine psychologische Unterstützung nötig, wie das heute so oft der Fall ist. Man nahm, was man kriegte und legte sich ins Zeug. Zum guten Lehrabschluss belohnte ihn Vater Grambach mit der Prokura. Papi arbeitete in dieser Position mit entsprechendem Lohn, bis er sich ein Jahr später das Geld zusammengespart hatte, um an die Swiss Mercantile School nach London zu gehen. Danach arbeitete er in Paris, dann in Monte-Carlo als Privatsekretär des Direktors des Hôtels de Paris. Wenige Monate nach seiner Anstellung gingen die Engländer vom Goldstandard weg, der Wert des englischen Pfundes halbierte sich. Die daraus resultierende Krise im „Fremdenverkehr,“ wie der Tourismus damals hiess, hatte zur Folge, dass alle Ausländer im Fürstentum entlassen wurden. Algerien hatte zu jener Zeit gerade die Wintersaison eingeführt. Papi machte sich auf dorthin.

Wir bezahlen Ihnen die Retourfahrt in die Schweiz, Herr Thommen. Ohne Aufenthaltsbewilligung kriegen Sie hier keine Arbeit, und ohne Arbeit keine Aufenthaltsbewilligung,“ bescheinigte ihm der konsularische Vertreter der Schweiz in Algier. Papi liess sich nicht entmutigen. In einem Stundenhotel fand er Anstellung als „homme-tout-faire“, sozusagen als Mädchen für alles: Zimmer putzen und vor allem neu einbetten (er war nach der Anzahl der benutzten Leintücher bezahlt), reinigen des ganzen Hauses, besorgen des Steingartens, servieren. Er machte sich unentbehrlich. Die Besitzerin stellte den Antrag auf Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Sie deklarierte ihn als absolut unersetzlichen Übersetzer, auch für Sprachen, die er überhaupt nicht kannte. Kaum hatte er die Bewilligungen in der Tasche, meldete er sich beim Grand Hôtel d'Alger, das einen Chasseur, einen Gehilfen für den Portier suchte. Offenbar war er auch dort sehr geschickt, denn nach kurzer Zeit war er Vize-direktor. Si Kaddour Ben Ghabrit, begegnete er, dem späteren Begründer der Moschee von Paris, Beschützer der Juden während den Verfolgungen durch die Gestapo und ebenso Ivar Kreuger, einem der grössten Tycoons seiner Zeit, der tragisch endete, und vielen anderen aussergewöhnlichen Figuren. Als die Zeiten immer unruhiger wurden, kam er zurück in die Schweiz. „Hätte ich die Küche gekannt, wäre ich in der Hotellerie geblieben,“ sagte er mir oft.

Papi wurde bei Kriegsbeginn als Gebirgsfüsilier ins Militär eingezogen und ich kam am 4. April 1941 zur Welt. Seine Briefe zeugen von der Sehnsucht, mit der er sein erstes Kind, einen Sohn natürlich, erwartet hatte. Sie erzählen auch von den Dramen, die sich um die Telefonkabinen und mit den Ehefrauen abgespielt haben sollen, wenn die Soldaten nach Schlange stehen endlich ins Kabäuschen kamen und die Nummer zu Hause besetzt war. Kein zweiter Versuch war möglich: die Gesprächsdauer war auf drei Minuten beschränkt und hinter dem Enttäuschten stauten sich noch viele Kameraden in der Reihe.

Auf dem Stilfserjoch soll er einmal mehrere hundert Meter abgerutscht sein ohne ernsthaft Schaden zu erleiden. Ausgelassene Feste am Küchentisch meiner Eltern sind mir noch vage in Erinnerung wenn Papa während der Rationierung wieder einmal ein Pack Spaghetti irgendwie und irgendwo ergattern konnte. Das teilten die Eltern gerne mit Freunden aus der Nachbarschaft  und begossen es ausgiebig . So wenig brauchte es damals für ein Fest: ein Pack Spaghetti, Tomatenpuree und ein fiasco di vino!

Mami hatte mir als jungem Mann immer wieder erzählt, wie ungeduldig Papi auch später nach mir verlangte, wenn er jeweils nach Hause kam. Seine grösste Sorge war, nicht so lange leben zu dürfen, bis wir unseren Weg gefunden hätten, Raeto und ich, bis wir zwanzig wären, also 1961, respektive 1964. Später terrorisierte er mich mit seinen Geschichten um die Versicherungsvorsorge, damit seine Familie und vor allem die Ausbildung seiner Söhne gesichert sei. Dabei war er sportlich und kerngesund, aber übervorsichtig. Lieber, lieber Papi, mit deinem schwachen Vertrauen ins Leben hast du mir unsagbare Ängste verursacht, dich verlieren zu können! Du starbst sechsundachtzigjährig 1995...

Papi war immer als Kaufmann tätig, er liebte das. Ein paar Jahre vertrieb er Farbstoffe der Firma Cruikshanks aus England. Währungswirren und der Unwillen seiner Lieferanten Preise franko Destination zu deklarieren brachten ihn in Schwierigkeiten. Er war gezwungen, seine Selbständigkeit einzustellen. Er fing sich im Treibstoffimport als Angestellter auf.

In späteren Jahren wechselte Papi zur BP, der British Petroleumwo er bis zu seiner Pensionierung arbeiten würde. So kam er in Genuss der später allgemein gültigen englischen Arbeitszeit, 8-17, mit nur einer Stunde Mittagszeit, dafür mit freiem Samstag. Das Wochenende, welches bereits freitags um 17 Uhr begann, kam ihm wie Ferien vor! Dieses verbrachten wir alle vier im Sommerhalbjahr oft auf dem firmeneigenen Tennisplatz, eine bemerkenswerte Neuerung, die der SBV, der Schweizerische Bankverein betrieb, bei welchem sich die BP mit zwei Plätzen eingemietet hatte. Ebenso gehörte dazu ein Fussballfeld, jedoch nur mit Mannschaften die der Bank zugehörig waren, und eine Boccia Bahn. Schon damals hatten kluge Köpfe erkannt, dass sportliche Mitarbeiter besser und dank der Gesellschaftlichkeit, die sich dort ergab, mit mehr Spass arbeiteten. Trotzdem: beim Tennisspiel erkannte man da sportliche, dort geschäftsbedingte Rivalitäten und doch, der Firmensport lockerte die Hierarchien etwas auf, die zu jener Zeit noch sehr ausgeprägt waren.

Gelegen war diese Sportanlage sehr schön im Guggach, gegen den Friedhof Nordheim, am Rande des Waldes vom Waidberg. Sie musste in den vergangenen zehn Jahren Geschäfts- und Wohnbauten weichen.



Die Ehe meiner Eltern
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5.  Die Ehe meiner Eltern

 

 

Über meine Eltern habe ich bereits dies und das erzählt. Ich möchte hier etwas auf das gesellschaftliche Klima jener Zeit eingehen, welches das Denken und Streben einer mittelständischen Familie geprägt hatte. Es sah in etwa so aus, wie ich das in einer Kurzgeschichte persifliert habe:

Requiem für einen Helden


Heute wollen wir eines Helden gedenken, der ohne ein Denkmal, ohne Marmortafel oder irgend ein Nachruf, sang- und klanglos untergegangen ist.

Sein lautloses Versinken im Vergessen ist umso erstaunlicher, als dieses Heldentum stark verbreitet war und in allen Kulturkreisen gleichermassen verankert. Doch nur im deutschsprachigen Raum fand es seinen wahren Vertreter: 
Der Pantoffelheld.

Man bedenke: Mitte des vergangenen Jahrhunderts war es nur möglich, unter völliger Missachtung von Brauch und Sitte und erst recht der öffentlichen Meinung, seiner Frau behilflich zu sein. Die Rollenverteilung lief damals im umgekehrten Sinne: das Weib war dem Manne untertan und somit voll und ganz für sein häusliches Glück zuständig.

Ein Kinderwagen stossender Mann war deshalb nichts weniger als ein öffentliches Ärgernis. Ihren Mann zu bitten, die Kommissionen zu besorgen oder die schwere Einkaufstasche zu tragen kam für eine Frau der Verstossung ihres Gatten gleich. 

Damals gehörte das Teppichklopfen im Freien noch zum Volksbrauchtum, aber nur zum fraulichen. Jener unerschrockene Mann, der sich daran wagte, war dem allgemeinen Unverständnis ausgesetzt. Seine Artgenossen, die in solchem Handeln einen gefährlichen, geradezu fatalen Angriff auf die Manneswürde sahen, griffen einen solchen offen an. Perfider waren die Angriffe aus dem weiblichen Lager. Die Giftpfeile waren geformt aus der Eifersucht, nicht auch ein solches Wesen sein eigen zu nennen und erhärtet durch das Unvermögen, den eigenen Gatten zu jemandem so fürsorglichen zu erziehen.

Das Wesen solch Tapferen erschöpfte sich keineswegs in jenem Heldentum, das heute wohl kaum mehr nachzuvollziehen ist. Nein, es zeichnete sich durch Demut aus, die auf einem transzendentalen Wissen um die Richtigkeit des eigenen Handelns gründete. Ein solcher Mann wurde nämlich schon damals keineswegs entsprechend seines Wertes geschätzt. Oft wurde ihm gar eine Behandlung zuteil, die eine Heilig- oder zumindest eine Seligsprechung als Märtyrer und Mystiker des Haushaltes, durchaus gerechtfertigt hätte.

Diese Gedanken kamen mir, als ich heute Morgen in der Sonne den Balkon unserer Wohnung saugte. So etwas wäre früher undenkbar gewesen, denn ein Balkon wurde damals gewischt, keinesfalls gesaugt. Ähnlich dem lärmigen Teppichklopfen wäre so etwas als ostentatorisches Gehabe verurteilt worden.

Persönlich wird mir auch heute infolge solcher Tätigkeit keine besondere Anerkennung zuteil. Ein mechanisches « Merci » meiner holden Gemahlin, vielleicht verbunden mit einem kurzen Aufleuchten ihres Blicks. Letzteres kann aber ebenso gut durch die Morgensonne bewirkt worden sein. Mir ist das auch recht. Die grössere Disponibilität seit meiner Pensionierung hilft mir, die heutige Ansicht zu eigen zu machen, welche eine solche Mithilfe als nur als gerechten Beitrag zum gemeinsamen Haushalt betrachtet. Was früher mit Heiligkeit, Heldentum oder zumindest Zivilcourage zu tun hatte, ist zur banalen, routinemässigen Pflicht verkommen.

Allerdings, soll es früher einige wenige Männer gegeben haben, deren Hilfeleistungen mit warmen Blicken, Umarmungen, reichem Essen und köstlichem Wein belohnt worden sei. Und mit Liebe, Liebe, Liebe…

Diese Glücklichen foutierten sich natürlich um Heiligkeit und Heldentum: sie waren nämlich schon zu Lebzeiten im Paradies.


                                                     ***

Es galt damals, jemand Rechter zu werden: Gut in der Schule, tüchtig im Beruf, ein angenehmer Nachbar und aufgeschlossen für die Gemeinschaft. Letztere bestand damals aus zahllosen Vereinen: Turn-, Kegel-, Jass-, Schiessverein, Velo-, Ski-,Alpenclub usw, für die Jugend Kadetten, Pfadfinder für Buben und Mädchen, von denen es auch eine katholische Ausgabe gab, nebst deren Jungwacht, selbstverständlich nur für Buben und getrennt den Blauring für die Mädchen. 

Je nachdem bei wem sich damals jemand bewarb, war es durchaus nützlich, die eigene Konfession anzugeben: die Landeskirchen hatten einen bedeutenden Einfluss, damals, und man bekannte sich dazu. Die römisch-katholische, die protestantische, die evangelisch-reformierten. Die Juden bildeten eine diskrete Minderheit, Moslems kannte man kaum, damals. 

Manche, aber keinesfalls die Mehrheit, gehörten einer Partei an. Einige waren aktiv, es herrschte ein Klima apathischen Vertrauens in die Institutionen, wenige Mitglieder waren Aktivisten, wie man sie heute kennt. Die breitere Öffentlichkeit stimmte treu im Sog ihrer bevorzugten Partei, ohne deswegen bekennendes und schon gar nicht bezahlendes Mitglied zu sein. Es war eine überblickbare, geordnete Welt, jene der vierziger bis in die sechziger Jahre. Angestellte um die dreissig bemühten sich, nun ihre "Lebensstelle" zu finden. Diese würden sie nun bis zur Rente ausfüllen. Mit etwas Glück nebst Tüchtigkeit würden sie innerhalb der Firma die Karriereleiter aufsteigen, was durchaus bis zum Direktor oder Firmeninhaber sein konnte. Auf jeden Fall wurden alle regelmässig mit der Anpassung ihres Lohnes entsprechend der Firmenentwicklung bedacht.

Die Bedrohung war die Teilung in die kommunistische und in die freie, westliche Welt, wobei wir die ehrlichen Demokraten waren und der Osten ein Riesennest der Diktatur, welche die Geschichte nach Belieben klitterte. Die Invasion in Ungarn 1956, in Prag in den 60er Jahren waren Zeugen davon. Die USA boten derweil dem Kommunismus in Korea wacker die Stirn, und auch heute noch verhindern sie die Annäherung der beiden Teile erfolgreich. Asien ersparten sie einen roten Dominoeffekt, indem sie Vietnam mit einem Teppich von Agent Orange und Napalm belegten. 

Eines war klar: wir waren die Guten, dort drüben die Bösen. Und wenn es schief gehen sollte im Kalten Krieg, waren wir überzeugt, können wir auf die Amerikaner und die Nato zählen, wir die neutrale Schweiz! Natürlich hatten wir schon etwas Angst. Aber nur ein bisschen. Nicht wirklich. Dafür waren wir strenge Patrioten: Mit Heinrich Buchbinder, dem Publizisten, und seiner zweiten Frau Claire Müller pflegten die Eltern einen anregenden Kontakt. Raeto und ich waren mit ihrem gleichaltrigen Sohn Urs befreundet. Heinrich Buchbinder zuzuhören war ebenso faszinierend wie unterhaltsam und herzlich hatten wir es alle miteinander. Einmal fuhren wir sogar zusammen mit ihnen in die Ferien: Raetos und mein erster Besuch am Meer, in Catolica – ein zauberhaftes Erlebnis, das seine Fortsetzung in drei Tagen Venedig fand! Doch dann erfuhren wir plötzlich: Buchbinder ist bekennender Trotzkist, und sein sympathischer Freund Kern mit seiner achtzehnjährigen, rothaarigen Frau Kommunist! Von da an verweigerten wir Buchbinders wie Kerns den Gruss, die Freundschaft mit Urs war zerbrochen. Noch heute schäme ich mich des damaligen Kleinmuts!

In diesen Jahren ungebremster wirtschaftlicher Expansion war die Ehe streng traditionell geprägt, auch die meiner Eltern. Eines ist sicher, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und vor allem im Rahmen ihrer Erkenntnisse, wollten sie beide nur das Beste für uns alle Obschon mein Berufswunsch eigentlich Koch war, sah mich Papa bereits als Direktor prestigeträchtiger Hotels, Raeto, der eigentlich gerne Lehrer geworden wäre oder sein handwerkliches Geschick ausgelebt hätte, zeichnete er die Laufbahn eines internationalen Managers vor. Bei mir verwirklichte sich ja seine Vision, bei Raeto teilweise. Dafür, aber vor allem für den Hort den sie uns geboten haben, so wackelig der gefühlsmässig zuweilen war, bin ich und werde Papi und Mami immer dankbar bleiben. Der kritische Blick aus heutiger Zeit tut meiner Haltung in keiner Weise Abbruch:

Papi hatte schon ein paar eigenartige Ansichten. "Ach, weisst du," sagte er mir einmal, als wir auf eine Frau zu sprechen kamen, die  gerade etwas ungeschickt gehandelt hatte: "eine Frau muss nicht in erster Linie intelligent sein. Sie muss andere Qualitäten haben." 

Wie schon erwähnt, gingen meine Eltern des Abends mit Freunden gerne aus. Sie tanzten gerne und gut. Die Fastnacht war ein Anlass, an welcher die ganze Freundesschar sich kostümiert zu überraschen versuchte, die Nächte waren rauschend und lang. Am folgenden Morgen überraschten uns immer Fastnachtshüte, Masken, Papierschlangen, Rätschen und was es da mehr gab, sodass wir die schlaffen Gesichter unserer Eltern gar nicht wahrnahmen.





Mein Bruder Raeto
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6.  Mein Bruder Raeto

Ein paar Wochen nach meinem dritten Geburtstag beschlossen meine Eltern, mich in ein Kinderheim nach Gaiss zu bringen. Es war mein erster Kontakt mit so vielen anderen Kindern. Bis anhin kannte ich nur Röbi Kleinknecht aus dem vierten Stock und Marianne mit ihrer Schwester Käthi von oben an uns,  die Kinder von Höslis, die an der Möhrlistrasse 89 wohnten. Diese neue, ganz andere Umgebung war ein Schock für mich. Mich einzuordnen, fern von zu Hause fiel mir schwer. Das Heimweh von damals gehört zu meinen allerersten Erinnerungen.

Nach etwa drei Wochen holten sie mich nach Hause, wo ich einen Schreihals in meinem Stubenwagen vorfand. “Das sei mein Bruder Reto, den müsse ich ganz fest gern haben. Immer“. Ich hatte von seiner Ankunft  nichts gewusst, war noch zu klein, um zu fragen, wo das Ding denn überhaupt hergekommen war und warum. Immerhin schlief es viel, sodass es mich nicht weiter störte und ich gewöhnte mich allmählich daran. 

Eigentlich heisst er Reto. In Brasilien, wo er später lebte, war seine Umgebung ob einem solchen Vornamen erstaunt, der dort etwas anderes bedeutet. Deshalb entschied sich mein Bruder, seinen Namen leicht zu verändern in Raeto. Tönt erst noch romanischer als Reto. Ähnlich verfuhren meine Eltern mit seinem Vornamen ja schon zu seiner Geburt. Meine Eltern hatten sich als zweites Kind sehnlichst ein Mädchen gewünscht. Genauso wie sie für mich keinen Mädchennamen ausgesucht hatten, waren sie überfahren, als ein kräftiger, fast vier Kilo schwerer Junge anstelle der erhofften Tochter zur Welt kam. Sie lösten das Problem, indem die Rita einfach zum Reto wurde. Mamma kleidete ihn noch lange in Röckchen, freute sich an seinen Naturlocken, die sie auch dann noch weiter pflegte, als mein Bruder mit gut zwei Jahren dann doch endlich in Hosen gesteckt wurde. Er hat keinen Schaden davon getragen, war sich über sein Geschlecht nie im Zweifel.

Ihr müsst die besten Freunde der Welt werden und immer bleiben“ war Papas Mantra. Wir freuen uns beide, Raeto und ich, sagen zu dürfen, dass uns das gelungen ist. Eine von Papas Weisheiten, verhalf zu diesem Ziel: bei Schokolade, Desserts und ähnlichem durfte der eine teilen, der andere wählen. Wenngleich der Erstgeborene für Papa eine besondere Bedeutung hatte, zog er keinen von uns beiden vor, behandelte uns immer gleich, „jeder nach seinem Bedürfnis.“ Rivalität oder Neid unter uns haben wir deshalb nie gekannt, Papa und Gott sei Dank!

Weder Mamis Erinnerungen an ihre Grossfamilie, noch jene Papas an sein Heranwachsen als Einzelkind erzeugten in meinen Eltern den Wunsch nach weiteren Kindern. Auch wenn ich heute einem Mehrkinder Haushalt vieles abzugewinnen vermag, sogar bedaure, dass es bei uns zwei Söhnen blieb und auch, dass Margot und ich nie die Vorstellung und den Mut für drei oder mehr Kindern hatten, unsere Kleinfamilie war damals gerade das Richtige für meine Eltern. Meine liebe, aber eher chaotische Mutter stiess mit uns vier schon eh an die Grenzen ihrer organisatorischen Belastbarkeit. 

Raeto wurde ein fröhliches Kind, voller lustiger Einfälle. Er hatte auch einen guten Schutzengel, der regelmässig zum Einsatz kam. Einmal, als Raeto, auf dem Weg in den Kindergarten hinter einem jener blau-weissen Pfählel hervorsprang, die damals an den Traminseln standen, direkt vor ein Auto. Kaum in der Schule, rannte er seitlich in einen schnell fahrenden Wagen, der ihn zurück auf die Fahrbahn warf. Ausser ein bisschen Schwindel geschah ihm nichts.

In der Primarschule zogen ihn die Mädchen wesentlich weniger an, als seinen grossen Bruder. Eher schwatzhaft, trennte die Lehrerin die beiden Freunde der gleichen Schulbank und setzte ein Mädchen neben Raeto. Der aber setzte sich quer, hielt sich an der Pultklappe und an der Banklehne, zog die Beine an und stiess die Arme in den Durchgang zwischen den Schulpulten. Er war Notenmässig im Mittelfeld. Aber er zeigte Interesse für den Schulgarten und mit seinem Freund Karl Knop konnte er Stunden in dessen Vaters Schreinerei verbringen und irgend etwas basteln.

Seiner Vision getreu, brachte Papi ihn für die Lehre bei der Übersee Handel AG unter, welche Import und Export mit Japan betrieb. Das war nicht so sein Ding. Nach Lehrabschluss ging er für einen Sprachkurs nach Barcelona, heuerte bei einem prominenten Reisebüro an, wo er über ein Jahr blieb, nicht nur perfekt Spanisch lernte sondern auch Katalanisch. Beides spricht er noch heute! Bei Bata in Frankreich (Lunéville) machte er eine Ausbildung zum Filialleiter, lernte den Detailhandel kennen. Dann aber empfahl ihm Papi sich auf das Inserat bei Nestlé zu bewerben, mit welchem Nachwuchskräfte gesucht wurden, vorzugsweise Universitätsabgänger. Er hatte Glück, er wurde genommen! Der Lehrgang führte ihn im Glacégeschäft nach Spanien, Finland, Deutschland und schliesslich nach Brasilien. Auch Raeto entzog sich der familären Faszination unserer Familie für alles Südliche nicht und blieb dort elf Jahr lang. Er lernte seine Frau Glaucia kennen mit der er zwei Töchter hat. Sie kamen in die Schweiz, wo sich beide als selbständige Übersetzer betätigten. Glaucia ging später schliesslich nach Brasilien zurück. Raetos heutiges Leben beschreibt die folgende Erzählung:

Das Labyrinth der Lichter

In unserer Familie scheinen wir Mühe mit dem Entsorgen zu haben. Es gibt für uns immer etwas, das wir später behandeln, klassieren, neu aufarbeiten wollen oder was weiss ich. Für mich löste ich das Problem, damals als aktiver Hotelier, mit der Schaffung eines „direktorialen Rumtopfs“, in der obersten weil tiefsten Schublade zur Linken meines Schreibtisches. Ganz so, wie man mit jener köstlichen Spirituose verfährt, legte ich immer oben drauf, was da gerade an Lesens- und Studierens-wertem reinkam. Immer wieder oben drauf. Und liess es vor sich hin gären. Mindestens zehn Tage. In einem ruhigeren Moment, die selten waren, bei meiner offenen Bürotür, zog ich den ganzen Stapel raus, und musterte ihn von unten her. Mit Befriedigung stellte ich fest, dass das meiste inzwischen seine Aktualität verloren hatte.

Mein Bruder Raeto bekundet mit dem Entsorgen noch mehr Mühe als ich. Er hat die merkwürdige Gewohnheit, Zeitungsartikel aufzubewahren, die er im Moment nicht zum lesen kommt. So stapeln sich bei ihm Zeitungen, Artikel, Notizen Fotos, Agenden ziemlich wild in seinem Büro, in Schränken, auf den Gestellen und auch auf seinem Schreibtisch. Zeitungen zuweilen sogar bis in sein Wohnzimmer. Von Zeit zu Zeit geht er durch, so viel er vermag, erinnert sich dabei, was er damit dann anstellen wolle, büschelt es etwas neu und verlässt den Raum. Genau diese Verhaltensweise sollte zu seinem Glück verhelfen.

Raeto lebt seit dem Tod seiner Partnerin vor drei Jahren alleine. Von seiner Frau ist er seit langer Zeit geschieden, die beiden Töchter haben beide ihre eigene Familie. Er arbeitet noch immer gelegentlich als Übersetzer. Bücher liest er gerne zweisprachig. Er freut sich über gelungene Wendungen in einer Übersetzung, nimmt fasziniert den Mentalitätsunterschied zweier Sprachen zur Kenntnis.

Er hatte sich einen Zettel an die Wohnungstür geklebt, um die Lesung von Carlos Ruiz Zafon am 4. April in der Kaufleuten nicht zu verpassen: Das Labyrinth der Lichter. Der Schatten des Windes, aber auch der Gefangene des Himmels und weitere Bücher dieses Schriftstellers hatten ihm schon so gut gefallen, dass er Zafon unbedingt begegnen wollte. Raeto beherrscht nämlich nicht nur Spanisch, er spricht auch fliessend Katalanisch. Der katalanische Autor würde sicher mit ihm ein paar Worte wechseln wenn er ihn um eine Widmung in seiner Muttersprache bitten würde.

Tja, das Katalanische, anfangs zwanzig kam er nach Barcelona, erlernte es dort leicht. Verträumt ging er in sein Büro zurück. Mechanisch begann er im Schrank zu wühlen... Oder war das Fotoalbum mit den Geschäftsunterlagen im Estrich oben? Er stieg hinauf, machte sich am grossen Schrank dort zu schaffen, den er lange, lange nicht mehr geöffnet hatte. Tatsächlich: Arbeitspapiere waren dort, Raeto hatte sich unglücklich nach dem obersten Teil gestreckt und alles fiel ihm aus der Hand. Er sammelte alles im Halbdunkel des etwas staubigen Abteils zusammen und ging runter in seine Wohnung.

Unter vielem was heute von keinerlei Interesse war steckte ein Bündel Briefe. Handgeschriebene. Ach, das ist ja Emma! Es überkam ihn warm und freudig bei Ansicht des ersten Fotos, das sie ihm geschenkt hatte und all den Briefen. Sieh mal, sogar der Absender steht noch auf dem Couvert!

Zweiundzwanzig war sie, vierundzwanzig er, als sie sich getrennt hatten: Er ging für Nestlé nach Südamerika. Emma war Raetos erste, richtige Liebe. Aber was soll man da aufeinander warten? Wenn es denn sein musste, würde man wieder zusammenkommen. Jetzt aber sollten und wollten sich doch beide in ihr eigenes Leben stürzen. Beide nahmen es leicht, trennten sich und hörten nach ein paar Monaten nichts mehr von einander. Und jetzt, in diesem Moment, schmolz für Raeto das halbe Jahrhundert zusammen, das seither vergangen war.

Zafons Lesung war wie immer ein Grosserfolg. Der Saal gerammelt voll, fast endlos die Schlangen von Zuhörern, die sich Bücher signieren lassen wollten.

"Bitte signieren Sie folgendermassen: dem Schweizer mit seiner Katalanin Emma“. Amüsiert blickte Zafon von seinem Stuhl auf, als er diese Bitte auf katalanisch vernahm, liess sich trotz der vielen Anstehenden in eine lustige Konversation verwickeln, die mit Lachen und gegenseitigen Wünschen endete.

Zehn Tage vor unserer Abreise nach Paris rief mich Raeto an um mir mitzuteilen, dass er die kommende Woche nicht erreichbar sein würde, da mit der „Singlegruppe“ seiner Pfarrei auf Wanderungen im Jura unterwegs. „Welch eine wunderbare Gegend zum Wandern, habt Spass miteinander und gutes Wetter. Und vergiss nicht: am 1. Mai fährt der TGV von Zürich um 9.34 ab.“

Pflichtbewusst rief er mich am 29.4. an um seine Rückkehr zu vermelden. „ Es gab noch eine Aufregung: in Genf habe ich mein Portemonnaie mit meinen Ausweisen verloren. Verloren oder geklaut. Gott sei Dank habe ich letztere wieder beschaffen können. Wir sehen uns wie abgemacht um 9.10 Uhr am Treffpunkt im Hauptbahnhof.“

Eigenartig, ich wusste gar nicht, dass sich der Jura bis Genf erstreckt, sagte ich mir, mass der Sache keine Bedeutung zu und freute mich auf die gemeinsame Reise.

Raeto ist eine Frohnatur. Aber am Bahnhof traf ich ihn strahlend. „Hat dir sichtlich gut getan, das Wandern im Jura. Wie kamst du dabei nur nach Genf? Ich wusste gar nicht, dass der so lange ist?“

Oh, er ist noch viel länger. Bis nach Barcelona. Ich habe eine ganze Woche mit Emma verbracht! Mit der Widmung von Zafon habe ich ihr aufs Geratewohl geschrieben, zweifelnd, ob die Adresse noch gültig sei, fragend, ob sie sich an mich überhaupt noch erinnere und ob er ihr nach so langer Zeit, ihr überhaupt schreiben dürfe. Emma hatte sich umgehend und freudig gemeldet: Ja, sie wohne noch immer im Hause ihrer Eltern, das sie geerbt hätte. Vierzig Jahre sei sie glücklich verheiratet gewesen. Ihr Mann, ein Ingenieur aus Peru, sei vor fünf Jahren verstorben. Und ja, sie würde sich freuen, Raeto wieder zu sehen.

So hatte mein kleiner Bruder in den vergangenen Monaten zwei artige Wochenende in Barcelona verbracht, Emma wieder gesehen, ihre beiden Söhne kennen gelernt, von denen der eine in London wohnt, und der andere, ein Jurist, in Barcelona. Der Kontakt mit allen drei sei so natürlich gewesen, dass sie beide die letzte Woche verliebt miteinander verbracht hätten und sich beide wundern, wie es wohl weitergehe, in diesem Labyrinth der Lichter.

 

 

 

 

 

Grosmami, meine Grossmutter väterlicherseits - oder warum aus mir ein Koch wurde.
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7.  Grosmami, meine Grossmutter väterlicherseits - oder warum aus mir ein Koch wurde.

Grosmami  hatte nur Ernst, meinen Vater als Kind, den sie schon aus ihrer beruflichen Belastung heraus liberal erzog. Sie war protestantisch, doch waren religiöse Einflüsse nicht von Belang. Grosmami hatte da ganz andere Sorgen als Alleinerziehende. Sie arbeitete als Sachbearbeiterin oder Sekretärin  in der Maschinenfabrik Oerlikon, bis sie in den späten zwanziger Jahren einen etwas älteren Bauunternehmer namens Eugène Meyer heiratete und zu diesem nach Guebwiller, ins Elsass zog. Er besass dort ein einfaches, hübsches Stadthaus, mit einem kleinen Vorhof und grosser Remise, die früher dem Fuhrwerk diente und Jahrzehnte später dann zur Garage umfunktioniert wurde .  Quer zum Hof gehörte Eugène ein Haus mit etwa einem Dutzend Wohnungen, alle ohne Bad und Toilette, genauso wie sein eigenes, dreistöckiges Haus. Die Toilettenhäuschen, eines für die Villa, ein zweites für alle Wohnungen, mit je einem Plumpsklo und, etwas daneben, ein kaum abgeschirmtes, gemeinsames Pissoir  befanden sich im Hof, angeschmiegt an die Remise.  Zum Baden ging man in die öffentliche Badeanstalt. 

Dank der Einkünfte aus den Wohnungen führte Eugène Meyer das behagliche Leben eines Rentiers. Doch auch er verstarb kurz vor Ende des 2. Weltkrieges, Grosmami wurde zum zweiten Male Witwe. Der Franc erlitt eine gewaltige Inflation, die Wohnungsmieten wurden staatlich blockiert. Es wäre an der Zeit gewesen, die Wohnungen mit dem nun immer üblicheren sanitären Komfort zu versehen. Doch Geld war keines da. Mein Vater, obwohl Kaufmann, verstand sich nicht im Immobilienbereich, sodass der ganze Besitz
en rente viagiaire, in Leibrente mit lebenslangem Wohnrecht für Grosmami in den fünfziger Jahren an einen Schneidermeister verkauft wurde. Der aber verstand auch nichts von Immobilien. Haus und Hof präsentierten sich vor drei Jahren, fast siebzig Jahre nach Grosmamis Tod noch genau gleich, allerdings heruntergekommen und ohne Blumen.

Grosmami blieb im Elsass wohnhaft, kam zwei bis drei Mal im Jahr besuchsweise zu uns für einige Wochen nach Zürich. Zusammen mit Wohnrecht, dem Geld aus dem Hausverkauf und der schweizerischen AHV, erlaubte ihr Papas Zustupf einen bescheidenen Wohlstand. Frankreich akzeptierte damals die Doppelbürgschaft nicht. Ein Entscheid für die französische Nationalität wäre für Grosmami unvorteilhaft gewesen. Wie die Doppelbürgschaft trotzdem möglich wurde weiss niemand. Sie aber trug voller Stolz, Diplomaten gleich, ihre zwei Pässe, den französischen und den schweizerischen bis sie 1958 vierundsiebzigjährig verstarb . 

Raeto und ich, besonders aber ich, der aus unerfindlichen Gründen öfter als Raeto dort war, verlebten nach dem Krieg bis Mitte der fünfziger Jahre dort herrliche Ferien! Zu Ostern und ganz besonders im Herbst, zur Zeit der Weinlese. Diese war immer  ausgelassen fröhlich. Alle die wollten oder konnten, halfen mit. Geschätzt wurden besonders die jüngeren, kräftigen Helfer, ob Burschen oder Mädchen. Obschon es die Guebwiller Weine nie über lokale Bekanntheit hinaus schafften, duftete dann das ganze Zentrum des Städtchens nach Trauben und vergärendem Rebensaft. Die Neckereien unter den jungen Leuten und die gesamte Fröhlichkeit fanden ihren Höhepunkt im Umzug und Schlussabend mit Tanz. Regelmässig kamen im folgenden Frühsommer ein paar Kinder zur Welt, deren Vaterschaft nie genau festgelegt werden konnte.

Und doch, die Folgen des Krieges waren noch überall zu sehen: Trümmer da, ausgebrannte Häuser dort, abgegrenzte Bombenkrater in der einen oder anderen Strasse. Grosmamis Haus wurde glücklicherweise verschont, so auch die ganze Kirchgasse, mit Ausnahme eines einzigen Gebäudes. Eine Horde von Buben, wenige Mädchen wohnten dort. Wenn wir jeweils angereist kamen, riefen sie durch die Gasse: 
Les Suisses arrivent! In den Nachkriegsjahren war Frankreich und damit auch das Elsass für uns Ausland, Fremde, Ungewohntes. Anders als alles, was wir in unseren jungen Jahren von zu Hause her kannten. Und wir waren die Fremden für sie. Grenzgänger, also Elsässer die in der Schweiz arbeiten, gab es noch nicht. In Weinbau und Landwirtschaft, Kleingewerbe und auch in den Kaligruben von Schlumberger fanden alle ihr Auskommen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Papa für unsere Besuche in den vierziger Jahren noch ein Visum beantragen musste. Zollübergänge waren lange, das Auto wurde von den Zöllner penibel nach Schmuggelware durchsucht. Bereits schon in Rheinfelden befiel mich jeweils ein mulmiges Gefühl, ob die gestrengen Zollbeamten wohl die paar Tafeln Schokolade, das Pfund Kaffee oder die Raucherwaren entdecken würden, welche die Eltern jeweils als Geschenke für Bekannte und Nachbarn mitführten. 

Guebwiller, obschon nur unweit von Colmar oder Strasbourg, hatte selten ausländische Besucher. So waren wir,
les Suisses, eine wahre Kuriosität! Mit uns redeten alle Elsässer-Diitsch, und brauchten das Französische nur, wenn wir etwas nicht verstehen sollten. Selten genug, wir schätzten das.

Mit Grosmami gingen wir täglich zum Markt. Sie kaufte ausgesprochen Qualität- und Preisbewusst ein, zeigte mir auf was zu achten sei, und dass man nicht beim erst Besten einkaufe: es gelte, nicht nur die Qualität, sondern auch die Preise zu vergleichen, von einem Stand zum andern. Stand ist zu viel gesagt, denn die Waren wurden in den meisten Fällen auf Blachen und Tüchern ausgebreitet. Es waren allesamt Bauern aus der Umgebung und  einige wenige Metzger, die ihre Ware feilhielten. Letztere auf Wagen, versteht sich. Ein paar von ihnen hatten gar dampfende Kessel neben sich, aus welchen Geselchtes frisch gekocht angeboten wurde. Die Bauern verkauften nebst Gemüse und Früchten auch Fladenkäse, der seinem Namen gemäss den ganzen Teller bedeckte und an diesem klebte. Eine Art würziger Münster, zu dem man Kümmel reicht. Sonst heikel und eine feine Köchin, glaubte sie unerschütterlich an Eugènes Maxime, nach welcher Maden im Käse ein Qualitätsmerkmal bilden und erst wenn diese zu springen begännen, Vorsicht geboten sei.

Grosmami verstand es, sich ihr Leben zu verschönern, obschon sie alleine lebte. Oder vielleicht gerade deshalb. Im Hochparterre des Hauses befand sich ein recht düsterer Raum, die Remise. Seinen Wänden entlang verstaubte altes Mobiliar, darin aber glänzten die Reserven von selbst konserviertem Kompott und Konfitüren. Eine Menge alter Bücher und stapelweise Heftchen von Liebesromanen, denen Grossmami sehr zugetan war, fand ich dort beim stöbern. Im ersten Stock war eine eher enge Küche mit einem Holz oder Kohle befeuerten Herd, der den ganzen Tag über zumindest leicht temperiert war. Ein darin eingelassenes
bain-marie  sorgte dafür, dass ständig warmes Wasser zur Verfügung stand, denn aus der einzigen Leitung im ganzen Hause sprudelte nur kaltes, was zu jener Zeit schon als Komfort empfunden wurde. Um den Tisch, der vier bis sechs Personen Platz bot, fand das Leben zur Hauptsache statt: der Herd wärmte den Raum. Vor allem im noch kühlen Frühling oder im bereits frischen Herbst schätzten wir das. Die Wärme, die dieser Herd verströmte, war eine angenehme. Zumindest in der Erinnerung verspürten wir alle diese viel wohliger als jene der Zentralheizung zu Hause an der Möhrlistrasse, die damals zu fixen Daten ein- oder ausgeschaltet wurde, unbesehen der herrschenden Temperaturen. Das war, glaube ich, der 1. Oktober und der 31. März.

Neben der Küche war das Wohnzimmer ebenfalls mit Holz, respektive Kohle, Koks und Briketts beheizt. Grosmami und selbstverständlich ich während meiner Ferienanwesenheit, schleppten all das  aus dem Keller herauf. Auf mein Verlangen steckten in beiden Öfen, in Küche, in der Stube, Äpfel zum braten, die einen wunderbaren Duft verströmten, und köstlich schmeckten, wenn sie dann endlich gar waren.

Doch bleiben wir noch etwas in der Küche. Wenn wir vom Markt heimkehrten, ging's unverzüglich ans rüsten und kochen. Nichts von Mammas Hektik herrschte da, in die sie jedesmal verfiel, wenn sie sich viel zu spät ans ausdenken machte, was wir wohl zu Mittag essen könnten, mich danach zum eiligen Einkauf schickte um dann in einer knappen halben Stunde, doch noch etwas auf den Tisch zu zaubern. Nein. Grosmami hatte spätestens vor dem Marktgang genau im Kopf, was wir essen würden, oder zumindest, an welchem Stand sie sich Inspiration und Waren dazu beschaffen wollte. Sie erfasste dann auch günstige oder verlockende Gelegenheiten, etwa für besondere Fleischstücke mit entsprechend frischen Gewürzen und Zutaten, die sie während mindestens vierundzwanzig Stunden beizte und daraus köstlichen Pfeffer, Schmorbraten oder ähnliches zubereitete. Das schmorte dann gemächlich vor sich hin, duftete im ganzen Haus. Ihr unvergleichliches Kalbsvoressen kommt mir in den Sinn, eingelegt in örtlichem Riesling, nebst anderen Gewürzen mit etwas, was der Sauce eine besondere Rasse verlieh, das ich zuvor noch nie gerochen oder geschmeckt hatte. "Schäschabr" sagte sie und beantwortete damit mein staunendes Fragen. Erst sehr viel später, als Koch, sollte ich den genauen Terminus erfahren: Gingembre, Ingwer, Ginger Zenzero. 

Mit Süssspeisen hielt sie es nicht so, vielleicht mal eine Vanille- oder Schokoladencreme, selbstgemacht, versteht sich. Eher selten selbst gebackenen Kuchen infolge der heiklen Backofen-Temperaturen im Holzofen, und dann eben, meine Bratäpfel, lediglich gezuckert und mit ein paar Rosinen. Mir ist, als hätte ich meinen Geruchs- und Geschmacksinn erst im Elsass bei Grosmami wirklich entdeckt. Oder dann, wenn sie bei uns in Zürich weilte und, verzweifelt über das Fehlen jeglicher kulinarischer Sensibilität ihrer Schwiegertochter, sich  selbst ans kochen machte. Dann wurde - aber nur in etwa - meinem Gaumen geschmeichelt wie bei und von ihr im Elsass. Nicht nur fehlten an der Möhrlistrasse die entsprechenden Zutaten und Gewürze, nein. So schön unsere komfortable, grosse 4 ½ Zimmerwohnung mit Berlinerzimmer auch war: Die Wärme, die dort herrschte entsprach in keiner Weise jener des Holzherdes und -öfen von Guebwiller. Darüber hinaus spielte dort Grosmamis Radio von früh bis spät deutsche Schlager und Schnulzen. Zusammen mit billigen Liebesromanen, eröffnete mir das als etwa Zwölfjährigem eine Gefühlswelt, die ich in der zwar oft lustigen, aber gefühlsmässig dürren Atmosphäre zu Hause nicht einmal vermuten hätte können. Auf diese Weise verging die Zeit im Nu, aber auch in der Küche, wo ich Grosmami beim rüsten half und ihr beim kochen über die Schulter sah! Als ich mit elf aus den Herbstferien nach Zürich zurück kam, stand mein Berufswunsch fest: Ich werde Koch!

Derweil spielten die Elsässer Buben mit Vorliebe Militär. Die 
glorieuse armée française mit entsprechenden Fahnen und Wimpeln war Leitmotiv. Dumm war nur, dass wir zwei Schweizer Söldner, 1-2 Jahre älter als das gros der dortigen armée,  deren Feinde spielen mussten und so recht wenig zu weiterer Gloire verhalfen. mit solchen Spielen kamen wir den Folgen des Krieges  näher, als wenn wir nie die Schweiz verlassen hätten. Ein erster Hinweis, wie sehr das Reisen die Jugend bildet. 

Der nächste Bildungsschritt war ein unmittelbarer, weihte dieser meinen Bruder und mich doch in eine französische Eigenart ein, über die in der Schweiz nur getuschelt wurde: Das Verhältnis der Franzosen zum Sex. Die beiden grösseren Mädchen, etwa gleich alt wie Reto und ich, spielten in der 
glorieuse armée française der Kirchgasse nur eine untergeordnete Rolle. Sie kompensierten diesen Makel, indem sie ihre Strassenkameraden et les deux Suisses mit den Besonderheiten des anderen Geschlechts vertraut machten. Dabei erwiesen sie  sich als bereitwillige petites expertes in der Materie. Charles, der unternehmungslustigste unter unseren französischen Freunden, demonstrierte mit ihnen stolz, was sich da alles so machen liess, sekundiert vom Rest der glorieuse armée. Das alles fand in einem der zahlreichen Hinterhöfe statt. Die Praxisorientierte Aufklärung endete, wenn Charles von seiner Mutter mit ihrer kräftigen Stimme nach Hause gerufen wurde: "Schärele! - Schärele!" Weder war es dem Schärele in dieser Situation möglich, zurückzurufen und im übrigen zögerte er mit dem Aufhören. Er beendete unsere Lebenseinführung erst, als Mutters Stimme noch kräftiger über die Dächer tönte: "Schärele, khumm sofort uuufe, oder bekimsch uff de Ooorsch!" Immerhin vermittelte mir Schärele einen Wissensvorsprung, den ich an Marianne in Zürich, meiner gleichaltrigen Nachbarin vom Stockwerk über uns, nach meiner Rückkehr gleich auszuprobieren gewillt war, wie ich freudig erregt registrierte.

Grosmami hatte verschiedene Geschwister, von denen wir aber nur den herzensguten Onkel Robi kannten und seine ebenso liebe Frau Berta. Sie wohnten in Zürich an der Nordstrasse. Deren Tochter Gretli, zwölf Jahre älter als ich, mit praktischem Sinn und gesundem Menschenverstand, kam uns oft hüten, sehr zur Freude meiner Mutter. Auch mein Bruder Raeto und ich mochten sie, sodass wir einen wenn auch losen, so doch immer herzlichen Kontakt mit ihr bis zu ihrem Tode hielten.

Bei Onkel Robi und Tante Berta lebte mein Urgrossvater. Er war ein gross gewachsener Mann mit schlohweissen Haaren. Ich habe nur vage Erinnerungen an ihn. Etwa, dass er oft unsere Gemüsebeete pflegen kam, die man auch im Miethaus in dem wir wohnten, der Anbauschlacht der Kriegsjahre gemäss, anlegen musste.

Mamis Grossfamilie in der ältesten Stadt der Schweiz
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8.  Mamis Grossfamilie in der ältesten Stadt der Schweiz
Meine Mutter stammte, wie schon erwähnt, aus Chur. Sie wuchs an der Hofstrasse 17 auf, in jenem Haus,  das unterhalb des Bischof-Schlosses und oberhalb des Untersuchungsgefängnisses liegt. Eine grosse Wiese trennt es vom Gefängnis, doch entlang dieser verbindet eine lange Mauer die beiden Gebäude. Vom Süsswinkel her aufsteigend führte dort der Weg in früheren Jahrhunderten ins Schanfigg, nach Arosa hinauf. Der Bogen unter dem Haus heisst deshalb seit jeher Schanfiggertörli. Das Haus selbst wurde in Chur noch lange s'Naeffehüsli" genannt, nach dem Namen meines Grossvaters.

Er war der Patriarch einer zwölfköpfigen Familie, Vater von neun Töchtern und drei Söhnen. Als Bahnhofsvorstand von Chur war er ein geachteter Beamter in der Stadt. Weitere vier Schwangerschaften seiner Frau resultierten als Fehlgeburten. Leider verstarb er bereits, als meine Mutter, die zweitjüngste Tochter erst neun war, 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation. 

Mami hatte nur schwache Erinnerungen an ihren Vater, nämlich, dass er lieber mit seinen Kollegen beim Jassen als in der Familie weilte.

Als ganz kleiner Junge, während den Kriegsjahren, weilte ich öfters in Chur, bei meinen Tanten, die im Hause verblieben waren. Es waren dies die älteste, Hedwig, meine Patin Ludwine, die drittjüngste Agnes, die dann später, knapp über 40, doch noch heiratete. Bis ca. 1952, war auch noch Grossmutter da. Ich hatte keine enge Beziehung zu ihr, sie zu mir auch nicht. Das schien aber ihre Art zu sein. Von meinen Cousinen Sonja und Lotti weiss ich, dass sie in der Familie Naeff als Schwiegertochter nicht willkommen war. Ob der Grund dafür die Mussheirat oder materiell war, weiss niemand. Damit nach dem Tod ihres Gatten, von dem sie eine kleine Pension hatte, wieder Geld rein kam, eröffnete sie ein Vorhanggeschäft. Die Erziehung der Kinder überliess sie weitgehend ihrer ältesten, der Hedwig, die zu jenem Zeitpunkt schliesslich ja schon 18 war. Wenn Grossmutter nicht im Laden war, der ebenerdig, ohne Schaufenster, zur Hofstrasse hinaus ging, reiste sie durch den Kanton, vorzugsweise nach Arosa, um in Hotels und Pensionen ihre Ware feil zu halten. Das tat sie offenbar mit Erfolg, denn im Hotel Anita bot sie ihre jüngste an, die 15 jährige Alice, um nach den Söhnen der Besitzer Caduff zu sehen, die damals 10 und 12 waren. Doch Kinder aus dem Gastgewerbe werden schnell selbständig und selbstsicher. Alice jedenfalls hatten die beiden Buben dermassen erschreckt, dass sie bald wieder zu Hause war. In den achtziger Jahren in Arosa tätig, war ich mit einem ebendieser Söhne befreundet. Sein Sohn Beat ist ein hochtalentierter Koch und Weinkenner,  Patron der gleichnamigen Wineloft in Zürich.

Zum 80 Geburtstag meiner Grossmutter, anfangs der 50er Jahre, überreichte ihr der Churer Stadtpräsident persönlich Blumen. Die Presse brachte er sogar mit und eine Fotografin, um dem damals noch eher seltenen Jubiläum die angebrachte Publizität zu verleihen. Heute ist das nicht mehr so. Wir (bald) Achtzigjährigen würden eine solche Geste schon gar nicht mehr verstehen: Zu einem solch runden Geburtstag sind viele von uns auf einer Kreuzfahrt oder jetten grad nach Indien oder sonst wohin um die Welt. Wieviel mehr Leben haben wir in den Jahren gewonnen!

Doch zurück zu Alice. Immerhin hatten die paar Tage genügt, um Alice mit dem Hotelvirus anzustecken. Sie wurde Serviertochter, war hübsch, fröhlich und sang wunderschön. Was Wunder, dass sie es sehr viel später zur lokalen Bekanntheit in Zürich brachte. In der Ehe hatte sie leider kein Glück. Sie heiratete einen Architekten, der dem Alkohol verfiel. Trotz der beiden Töchter Lotti und Sonja kam es zur Scheidung. Das Schuldprinzip beherrschte die Rechtsprechung. Ohne Schuld keine Scheidung. So waren jene, die sich doch einmal geliebt hatten, zu schlimmsten Anschuldigungen verdammt. Nur Hass erlaubte die Auflösung der ehelichen Bande, mit entsprechender Langzeitwirkung auf die Kinder, die Verwandtschaft, auf freundschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen.
 
Bei alledem war es bei Tante Alice zu Hause immer fröhlich und sie kochte hervorragend. Wenn nur die beiden Cousinen nicht gewesen wären! Dauernd hatten die etwas zu tuscheln, zu kichern, tanzten gar miteinander, wenn das Radio eingeschaltet war. Unerträglich war das für Raeto und besonders für mich! Nie hätte ich mir um die sieben Jahre herum vorstellen können, dass Charlotte, die schöne und lebenslustige Coiffeuse-Lehrtochter, meine bevorzugte Tanzpartnerin werden würde und ich Götti ihres ersten Kindes, Conny! Mit ihrem Mann Werni und ihren vier Kindern lebte sie später in Australien, in Malaysia, in Sigriswil, danach wieder in Australien. Es war wohl etwas weit, damals ohne E-Mail, ohne all die bequemen Kontakt-Apps, ohne Skype den Kontakt aufrecht zu erhalten. Aber kaum waren sie zurück, stellte sich die alte Vertrautheit wieder ein.

Mit Sonja verlebte ich mit etwa neun Jahren Ferien in Chur. Wir teilten uns die Dachkammer. Vor dem Einschlafen hatten wir uns enorm viel zu erzählen. Sonja, Bewunderin der alten Eidgenossen, schilderte mir deren Mut, deren Schlachten und Siege, indem sie leidenschaftlich auf ihre Bettdecke klopfte und mich voll in ihren Bann riss. Ihr erster Beruf war Schneiderin, zwar ungeliebt, aber auf den bestimmenden Rat ihrer Patin, meiner Mutter. Sonja stand das klaglos durch. Sobald sie das Alter erreicht hatte, folgte sie Wunsch und Berufung und trat die Ausbildung zur Krankenschwester in Chur an. Dieser Durchhaltewillen hatte mich tief beeindruckt. Wenn immer möglich, trafen wir uns. Die Vertrautheit wuchs über die Jahre. Sie freute sich an meinen Erfolgen, an sie durfte ich mich wenden, wenn ich Probleme hatte. An den meisten unserer Familienfeste ist sie dabei. Als ich sie einmal meinem Berliner Freund Heinz in Erinnerung rufen wollte meinte er: „Ich weiss, dein wandelndes Beichtgeheimnis“. Ich bin ruhiger geworden, die Probleme weniger, doch die tragende Verbindung ist geblieben, wie ich immer wieder dankbar und mit Freude feststellen darf.

Ich mochte meine Tanten sehr: sie kümmerten sich total um mich zu jeder Zeit, mästeten mich - ein Tag Porridge, den ich verabscheute, am andern dann zur Belohnung mit einem Löffel Biomalz, das ich heiss liebte. Ich lernte Bündner Köstlichkeiten kennen, die es bei mir zu Hause nie gab. Allem voran Leberspätzli, dann Maluns, Cappuns, Latwerge von Holunder aus dem eigenen, winzigen Gärtchen, köstliche Kuchen, Fastnachtsküchlein, so fein und leicht, wie ich sie später nie mehr essen würde, sonstiges Gebäck und jeden Sonntag Braten in köstlicher Sauce. Ich denke nicht, dass Tante Hedwig diese Fähigkeiten so hoch entwickelt hatte, nur weil ab und zu der Herr Bischoff zu Besuch war. Als kleiner Knirps ebenfalls dabei, erinnere ich mich an Bischoff Caminada als freundlichen, etwas dürren, vergeistigten Herrn. Nach drei Wochen später wieder zu Hause, kosten meine Eltern amüsiert mein Doppelkinn, für welches meine „Tantis“ mit ihrem Speiseplan gesorgt hatten.

Was aus den Tanten und Onkeln wurde? Lydia emigrierte nach New York, wo bereits die mittlere Kathy lebte, die früh an Krebs starb, ohne je die Schweiz wiederzusehen. Bruder Lukas eröffnete ein Coiffeur Geschäft in White Plains, NY. Annie zog es nach Kanada. Sie heiratete dort den Schaffhauser Ernst Büntner. Die beiden hatten einen Sohn, Ernie. Ausser der früh verstorbenen Kathy kamen sie alle fast jährlich zu Besuch, als sie in Rente waren. Wir pflegten über Jahre Kontakt miteinander. Dann verstarb Lukas, Annie und Ernest wurden älter, die Erzählungen beschränkten sich auf das Alltägliche im Haus, auf die zunehmenden Gebresten und blieben schliesslich ganz aus. Von ihrer, wie auch von unserer Seite. Lydia hingegen genoss ein grosszügiges Alter an der Hofstrasse in Chur, dank amerikanischer Rente, mit einem US$ zu Fr. 4.15. 

Der älteste Sohn, Emil, heiratete nach Bellinzona, arbeitete in den Ufficine CFF. Drei Söhne hatte er zusammen mit seiner Frau Josi. Joseph, ihr ältester, zog nach Genf, wo er bei der damaligen PTT Telefontechniker wurde. Der zweite, Beni, arbeitete in Zürich, kehrte aufs Alter ins Tessin zurück. Der jüngste schliesslich von Josi und Emil war der besondere Stolz seiner Eltern, wurde er doch Beamter bei der kantonalen Fahrzeugkontrolle und war auch politisch aktiv. Im Ticino gab es damals, nebst jener des „avvocato,“ zwei prestigeträchtige, erstrebenswerte Positionen: Beamter oder Bankangestellter. Die dunkle Seite der Eltern von Emil jr war, dass ihnen ihre Schwiegertochter zu wenig war, denn sie stammte aus ebenso einfachen Verhältnissen wie die beiden selbst. Darüber halfen weder ihr gewinnendes Wesen, ihre Intelligenz noch die reizenden beiden Enkel hinweg. "Sie hat ihn reingelegt," beklagte sich Josi bei meiner Mutter, als sich der erste Enkel schon vor der Ehe des Sohnes ankündigte, "denn sie wollte unbedingt einen Beamten." Ein langes, langes Leben lang, härmten die beiden damit. Die Schwiegermutter starb erst mit 101 Jahren...

Schwester Klara, die lieb ergebene, wurde Köchin in herrschaftlichen Haushalten, blieb schliesslich an jenem prominenten in der Germaniastrasse bis zu ihrer Pensionierung. Man sagte während ihren aktiven Jahren, dass der beste Tisch Zürichs in ebendiesem Haushalt geboten wurde. Ihr etwas älterer Arbeitgeber meinte scherzhaft, dass sie ihm auch im Paradies noch ihre Köstlichkeiten zubereiten müsse, was sie jeweils vehement ablehnte. Sie freue sich auf ein freies, hoffentlich sorgloses Alter und dass sie dann zumal ihren Kochlöffel ein für allemal beiseite legen könne! Ihr Patron beschwichtigte sie, da gebe es nichts zu befürchten, denn er hätte für ihr Alter gesorgt. Seine Witwe sah das dann allerdings anders: sie brachte es fertig, das Testament vollständig zu ihren Gunsten und zu Lasten der beiden Hausangestellten abzuändern. Zurück im Elternhaus in Chur verfiel Klara  leider kurz danach in geistige Umnachtung. Sie starb etwa ein Jahr nach ihrer Hospitalisierung in der psychiatrischen Klinik Waldheim. 

Meine Patin Ludwine arbeitete 44 Jahre für den Globus. Mit einer Verkäuferinnen Lehre hatte sie begonnen und sich über die Jahre zur Rayon-Chefin hochgearbeitet. Entsprechend passend wählte sie jedesmal das Geburtstagsgeschenk für ihren Göttibuben aus. Gerne erinnere ich mich daran, wie mich Hector Mallots "Heimatlos" in Rührung brachte. Wie stolz ich auf das elegante Schul-Etui war,  auf den "Thek", für die erste, dann für die Ledermappe beim Übertritt in die vierte Klasse, und wie ich mich später an schönen Hemden mit tollen Manschettenknöpfen und Krawatten freute. 

Hoch geschätzt war sie: Als sie ihr 40jähriges Jubiläum feierte, war der ganze Globus Chur beflaggt! Das waren noch Zeiten, als Mitarbeiter so geehrt wurden, als alle eine Lebensstelle anstrebten und die meisten von ihnen diese auch einbehielten. Die  Vorgesetzten fühlten sich ihren "Untergebenen", wie sie damals hiessen, verpflichtet und bildeten eine Einheit mit ihnen, streng hierarchisch getrennt, versteht sich.

Als Onkel Arthur habe ich ich als einsamen Menschen in Erinnerung, der seinen Weg nicht gefunden hatte. Ausgebildet an der Verkehrsschule St. Gallen, kam er in den tollen Zwanzigerjahren zur Berliner Vertretung der Schweizerischen Verkehrszentrale, wie Swiss Tourism damals hiess. Ein rauschendes Leben habe er dort geführt, fast mit dem Smoking als wichtigster Kleidung. Doch in den Krisenjahren ab 1929 wurde  abgebaut. Onkel Arthur führte nun das glanzlose Leben eines untergeordneten Stationsbeamten bei der SBB im Zürcher Bahnhof, mit einer Entlohnung, welche den Aufbau einer Familie nur schlecht erlaubt hätte, schon gar nicht, bei seinen mondänen Erinnerungen. Während Jahrzehnten versuchte er sich glücklos in Vertretungen, diesen und jenen Jobs, bis er sich schliesslich Mitte der Fünfzigerjahre unweit von uns erschoss.
Kindergarten: erste Erfahrungen mit der erweiterten Umwelt
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9.  Kindergarten: erste Erfahrungen mit der erweiterten Umwelt
Kaum war Raeto geboren , steckte man mich, dreijährig, in den Kindergarten, trotz Bedenken und eigentlicher Ablehnung von Maria-Rita, der Ingenbohler Schwester, die diesen leitete. Mami verstand es, Menschen zu ihrem eigenen Nutzen einzulullen, sodass Maria-Rita ihren Argumenten erlag und mich wohl oder übel in Obhut nehmen musste. Leider.

Mir gefiel das gar nicht. Erst jetzt, bei der Rückschau, begreife ich, dass dieser Mamis Entscheid mir frühe Erkenntnisse in Soziologie ermöglichte. In den Kindergarten, zur Bruder Klaus Pfarrei gehörig, an der Winterthurerstrasse, unweit des Irchels gelegen, wo die Stadt sich damals in Felder verzettelte, kamen auch einige Zürichberg Kinder. Die Überzahl kam aus dem tiefer gelegenen Umkreis, bis hin zur Wehntalerstrasse. Alle hatten in etwa den gleich langen Schulweg ausser mir, der ich privilegiert gleich schräg oberhalb von dieser Institution an der Möhrlistrasse wohnte. Mir fiel auf, wie diese einfacher als die Züriberger gekleidet waren. Auch ihr Benehmen war anders. Das verspürte ich deutlich, ohne es schildern zu können. Ich verstand mich zumeist gut mit den einen wie mit den anderen. Vermutlich fand ich genau damals meinen Gefallen an der Rolle des Zuschauers. Ich fühlte mich irgendwie in der Mitte zwischen oben und unten, zwischen Wohlhabenden und Einfacheren. Allerdings waren alle Gschpänli älter als ich, die Buben wesentlich stärker. Besonders einer hortete immer alle Spielsachen um sich herum, trotz Ermahnungen von Maria-Rita zu teilen und sich doch auf jenes Spielzeug oder Buch zu konzentrieren, mit dem er sich gerade abgebe. Auch fauchte er jeden an, der in die Nähe von Olivia kam, der schönen, sanften, mit der ich auch gerne geplaudert und mich in ihre Nähe gesetzt hätte. Doch auch da erhob dieser einen Exklusivitäts-Anspruch.

In Geschicklichkeitsarbeiten, wie beispielsweise dem Flechten von farbigen Papierstreifen in ein regelmässig geschnittenes, schwarzes Blatt, war ich heillos unterlegen. Mit dem Binden der Schnürsenkel meiner Schuhe bekundete ich grosse Mühe. Alle anderen hatten auch da weit grössere Fertigkeiten als ich, doch die grösste Schmach erlitt ich im Herbst bei den Weihnachtsvorbereitungen:  Maria-Rita leitete uns an, mit dem Laubsägeli Teile auszusägen, welche später zu einem Kripplein verleimt und gebeizt wurden. Noch nicht mit Stolz, aber doch mit einiger Genugtuung betrachtete ich das etwas wacklige Werk, das ich zu Stande gebracht hatte. "Darein wird Klein Jesulein zu liegen kommen," verkündete uns Maria-Rita. "Seht dazu, dass es schön sanft ruhen kann: Für jede gute Tat, für jedes Mal, wenn Ihr besonders lieb gewesen seid, für jede Hilfe, die Ihr eurer Mamma, euren Geschwistern und überhaupt allen leistet, dürft Ihr einen Strohalm in die Krippe legen. Verhält euch so, dass es deren ganz viele werdet!"

Stroh gab es nicht in unserer Umgebung und Mami kam es nicht in den Sinn, welchen vom unweiten Strickhof mitzunehmen, an dem wir ab und zu vorbei spazierten. Sie schlug vor, Gras zu trocknen, welches sich ihrer Ansicht nach gut als Ersatz eigne. Trotz einer ansehnlichen Zahl von Gräsern kam mein Jesulein hart zu liegen, derweil die Krippen meiner Kamerädli von Stroh nur so überbordeten, insbesondere jenes meines Rivalen, dieses Grobians, den ich nicht ausstehen konnte! Das war zwar noch keine Einführung in Morallehre, aber dasVorkommnis weckte in mir Fragen zur Interpretationsfähigkeit meiner Kamerädlein der Zehn Gebote, insbesondere des neunten, du sollst kein falsches Zeugnis ablegen: waren die alle wirklich soviel braver als ich?

Die Erkenntnis machte sich in mir breit, dass das Leben kein einfaches sein würde. So behalf ich mir ebenfalls mit Notlügen. Bei gelegentlichen Streitereien mit den Grösseren auf dem Heimweg warnte ich sie: "Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, sag ich's meinem grossen Bruder und der prügelt dich dann ordentlich durch!" Es funktionierte. Doch wie funktioniert das mit der Wahrheit? Diese Frage würde mich ein Leben lang beschäftigen. Zumindest zeitweilig.











Erste Schuljahre
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10.  Erste Schuljahre
Für den 8. April 1948 erreichte mich das Schulaufgebot: zu Herrn Lehrer Rudolf Schoch, der schon meinen Vater unterrichtet hatte, diesen wie auch alle anderen seiner früheren Schüler nicht nur erkannte, sondern die Familie und sogar die Namen der Geschwister eines jeden einzelnen im Kopf hatte. Für die Verbreitung des Blockflötenspiels wurde dieser begabte Lehrer und freundliche Herr später mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.

Unser Schulhaus lag an der Weinbergstrasse. Die schnell befahrene Winterthurerstrasse hatten wir zu überqueren, der Röslistrasse entlang zu gehen über die Scheuchzer-, die Riedtli- und erst noch die eher verkehrsreiche Weinbergstrasse! Jene Mitschüler, welche an der unteren Germania- oder Frohburgstrasse wohnten, legten sogar einen fast doppelt so langen Weg zurück wie ich. Die zwei Bauernhäuser an der Röslistrasse zeugen noch heute davon, dass da noch vor nicht allzu langer Zeit Landwirtschaft betrieben wurde. In jenen Jahren wurde in Erinnerung daran noch der Schulgarten gepflegt, wo Schüler, die - ganz im Gegensatz zu mir - wünschten, von den Lehrern in die Kunst des Gärtnerns eingeführt wurden. Wie stolz sie doch waren, als sie die ersten selbst gezogenen Radieschen, Möhrchen nach Hause brachten oder den ersten Strauss eigener Blumen für ihre Mamis!
 
Tolle Gespräche führten wir jeweils auf dem Schulweg, in unsererem Grüppchen von etwa einem halben Dutzend Schüler, welches oberhalb der Möhrlistrasse noch auf drei schrumpfte. In der etwas verwilderten Mulde zwischen Weinberg- und Riedtlistrasse führte uns Albert Renz, seinerseits unterwiesen von seinem drei Jahre älteren Bruder Georges, ins Nielen rauchen ein. 

Die Schule gefiel mir. Der Setzkasten faszinierte mich: die Freude an Buchstaben und Worten klingt bis heute in mir nach! Die Schreibübungen fand ich spannend, mit dem Rechnen kam ich ordentlich zu Recht.  Alles ging eigentlich gut, bis wir mit Tinte zu schreiben begannen. Die Generationen, welche nach uns mit dem Kugelschreiber aufgewachsen sind und erst recht die heutige, die nur noch auf Laptop, i-pad und wie das alles heisst tippen, können sich weder Mühen noch Qualen vorstellen, denen eher ungeschickte oder gar schusslige Schüler wie ich ausgesetzt waren. Zappelphilipp hiessen wir damals, nicht ADHS Kinder. Schönschreiben war damals noch eine wichtige Note im Zeugnis.

Oben rechts an unserem Schreibpult war ein solider Glasbehälter unter einem Schieber eingelassen, wo wöchentlich Tinte nachgefüllt wurde. Jedes Kind besass eine hölzerne Federschachtel, unterteilt in ein Fach für den Kiel und ein kleineres für die Federn. So verhasst mir die Schreibübungen nun wurden, wie alle andern war ich stolz, eine möglichst umfassende Sammlung von Federn zu besitzen: Es gab solche verschiedener Längen, Breiten, je nach gewünschtem Schriftbild. Als wir  geübter wurden, gab's einen Aufsatz auf die Feder, welche fürs erste die Tinte, später dann die Tusche zurückhielt und das Eintauchen der Federn nach jedem zweiten Wort auf fast einen Abschnitt hinaus zögerte. Allerdings, wenn der Aufsatz übervoll war oder wir die Feder etwas schief hielten, rann ein zünftiger "Tolggen" aufs Schreibblatt. Das war bei mir oft der Fall, sodass ich ziemlich schnell in den Ruf eines Schmierfinks kam. Diese Phase empfinde ich noch heute als ersten Bruch in meiner Laufbahn. Dieser Ruf als Schusseliger drückte mich. Ich vergass das Übel jedoch schnell, wenn wir in den Pausen aus einem Abstand von etwa 2-3 m die Federn gegen eine Mauer warfen. Die Regeln, glaube ich mich zu erinnern, dass man möglichst nahe an die erste, grosse Feder mit Aufsatz gelangen musste, um die zurückliegenden dank der eigenen, näher geworfenen, einheimsen zu können. Ähnlich wie beim Boccia oder im Winter, beim Curling, aber weniger mühsam.

Ansonsten waren mir die Spiele der Buben auf dem Pausenplatz zu wild: sie rannten, schrien herum, machten "Fangis", da und dort kam es zu Prügeleien, wenn auch eher zu freundschaftlichen. Von allem Anfang an gefiel es mir bei den Mädchen besser, die sich mit artigen Spielen vergnügten, beim einen oder anderen dazu sangen. Ich war zu schüchtern sie zu fragen, ob ich bei ihnen mitmachen dürfe. In jener Zeit hätten sie wohl kaum ja gesagt. Meines war deshalb ganz klar ein Aussenseiter-Dasein, das damals nicht ausgelebt werden durfte. So war mir weder mit den Buben noch mit den Mädchen richtig wohl. Die ersten waren mir zu aufdringlich. Die zweiten zu fern.

Auf dem ersten Schulfoto, welches damals alle drei Jahre regelmässig und von jeder Klasse aufgenommen wurde, erkennen meine Frau Margot und ich leider nicht mehr alle Gesichter. Wir hatten die erste bis dritte, und die ersten zwei Sekundarschuljahre miteinander absolviert. Damals wusste jedes vom anderen wer er/sie war, wo man wohnte. Näher befreundet waren wir nicht. Doch davon später.

Auf dem Schulweg war es besser: Mit Albert Renz von der Winterthurerstrasse, Ueli Vonwil, der ganz oben an der Frohburgstrasse wohnte, mit Marianne Heusser aus dem gleichen Haus wie ich und noch zwei drei andern plauderten wir alle so angeregt, dass wir die Länge des Schulwegs vergassen. So reklamierte Mami ziemlich oft über mein spätes Eintreffen zum Mittagessen. Mein Einwand, dass wir trotzdem wichtige Argumente nicht ausführlich genug behandeln konnten, schlug sie jeweils verärgert in den Wind. Das wiederum ärgerte mich. Ich fühlte mich nicht ernst genommen. Schliesslich fand die Entdeckung des Lebens für mich zu einem grossen Teil auf dem Schulweg statt, in jener Zeit, als es undenkbar war, dass uns jemand "von den Grossen" in die Schule begleitet und erst recht gefahren hätte! Möglich wäre letzteres ja gewesen, da Papa, der schon immer ein Auto fuhr, zum Mittagessen tagtäglich zu Hause war und erst auf 14 Uhr wieder ins Büro zurück kehrte: 8-12, 14-18 Uhr war damals die Arbeitszeit, auch am Samstag arbeitete er wie jedermann bis 12 Uhr. 

Albert Renz war für mich ein Body-Guard, lange bevor man solches Schutzpersonal überhaupt kannte: Ich war zart, eher ängstlich und – darob schämte ich mich zwar - auch recht weinerlich. Kunststück, dass ich leicht zur Zielscheibe der raueren Fraktion unserer Kameraden wurde. Albert war immer zur Stelle, wenn ich in Bedrängnis geriet. Wehe dem, der mich gebodigt hatte und auf mir hockte!

1952: Wechsel ins Turnerschulhaus, erste Trennung von meinen Schulfreunden, der Verlust eines noch zarten, aber doch real existierenden Geflechts. So einschneidend ich es empfand, bald hatte ich neue Freunde gefunden. Vor allem, Peter Meier und Edition Breslau waren mit mir zusammen in die Klasse von Lehrer Otto Buchschacher eingeteilt worden. Das half. Wenigstens war nicht alles neu!

Otto Buchschacher erfuhr nicht die Anerkennung der Klasse, die ich ihm gegönnt hätte: Er war unzufrieden mit seinem Beruf und sagte es auch offen: "Werdet nur nicht Lehrer!" und hin und wieder "Ach mir ist verleidet, das!" Ohne offensichtlichen Grund. Ich erinnere mich, dass er sogar einmal einen Karton mit den Wasserschälchen, die wir fürs Aquarellieren brauchten, zornig auf den Boden schmiss. Ob es deshalb war, dass ich mich ihm näher fühlte, als dem ausgeglichenen Herrn Schoch? Herrn Schochs Erregungen waren einzig und allein an seinem hochroten Kopf mit Glatze zu erkennen. „Olibuli“, wie wir Herrn Buchschacher nannten, begeisterte uns für die Kartonage, er hatte auch fröhliche Zeiten und wenn im drum war, befahl er: "So, und jetzt erzählt uns der Thommen einen Witz". Ich hatte ein ganzes Arsenal davon, welches meine Tanten aus Chur mit lustigen, erzählbaren, regelmässig belieferten. Die "gruusigen", aus anderen Quellen, die erzählten wir Buben uns untereinander. 

Karl Frei hatte Albert Renz als Freund ersetzt, der nun in ein anderes Schulhaus einteilt worden war. Karl war ein gefitzter Junge, mit reger Fantasie. Er stammte aus einer sehr einfachen Familie. Seine Ausreden, weshalb er nicht an der Schulreise teilnehmen konnte, erstaunten uns. Erst Jahre später erzählte er mir, dass er jeweils nicht teilnehmen konnte, weil der bescheidene Betrag, den wir beizusteuern hatten, in der Familie einfach nicht vorhanden war. Karl war bei uns zu Hause gerne gesehen und ich auch bei seiner Familie. Es erstaunt mich heute, dass ich rein gar nichts von ihrer Bedürftigkeit bemerkt hatte. 

Später war er in diversen Metiers tätig, unter anderen recht erfolgreich mit Tankreinigungen. Plötzlich trat er hoch elegant auf, als diverse Frauen für ihn arbeiteten. Er verstarb früh, wenn ich mich recht erinnere, wurde er kaum fünfzig.

In jenen Jahren freundete ich mich auch mit Edi Breslau enger an. Seit seine Familie von der Röthel- an die Goldauerstrasse umgezogen war, teilten wir uns den Schulweg, vor allem wenn wir zum Turnen in die Turnhalle an die Stapferstrasse mussten. Über die Familie Breslau kam ich erstmals mit Juden in Kontakt. Edi besass Bücher, die ich in meiner Familie kaum vorfand. Ich erinnere mich an jenes des Mikrobiologen Paul de Kruif, an ein Kunstbuch über die Etrusker und viele andere, die mich ebenso beeindruckten und erst mal überforderten, später dann doch meine Neugierde weckten. Edi selbst wurde musikalisch mit einer Violine gefördert. Hin und wieder schien mir, dass es mehr Folterung als Förderung war und leider erinnere ich mich nicht, dass ein diesbezügliches Talent zu Blüte gekommen wäre. Seine Familie war liberal, lebte ihren Glauben ebenso überzeugt wie diskret. Freitag abends, wenn die Chanuka auf der wunderschönen Louis XV Kommode entzündet wurde und damit der Sabbat begann, war es für mich immer Zeit zu gehen. Dann blieb die Familie unter sich. Die Aussage von Mutter Breslau, dass sie immer danach strebte, eine gute Jüdin zu sein, rührt mich noch heute.

Edis Eltern, sehr frankophil, gehörten zu den damals noch seltenen Schweizern, die nach Frankreich zu den berühmten Köchen pilgerten. Solche waren damals noch nicht so zahlreich wie in unseren Tagen. Dafür aber  bildeten die Restaurants welche die damaligen Gourmets aufsuchten, wie Fernand Point in Vienne, Mère Blanc in Vonnas, Haeberlin in Illhäusern und weitere wahre kulinarische Sanktuarien. Die Familie Breslau hat mich dauerhaft beeindruckt. Schade, dass wir uns ab meiner Lehrzeit für immer aus den Augen verloren.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an den latenten Antisemitismus, der damals auch in unserer Familie herrschte. Tante Klara brachte Kinderbücher der bereits erwachsenen Söhne der Familie mit, für die sie arbeitete: Es waren Kinder- und Schulbücher aus dem dritten Reich, die den Führer glorifizierten. Genau wie wir im Katechismus lernten: "Wer ist Jesus Christus? Jesus Christus ist der eingeborene Sohn unseres Herrn" stand dort geschrieben: "Wer ist unser Führer? Unser Führer ist Adolf Hitler"usw, usw. Unsere Tante brachte diese mit, ohne sie selbst gelesen zu haben. Vermutlich fand sie die Illustration hübsch. Ich erinnere mich nicht an konkrete Sprüche, wohl aber an unbedachte Aussagen antisemitischem Gehalts meiner Eltern. Auf eine Frage meines Bruders, damals noch ein Kind, antwortete meine Mutter: "Ja die Juden, das sind doch die, die unseren Herrgott ans Kreuz genagelt haben..."

Wenn ich mich heute frage, was an diesen Schuljahren zwischen der vierten und sechsten Klasse besonders war, woran ich mich speziell erinnere, ist es vielleicht der Schulsylvester, zu welchem Hugo Beutler und ich konzertant beitrugen: Er spielte Violine, ich sang dazu. Irgend einen deutschen Schlager. Aber wir hatten beide Spass daran, zur Unterhaltung beizutragen. Und noch etwas: Vera Zehnder hatte so schöne Zähne, wie ich sie später nie mehr sehen würde. Und war hübsch. Und sympathisch.
Sekundarschule und/oder Gymnasium?
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11.  Sekundarschule und/oder Gymnasium?
Der Übertritt in die Sekundarschule bedeutete für mich eine neue Dimension: Ich fühlte mich zwar nicht erwachsen, doch trennte mich nun ein entscheidender Schritt von der ersten Kindheit. Ich hatte das Gefühl, jetzt endlich in die richtige Schule eingetreten zu sein!

Das Gymi kam für mich nie in Frage. Mein Vater war vom Wert der praktischen Ausbildung viel zu sehr überzeugt, als dass er erlaubt hätte, zusätzliche Jahre mit Dingen zu vergeuden, die man im echten Leben eh nie brauchen könne. Lesen, Schreiben, Rechnen, RECHNEN! und natürlich Sprachen, das waren die Dinge, in denen er von uns beiden Leistung erwartete. "Eine Matura? Wofür? Ich seh sie doch, die Maturanden, wenn zu uns ins Praktikum kommen. Nicht einmal das Papier vermögen die in die Schreibmaschine einzuspannen, geschweige denn einen Brief korrekt abzufassen. Denen sind unsere Lehrlinge doch weit überlegen! Die Praktiker sind's, die die Welt vorwärts bringen!"

Da konnte mein Freund in der "Sek", Walter Leimbacher, der später an der ETH Zürich Forstingenieur wurde, lange faseln, dass Praxis sich am erfolgreichsten auf Theorie aufbaue. Nie hätte er mich zu überzeugen vermocht. Obschon die Karriere meines Vaters gerade mal im mittleren Management der BP ihre Erfüllung fand, waren für mich seine Worte, sein Beispiel allein massgebend: Er hatte ein überzeugendes Auftreten, nicht zuletzt dank seiner Sprachgewandtheit in Deutsch, Englisch und Französisch. Er kannte die Welt von seinen Aufenthalten in jungen Jahren an der Swiss Mercantile School in London, seiner beruflichen Tätigkeit in Monte-Carlo und Algier. Ihm hatte man den Aufbau der Abteilung für chemisch-technische Produkte in der BP anvertraut, ihn schickten sie mehrmals im Jahr nach London, Paris, Hamburg zu Besprechungen und Konferenzen!

Mein feststehender Berufswunsch als Koch bei Eintritt in die Sekundarschule hatte den fatalen Einfluss, dass ich mich nur noch in jenen Fächern anstrengte, die mir für mein berufliches Fortkommen nützlich schienen und/oder mir Spass bereiteten. Das war zuerst einmal Französisch, die Sprache der (gehobenen) Küche, Deutsch gefiel mir sowieso, Literatur in beiden Sprachen, Geschichte, Geographie soweit es Frankreich betraf. In diesen Fächern fiel mir die Anstrengung leicht. Dann ging es übers Rechnen mühsamer weiter, wobei mir Drei- und Vielsatzrechnungen noch ganz gut gefielen und sogar am Wurzelziehen fand ich meinen Spass. Doch dann, bei Algebra ging gar nichts mehr und meine letzte Note in Geometrie war eine 2 (von 6). Auch heute noch bin ich des abstrakten Denkens völlig unfähig.

So bevorzugte ich den Klassenlehrer meiner Lieblingsfächer, Heinrich Brütsch.
Herrn Küstahler mochte ich weniger. Er war dazu verdammt, uns in die naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer einzuführen, die damals noch bescheidener als heutzutage benannt wurden: Arithmetik, Naturkunde Geometrie, technisches Zeichnen. Beide Herren standen kurz vor der Pensionierung. "Henri" wie Brütsch von der ganzen Klasse genannt wurde, welche geschlossen Französisch hasste, war ein etwas untersetzter, kräftiger Mann mit Autorität. "Küschi", ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und kränklichem Aussehen, hatte es schwer. Mehr als einmal holte er seinen Freund und Kollegen "Heiri" rüber um Ordnung zu schaffen, wenn wir es wieder einmal zu bunt trieben. Begeisterung war dem armen "Küschi" völlig fremd. In der Geographie kam er nie über Aegyptens Nildelta hinaus. In heissen Tagen schmorten wir förmlich in der Wüste dort, die Illustration mit vergilbten schwarz-weiss Lichtbildern half auch nicht weiter und alle schmachteten wir der Pause wie einer Fata Morgana entgegen. Entkräftet gab "Küschi" dann von sich: "Ob Ihr etwas lernt oder nicht, hängt nur von euch ab. Mir ist das völlig egal. Ich werde Ende dieses Zyklus so oder so pensioniert." Das klang für uns nicht sehr ermutigend. Der schleppende Verlauf seiner Schulstunden hätte hingegen als überzeugendes Beispiel zur Einführung in Einsteins Relativitätstheorie dienen können.

Das Erlernen der Nasallaute im Französischen insbesondere, und die Aussprache im allgemeinen, forderte von uns allen Überwindung. Es war so ungewohnt, so fremd. Jenen, die keine Affinität zu dieser Sprache empfanden, schienen diese Übungen blöd und nutzlos. "Henri" liess sich von den Unwilligen nicht entmutigen: wer fürs -en, -in, -on den Schnabel nicht genug aufriss, dem steckte er die Equerre in den Mund. Jedenfalls brachte er ganz passable Resultate mit uns zu Stande. Ich darf von mir sagen, dass ich dank meiner Begeisterung und Neugierde auf alles französische der Beste der Klasse in diesem Fach war. (Aber nur dort.) Ich entwickelte damals meinen Hang zur Grammatik in allen Sprachen, die ich erlernte und noch heute erlerne. Und trotzdem: zu einem Logiker habe ich mich nie entwickelt.

Natürlich halfen Privatstunden, die ich bei Frau Stahel nehmen durfte. Ihren Ursprung hatten diese eigentlich im Rechnen, nachdem ich an der Aufnahmeprüfung für die katholische Sekundarschule durchgesegelt war. Für eine ganze Weile führte Frau Stahel diese beiden Fächer, Arithmetik und Französisch, mit mir weiter. Später noch zusätzlich mit Englisch. Selbst während der Kochlehre kam ich einmal wöchentlich zu Frau Stahel und repetierte die Englisch Lektionen von einer Stunde zur andern.

Meinen Eltern bin ich für diese Möglichkeit sehr dankbar. Frau Stahel war eine gebildete Dame, die in verschiedensten Dingen stimulierenden Einfluss auf mich hatte. Bei einem meiner ersten Besuche bei ihr machte sie mich auf meine schwarz geränderten Fingernägel aufmerksam und meinte, dass das nicht eben gentleman like sei. Womit ein jahrelanger Kampf von Mami mit mir ein augenblickliches und definitives Ende fand.

Wir waren eine gute Klasse in der Sek, Burschen wie Mädchen. Wir hatten unter uns allen einen sehr netten Zusammenhalt. Im Winter trafen wir uns auf dem Dolder zum Schlittschuhlaufen - bewunderten Dorli Dahinden - die eleganteste unserer  jungen Damen - wenn sie ihre Schlittschuhstunden nahm, spielten "Fangis", was uns erlaubte, nach unseren heimlich verehrten werdenden Fräuleins zu haschen, Runden mit ihnen an der Hand  zu drehen. Im Sommer unternahmen wir gemeinsam und über Klassen hinweg Ausflüge auf den Üetliberg nach Baldern, auf den Käfer- oder Hönggerberg, schwärmten zusammen von Oper, Schauspiel und natürlich von deren Interpreten und Darstellern, skizzierten unsere noch vagen Zukunftspläne. Welch glückliche Zeit!

Der Inhalt der Bücher, die wir damals nicht lasen, sondern geradezu verschlangen, förderte den Austausch unter uns bei diesen Treffen und Ausflügen  enorm. Natürlich hatte der Inhalt erstrangige Wichtigkeit.  Erst in zweiter Linie staunten wir über die Fähigkeit der Verfasser, Situationen und Stimmungen wiederzugeben. Walter Scotts Ritter Erzählungen, Cronins Schilderungen aus dem Ärzte Milieu, oder Lew Wallace Ben Hur sind nur ein paar Erinnerungen daran. Walter Leimbach und ich steckten dauernd in der Pestalozzianum Bibliothek, die sich im hübschen Gebäude des Beckenhofs befand: Welch eine Schatztruhe! Ich erinnere mich noch, wie sehr mich der dicke Band, Erzählung mehr als eine genaue Biographie, über Meister Ekkehard beeindruckt hatte. Eher überheblich reagierten wir auf Erwähnungen von Karl May oder Hector Mallots Heimatlos: das waren doch Schriften aus der Primarschule! Sehr genau erinnere ich mich noch an Besorgnis und Ärger unserer Eltern über unseren ständigen Rückzug hinter die Bücher. Insbesondere bei Sonnenschein wurde das Stubenhocken mit einem Buch kaum geduldet! Nicht viel anders als heute, wenn sich Eltern über das ständige "töggelen" an Laptop und Handy ärgern...

Damals wurde der Schul-Sylvester noch gestaltet und gefeiert. In jeder Klasse bildeten sich selbständig Gruppen, die irgend eine Darbietung erarbeiteten: Sketches, Musikalisches,  Schwänke, welche zumeist von Madeleine ausgesucht und den Mitwirkenden dann zur Auswahl gegeben wurde. Es gefiel mir, darin eine aktive Rolle wahrzunehmen. Für die Bühne wurden im Schulzimmer ein Draht gespannt und einige möglichst gleichfarbige Tücher so daran aufgehängt, dass sie sich ziehen liessen und der  Vorhang war fertig.

Schmunzelnd erinnere ich mich an den letzten Sylvester,  mit dem Auftritt der blonden Negersängerin blonde Josephine: Alle schwarz geschminkt, ich als blonde Josephine in einem feurigen Rock von Mami, die Brust gestopft, hinter Instrumenten Attrappen aus Karton, mimten wir alle wie die Verrückten zu einem Song von Josephine Baker.  Es war eine Gaudi, selbst Henri und Küschi krümmten sich vor Lachen!

Das dritte Jahr in der Sekundarschule hatte keinen guten Ruf: Ein Grossteil der Klasse, wenn nicht gar der überwiegende, hatte die Weichen für die Zukunft gestellt: Die meisten von jenen, welche sich - oder deren Eltern - für eine Lehre entschieden, hatten bereits einen Lehrvertrag in der Tasche. Den "Spätberufenen" fürs Gymnasium war nur noch die Aufnahmeprüfung wichtig. Die Bedeutung des Lehrstoffs, der in diesem Jahr noch von allen hätte durchgearbeitet werden sollen, war ebenso im Keller wie die Klassendisziplin. 

Ich war bei Schulbeginn der 3. Sek bereits ins "Institut catholique de jeunes gens" in Neuchâtel eingetreten. Eine nützliche Alternative zu diesem "verlorenen Sekundarschuljahr“. Solche Sprach-Aufenthalte wurden damals von verschiedenen Familien gerne für ihre pubertierenden Sprösslinge arrangiert.

Papa, der mich und nach weiteren drei Jahren auch meinen Bruder Raeto dorthin schickte, hatte bereits ein Jahr zuvor für unser Welschlandjahr mehrere Institute in Betracht gezogen und genauestens untersucht. Konfessionelle Einrichtungen waren naheliegend, einerseits wegen ihres Rufes seriöser Ausbildung, andrerseits weil sie auch für Kinder aus mittelständischen Familien erschwinglich waren.

Ein besonderes Augenmerk warf Papi auf die religiös/konfessionelle Einstellung der Schulleitung: Er war jeglicher religiöser Dogmatik abhold, in deren Ruf beispielsweise die Schulen von Engelberg, Einsiedeln und Schwyz damals noch standen. Papi hatte nie verdaut, dass er als Protestant mit seiner katholischen Braut den kirchlichen Ehesegen nur erhalten würde, wenn er sich unterschriftlich verpflichtete, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. 

Während man in Mamis Elternhaus die herkömmlich traditionelle Unterordnung unter die Kirchliche Lehre als natürlich und grundlegend empfand, beschränkte sich Papis religiöse Einstellung auf einen einzigen Satz, der ihm ein Senegalese in Algier mit auf den Weg gegeben hatte: "Du darfst im Leben alles tun und lassen, so lange du damit nicht einem Nächsten weh tust oder ihm Schaden zufügst". Dem traditionellen Familienbild verhaftet, nach welchem die Frau die Kinder erzieht, war es für ihn klar und selbstverständlich, dass diese im mütterlichen Glauben heranwachsen würden. Auch ohne Unterschrift!

Die frères des écoles chrétiennes welchen Leitung und Lehre des Instituts anvertraut waren, empfand Papi nach mehreren vorgängigen  Besuchen als fortschrittlich und gut, sodass er mich danach so bearbeitete, bis ich diese Gelegenheit für mich ebenfalls als gut empfände. Was mir mit einiger Anstrengung gelang. Nach knapp zwei Wochen schrieb ich nach Hause: 
"Ich habe mich nun schon ganz gut eingelebt. Es gefällt mir noch ganz gut. Schade ist nur, dass man zu wenig frei ist...."

Das Aufnahme Diktat, nach welchem wir in die Klassen Cours A bis F eingeteilt würden, hatte für mich grosse Bedeutung. Ich hoffte schon, wenigstens in den Cours D zu kommen, vielleicht sogar in den Cours C? Nein, auch im cours C fiel der Name Jürg Thommen nicht. Toll, dann also Cours B? Auch da wurde ich nicht aufgerufen, sondern landete im Cours A. Du kannst es ja! schrie es in mir. In diesem Moment erwachte mein Ehrgeiz, wo immer möglich zu den Besten zu gehören. Gelehrt wurde nebst Französisch, Deutsch und Englisch alle Handelsfächer, inklusive doppelter Buchhaltung und sogar elementare Statistik. Hauptziel der frères war und blieb die Charakterbildung ihrer Schüler.

180 waren wir. Zumeist aus der Inner- und Ostschweiz. Geleitet wurde das "Insti," wie wir es nannten, von frère Joseph einem um die fünfzig Jahre alten Schulbruder. Er war während dem Krieg über 40 Monate in Konzentrationslagern  gefangen gehalten. Dort hatte er sich geschworen, sollte er je wieder rauskommen, etwas für die Jugend zu tun, damit sich solche Ereignisse nie wiederholen würden. Er hielt Wort. Überzeugt, dass nur sein Glauben ihn am Leben gehalten hatte, sah er in der Glaubenserweckung von uns jungen Bengeln seine Aufgabe. Unterstützt wurde er darin von etwa einem Dutzend weiterer Brüder, bis auf frère Rudolphe, jung und ihrer Mission ebenso leidenschaftlich wie weltoffen zugetan. Die meisten von ihnen unterrichteten einen cours . Einige wenige, zumeist ältere, im gegenüberliegenden, ursprünglichen Gebäude an der Maladière Nr. 1 den Kindergarten sowie erste bis dritte Klasse für Kinder aus der Umgebung. Getreu frère Josephs Schwur waren dort auch einige schwierige Kinder und Schüler zugelassen. Insbesondere auch einige aus Familien, für welche die vollen Schulkosten zu teuer gewesen wären.

Für uns Interne - in grossen Schlafsälen und wenigen Einzelzimmern, wovon ich glücklicherweise eines bewohnen durfte, und jenen im Fontaine André untergebracht, einem schönen ehemaligen Kloster oberhalb von Neuchâtel war der Tagesablauf wie folgt:

06.15.  Réveil
07.00.  Messe basse à la chapelle
07.40.  Récréation dans la court
08.00.  Petit déjeuner
08.30.  Cours du matin
10.00.  Récréation
10.30.  Cours du matin
11.45.  temps libre et
12.00.  Déjeuner et temps libre, dans la court ou en grande salle d'étude
13.30.  Cours de l'après-midi
16.00.  Récréation
16.30.  Etude dans la Grande Salle
19.00.  Dîner et temps libre
20.00.  Réflexions, tenues par le très cher frère directeur Joseph, en grande salle
20.45.  Dévotion à la chapelle
21.00.  Retrait aux dortoirs
21.30.  Éteinte des lumières


Variations:

Mittwoch- und Samstagnachmittag:
Sport, Spaziergang je nach Neigung im Fontaine André
Donnerstag: 
17.00 - 18.00 Sortie libre: interdiction de fréquenter le Club21
Freitag: 
ab 16.30 - 19 Uhr douches obligatoires, Klassenweise, sous surveillance.

Sonntag:
Aufstehen erst um 7 Uhr, Kurzandacht, Frühstück, Freizeit bis 9.30 Uhr
anschliessend Messe solennelle bis ca. 11 Uhr.
11.00-12.00.   Sortie libre en ville
Die sortie libre unterlag der Bedingung, innerhalb der Woche nicht alle sechs Jetons verloren zu haben. Jeder von uns hatte deren sechs, gestanzt auf seine Schülernummer. Jetons verlor man jeweils einen, wenn man beim Deutsch reden ertappt wurde, einen für jede Minute Verspätung bei der Rückkehr aus der sortie libre, ungebührliches Benehmen, Verspätungen im Allgemeinen, dann aber wenigstens nicht einen pro Minute. Immerhin.

12.00.  Verbessertes Mittagessen mit Dessert

ab 13 Uhr fuhr man wieder ins Fontaine André bei schönem Wetter oder verbrachte die Schlechtwetter Nachmittage im Hof oder in der grande salle, die auch einige Ping-pong Tische, Billards, "Töggelikästen", Tischfussball bot und eine Musik Ecke, wo frère François beliebte klassische Musik Platten auflegte.
Um 16 Uhr ging man dann wieder zum Goûter und um 17 Uhr präsentierten die frères Filme in der Grande salle für uns alle.

Die Réflexions des très cher frère directeur - ein begabter Redner, der uns zu packen verstand - hatten zu meist den gelebten Glauben im Alltag zum Thema. Das eröffnete für viele von uns eine neue Sicht auf Religion.  Frère Joseph widmete sich in vorbildlicher Art der Aufklärung, welche er für jeden einzelnen in seinem Büro vornahm und uns sehr sachlich, auch anhand von Zeichnungen all das erklärte, was wir schon wussten. Er beantwortete auch Fragen klar. Seine Betrachtungen während den Réflexions über les filles und den Versuchungen, die von ihnen ausgehen könnten, wurden im Hof rege diskutiert unter uns, doch war ich nicht in der Lage, diesen in den Sommerferien voll und ganz nachzuleben.
 
Diese Disziplin mag heute Kopfschütteln hervorrufen. Nur ganz wenige vermochten sich ihr nicht zu unterziehen, wohl kaum ein halbes Dutzend auf uns 180 Schüler. Für fast alle von uns war es eine Lebensschule: Dank der strengen, konstanten Einteilung des Tages fanden wir zu einem Tages-Rhythmus und zu einer Studiendisziplin. Die tägliche Messe und Andacht, die Reflexionen von frère Joseph öffneten uns Zugang zu Spiritualität, Kontemplation, wenn nicht gar zum Glauben. Sowohl mein Bruder wie ich schätzen dieses Jahr - vor allem im Nachhinein - als ein wertvolles Geschenk in unserer Jugend.

Wir beide haben dort Freundschaften geschlossen, die auch heute noch lebendig sind. Nicht viele. Doch wie sagen doch die Franzosen? "Qui a beaucoup d'amis n'a pas d'ami."

So sind wir den letzten Frères, die über neunzig sind, auch heute noch freundschaftlich verbunden. Raeto und ich besuchten zusammen Paris im Mai 2018 und schrieben frère Raymund und Richard - Brüder auch im zivilen Leben - folgende Postkarte:

Très chers frères et amis
Raeto et moi sommes à Paris pour rafraîchir notre français. N'ayant pas de jetons à notre disposition, celui qui se fait prendre à parler allemand, s'oblige à payer l'apéro à l'autre. Nous sommes heureux et fiers de vous communiquer, que la prochaine sortie libre reste assurée et que le taux d'alcoolémie est encore en dessous de 0.8%o.
Lehrzeit als Koch
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12.  Lehrzeit als Koch
Ich erinnere mich noch gut an das Vorstellungsgespräch für meine Lehrstelle. Bereits in der 1. Sek, nachdem Papa festgestellt hatte, dass mir mit der Kocherei ernst war, bemühte er sich um eine Lehrstelle für mich. Das Hotel Baur au Lac in Zürich, welches Papa bevorzugt hätte, lehnte ab, da sämtliche Lehrstellen für die nächsten vier Jahre bereits besetzt waren. Direktor Georges Rey antwortete trotzdem positiv und sehr freundlich auf Papis Anfrage, ob er nicht bereit wäre, ihn für ein Gespräch über den Aufbau einer Hotelkarriere zu empfangen. Für meinen Vater war klar, dass Koch zwar ein toller Beruf, aber vor allem die Basis für eine Karriere zum Direktor war.

Papi hatte es im Grand Hotel d'Alger in den dreissiger Jahren vom Chasseur zum Vize-Direktor gebracht. Hätte er damals über Kenntnisse in der Gastronomie, in Küche und Service verfügt, wäre er nach seiner Rückkehr in die Schweiz der Hotellerie treu geblieben. Was wunder, dass er seine Kenntnisse und vielleicht auch seinen Traum seinem Sohn weitergab!

Gemäss der Empfehlung von Herrn Rey wandte sich Papa ans Bahnhofsbuffet Zürich. "Die Schulzeugnisse sind zwar nicht sonderlich beeindruckend," meinte Herr Rodolphe Candrian, "aber wir wollen es mit Jürg versuchen." Den Lehrvertrag erhielten wir in der Woche nach unserem Vorstellungsgespräch. Ein Lehrgeld von Fr. 400.- war in zwei Raten zu entrichten, die erste vor Eintritt, die zweite vor Beginn des zweiten Lehrjahres.  "Aber das bezahlen wir zurück. Ein Kochlehrling verdient im ersten halben Jahr Fr. 10.- pro Monat, danach Fr. 30.- und ab dem 2. Jahr Fr. 50.-, bei freier Kost und Logis" erklärte der ebenfalls anwesende Personalchef, Herr Gerber. Das Logis bestand in einem abgeschrägten Gemeinschaftsraum unterhalb des Dachs über dem Haupteingang zum Bahnhof, wo etwa ein Dutzend Burschen zusammen hausten. Jeder ein Bett, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit Stuhl. Basta. Das sei der Kollegialität und dem gemeinsamen Lernen förderlich, befand man im Bahnhofbuffet.

Meinem Vater war ich sehr dankbar, dass er mich aus erzieherischen Gründen noch unter elterlicher Obhut zu halten wünschte. Herr Schweizer, der Direktor der Hotelfachschule Lausanne, den Papi ebenfalls zur Ausgestaltung meiner Laufbahn besucht und befragt hatte, meinte mit Stirnrunzeln, dass man an der Ecole Hôtelière eine Handelsschule als Grundausbildung bevorzuge. Die Gefahr in der rauen Atmosphäre einer Grossküche zu verrohen, sei nicht unerheblich und dem erwarteten Auftritt eines Hoteliers eher abträglich.

Bei meinen zukünftigen Kollegen war mein zu Hause wohnen DER faux-pas. Ich wurde zum Paria. Erstjahres-Lehrlinge mussten getauft werden, um dem Stiftenkreis wirklich anzugehören. Das konnte nur an "Internen" vollzogen werden. 

Das Ritual bestand in einem nächtlichen Überfall auf den "Täufling," diesem die Augen zu verbinden, ihn zu fesseln und mit schwarzer Wichse dick einzuschmieren. Danach wurde er, schwarz und nackt, in einen der grossen Wäschekörbe eingeschlossen, die dort oben herumstanden und im Frauenstock deponiert, der im Flügel gegenüber lag. Nach Befreiung unter Kreischen, spöttischem Lachen und entsprechenden Bemerkungen durch die italienischen Küchen- und Lingeriemädchen, die weit weg von den Burschen ähnlich logiert waren, ging die Zeremonie ihrem Höhepunkt entgegen: im spätnächtlichen Nacktbad von Täufern und ihrem Täufling im Bahnhofsbrunnen, mitten auf dem Bahnhofplatz.  Es ist durchaus denkbar, dass sich der würdige Alfred Escher auf seinem Denkmal, entsetzt von solch unwürdigem Spektakel, aus diesem Grunde vom seinem Bahnhof abwandte und seither zur Bahnhofstrasse blickt.

Das Bahnhofsbuffet war seit jeher ein äusserst vielseitiger Betrieb: erste, zweite und damals auch noch dritte Klasse. Die erste war Bahnhofplatz seitig. Sie umfasste ebenerdig zur Bahnhofshalle hinaus einen grossen Saal mit populärem Güggeligrill, ergänzt im Sommer mit einer Aussenterrasse gegen das Sihlquai. Etwas erhöht, das heutige da Capo, damals noch verbunden mit der Alfred Escher Stube (heute Bona Dea). Das "au Premier" war schon damals eines der stadtbeliebten, gehobenen Restaurants, vor allem auch dank seiner Tische überhalb dem Bahnhof-Eingang zur Bahnhofstrasse hin. Dort, wo heute Nordsee seine Fischgerichte anbietet, wurde in jenen Jahren eines der ersten Selbstbedienungsrestaurants der Stadt eingerichtet, die Cafeteria.

Die heutige Brasserie Fédérale war die populäre zweite Klasse. Daran angegliedert war die erfolgreiche dritte Klasse, die Röstistube, welche zusammen mit der Chüechlistube zum Landesmuseum gab. 

Wichtige Umsatzträger waren die Bahnhofskioske und Perronwagen, die ein sattes Drittel zum Gesamtumsatz beitrugen. Diese wurden aus den Kulissen heraus von der Perron-Abteilung beliefert, welche dafür unter anderem jeden Tag 300 Sandwiches herstellte. Eine  gemeinsame Räucherei gehörte dazu, für Schinken, Speck, Würste und erst später auch hausgeräuchten Lachs. Eine eigene Kaffeerösterei und ein grosser Weinkeller ergänzten das Angebot. Letztere belieferten gleichzeitig das Suvretta House in St. Moritz und das Parkhotel Vitznau, schon seit je im Besitz der Familie Bon-Candrian.

Heute wird die Unternehmung in vierter Generation geführt. Kurz vor meinem Eintritt in die Lehre, im April 1957, hatte der Gründer Primus Bon, Oberst und stadtbekannte Persönlichkeit, die Leitung an seinen Schwiegersohn Rodolphe Candrian abgegeben. Beide Patrons genossen grossen Respekt. Bei alledem vermittelten sie jedem Angestellten das Gefühl, dazuzugehören. Grossen Wert legten Candrians auf die alljährliche Jubilarenfeier, wo jene geehrt wurden, die 5, 10 Jahre oder ein mehrfaches davon im Betrieb arbeiteten. Damals arbeiteten gut fünfhundert Leute "im Buffet" und es gab alljährlich eine stattliche Anzahl von ihnen zu feiern.  Dafür wurde das gesamte "au premier" reserviert, ein köstliches Dîner serviert und landesbekannte Künstler eingeladen, welche die Eingeladenen bis spät in die Nacht unterhielten. 

Wann immer jemand heiratete, ein Kind bekam oder einen nahen Verwandten verloren hatte, Frau Candrian beglückwünschte oder kondolierte schriftlich, bei Geburten oft mit einem kleinen Geschenk. Zu Weihnachten gab es für jeden eine Gratifikation mit einer hübschen Dankeskarte für die Mitarbeit, jede einzelne von Rodolphe Candrian persönlich unterschrieben und überreicht.  Herr und Frau Candrian grüssten jeden, der ihren Weg kreuzte. Viele, auf jeden Fall alle langjährigen Mitarbeiter kannten sie mit Namen. In meinen Zweifeln,  wie weit ich es wohl bringen würde, hatte ich mir meine Lehrpatrons zum Vorbild genommen. Auch wenn ich wohl kaum so weit aufsteigen würde, so möchte ich doch auf ähnliche Art mit meinen Mitarbeitern umgehen.

Wenn ich mich recht erinnere, arbeiteten in den beiden Küchen der 1. Klasse, inklusive "Au Premier"  neunzig, in jener für die 2. und 3. Klasse siebzig Köche. Jede Klasse betrieb eine eigene Metzgerei sowie eine Konditorei. Die Fischküche im Erstklass Buffet war ein Begriff in Zürich. Welch ein vielseitiger Betrieb!

Der 2. und 3. Klasse stand Küchenchef Dekumbis vor, der ersten und au premier Jean Schers. Beide Walliser. Vor allem beim Monsieur Schers, dem Val d'Anniviers entstammend, hatte man es entschieden leichter, wenn man fliessend französisch sprach. Das war mein Fall, Gott sei Dank. Nicht so für meinen Oberstift und Freund Ferdinand. Doch davon später.

Anders als heute, wo schwarze Kochbekleidungen an Gefängnisuniformen erinnern, war damals eine Kochuniform weiss. Hygiene bestimmte Farbe und Nutzung, auch wenn damals noch nicht die heutige bürokratische Regelwut den Küchenalltag bestimmte. Weisse Schürze, an der ein weisser oder zumindest heller "torchon" aus festem, dickem Stoff hing, um die heissen Bratgeschirre, Pfannenstiele anzufassen, damals noch nicht isoliert wie heute.  Ein weisses, gerolltes und weit gebundenes Halstuch gehörte dazu (um sich den Schweiss abzuwischen) und vor allem die toque, der Kochhut, damit ja keine Haare in die Speisen fielen. Ein feines Netz schloss sie oben, das der Lüftung der Kopfhaut diente. Die Hierarchie bestimmte die Höhe der toque: niemand durfte sie so hoch wie der Küchenchef haben! Wehe den jungen Köchen, die ihrer Eitelkeit stattgaben und mit einer Cheftoque aufkreuzten. Verachtung vom Chef, ätzender Spott der Brigade war ihnen gewiss.

Die ersten Tage waren furchtbar schwierig: alle Köche sahen in ihrer Uniform gleich aus, einzig ihr Alter und möglicherweise ihre Morphologie unterschieden sie. Dann die Sprache: die Hälfte von ihnen waren damals noch Schweizer, davon zwei, drei aus der Westschweiz. einige Franzosen, sehr viele junge deutsche commis, ein deutscher Sous-chef und ziemlich viele irische Stagiaires von der Hotelfachschule Shannon. Die Verständigungsschwierigkeiten waren nicht unerheblich. Wenige aus der angestammten Brigade sprachen Englisch und der Akzent der irischen Praktikanten half auch denen nicht weiter, die Schul-Englisch sprachen. Die Iren hielten alle zusammen, ob sie nun "green" oder "orange" waren, sehr oft um ein Bier vereinigt, welches sie allerdings fade fanden, verglichen mit dem Guiness, an das sie gewohnt waren. Alle Küchengehilfen waren ausnahmslos aus Italien, hauptsächlich aus Neapel, wenige aus Sizilien.

Der Ausbildungsplan der damals nur zweieinhalbjährigen Lehre sah vor, dass ein Kochlehrling je 4 Monate in der kalten Küche, dem garde-manger und in der Metzgerei verbringt, 4 Monate auf dem entremétier, dem Gemüse- und Suppenposten, 4 auf dem rôtisseur-grillardin, der ebenfalls für die friture zuständig war: Alle Formen von frites, von den dicken pommes Pont-Neuf, über normale zu den feinen allumettes und natürlich auch die flach gebackenen: chips, gaufrettes und seltener, die pommes soufflées. Diese werden etwa zwei Millimeter dick geschnitten, und in unterschiedliche heissen Fritüren, 120 und 180º zum Aufgehen gebracht. Danach ging's für ein gutes Quartal zum saucier-poissonnier, wo wir sehr viele Süss- und Meerfische, Krustentiere, Muscheln, Austern kennenlernten, auch sie zu öffnen, zu zerlegen und auch darüber, wie sie zu lagern. 

Das letzte Quartal der Grundausbildung verlebten wir in der pâtisserie. Tagesdesserts, Zubereitung von Eis und Eisbomben,  Kuchen, Torten, Pâtisserie, Kleingebäck und sogar die Herstellung von Pralinen erlernten wir dort. Das verbleibende knappe Jahr wurden wir als Tournants auf allen Posten eingesetzt. Am liebsten waren wir im 1. Stock, au Premier. Dort wurde hauptsächlich à la carte und besonders fein gekocht, von einer kleinen Brigade eines guten halben Dutzend Köche.

Einige Episoden bleiben mir wohl für immer in Erinnerung: "Intéresse-toi aux choses, et les choses deviennent intéressantes." Interessiere dich an den Dingen und sie werden interessant, sagte mir Monsieur Schers und stellte mir einen 5kg Sack Silberzwiebeln zum Schälen hin. Das regte zum Nachdenken an. Am liebsten hätte ich diese in die Kartoffelschälmaschine geschmissen. Das wäre am schnellsten gegangen, doch hätte das zu viel Schale abgeschabt. Immerhin war erlaubt, sie in kaltem Wasser einzuweichen, um die angefeuchtete Haut etwas leichter und ohne Tränen schälen zu können. Wenn "Jean-Jean" nicht umwegs war, schüttete ich sie gleichwohl in die Schälmaschine, einfach etwas weniger lange...

Monsieur Schers, Mitglied  der Christian Science, hatte einen Hang zum Philosophieren. Diesen teilte er gerne mit uns, wenn er sich zu uns gesellte um beispielsweise einen Harass Bohnen zu fädeln. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit tat er es uns vor: "C'est quoi, le plus important dans la vie?" "Le plus important dans la vie est de savoir s'organiser soi-même". Was ist das Wichtigste im Leben? Zu verstehen, sich selbst zu organisieren. Obschon er schon damals, Ende der Fünfziger Jahre uns das beizubringen versuchte auf die entscheidenden Details ging er nicht ein: unsere Wünsche zu kennen, zu ihnen zu stehen. Daraus eine Auswahl zu treffen um Ziele zu formulieren. Diese wieder in einzelne Schritte zu zerlegen und ihnen auf diese Weise zu zustreben. Ich brauchte noch ziemlich viele Jahre, um zu begreifen, was der weise Mann uns hatte sagen wollen.

Zu jener Zeit war ein Chef der Chef. Man wusste noch wenig von Teambildung. Obschon Jean Schers am Einzelnen Interesse zeigte, wirkte er distanziert, sagte seinem Stellvertreter weder wann er frei machen noch wann und wie lange er in die Ferien fahren würde. Er war dann einfach nicht da. Frei machte er nur ganz selten und kumulierte seine Tage, um im Sommer dann gleich 4-6 Wochen in die Berge zu verschwinden. Er brauche das, erwiderte er unmissverständlich auf die höflich und zurückhaltend formulierte Frage von Herrn Candrian.

Die Brigade vertrug sich gut untereinander. Die Stimmung aber war nicht sehr lebensfroh. Der Genfer garde-manger Barmettler, zerstritten mit seinem Bruder, der unglückliche, sehr belesene und gebildete entremétier Heubi, ebenso Rüd, der saucier, welcher in Hitlers Adlerhorst gekocht hatte und Stamm der rôtisseur waren gegen Mitte-Ende vierzig. In einzelnen von ihnen glaubte ich Rolf Biermanns Lied zu hören: "soll das nun alles gewesen sein, das bisschen Liebe, das bisschen Wein..." Sie mussten sich damit abfinden, dass sich ihre Situation nicht mehr verändern würde: schlecht bezahlt für ihr Können - wie es damals leider die Regel war - eingespannt in unterbrochene Arbeitszeiten, 8-14 und 17-21 Uhr die meisten, eineinhalb Freitage die Woche rollend, damit sie jeden sechsten Sonntag auch einmal geniessen konnten wie andere Leute. Sie hatten zumeist resigniert. Kochten vor sich hin. "Nur keinen Ärger!" "Nur nichts Neues" war mehr und mehr zu ihrem Leitmotiv geworden. Zuweilen legten Rüd und Stamm ihre Gebisse auf den Herdrand: "so chönd er e chli schnurre mitenand!“ Begossen sie mit dem billigen Cognac, der zum Kochen zur Verfügung stand und schoben sie sich wieder ein. 

Zum damals berühmten Sylvesterbuffet, zum Weihnachtsgala oder Stadtlieferungen wie ins Zunfthaus der Gesellschaft  zum Schneggen lebten sie förmlich auf. Da konnten sie jeweils zeigen, welch grosses Können, welche Begeisterung für ihren Beruf trotz allem noch in ihnen steckte. "Warum machen Sie das nicht immer so toll, Herr Rüd?" frage ich den gestrengen Saucier, als er sich wieder einmal selbst überbot. "Du darfst nie dein Bestes geben. Denn auch wenn du dein Bestes gibts, wird man sowieso immer mehr von dir verlangen" antwortete der Stratege, "deshalb ist es klüger, immer etwas unter seinem Potential zu leisten". 

Herr Heubi überraschte und verzauberte mich immer wieder mit seiner Belesenheit. Ob es die Bibel, die Klassiker oder die antiken Griechen und Römer waren, alle kannte er, über alle wusste er Bescheid. Er war Sohn eines Berner Hoteliers, Freimaurer, der Pech gehabt und seinen Betrieb verloren hatte. Sein Sohn kam nie darüber hinweg, dass er nicht einen Berufsweg entsprechend seiner Bildung einschlagen konnte. Am Ende seiner Ferien kehrte er nicht mehr zurück. In Abwesenheit seiner Familie hatte er sich vergast. 

Trotz alledem hatten wir es gut untereinander. Ohne sich aufzudrängen, unterstützten sich alle gegenseitig. Sicher half dazu der gemeinsame Tisch, an welchem wir alle zusammen assen: zu oberst der Chef, sekundiert links und rechts von sous-chef und chefs de partie, danach die commis, die Jungköche, und schliesslich wir Stifte. Es wurde zumeist rege geplaudert, insbesondere wenn das Essen schmeckte.

Allerdings führten Sparsamkeit und Bequemlichkeit dazu, dass wir zumeist nur Aufgewärmtes assen, vor allem Gemüse. Dazu gab's Mineralwasser und Most. Keinen Alkohol, auch der Chef gönnte sich keinen Wein. Herr Baumann, der pâtissier, vermisste frisches Gemüse sehr und reagierte pikiert auf abgestandenes. Heubi der entremétier, Gemüse- und Suppenkoch war seinerseits ganz versessen auf Süsses. Wir hatten wieder einmal etwas Zweifelhaftes von Heubi vorgesetzt bekommen. Die Brigade verstreute sich rascher als gewohnt, ich ging zurück in die Metzgerei, wo ich schon am Morgen Geschwindigkeit im Auslösen von Kalbsköpfen trainierte: unter vier Minuten war das Ziel. Baumann der Pâtissier war auch da, beklagte sich über den Frass, plauderte dies und das und verschwand kurz danach wieder. Eigenartig, sonst kommt er doch nur zum Apero hierher, den sich die Chefs de partie 2-3 Mal die Woche hier genehmigten.

Nach dem Service um 14 Uhr, vor der Zimmerstunde, setzte sich die Brigade täglich zum Kaffee, zu welchem Baumann immer die Pâtisserie vom Vortag reichte. Einwandfrei, gut, aber vom Vortag halt. Heute aber war es anders: ein ganzes Plateau von frisch gemachten, kleinen Mohrenköpfen lachte uns entgegen. Heubi war wie gewohnt der erste, sicherte sich sicher ein halbes Dutzend dieser appetitlichen, schön regelmässigen Mohrenköpfe. Geradezu gierig betrachtete er sie, während ihm Escher der Tournant, den Kaffee einschenkte. Er griff zu und biss herzhaft drein:  in ein schönes, blaues Kalbsauge, welche Baumann kurz nach dem Essen bei mir eingesammelt und sorgfältig mit Schokolade überzogen hatte...

Der Service war sehr stressig. Er verlangte eine gut vorbereitete "mise en place", die entsprechend dem grossen Angebot der Karte im Voraus bereitzustellen war. Bevor sich der Chef an den Pass stellte, hatte er stichprobeweise Suppen, Saucen, Gemüse probiert. Ab Beginn des "Service" annoncierte er anhand der Bestellbons, kontrollierte Aussehen und Temperatur von allem was wir „schickten“, trieb die Passeplatiers an, alles rasch vom Pass zu den Aufzügen zu bringen und ins Parterre-Restaurant hinauf zu schicken. Er überblickte die ganze Küche, wachte, dass Bestellungen für zweier und grössere Tische gleichzeitig geliefert wurden. Am Herd hatte man sich auf die "Annoncen" zu konzentrieren, diverse Zubereitungen gleichzeitig fertig zu kochen, warm zu stellen, zu schöpfen und zu liefern. 

Hinten am Tisch, wo für den nächsten Service vorbereitet wurde, hielt man die Ohren gespitzt um aus den Grosskühlschränken oder aus dem Gardemanger zu ergänzen, was an der mise en place am Ausgehen war. Man ergänzte die Silberplatten, Schalen, Schüsseln und Cocotten über dem Herd, in welchen angerichtet wurde. Es war lärmig, nervös und doch sehr stimulierend. Welch ein Gefühl, wenn wir uns danach zusammen noch einen Moment an den Tisch setzten um bei Kaffee und Pâtisserie zu dekomprimieren!

Während Anspannung in uns Deutschschweizern eher nervöse Heftigkeit, ja zuweilen Gehässigkeit bewirkte, begannen die Italiener hin und wieder zu singen oder zu pfeifen. Auf jeden Fall nach dem Service. Sie hatten mich immer beeindruckt, wie sie trotz der schweren, undankbaren Arbeit bei guter Laune blieben, wie sich die Unverheirateten inmitten dieses Trubels sich aufs Schäkern einliessen.

Eine von ihnen, Giovanna, hatte es mir angetan. Sie war höchstens gleichaltrig wie ich, ein reizendes, dunkelhaariges Mädchen mit noch dunkleren Augen. Eine Seltenheit, denn die meisten Frauen im Betrieb waren mit ihren Ehemännern hier. "Na, die gefällt dir, Jürg" meinte eine perfekt zweisprachige, etwa sechzigjährige Salatfrau. "Dann musst du es ihr halt sagen", schmunzelte sie beim Feststellen, wie ich errötete. "Aber ich kann doch kein Italienisch". "Das brauchst du dazu nicht . Aber so wirst du es lernen, und zwar rasch," lachte sie. Ich überwand meine Hemmungen nicht. Aber die Herzlichkeit und Fröhlichkeit der Italiener brachte mich dazu, später italienisch zu lernen. Auch davon, später.


Ferdinand Tobler, mein Oberstift, war schon vor meinem Arbeitsantritt ausgerutscht, hatte sich dabei mit dem Arm auf der Frittüre aufgestützt und war reingerutscht. Mehrere Wochen fiel er aus. Er war tüchtig, wir sympathisierten schnell. Allerdings hatte er Mühe mit Fremdsprachen, insbesondere mit dem Französisch. Da konnte er lange tüchtig sein, beim Chef Schers rangierte er nicht oben auf der Sympathieliste. Ferdi merkte das rasch und gab sich seinerseits auch keinerlei Mühe, sein Sympathieranking zu verbessern. "Bisch es Arschloch", sagte er einmal, als ihn JeanJean in die Seite zwackte, als er beim Zwiebeln schälen war. "Ach Sie sind's Chef, oh Verzeihung," heuchelte er. Beide wussten, was los war. Ferdi rächte sich beim Monsieur Schers, indem er die beste Prüfung des Kantons ablegte.

Wenn sich der Chef auf uns Lehrlinge zubewegte merkten wir sofort, was gefragt werden würde:  "Quel est le petit menu aujourd'hui?"Quel est le dessert du grand menu, qu'est-ce que nous avons aujourd'hui comme Spezialplatte?" Schon wenn er uns die Frage stellte, vergassen wir vor Schreck das täglich Auswendig-Gelernte. "Alors vous nettoyerez les frigos, cet après-midi. Comment voulez vous travailler, si vous n'avez aucune idée de ce que nous proposons à nos clients, de ce que nous leur servirons?“

Damit er die Drohung des Reinigens der Kühlräume während der Zimmerstunde wahr machte, musste man schon drei Mal hintereinander ohne Menu- und Kartenkenntnisse ertappt werden. Die Kampfansage war jedenfalls so wirksam, dass ich mich nicht erinnern kann, dass irgend einer von uns vier Lehrlingen je dazu verdonnert worden wäre.

Hingegen war er streng mit der Gewerbeschule, die jeweils von 14-18 Uhr dauerte. "Um 18.30 Uhr steht Ihr in der Küche, bereitet euer Abendessen und steht Punkt 19 Uhr am Herd." "Aber Chef, wir haben doch schon nur einen einzigen Freitag pro Woche und meine Kollegen aus der Gewerbeschule müssen danach nicht mehr in den Betrieb."

"Eure Lehrzeit ist mit zweieinhalb Jahren eh schon viel zu kurz, dann habt Ihr erst noch ganze drei Wochen Ferien, wann wollt Ihr denn überhaupt noch etwas lernen?" meinte er unnachgiebig. Ein Nachmittag, der Montag, war Fremdsprachen gewidmet, von 14-16 Uhr. Da wagten wir schon gar nicht zu fragen, ob wir am Abend noch kommen müssten! Ich war vom Französisch befreit und benutzte die Zeit, um bei Frau Stahel Englisch zu nehmen. "Oh my poor boy", meinte sie, als ich während einer Stunde einmal kurz einnickte. Ich schämte mich ein bisschen, denn mir gefielen die Stunden bei Frau Stahel sehr.

Gerne ging ich nach 21 Uhr noch etwas tanzen: im Embassy, in der Hungaria, die zwar etwas teurer aber auch schicker war. Nur ganz, ganz selten ins Mascotte am Bellevueplatz. Dort spielten international beste Orchester wie Hany Osterwald, los Machucambos und die elegantesten jungen Frauen waren dort. Weder das eine noch das andere entsprach meinem Stiftenlohn. Das Tabaris hatte einen anrüchigen Ruf und das Frascati war zu weit entfernt vom Bahnhof.

Wenn man dienstags nach 21 Uhr die Bahnhofstrasse hinunter spazierte, war die Chance gross, unseren Sekundarschul-Gschpänli zu begegnen, die eben ihren Abendkurs im KV beendet hatten. Ursula Eggenweiler, die hübsche Rosemarie Frei, Madeleine, "la parisienne" beispielsweise. Ich nannte sie so, weil ihre Mutter aus Prony, einem dortigen Vorort stammte und französisch deshalb Madeleines Muttersprache war. Ihre Verbundenheit zu Paris machte sie für mich zu jemand ganz besonderem. Ich schwärmte von ihr, verliebte mich über beide Ohren in sie, doch Madeleine verstand es, Distanz zu halten. 

Ein solch zufälliges Treffen war immer ein guter Grund für einen schnellen Drink im Café Littéraire, im Troika oder im Ingassen. Es waren einladende, beliebte Cafés, die auch eine kleine Restauration boten. Ideal in ihrer Behaglichkeit für einen Schwatz, immer in der mehr oder weniger schüchternen Absicht, diesen zu einem Flirt zu steigern. Immerhin gelang es Ferdi Tobler und mir, Madeleine und Ursi zu mir nach Hause einzuladen, an einem Abend, an welchem meine Eltern wieder einmal ausser Haus waren. Wir waren dermaßen aufs Gastronomische konzentriert, bestrebt die beiden jungen Damen damit zu beeindrucken, dass wir total ausser Acht liessen, was die beiden auch sonst noch hätte charmieren können. Ferdi zeigte auch hier grössere Ausdauer und vor allem, von gezielterer Fokussierung als ich: kaum 21 jährig, heiratete er seine Ursula!

Wenig vorteilhaft erwies sich meine Arbeitszeit bei privaten Einladungen, einem "Fez" wie man das nannte. Die Familie Pfister, mit dem gleichaltrigen Andy, der drei Jahre jüngeren Susi und Gaby, nochmals 2 Jahre jünger, hielt offenes Haus an der Billrothstrasse. Andy war am freien Gymnasium, ein gut aussehender, junger Charmeur mit einem bemerkenswerten Kreis an Freunden und Freundinnen. 

Für einen solchen Fez wurden die Möbel weggestellt, die  Wohnung mit Girlanden, Ballonen und weiterem Tand dekoriert, ein recht einladendes Buffet bereitgestellt, worum sich Mutter Pfister und die Töchter grosszügig und sehr gekonnt kümmerten. Andy besorgte sich derweil die neuesten Scheiben, in Ergänzung seiner schon beeindruckenden Schallplattensammlung: Ein buntes Durcheinander von Rock'n Roll, Jazz, Armstrong, und natürlich auch eine gute Auswahl an "Schmuseplatten". Sobald sich die Eltern verabschiedet hatten, begann die Party zu steigen, spätestens um 20 Uhr. Bis ich aber endlich ankam, war nicht nur das Buffet abgegrast, damit hätte ich mich arrangieren können. Aber auch alle Mädchen waren bereits in guten Händen. Es waren zumeist Leute aus dem freien Gymi. Während ich für die Jungs zuerst einmal ein Fremder und Eindringling war, fanden einzelne der jungen Damen interessant, ausgefallen oder zumindest eigenartig, dass da einer Koch lernte. Damals erfreute sich der Beruf noch nicht seiner Bedeutung, die ihm zwanzig Jahre später, mit der nouvelle cuisine endlich zustatten kam. Plaudereien über Rezepte, Speisen, namentlich aus der Pâtisserie, halfen  einen Kreis an hübschen Interessentinnen zu bilden.

Es war eine ausgesprochen glückliche, wenn auch anstrengende Zeit. So kam niemals Langeweile auf. Alle 6 Monate hatte einer der "Oberstifte" seine Lehrabschluss Prüfung. Eine solche lief folgendermassen ab:

0.600 Uhr
Eintreffen des Prüflings, sekundiert von seinem Kollegen, der in 6 Monaten dran sein würde und dessen     Nachfolger.
- Feinreinigung der diversen Arbeitsplätze, an denen man zu tun haben würde.
- Bereitstellen der Mise en place: Grosszügig bestückter Gewürzkasten, sämtliches Werkzeug wie Schüsseln, Schalen, Pfannen, Sautoirs und Bratpfannen, Auswahl von Fischen zum Filetieren, Geflügel zum Ausnehmen und Bridieren. Sicherstellen des Vorhandenseins der Schnur, die man dafür benötigte.
- Geschälte Kartoffeln, gewaschene Gemüseauswahl für die praktische Demonstration von Schnittarten und als
  Zutaten zum Prüfungsmenu.
- Herstellen von Blätterteig, (sofern nicht schon am Vortag besorgt) 
- Säuberliches Bereitlegen der eigenen Messer auf dem Torchon neben dem frisch gehobelten Schneidebrett.
- Bereitlegen der eigenen Menu- und Rezept-Ordner

Frühstücken, Umziehen in peinlich saubere Uniform und frisch polierte Schuhe. Dass man tags zuvor beim Coiffeur war, versteht sich von selbst, auch wenn die Toque die ganze Pracht abdeckte. Ebenso dass man sich glatt rasiert und mit sauberen Fingernägeln präsentierte. Toilettenbesuch.

0.800 Eintreffen der Experten, Begrüssung. Das waren immer ein Küchenchef und ein Restaurateur. In meinem Falle Küchenchef Gertsch vom Kongresshaus Zürich, bekannt als streng aber gerecht und dem Inhaber des Restaurants Untere Waid.
- Rückzug in einen Konferenzraum zur theoretischen Prüfung.
 Diese umfasste: Warenkunde, in welcher grossen Wert auf Kenntnis der Saisonalität gelegt wurde. Bei den
 Fischen wurde gefragt, woher sie kommen, wie gross sie
 
allgemein werden können und Mindestgrösse für
 Küchengebrauch
. Beim Fleisch lauteten die Fragen ähnlich, ergänzt selbstverständlich mit  Fragen wozu sich  
die einzelnen Stücke am besten eigneten. Qualitätsmerkmale und Lagerhaltung aller Lebensmittel war ein Thema, wie auch die Küchenhygiene.
Es folgten Fragen über die diversen Zubereitungsarten, des Verständnisses der (zumeist französischen) Fachausdrücke etc etc. Pause um 09.45 Uhr.

10.00 Praktische Demonstration:
- Diverse Schnittarten von Gemüse & Kartoffeln.
- Ausnehmen von Poulets (Achtung, dass ja die Lunge mitkam!), bridieren (bratfertig binden), grillfertig
  zuschneiden.
 
Danach auslösen eines Kalbskopfs und entweder eines Kalbstotzens (4 min) oder einem
  Nierstück(6min).
- Beim Durchgang durch die Kühlräume Fragen zu Qualitätsmerkmalen der dort hängenden Stücke und ganzen
  Tieren, zur Lagerung von rohem Obst & Gemüse.
- Weiter zur Fischabteilung, gleich beim casserolier, der diese auch unter sich hatte. Filettieren von Egli,
  einer Felche, Seezunge, einer Forelle aus dem Bassin. Auch da praktische Fragen zur Frische und Qualität.

12.00Mittagessen und Pause.

13.00 Und Jürg, was essen wir sechs Personen Punkt 17.00 Uhr? höre ich noch die Frage von
Herrn Gertsch in meinen Ohren. Die halbstündige Besprechung ergab folgendes:

Frische Rinderbrühe mit Markklösschen
***
Sole à ma façon, geöffnet, paniert, frittiert, mit fruits de mer in Weisswein-sauce
Reis Pilaw
***
Selle d'agneau au romarin - Gebratener Lammrücken
Pommes boulangère, in Scheiben geschnitten und gebraten, mit Zwiebeln und Speck
Laitues braisées - geschmorter Lattich
Carottes glacées - tournierte, glasierte Karotten
***
Soufflé Rothschild - Warmer Auflauf mit kandierten Früchten
Sauce Bischoff - Rotweinsauce mit gehobelten Mandeln

13.30 Letzte Momente ohne die Experten - Hilfestellung sicherstellen für die
schwierigen Passagen, wenn alles auf Herd und im Ofen war - das soufflé!
14.00 Zustossen der Experten, welche nun die Arbeitsorganisation, den logischen
Aufbau, die Fertigkeit im Zuschneiden und Zubereiten genauestens
betrachteten, Begründungen zum Vorgehen erfragten.
Beide Herren waren sehr nett, schauten aber genau hin und das bis gegen
16.30 Danach gingen sie ins au Premier, wo Herr Candrian sie zum Aperitif erwartete. Ich genoss die Aufmerksamkeit von Herrn Schers und der Chefs de partie, damit nicht im letzten Moment noch etwas schief gehen konnte und um
16.55 sandten wir die Consommé, der Rest folgte termingerecht!

Gegen 19 Uhr wurde ich zur Beurteilung gerufen ins Büro von Herrn Candrian, wo die Experten und der Chef warteten. Herr Schers sah mich durchdringend an, als mich Herr Gertsch fragte: "Hast du den Riz Pilaw gemacht?"
"Nein, Herr Gertsch, meiner ist verbrannt. Da musste ich auf meine Kollegen zurückgreifen."
"Na, da hast du jetzt gut getan, uns die Wahrheit zu sagen. Ich hätte dir das sagen können, als ich beobachtete, wie du ein viel zu grosses sautoir nahmst... Gratuliere, du hast es gut gemacht! Herr Schers atmete auf, Herr Candrian liess Wein servieren und alle stiessen mit mir auf die bestandene Prüfung an: 5.3." 


Wie ich nach Hause kam, weiss ich nicht mehr. Ich erinnere mich, wie ich Madeleine angerufen hatte, sie mir gratulierte und ich danach eine nie gekannte Leere empfand. Eine Viertelstunde später schlief ich tief. Das Glücksgefühl stellte sich erst beim Erwachen ein.

 
Freizeit
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13.  Freizeit
Noch ein Wort zur Freizeit. Ich hatte angetönt, dass der späte Feierabend bei privaten “Fezen” ein zwar überwindbarer, aber doch ein Nachteil war. Abgesehen davon gelang es mir aber, andere vergnügliche Wege zu finden, etwa in einem Dancing oder mit einem Kinobesuch nach Feierabend. Das Studio 4 spezialisierte in französischen Studiofilmen. Diese versetzten mich nach Frankreich, insbesondere nach Paris, das mir wie das gelobte Land vorkam.

Ich schätzte es ausserordentlich, an Werktagen oder während der „Zimmerstunde“ von 14-17 Uhr frei zu sein, wenn die anderen arbeiteten: Alle Geschäfte waren geöffnet, die Badis waren nicht überlaufen wie samstags/sonntags. Dazu lernte man Leute kennen, die ähnlich organisiert waren, etwa aus dem Gesundheitsbereich. Die Lehrschwestern aus den Spitälern etwa hatten für mich eine geradezu engelhafte Aura, sodass ich nie mehr als eine artige Plauderei wagte. Diese Schüchternheit hatte ihren Grund im Jahr bei den frères. Ich hatte mir dort deren entrückte Ideen zu meinen eigenen gemacht, nach denen die Liebe etwas elysisches, unantastbar reines bleiben musste. Als einflügeliges Wesen empfand ich mich, auf stetiger Suche nach jenem ergänzenden Geschöpf, mit seinem Flügel auf der Gegenseite um mich mit ihm in die blauen Höhen der Liebe zu erheben. Das alles ungeachtet der Triebe, die sich immer stärker in mir regten. Schön war es trotzdem, und welchen Träumen ich da nachhing...

Nur an zwei Tagen im Jahr fand ich es hart zu arbeiten, auch wenn ich mich dadurch nicht etwa benachteiligt fühlte: am 25. Dezember und am 1. Januar. Dann schliefen alle aus. Nach dem schönen Heiligabend, an welchem Onkel Arthur, die eine oder andere Tante aus Chur oder Amerika und selbstverständlich Tante Klara mit uns feierten. Sie stand uns am nächsten und verlebte jedes Jahr dieses Fest mit uns, alle mit einer Riesenschachtel ihrer unvergleichlichen Weihnachtsguetsli beglückend. Der Besuch schlief sowieso aus, so auch mein Bruder, Papi, Mami. Ebenso am 1. Januar, nach dem auswärts gefeierten Sylvester meiner Eltern.

Zum Frühdienst an diesen Tagen, der um 07.00 Uhr begann, fuhr damals das Tram noch nicht. Zu Fuss ging ich durch die verschneite Röslistrasse, danach der Weinbergstrasse entlang, durchquerte den kleinen Beckenhofpark, den ich so liebte. Der Pestalozzi-Bibliothek, die dort im hübschen Barockgebäude untergebracht war, verdankte ich während der Sekundarschulzeit viele, viele spannende, lustige, lehrreiche und allesamt interessante Bücher. So viele Träume, die jetzt in der Stille dieser anbrechenden Wintermorgen alle erwachen wollten. Sie klangen in mir nach, während ich den Georg-Steig hinunter, durch den wunderschönen Platzspitz marschierte, der damals noch nichts von seinem grauenhaften Schicksal der siebziger und achtziger Jahre ahnte.

In der Küche herrschte eine fast würdige Stille. Nicht nur, weil das Gros der Brigade erst um 08.00 eintraf. Der Umgang untereinander war respektvoller, entgegenkommender als an üblichen Tagen, es schien, als verlangsamten sich Ablauf und Rhythmus des Arbeitsmorgens. Sicher empfanden es jene Mitarbeiter, die hier fern von zu Hause lebten, wehmütiger an diesen Tagen zu arbeiten. Spätestens bei Servicebeginn um zwölf Uhr herum, verscheuchte dann die gewohnte Hektik irgendwelche Sentimentalität.
 
Armee
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14.  Armee
Ein Kapitel, das schnell erzählt ist. Papi war ein eingeschworener Antimilitarist. Diverse Erfahrungen der Rekrutenschule hatten seine Einstellung geprägt, die er an uns Söhne weitergab. Beispielsweise wie sie während der Seegfrörni 1929 mit nacktem Oberkörper jene Eisenstangen  erklimmen mussten, die erst vor wenigen Jahren, so um 2010 herum in den Schulen als zu gefährlich entsorgt wurden. Ständiges Üben des Gewehrgriffs und der herrschende Kasernenton für sämtliche Befehle und Anordnungen taten ein übriges, um ihn ein Leben lang gegen alles Militärische einzustimmen. Nicht gegen die Armee als Institution, aber gegen die herabwürdigende Art, welche man sie damals zu spüren bekam.

Mein natürlicher Hang zur Simplifizierung machte, dass ich nicht nur Art und Weise, sondern auch den Militärdienst als solchen als reine Zeitverschwendung ablehnte. Anfangs der sechziger Jahre konnte man sich eine direkte Bedrohung der Schweiz nicht vorstellen. Sollten die schrecklichen Russen angreifen, würden uns die NATO und die Amerikaner schon schützen. Im Übrigen benahm sich die Schweiz sehr wehrhaft, mit all den WKs, den Schiessübungen und Inspektionen, die immer irgendwo im Gang waren, dass etwa südamerikanische Besucher den Eindruck haben mussten, die Schweiz befände sich in Abwehr gegen einen imminenten Feind, sei er extern oder sogar im Lande selbst.

Mein schlaksiges Wesen machte mich nicht unbedingt sportlich. An der Aushebung tat ich mich nicht sonderlich hervor, brachte dafür die Röntgenaufnahmen meines Scheuermanns mit. "Tja, hilfsdiensttauglich," meinte der Aushebungsoffizier mit einem Blick des Bedauerns, welchen ich tunlichst bekräftigte. Ich würde eh oft im Ausland sein, also, was sollte das alles?

Als Hilfsdiensttauglicher Küchengehilfe behielt ich das Militärzeugs zu Hause, wie normale Soldaten. Mit 28 wurde ich dann doch zu einem WK auf den Glaubenberg einberufen. Beim Abmarsch ab Sachseln durfte ich meinen Rucksack dem Transport übergeben. Überhaupt war ich überrascht über die Freundlichkeit,  über den Respekt, ja Freundschaftlichkeit im Umgang untereinander.

Wir waren eine tolle Küchenbrigade, drei davon ehemalige Köche, und wir gaben was wir konnten. Die Leute kamen sogar in die Küche, um uns zu sagen, dass sie zu Hause nicht so gut essen würden wie hier. Während die Truppe exerzierte, spaltete ich begeistert Holz, fast bis zum Umfallen, fand den Umgang mit den Kochkisten spannend und das Armeekochbuch genial aufgebaut.

"Wir müssen Ihnen noch etwas den militärischen Umgang beibringen" meinte ein diensthabende Offizier und erteilte mir Privatlektionen im Stellung annehmen, salutieren und im korrekten Gebrauch der Antwortformeln. Das alles hatte nichts mit jener Armee zu tun, in welcher Papi herangezogen wurde! Ich kehrte nach diesem WK begeistert zurück, "Grüeziwohl Frau Stirnimaa" in den Ohren, das in jenem Frühling 69 gerade aufkam und am Radio der Hit des Sommers war. 

Herrn Candrian, meinen Lehrmeister besuchte ich hin und wieder. Er beantwortete immer bereitwillig meine Fragen zu meinem weiteren Fortkommen. "Ich verstehe dass du diese Zeit beruflich als Leerlauf betrachtest. Trotz der aufkommenden Managementkurse ist die Armee noch immer eine gute Kaderschule. Auch wenn im Moment keine akute Kriegsgefahr besteht, musst du wissen, dass im Falle einer solchen das Militär alles, die Zivilisten nichts bedeuten. Du musst und kannst wählen. Beides sind - aus heutiger Sicht -valable Optionen, mit oder ohne Militär. Wie gesagt, ich wählte ohne. Und fühlte mich nicht als den Drückeberger, der ich war. Sonst hätte ich mich schon damals offen zum Pazifismus bekannt.
Wanderjahre: Engadin und Paris
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15.  Wanderjahre: Engadin und Paris
Nach der Lehre war es für Jungköche üblich, weitere Erfahrungen in der Saison-Hotellerie zu sammeln. Im Buffet sandte man gerne Mitarbeiter und besonders „Exstifte“ ins Suvretta House nach St. Moritz, das ebenfalls zur Familien AG der Candrians gehörte. Herr Schers bläute mir ein: mindestens zwei Saisons im gleichen Saisonhotel, mindestens ein volles Jahr in einem Jahresbetrieb! Höre nicht auf jenen modischen Trend, der will, dass man möglichst schnell möglichst viel sieht. Jetzt ist das für dich zwar noch nicht wichtig. Wenn du aber mit dreissig eine verantwortungsvollere Position anstrebst, wollen deine Arbeitgeber eine Linie in deiner Laufbahn erkennen können, nicht ein Jobhoppen, das wirkt nicht seriös.

Zur Wahl stand auch das Kulm Hotel St. Moritz. Dort regierte Edouard Maire, ein enger Freund von Jean Schers, meinem Lehrchef, über eine vergleichbar grosse Brigade wie im Buffet. Beide Hotels waren Mitglieder des „Groupement des hôtels de tout premier rang de Suisse“. Beides fünf Sternhäuser von grosser Tradition, was damals auch bedeutete, dass ein Modernisierungsschub immer dringender notwendig wurde. Das Suvretta offerierte Fr. 250.- monatlich, das Kulm aber Fr. 300.-, in beiden Häusern bei freier Kost und Logis. Papa und auch alle Fachleute, mit denen ich während meiner Lehre in Kontakt kam, hatten mir eingebläut, nur in den allerbesten Häusern tätig zu sein. Das sei massgebend, nicht der Lohn. Das würde sich später auszahlen. Mein natürlicher Hang, der mir im Leben schon noch die eine oder andere Knacknuss bescheren würde, nämlich eher sowohl als auch, anstatt entweder oder zu wählen, bestimmte meinen Entscheid für das Kulm.

Edouard Maire, ein etwa fünfzigjähriger, etwas gedrungener Mann von fröhlicher Liebenswürdigkeit wohnte mit seiner Frau in Zürich. In St. Moritz hatte er lediglich seine Dienstunterkunft, die damals auch für den Küchenchef lediglich in einem etwas grösseren Zimmer bestand, allerdings mit Bad, selbstverständlich im Personaltrakt. Für ihn war es naheliegend, dass sich die angehenden Commis bei ihm zu Hause vorstellten, wo dann auch gleich der Vertrag ausgestellt und unterzeichnet wurde. Das schaffte sofort Vertrauen für mich und ich freute mich sehr auf diese erste Anstellung fern von zu Hause, auch wenn mit etwas mulmigem Gefühl im Herzen. St. Moritz kannte ich von einem Tagesbesuch mit Eltern und Bruder, als Zwölfjähriger, auf der Rückreise von Catolica über Lugano, dem Ceresio entlang und über den Maloja Pass. Der Ort selbst hatte mich enttäuscht. Er wirkte unharmonisch, mit diesen grossen, disparaten Hotel-Kästen, den Villen und zahlreichen undefinierbaren Gebäuden. Das Engadin aber, welch eine Pracht! Nun ja, bis zwei Wochen vor Saisonbeginn durfte ich noch im Buffet weiterarbeiten und bezog meinen ersten vollen Lohn als ausgebildeter Koch!

Oh, ins Kulm-Hotel St. Moritz“, meinten anerkennend jene aus dem elterlichen Bekanntenkreis, die das Haus von aussen, oder vielleicht von einem thé dansant“ kannten. „Ist doch ein alter Kasten,“ meinte Rösli Weber, die Lebenspartnerin des Arbeitgebers meiner Tante Klara. Sie hatte mit ihrem „Schaaggi“, wie sie Jacques S. nannte, dort oft ihre Winterferien verbracht, als beide noch Ski fuhren und Rösli  an den Candle-light dinners und an den grossen Galas noch attraktiv präsentierte, Tatsache aber war, dass das Haus Tourismus- Geschichte geschrieben hatte: 1855 aus der Pension Faller hervorgegangen, erweiterte die Besitzerfamilie Johann Badrutt die paar Zimmer Zug um Zug zu den imposanten 4 Gebäuden, wie sich das Kulm heute noch präsentiert. Es war 1879 eines der ersten, wenn nicht das allererste Haus der Schweiz mit „elektrischem Licht“. Allerdings nur in den öffentlichen Räumen.

Von jener Zeit, die ein gutes dreiviertel Jahrhundert vor meiner dortigen Ankunft im Dezember 1959  zurücklag, atmete das ganze Haus Geschichte: Alle Gebäude, die sich auf fast einen Kilometer erstrecken, waren durch düstere unterirdische Dienstkorridore verbunden, an deren Wänden entlang zahlreiche, endlose Röhren vor sich hin rosteten. Nur der Eismann, der weit über 80 jährige Gafuri, kannte sie alle, und wusste wohin sie führten. Nur er. Gafuri.

Der Küchentrakt verband das Alt- mit dem Neukulm. Hohe Fenster liessen den Blick auf den St. Moritzer See frei, ein toller Arbeitsplatz! Auf der oberen Ebene befand sich die Hauptküche mit dem immensen Ölherd. Daran anschliessend links die Pâtisserie. Gegenüberliegend, 8 Stufen tiefer, das Garde-manger, die kalte Küche. Von dort aus öffnete eine Türe den Blick auf den Eiskeller, etwa 20 Stufen tiefer, den ich als immens in Erinnerung habe: 20 x 30 m und 5-8 m hoch. Dort wurde in den klirrend kalten Dezember- und Januarwochen Natureis nicht nur für den Winter, nein, auch für die Sommersaison eingelagert. Die neuartigen Eismaschinen produzierten ausschliesslich Eis für die Cocktails der Bars. Eis für die Kühler von Weisswein und Champagner wurde aus diesem Keller geholt, ebenso jenes für die Abkühlungsbedürfnisse der Küche. Die 400 Tournedos fürs Sylvestergala beispielsweise wurden zu Ende der Sommersaison geschnitten, in 4 grossen Schalen mit ausgelassenem, abgekühlten Rindernierenfett zugegossen. Am 30. Dezember wurden sie aus dem verfestigten Fett herausgenommen um dann zu Sylvester wunderbar zart und saftig, ganz nach Gästewunsch von saignant bis à point grilliert oder sautiert zu werden.

Es war ein mühsames Arbeiten. Wir merkten es nicht. Es war einfach so. Die Fläche des Ölherdes, sicher um ein halbes Jahrhundert alt, hatte sich etwas abgesenkt. Die grossen Braisieren und Pfannen, alle aus Kupfer und verzinkt, fassten bis zu 50 Lt. Sie hatten einen hohlen Boden, sodass die Herdplatte ziemlich schnell zu glühen kam. Wenn wir dann um 17 Uhr, vom Skilaufen sonnengerötet zurück den Dienst antraten, war das ziemlich heftig für uns. Wir bückten uns rückwärts beim Kochen, Rühren und Sautieren, wandten uns ab von der glühenden Platte so gut wir nur konnten, um unsere sonnengebrannten Wangen nicht zu spüren. Hätte sich jemand beklagt, wäre ihm gesagt worden, aufs Skilaufen halt zu verzichten.

Erstaunt stellte ich fest, dass die Schaustücke für die kalten Buffets an besonderen Abenden  während der Zimmerstunde hergestellt wurden.
Komm, mach auch mit!“
Das kann ich nicht, habe ich noch nie gemacht! Und was ist mit der Zimmerstunde?“
„Ist alles freiwillig. Machen wir alle so. Ich zeig's dir. Das lernst du schnell, nur Mut!“ meinte ein etwa 2 jahre älterer Commis (Jungkoch).

Das erste Mal lehnte ich ab. Niemand hätte auch nur eine Bemerkung gemacht. Dann aber wollte ich doch nicht zurückstehen. Geduldig zeigte mir mein Kollege, wie ein ganzer, gekochter Salm geschält wird, ganz oder teilweise, je nach gewünschtem Motiv, und wie man die dunklen Fettstreifen entfernt. Er weihte mich ein, wie mit pochierten Streifen von Gurkenschalen Blumenstiele und Blätter, mit der Haut einer abgebrühten Tomaten die Blume selbst geformt wurde. Schwierig war, die Gelee auf der rechten Temperatur zu halten, um die Dekorelemente auf dem Fisch zu fixieren. Etwas zu warm, hielt das Zeug nicht. Etwas zu kühl, wurde es zu dick und unschön. Ebenso heikel war das schlussendliche Übergiessen des Salms, wenn er fertig dekoriert war, um ihn frisch und ansehnlich zu halten.

Gekochte Eier wurden halbiert, das Gelbe mit wenig Butter und Mayonnaise aufgeschlagen, gewürzt und mit dem Spritzsack wieder eingefüllt. Frisch pochierte Artischockenböden mit einer Mousse von Salm, Thon oder Gänseleber aufgespritzt, alle schön, genau regelmässig, ebenso wie die kleinen halbierten Tomaten, in die man hausgemachten russischen Salat gab, ohne den Rand zu verschmieren um sie danach  einzeln, die Eier, die Artischockenböden und die Tomaten zu gelieren. Präsentiert wurden dann Fisch und Beilagen auf grossen Spiegelplatten. Alles, der Fisch und die Garnituren, musste auf Anhieb präzise platziert werden, um den Spiegel nicht zu verschmieren. Genau gleich ging man mit Wildbret, mit Geflügel, Braten und vielen weiteren Delikatessen vor. Alles wurde kühl gestellt bis zum Abend, wenn alle Platten die 47 Treppenstufen bis in die prachtvolle grande salle des Kulms getragen wurden. Wie stolz standen wir jeweils in frischer Uniform hinter dem Buffet, um den Gästen behilflich zu sein! Dieser Stolz machte all die Stunden der Mühen weg!

Morgens frühstückten die Köche zusammen um 8 Uhr in der Küche, gegen halb neun gingen alle an die Arbeit. Mittag gegessen wurde an zwei Tischen, um 11 Uhr und um 11.30 Uhr. Nach 14 Uhr ging man in die Zimmerstunde (ausser beim wöchentlichen kalten Buffet), kam um 17 Uhr zurück und arbeitete bis ca. 21.30 - 22 Uhr. Untergebracht war ich mit 5 Lehrlingen in einem Raum, in dem man nicht aufrecht stehen konnte. Im Raum hatte es Lavabos. Die Duschen und Toiletten waren auf dem Stockwerk in der Nähe. Als Aufenthaltsraum diente die Kantine, wo die anderen etwa 300 Angestellten verpflegt wurden.

Wir wurden gebeten, nicht vor Sylvester Ski zu laufen um das Unfallrisiko möglichst tief zu halten. Die Direktion appellierte an die Vernunft. Zumindest die „Neuen“ hielten sich daran, von den „Bestandenen“ die meisten ebenfalls. Freitage gab es erst ab ca 6. Januar, wenn die Weihnachts-Neujahrsgäste abgereist waren und sich das Januarloch ankündigte. Nachdem wir alle zwischen Mitte und dem 19. Dezember die Saison angetreten hatten, freuten wir uns auf diese Tage. Endlich Skilaufen, dafür hatten wir schliesslich diese Arbeitsgegend ausgewählt! Niemand hätte sich beklagt wegen den zwei bis drei Wochen ohne Freitag. Natürlich fanden wir es streng, besonders die Weihnachts- und Neujahrstage. Wir waren alle stolz, das zu packen. Wir waren ein Team, eine Familie, es war toll, die Zeit verging im Flug.

Abends gingen wir hin und wieder aus. In vielen Hotels spielten kleine Orchester  an der Bar. Wir genossen schon das Zuhören, auch das Tanzen, Arm in Arm mit den jungen Frauen, die ebenfalls Saisonangestellte waren. Im Palace Embassy hatten wir nur während den schwach besetzten Abenden Zutritt. Die Doormen achteten sehr darauf, nicht zuviel Personal ihrer illustren Kundschaft zuzumuten. Noch heute bezaubert mich die Erinnerung an Gunter Sachs, der umschwärmt von einem tanzenden Schwarm ausserirdisch schöner Kreaturen, worunter seine spätere Frau Mirja, im Kings Club Einzug hielt... Es war ein erster Blick in jene Welt, in der ich mich später zu bewegen hoffte.

Es war damals üblich, dass die Küchenchefs der Saisonhotels ihre Köche von April bis Juni Kollegen in der Stadt vermittelten, um diese dann in der Sommersaison, die nur von Ende Juni bis Anfang September dauerte, wieder in ihrer Brigade zu haben. Im Frühling hatte mich Monsieur Maire im Hotel Storchen in Zürich platziert. Ich stand am Grill im Restaurant selbst, der sich heute, über ein halbes Jahrhundert danach, noch gleich präsentiert. Der Storchen war schon immer ein feines, kleines Haus, mit einem konzentrierten, eher traditionellen kulinarischen Angebot. Die Arbeit in der kleinen Brigade von weniger als zehn Leuten hatte mir ebenfalls sehr gut gefallen. Ich fühlte mich in diesem kleinen Hotel sehr wohl. Seine Lage, in unmittelbarer Nähe des Embassy und diverser Kinos machten, dass ich mich privat bestens amüsierte und mich meine Eltern, bei denen ich nach wie vor wohnte, selten zu Gesicht bekamen, ausser an meinen freien Tagen. Nicht selten kochte ich dann für sie das zu Abend, was ich neues gelernt hatte. Zur Freude und zum Stolz von uns allen!

Ins Kulm kehrte ich als commis garde-manger für die Sommersaison zurück. Während dem Ausgarnieren von kalten saumons im Winter hatte ich schnell gemerkt, welch eine eminente Wichtigkeit diese partie für die Ökonomie der Küche aufweist, mit dem vielen Fleisch,  den unterschiedlichen Fischsorten, dem Geflügel. Alles musste sachgemäss gelagert, ausgelöst, gepflegt, datiert und verarbeitet werden. Sämi Buchmann war ein ausserordentlich sorgfältiger und effizienter Chef garde-manger, der mir offen und bereitwillig alles zeigte, erklärte und vormachte, was ich zu wissen wünschte.

Der Sommer in St. Moritz ist auch heute noch total verschieden zum Winter: Weniger Gäste, weniger mondän, obschon auch dann Segelregatten auf dem St. Moritzer-See stattfanden, Tourniere auf der Polo-Wiese, gepflegte musikalische Anlässe, die damals ganz der Klassik gewidmet waren. Die Schönheit der Landschaft ist überwältigend, namentlich im Bergfrühling, anfangs Juli. Bergwanderungen, lesen in freier Natur, Baden im kühlen Stazersee füllte unsere freie Zeit aufs Schönste aus.

Nach zwei Saisons im Kulm, wie von Herrn Schers empfohlen, ging ich als Commis restaurateur“ ins Suvretta-House, nachdem ich den Herbst über als chef entremétier, verantwortlich für Gemüse, Beilagen und Suppen in meinem Lehrbetrieb, dem Bahnhofbuffet Zürich gekocht hatte. Das Suvretta thront knapp drei Kilometer ausserhalb von St. Moritz über Champferer-, dem Silvaplaner- und Silsersee: ein erhabener, ja überwältigender Ausblick!

Küchenchef war Hartly Mathis. Er war eine bekannte Persönlichkeit, schon mit 28 Chef de cuisine von Jack Gauers Schweizerhof in Bern. Zuvor hatte er im Atomium, an der Weltausstellung in Brüssel als chef de partie gearbeitet. Die Brigade hatte dort Bankette bis 2000 Teilnehmer ausgerichtet. Ebenso wie für solche Grossanlässe war er fähig, ausgefallen und sehr raffiniert nur 4 Gäste zu Bekochen, hatte ein weit gespanntes Beziehungsnetz zu französischen Spitzenköchen. Er war ein toller Organisator, mit seinen knappen, wesentlichen Hinweisen auf bevorstehende Anlässe, Gästeanzahl, Rezepte und auf die benötigten Mengen. Welch ein faszinierender Mensch, Hartly Mathis. Sportlich war er ebenfalls: Mitgewinner der Schweizermeisterschaft im Viererbob, jagte er mit denen, die den Mut hatten, den Eiskanal hinunter. Im Sommer spielte er mit uns Tennis. Ein offener Geist, anspruchsvoll in der Leistung und gleichzeitig zugänglich für uns alle!

Ein Franzose aus dem Périgord, Monsieur Marti, war in jener Saison chef restaurateur. Einmal mehr, wie schon im Kulm, hatte ich den Eindruck, vom Kochen überhaupt nichts zu verstehen und lernte enorm viel Neues. Der restaurateur war damals für die à la carte Küche verantwortlich, die im Grillroom des Suvretta serviert wurde. Die Zubereitungsart war à la minute, unmittelbar nach Bestellung, und damit ein Vorläufer der nouvelle cuisine. Schnell wurde mir klar, dass ich unbedingt in einer der berühmten Küchen von Paris arbeiten will.

Die beruflichen Bedingungen waren im Suvretta House ähnlich wie im Kulm. Das Suvretta House war bestrebt, seine Angestellten angenehm unterzubringen. Während wir Köche nach wie vor in 5er und 6er Zimmer wohnten und moderne Gemeinschaftsduschen in nächster Nähe unserer Zimmer hatten, waren die Frauen in einem separaten Flügel in Zweierzimmern jedes mit Dusche und WC untergebracht. Die Geschlechtertrennung wurde streng vollzogen. Die jungen Herren, die sich auf dem Frauenstock erwischen liessen bei Razzien, die unregelmässig von der Office Gouvernante durchgeführt wurden, konnten auf der Stelle ihre Koffer packen. Die Kollegialität zum Freund der Office-Gouvernante war mir ausserordentlich nützlich, machte er mich doch immer im Voraus aufmerksam, wann die nächste Kontrolle anstehen würde.

Nunmehr Routinier des Saisonbetriebs wusste ich um die Wichtigkeit, eine Freundin gleich zu Saisonbeginn zu finden. Zu den Festtagen waren alle verfügbaren jungen Damen bereits vergeben. Eine kleine Chance bot sich dann erst wieder gegen Ende Januar, wenn sich Mesalliancen trennten, doch das war eher selten. Ich hatte ein Auge auf Bethli geworfen, welche die Gästekinder betreute und in der Warenkontrolle, unweit der Küche ihren Arbeitsplatz hatte. Sie war meinen Avancen zugänglich, obschon ich vier Jahre jünger war als sie. Das machte mich dermassen stolz, dass ich nur noch mit dem Herzen sah, den Kopf total ausschaltete, mir jegliche vernünftige Frage oder Gedanken verbat, wohin das alles führen sollte, mich ausschliesslich, mit Herz, Haut und Haar meinen Gefühlen hingab. Wie gut, wie schmerzhaft, dass Bethli bei all meiner Leidenschaft ihren kühlen Kopf behielt. Nach zwei Saisons verlief sich die Sache. Sie sollte aber mein Schutzengel bleiben und mich nützlicherweise erinnern, woran ich persönlich zu arbeiten hatte. Ein Leben lang. 

Paris

Hartly Mathis ermöglichte mir über Herrn Candrian eine Stelle als „stagiaire de cuisine im Hôtel Plaza Athénée, an der sehr eleganten avenue Montaigne. Eines der vornehmsten Häuser in Paris, diskret, im Zentrum berühmter Modehäuser gelegen wie Dior, Balenciaga, neben dem grössten Diamant-Juwelier der Welt, Harry Winston und mit dem Théâtre des Champs Elysées als unmittelbarem Nachbarn. Ich hoffte, sofort nach Saisonende, Mitte,  spätestens Ende März dort beginnen zu können. Die administrativen Mühlen mahlten so langsam, dass erst zum 15 Mai die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung bei mir zu Hause eintrafen, wo ich den Papieren entgegenfieberte.

Ich war tief beeindruckt zu lesen, dass mir in der Position des Stagiaire nebst Aufenthalts- und Arbeitsrechten dieselben zivilen Rechte wie den Franzosen zustehen. Welch eine grosszügige, liberale Einstellung der Franzosen!

Ich kam an der Gare de Lyon an, wohlversehen mit Papas Ratschlägen, einem grossen Koffer und vierhundert französischen francs. Welch ein Treiben! Ich fand mich völlig verloren in der unterirdischen Metrostation. Ein alter Mann bemerkte das und anerbot sich liebenswürdigerweise, mir zu helfen. Ich soll zuerst einmal ein Zehnerticket für die Metro lösen. „An die avenue Montaigne wollen Sie? Kenne ich bestens und werde Sie begleiten. Geben Sie mir schon mal 50 francs für die Tickets. Ich fahre mit Ihnen.“ Das Rattern des Zuges erschwerte die Konversation, wir standen schweigend nebeneinander. Ob meine 400 francs wohl bis zur ersten Lohnzahlung reichen würden, wenn die Metro schon so viel kostete? „Hier steigen Sie jetzt aus. Gleich wenn Sie hochkommen, finden Sie die avenue Montaigne. Ich wünsche Ihnen bonne chance!

Ich schleppte meinen schweren Koffer über die lange Treppe hoch und fand mich neben den Tuileries, direkt an der Place de la Concorde. Vor seiner Schönheit beeindruckte mich seine Grösse, betont noch durch die riesigen Champs Elysées, die sich von dort aus zum Arc de Triomphe erheben. Ich war Gott sei Dank am Strassenrand stehen geblieben um mich zu orientieren, als die Verkehrsampeln für die Autos auf grün schalteten und 7 Reihen auf einmal an mir vorbei brausten.

Ich schleppte meinen Koffer etwa fünf Kilometer zum Plaza-Athénée. In der Abendstunde angekommen, fasste ich ein Herz, betrat den Haupteingang, wo mich der major-dome, der Major Domus, in grauer queue de pie, einer Art Frack, mit wuchtiger Silberkette, empfing. „Ich verstehe. Sie kommen zum arbeiten. Sehen Sie, der Personaleingang ist gleich um die Ecke“ sagte er sehr höflich und unaufgeregt. Das beruhigte mich.

Da sind Sie ja, Monsieur Thommen. Hatten Sie eine gute Reise? Wissen Sie schon, wo Sie wohnen werden? Angestellten-Zimmer? Nein, sowas gibt es in Paris nicht. Sie müssen sich selbst eine Unterkunft besorgen.“ Als er meine Verlegenheit bemerkte, bot auch er mir Hilfe an und rief zwei, drei Hôtels de préfecture an. Das dritte, an der rue du gros caillou, hatte dann noch ein verfügbares Zimmer au mois, zu 275 ff Monatsmiete. Bezahlbar im voraus. Der Kontrollmitarbeiter empfahl mir, es zu nehmen. Für Paris wäre das sehr günstig und nur etwa zwanzig Gehminuten entfernt. Ich solle morgen um 9 Uhr in der Küche sein.

Müdigkeit und eher betrübliche finanzielle Aussichten hatten mich etwas entmutigt. Die Brasserie François, am Pont de l'Alma auf dem Weg zur rue du gros caillou gelegen, wirkte einladend. Welch ein Verkehr, welch ein Leuchten überall! Eine heisse Schokolade und eine tarte aux fraises, das wird mir wieder auf die Beine helfen, "oui, bien sûr, à la crême!" Der Spass kostete mich mehr als drei Mal so viel, wie ich dafür in der Schweiz bezahlt hätte.

Nachdem ich angekommen war, dem Hotelier meine Vorauszahlung geleistet und Kassensturz gemacht hatte, fühlte ich mich zu etwas gezwungen, was mir zutiefst verhasst war: zu sparen. Vier Dinge wusste ich: mein Schweizer Bankkonto war leer und niemals würde ich bei den Eltern um einen Zustupf betteln, auch nicht leihweise!. Das Zimmer war gesichert und Köche wurden verpflegt. In der Gewissheit, dass damit das Gröbste abgewendet war, glitt ich in einen tiefen Schlaf.

Monsieur Cruchon, der Sous-chef nahm mich in Empfang, führte mich zur Garderobe. Umgekleidet stellte er mich Monsieur Monier, dem Küchenchef vor, der mich freundlich willkommen hiess und in wenigen Worten seine Prinzipien erläuterte. Im Gegensatz zu den Kabäuschen, welche die Büros der Küchenchefs in der Schweiz sind, residierte Monsieur Monier in einem solchen von etwa 20m2, an dessen Fenstern Vorhänge angebracht waren. Diese wurden gezogen, wenn der Oberkellner - im Frack selbstverständlich – zu ihm kam, die Bestellung für sein Mittagessen entgegennahm. Der Oberkellner reichte sie dem Sous-chef weiter, welcher diese laut annoncierte. Der Oberkellner servierte Monsieur Monier höchstpersönlich und täglich.

Danach führte mich Monsieur Cruchon in der Küche herum und stellte mich jedem chef de partie vor: Monsieur Bérutti, garde-mangerMonsieur Ménetret, saucierMonsieur Jean, entremétier, welcher für Suppen und Beilagen zuständig ist, Monsieur Duclos, rôtisseur-grillardin, über 60 und damit doyen der chefs de partie. Dem pâtissier, auch er, ein hors classe seines Fachs, dessen Figuren aus gezogenem und geblasenem Zucker berühmt waren. Obschon bis anhin überall gut behandelt, eine solche Aufmerksamkeit war mir noch nirgends geschenkt worden. Nach und nach lernte ich dann auch die zahlreiche Horde der commis de cuisine, meine eigentlichen Kollegen, kennen. Eine weitere Eigenart war, dass sich ausnahmslos alle, die ganze Brigade, jeden Morgen mit Handschlag begrüssten, einander einen guten Tag und vor allem „bon courage“ wünschten.

Zum Mittagessen durfte sich jeder Koch das zubereiten, auf was er Lust hatte: eine Seezunge, ein Kalbskotelett oder ein filet de boeuf. Dazu frischen, zarten Spinat, oder cheveux d'ange, ganz feine Stangenbohnen, die wahnsinnig teuer waren. Bitte, nimm was dir gefällt! Welch ein Unterschied zur Verpflegung der Köche meiner Lehrzeit und auch danach! Man wusste dort, dass sich alle nach wenigen Tagen mit einfachen Gerichten zufrieden gaben. Die Freiheit für Köstlichkeiten aber blieb erhalten.

Nach fünfzehn Uhr, wenn der Service vorbei war, verschwanden alle chefs de partie in den Kühlräumen. Sie verräumten die mise en place und holten sich das Fleisch, das sie für ihre Familien benötigten. „Monsieur Marin, der Direktor weiss ganz genau, dass ich mit dem, was ich hier verdiene, mir kein Fleisch für meine Familie leisten kann und ich deshalb meinen bout de viande mit nach Hause nehme. Dafür aber lassen wir hier in der Küche nie etwas vergammeln oder schmeissen gar etwas weg. Ich beobachtete, dass selbst angetrockneter Senf etwas angerührt und durch ein Sieb getrieben wurde. „Ici on ne jette rien, petit Suisse!“pflegte der souveräne saucier zu deklamieren „si non je te mange au sucre!“

Die Klasse dieses Hotels war weit über dem, was ich in der Schweiz kennengelernt hatte, obschon sowohl das Kulm und das Suvretta-House in St. Moritz dem „Groupement des hotels de tout premier rang de Suisse“ angehörtenAlles war nur vom Feinsten. Nichts war auch nur im mindesten beschädigt. Das Hotelsilber war wie neu. Die Korridore im Soussol waren hell ausgemalt und gepflegt. Von den Wasserleitungen hatte jede ihre Farbe, durchs ganze Haus hindurch, sichtbar hinter den Kulissen,  im Gästebereich in den gaines techniques  versteckt.

Die Portionen der einzelnen Speisen waren üppig bemessen, die Preise gut drei Mal so hoch, wie ich es gewohnt war. All diese Sorgfalt hatte mich tief beeindruckt. Überhaupt, nach der Erfahrung im Kulm, danach im Suvretta war das nun das dritte Mal, dass ich den Eindruck bekam, überhaupt nicht kochen zu können. Lange vor der Einführung der „nouvelle cuisine“ lernte ich dort, dass Gemüse Biss behalten muss, dass Fische
rosé à l'arête grilliert werden und Mehl für Saucen, wenn überhaupt, dann nur ganz zurückhaltend verwendet wird. Alles wurde auf höchstem Niveau zubereitet, und immer genau gleich. Das heisst, jedoch immer genau gleich.

Ich war Monsieur Bérutti, dem garde-manger zugeteilt. Bei meinem ganzen Staunen über die unterschiedlichen Zubereitungsarten fühlte ich mich frei, eigene Wege zu gehen, so zum Beispiel, indem ich die hors-d'doeuvre neu gestaltete. Dazu bereitete ich diverse Delikatessen, die sich für eine eigenständige Präsentation vom Aussehen her nicht mehr eigneten so zu, dass sie sich in den Schalen auf dem Wagen appetitlich ausnahmen.

Oh, das wird aber Monsieur Marin gar nicht gefallen. Er wünscht es immer genau gleich. Aber wir können es ja mal probieren“, meinte Monsieur Bérutti.

Monsieur Georges Marin 
war ein international bedeutender Hôtelier. Er genoss einen geradezu legendären Ruf, sein Auftreten war beeindruckend. Alle der damals gegen sechshundert Angestellten wendeten sich ihm respektvoll zu, wenn er die Örtlichkeiten inspizierte oder zum Chef zur allmorgendlichen Besprechung kam. (Man bemerke: der Herr Direktor kam zur Besprechung ins Büro des Küchenchefs, er liess ihn nicht zu sich rufen).

Am folgenden Morgen aber hielten die beiden Herren im G
arde-manger: „Der dort, der Schweizer Stagiaire hat die Hors-d'oeuvre gestern zubereitet“ meinte Monsieur Monier. „Très bien, jeune homme. Continuez comme ça“ sagte der Direktor und nickte mir zu.

Gegen August wurde ein Teil der Brigade an de Weltausstellung nach Moskau geschickt. Die Jungs waren alle sehr aufgeregt. Ich hatte Angst um sie. Zu den Russen, den Kommunisten! Das waren für mich eindeutig die Bösen, die Üblen. Mir waren die Proteste von 
1956 nach der Niederwerfung des Aufstandes der Ungaren am Bahnhof Enge noch in bester Erinnerung  als die Schweizer Teilnehmer von der Moskauer Olympiade zurückkamen. Überhaupt, die damalige Macht der kommunistischen Partei, des PC, des parti communiste! Wie die Franzosen sich mit dessen Existenz und Macht abfanden! Der Umgang, den die doch verfeindeten politischen Lager miteinander pflegten, beunruhigten mich zutiefst. Vater und damit wir alle im familiären Umfeld, sahen im gesamten Osten den bösen Feind! Mit solchen Leuten pflegt man keinen Umgang!

Meine Kollegen kamen alle ausnahmslos begeistert aus Moskau zurück. Der Schlager war damals Gilbert Bécauds „Nathalie“: La place rouge était vide; devant moi marchait mon guide. Il avait un joly nom, mon guide, Nathalie, Nathalie... Plötzlich hatte das Böse, das Fremde, eine eigenartige Faszination auf mich. Den Erzählungen der Rückkehrer lauschte ich mit gespannter Aufmerksamkeit.

Mittlerweile hatte ich mich nicht nur an das schnelle Sprechen der Pariser gewöhnt, sonern auch meinen Akzent verloren. Welch ein Stolz, als mir Didi sagte: maintenant, tu passes pour un Parisien! Didi war der fröhlichste unter den commis de cuisine, Draufgänger, Stimmungsmacher in der Brigade. Er zog uns alle mit, an der Arbeit, und vor allem im Ausgang. Es begann mit einem Bier irgendwo. Wenn wir nicht in einem dancing landeten – eher selten - zog man durch Gassen und Strassen, vorzugsweise in der Gegend der Halles. Emile Zola hat sie als ventre de Paris als Bauch von Paris beschrieben. Das galt damals noch immer: ein riesiges, umtriebiges Areal, eine Riesenmenge von Lebensmittelständen, Marktschreiern, Verkäufern. Von Restaurateuren die dort ihre immer frische Ware für den Tag kritisch auswählten, Lieferanten, die die Stände neu bestückten, den Kunden halfen, ihre Waren zu ihren Autos zu bringen , alles in einem Gewühl von Schaulustigen. Nach dem Theater oder Konzert begaben sich die Pariser gerne hier hin um auch noch spät nachts croquer un morceau, etwas zu knabbern oder sich am bunten Treiben zu vergnügen. Alles Essbare gab es dort zu kaufen und zu degustieren bei Metzgern, an Gemüse- & Früchteständen tollen Fischständen mit Austern, Meeresfrüchten von unvorstellbarer Vielfalt. Weinhändler, überall Bistrots mit den hohen Tischen draussen für einen Imbiss auf die Schnelle, tolle Blumenläden und, an bestimmten Strassen wie der Rue de Saint Denis, les filles au grand charme et petite vertue. Welch vergnügte Nächte wir in den Halles doch verbrachten!

Didier "Didi" war mein Lehrer im Argot, dem Strassenslang von Paris, den zu praktizieren ich geradezu gierte und entsprechend schnell lernte. Da ging ich natürlich gerne ins Theater, amüsierte mich an den Vaudevilles, den knusprigen französischen Lustspielen, vor allem aber ging ich zu den Chansonniers im Caveau de la République. Deren geistreichen, spritzigen Wortspiele zu verstehen, oft mit Argot durchsetzt, das war nun wirklich die linguistische Weihe im Französischen!

In einer ganz anderen Art ist mir einer der allerersten Auftritte des damals eben abgesprungenen russischen Tänzers Rudolf Nureyev in Erinnerung. Er gastierte im Théâtre des Champs Élysées. Mit seinen bis dahin unerreichten Sprüngen, seiner kraftvollen Eleganz und unwiderstehlichen Ausstrahlung brachte Nureyev den Saal zum Kochen! Das Publikum, ausnahmslos in Abendkleidung, liess seiner Begeisterung hemmungslosen Lauf, es regnete Rosen und Blumensträusse auf die Bühne. Nie zuvor und nie mehr danach, hatte ich in einem so respektablen Haus, von so stylish bekleideten Zuschauern einen auch nur ähnlich überschäumenden Beifallssturm erlebt.

Als ich an einem milden Maienabend den Personaleingang verliess, stand überraschend mein Schulfreund Peter Meier da. Er machte einen Stage in den Korrespondenten Büros von Ringier. Welch eine Freude! Verschiedenes teilten wir seit unserer Schulzeit: Freude an gutem Essen, am Kochen gar, an guten Weinen und überhaupt, an allen Annehmlichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Obschon wir beide klamm waren, eine weitere Eigenschaft, die wir teilten, trafen wir uns gerne zu einem Carlsberg im angesagten Café de Paris an der Place de l'Opéra. Zumindest zu Monatsbeginn fühlten wir uns als kulinarische Pfadfinder, wenn wir anlässlich der Neuentdeckung eines Restaurants wieder einmal einen Drittel eines Lohnes hingeblättert hatten. Spätestens ab Mitte Monat durfte es dann auch wieder ein Kronenbourg in sehr viel demokratischeren Lokalitäten sein. Auch erinnerte ich mich dann jeweils, dass ich ja im Plaza Athénée sehr gut verköstigt war. Das aber machte den guten Peter nicht feiss, sodass wir uns eben doch ziemlich regelmässig zu einem Plateau de fromages mit durchaus respektablem Burgunder trafen.

Dank seinen Verbindungen kamen wir sogar einmal zu gratis
Billets für eine von Johnny Holidays Aufführungen, damals noch mit Sylvie Vartan, ein andermal in die Olympia, zu Gilbert Bécaud.

Im Suvretta hatte ich bereits meinen Vertrag für die Wintersaison, wie es damals üblich war. Danach hatte ich beabsichtigt, noch ein Jahr in Italien, wenn möglich in Rom zu kochen. „Was willst du jetzt nochmals ein Jahr kochen, wo du doch an die Hotelfachschule willst" meinte Peter. "Ich gehe im Frühling nach Florenz oder Perugia, an die Ausländer-Uni, um Italienisch zu lernen. Komm doch auch!“ Eine ganz neue Perspektive eröffnete sich mir. Na, das wäre aber was!

Ich erkundigte mich, stellte fest, dass die Sache finanziell machbar war, mir der akademische Kalender sogar erlauben würde, für die Sommersaison wieder im Suvretta zu arbeiten und danach, für das Herbst Trimester nach Perugia zurückzukehren. Schnell hatte ich mich entschieden. Gleichzeitig aber auch, dass ich nach Florenz gehen würde, wenn Peter Perugia wählte und umgekehrt. Im Französischen konnte ich es mir leisten, mit ihm hauptsächlich Deutsch zu reden. Im Italienischen, wo ich nur über Kenntnisse des Küchenitalienisch unserer Süditaliener ohne jede Grammatik verfügte, wäre das bei aller Freundschaft meinen sprachlichen Ambitionen nicht gerecht geworden.

Es war November geworden, mein Vertrag im Plaza lief aus. So tolle Menschen ich kennen gelernt, so vielseitig ich mich vergnügt hatte, heimisch fühlte ich mich in Paris nie. Die Grösse der Stadt. Die Pariser, die ein so anderes Leben lebten, als die Besucher und Touristen. Diese manikürierten Pärke. Die Hausmannsche Architektur wirkte in ihrer Strenge abweisend auf mich. Wohl dem, der in einem dieser Häuser von so nüchterner Eleganz wohnte! Als Aussenstehender fühlte ich mich alleine. Das Plaza aber, wo ich soviel Gutes und Nützliches erfahren hatte, eröffnete mir eine Welt, zu der ich kaum aufzusehen wagte. Monsieur Marin verdankte ich schriftlich, mir die Gelegenheit geboten zu haben viel Neues und Interessantes in seinem Hause lernen zu dürfen und fragte schüchtern an, ob ich mich später für eine Anstellung auch in einer anderen Abteilung melden dürfe. Das schien eher unüblich zu sein. Am folgenden Tag, als der Direktor zur täglichen Besprechung zum Chef kam, rief man mich in sein Büro, wo Monsieur Marin mit meinem Brief in der Hand neben Monsieur Monier stand: „Haben Sie mir das geschrieben, und warum?“ „Ich habe hier eine sehr lehrreiche und schöne Zeit verbracht. Es würde mich freuen, wenn ich die Verbindung zum Hause weiter pflegen dürfte.“ Er erkundige sich nach meinen beruflichen Absichten und meinte: „Sie werden Ihren Weg schon machen.“
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Perugia, Università per stranieri: eine Offenbarung
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16.  Perugia, Università per stranieri: eine Offenbarung
Ich kehrte ins Suvretta als 1. commis saucier für den Winter zurück. Die Saison verlief ohne besondere Vorkommnisse. Bethli war ebenfalls zurückgekehrt. Mein Pariser Sommer hatte sie von mir entfernt. Ich aber war noch immer unverändert verschossen in sie...

Am 31. März 1962 fuhr ich mit dem Nachtzug von Zürich nach Perugia. Es war vor Ostern. Viele Süditaliener kehrten vor der Bausaison für die Feiertage nochmals nach Hause zurück. Mein Couchette-Abteil teilte ich mit solchen Heimkehrern. Sie hatten einen üppigen Proviant bei sich und luden mich ganz natürlich und grosszügig ein mitzuhalten: „favorite!“ Es waren ihre selbst zubereiteten Speisen, Vino aus dem Fiasco. Plaudernd, lachend, singend, verflogen die Stunden bis Mailand. Dort trennten sich unsere Wege. Wir mussten alle umsteigen. Für mich sollte es nochmals gut acht Stunden dauern.

Ich erwachte um 6 Uhr, der Zug fuhr durch die Toscana. Ich blickte in die hügelige Landschaft, durch Pinien und Zypressen. „Hier wird dein Herz gesunden,“ erkannte ich auf Anhieb. Nach einem weiteren Zugwechsel in Arezzo führte der lokale Tucker durch silbern glitzernde Olivenhaine dem Lago Trasimeno entlang. Welch fremde und gleichzeitig einladende Landschaft!

Perugia. Das historische Zentrum auf zwei Hügeln gelegen, umrahmt von wohl erhaltenen Stadtmauern aus der Etrusker-Zeit, erstrahlt in mittelalterlicher Schönheit, überblickt die Ebene des Flusses Tevere. In dieser Ebene breitet sich der neue Teil der Stadt aus. Die Università per stranieri hat ihren Sitz im barocken Palazzo Gallengo-Stuart. Alle Neuankömmlinge sind davon bei der Einschreibung beeindruckt, viele haben sogar Herzklopfen. Auf jeden Fall alle, die wie ich, vorgängig keine höheren Studien betrieben hatten. Die Aulen, antik und erhaben, gebieten Respekt und Eifer...

Die Deutsch-Deutschschweizer Sektion war bei weitem die zahlreichste, gefolgt von der englisch-amerikanischen. Ich glaube mich auch an eine französische zu erinnern. Ich entschied mich für die gemischte, gleich für den corso medio, welchen Spanier, Südamerikaner, Libanesen, zwei ältere norwegische Damen und ein paar Marokkaner formten. Von dieser kleinsten aller Sektionen versprach ich mir den Zwang, möglichst schnell in korrektem Italienisch Fortschritte zu machen. In jener Zeit hatte sich das Englische noch nicht zur Lingua franca durchgesetzt. Wir hatten kaum eine andere Wahl, als uns in der Sprache zu unterhalten, die zu lernen wir angereist waren.

Mit meinem Küchenitalienisch, bar jeglicher Grammatik, war der Anfang herausfordernd. Glücklicherweise war es April bis Mitte Mai noch so kühl, dass die Piscina comunale noch nicht - wie im zweiten Teil des Trimesters - ihre fatale Faszination ausübte, wo wir Studenten nachmittags alle dort waren. Jede und jeder mit seinen Lehrbüchern. Ebenso selbstverständlich öffneten wir diese kaum, zu sehr lockten dolce far niente und der Flirt. Die ersten zwei Drittel (oder fast) des Trimesters repetierte ich zu Hause jeden Nachmittag brav die Kurse, büffelte Verben, Vokabular und Grammatik. Als es dann heisser wurde, eben frühmorgens, so dies unsere abendlichen Ausgänge das noch ermöglichten.

Mein zu Hause war ein Zimmer bei der Familie de Angelis, an der Via Pompeo Pellini. Sie schlängelte sich aussen an der Stadtmauer entlang. Im Mai dufteten die Lindenbäume herrlich, die sie fast auf der ganzen Länge säumten. Viele mittelständische Familien der Perugini schränkten sich ein, sicherten sich einen Zusatzverdienst durch Vermietung der frei gewordenen Zimmer. In der Familie de Angelis teilte der sechzehnjährige Sohn Pietro das Schlafzimmer der Eltern. Aufenthaltsraum in der schönen Vier Zimmer Wohnung war die Küche, wo der TV dauernd lief, Piero seine Aufgaben machte, Mamma flickte, bügelte und ausgezeichnet kochte. Jeden Samstag knetete sie den Nudelteig, mit dem sie für Sonntag köstliche ravioli oder cappelletti für uns alle zubereitete. Trotz dieser Einschränkung waren wir drei Studenten für einen Schwatz und caffè im Reich der Signora jederzeit willkommen!
Vor meinem Fenster, zu einer eher ungepflegten Grünfläche hinaus, blühte ein Mandelbaum. Frühstück und Abendessen wurden den beiden Mitbewohnerinnen und mir in mein Zimmer serviert, was wir bei offenem Fenster und vergnügter Unterhaltung genossen.

Italienischen Studenten der Università degli studi di Perugia, die zweitälteste Italiens und eine der ältesten von Europa, war der Zutritt zum Palazzo Gallengo-Stuart strengstens untersagt. Welch eine Freude für mich, als ein paar von ihnen in einem studentischen Treffpunkt mich zu sich winkten, auch wenn das nicht desinteressiert oder gar nur meinetwegen war: Sie hatten am Abend etwas zu feiern. Ich sei herzlich willkommen und selbstverständlich, alle Studentinnen ebenfalls, die ich dazu mitbringen würde... So formte sich von allem Anfang an eine fröhliche Bande von Italienern und ausländischen Studentinnen, mit mir als einem der Mittelsmänner zum Ateneo degli stranieri. Ständig waren wir zusammen, zum Plaudern, Tanzen, zu abendlichen Picknicks am Lago Trasimeno. Auch zu Ausflügen, etwa an die Corsa dei Ceri di Gubbio, nach Assisi, zum Festival dei due mondi in Spoleto. Das war dem Italienischreden ausserordentlich förderlich. Allerdings strengten sich einige der Studentinnen dermassen an, dass sie darob ihr Herz an ihre Nachhilfslehrer verloren. Einige für die Dauer des Trimesters, andere für immer.
 
Man traf sich immer auf dem Corso Vannucci, der Hauptstrasse. Damals promenierten die Italiener immer auf dem Corso: Am Feierabend, Samstagvormittags, vor, nach oder anstelle der sonntäglichen Messe. Den Corso hinauf, den Corso hinunter und zurück, bis man mit Freunden und Bekannten, die dort ebenfalls promenierten, in seine Lieblingsbar zum Aperitivo oder Caffè ging, stehend am banco, oder, bei genügend freien Plätzen, an den Tischchen am Corso. Für junge Leute war dieses rauf und runter in der wogenden Menge eine Ritualisierung des Flirts, trachteten sie dort doch nach ihren Angebeteten, jedoch immer unter den wachsamen Augen ihrer Eltern oder Geschwister.
 
Grammatik und Literaturgeschichte besuchte ich bei Prof. Balmelli. Der Vice-Rettore Ottavio Prosciutti war für Geografie zuständig, Prof. Grego, dessen Tochter nun Rettore des Ateneums ist, für Geschichte. Ein Professor lehrte Musikgeschichte. Ein weiterer storia dell'arte. Es waren alle ausnahmslos grosse Könner ihres Fachs. Über ihre Kompetenz hinaus verstanden sie es alle, uns Studenten zu fesseln. Für Geographie und Geschichte war selbst die grösste Aula sehr knapp. Prosciutti brachte uns anhand der Gastronomie italienische Geographie auf witzige Art näher. „Könnt Ihr euch vorstellen, wie die Napoletaner überhaupt leben konnten, bevor ihnen Marco Polo im 13. Jh die Teigwaren aus China, Cristoforo Colombo die Tomaten aus Südamerika brachten?“ Wenn der kleine, schmale Prof. Grego zu seinen Erzählungen über italienische Fürstenhäuser, den Kirchenstaat, die Bildung der Städte und deren zahllosen Fehden zu erzählen anhob, war er ein Riese. Man hörte Mücken im Saal fliegen, obschon wir gut zweihundert Zuhörer waren.
 
Mir eröffneten diese drei Monate neue Dimensionen des Lebens! Was gab es doch für bemerkenswerte, schöne Dinge zu lernen! Welch ein Kontrast zur damals eingeschränkten Welt der Küche! Ab Mai fanden im Palazzo dei Priori Konzerte statt, die ich heute als historisch bezeichnen würde: Sviatoslav Richter hörte ich dort, ebenso Arthur Rubinstein. Igor Strawinski dirigierte seinen Feuervogel. Viele weitere, nicht alle so prestigeträchtige, aber nicht weniger begeisternde Konzerte und Rezitale durfte ich dort erleben.
 
Koch genoss damals kaum irgendwo den verdienten Ruf und das Prestige, welche ihm die Grossen der Nouvelle Cuisine ab Mitte der siebziger Jahre endlich vermittelten: „Unser“ Freddy Girardet, Paul Bocuse, Jean & Pierre Troisgros, Roger Verger, Michel Guérard und weitere. In Italien wurde damals dem Beruf schlicht keine Beachtung zuteil. Prof. Balmelli blickte verständnislos, als er bei der Befragung über unsere beruflichen Tätigkeiten meinen Beruf vernahm.
 
Wir „Stranieri“wurden zum eleganten Circolo der dortigen Borghesia zugelassen, in welchem so bedeutende Leute wie die Teigwarenfabrikanten Buitoni, die Besitzer der Schokoladefabrik „Perugina“ welche die weitherum geschätzten Baci herstellt, und weitere verkehrten. Dieser Circolo organisierte alle zwei Wochen eine „serata danzante“, die ich jeweils sehr gerne besuchte. Wir Studenten wurden an die grossen Tische eingeladen, wo sich die habitués unterhielten. Betroffenes Schweigen herrschte an meinem Tisch und es fehlte nur noch die Entschuldigung, nach meiner Tätigkeit gefragt zu haben, als ich voller Stolz berichtete, Koch zu sein. Beim nächsten Besuch, an einem anderen Tisch, antwortete ich auf die gleiche Frage klüger: „Ich? Ich bin Student der Hotelfachschule Lausanne.“ „Ja sagen Sie nur, das ist ja hochinteressant, an der besten Hotelfachschule der Welt; erzählen Sie uns!“ Nachdem ich mich dort bereits angemeldet und damit auseinandergesetzt hatte, fiel mir die Unterhaltung leicht. Klar, dass ich meinen plötzlichen sozialen Aufstieg sehr genoss und über die Fragenden schmunzelte.
 
Nicht zu übersehen waren die Südamerikanerinnen in der Studentenschaft. Zauberhafte Geschöpfe, sonnige Gemüter, im Rahmen der damaligen noch streng(er)en Konventionen ausgesprochen zugänglich. Aus Argentinien, Paraguay, Bolivien und Mexiko und von den kanarischen Inseln die Spanisch sprechenden, nebst den nicht weniger attraktiven Brasilianerinnen. Unnötig zu sagen, dass ich mich sofort verliebte. Nicht in Carmen, Mercedes oder Costancita, nein. Ich war in den ganzen Zentral- und Südamerikanischen Kontinent verliebt! Wonniger Zwang zum zum Spanisch reden, süsser Druck zu Grammatik, Deklination und Vokabular steigerten meine Lernfertigkeit mit jedem Aufschlag der dunklen Augen und brachte mich gleichzeitig zum Schmelzen.
 
All diese Kontakte erweiterten meine Sicht auf die Welt und meine persönliche Entwicklung. Durch eine rosa Brille zwar. Als ich Ende Juni ins Suvretta nach St. Moritz als chef rôtisseur zurückkehrte, war meine Neugierde auf die Welt, auf kulturelles Leben geweckt. Für mich war ganz klar, dass ich im kommenden Herbst den corso superiore in Perugia absolvieren würde.
 
Die Sommersaison war eine sonnige. Das Engadin hiess viele Gäste willkommen und so auch das Suvretta. Frühmorgens gingen wir zu dritt, viert zum Hahnensee hinauf, noch vor der Arbeit, oder gingen nachmittags im Stazersee baden, ein paar unter uns spielten Tennis. Es war eine sorglose, rundum erfreuliche Zeit. Hartly Mathys war mit mir zufrieden. Ich hatte zwar meine liebe Mühe mit meiner Vorgesetzten Position. Wie verhalte ich mich nun meinem Commis gegenüber, per du oder per Sie? Wie teile ich ihm seine Arbeit zu? Armer Gérard Luyet, er aber machte tapfer mit.
 
Der Corso superiore wurde anspruchsvoll, doch wollte ich mir das nicht eingestehen. Tapfer biss ich mich durch. Das merklich kühlere Wetter, die frühen Abende halfen dabei. Dass ich meine Freunde aus dem Frühjahr nicht wiederfand, veränderte die ganze Stimmung. Bethli war zwar auch da. Sie aber wollte verständlicherweise Perugia geniessen, wie ich es im Frühjahr getan hatte. Ich lernte die Eifersucht kennen und nach der Heimreise kam es zum Bruch. Ich hatte kein Diplom des Corso superiore, kam bereits anfangs Dezember zurück. Sehr zur Enttäuschung meiner Eltern zwei Wochen früher als erwartet.
 
Den Winter über arbeitete ich als Chef tournant im Bahnhofbuffet, bis zum Beginn der Hotelfachschule. Ich kannte Betrieb, System und Arbeitsweise. Eine gelungene Beendigung meiner Zeit als Koch. Ich erfuhr mich als fähig, der Aufgabe gewachsen. Im April ging's nach Lausanne, an die Hotelfachschule.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 


Lausanne, École hôtelière
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17.  Lausanne, École hôtelière
Mein Vater hatte für diese Schule entschieden. Bereits als ich noch bei den frères in Neuchâtel war, hatte er sowohl in jener von Luzern vorgesprochen, wie auch in Lausanne. In Luzern hatte man ihm erklärt, dass man seinem Sohn in Lausanne zeigen würde, was er später von seinem Personal zu verlangen habe, hier jedoch das, was er als zukünftiger Direktor alles können müsse. In Lausanne zeigte sich der damalige Direktor Schweizer von meiner Absicht, zuerst eine Kochlehre zu machen, gar nicht begeistert. Die Gefahr, in der rauen Atmosphäre der Küche den guten Umgang zu verlieren, wäre erheblich. Man würde lieber eine Handelsschule als vorgängige Ausbildung sehen.
 
Erstaunlich, dass Papi, der grosse Praktiker, Lausanne vorgezogen hatte. Sie kostete einiges mehr als Luzern. Ihm schien dieses Diplom den Mehrpreis wert, gegenüber jenem des Instituts, welches von der Union Helvetia, der damaligen Gewerkschaft der Hotelangestellten im und gleichzeitig mit dem Luzerner Hotel Montana geführt wurde. Beide, die Schule wie das Hotel genossen guten Ruf. Es muss an Snob-appeal der EHL gelegen haben: Die beste Hotelfachschule der Welt. Französisch als Unterrichtssprache.
 
In den diversen Küchen hatte ich da und dort Stagiaires der EHL kennengelernt. Sie arbeiteten, doch spürte man ihrer Einstellung an, dass sie dort lediglich ein Praktikum absolvierten. Sie gingen alles locker an. Mir fehlte ihrerseit die Identifikation  mit dem Beruf und seinen Besonderheiten. „Macht mal vorwärts! Plötzlich ist es zwei Uhr und die Mise en place ist noch immer nicht fertig!“ Wie oft musste ich das an meiner letzten Stelle den drei jungen Herren, Liechti, Keller und Favre sagen, wenn die wieder und wieder bei ihrer hübschen Kollegin Uschi im Garde-manger rum flirteten, wo diese nichts, aber rein gar nichts verloren hatten!
 
Jetzt, im Rückblick – aber erst beim jetzigen Niederschreiben – kommt mir meine damalige Haltung ziemlich verkrampft vor. Urs Keller, den ich dort als Freund fürs Leben gefunden hatte, zitiert mich auch heute noch bei Gelegenheit: „Gäll Jürg, plötzlich isches zwei!“
 
Ich ging mit gespannten Erwartungen im April 1963 nach Lausanne zum Servicekurs. Gleich zu Beginn wurde uns eine Disziplin eingebläut, die geradezu preussisch anmutete. Die Schwerpunkte in der Begrüssungsrede des damaligen Direktors Weissenberg waren nicht etwa die internationalen, vielseitigen und vielsprachlichen Freundschaften und Verbindungen, die wir fürs Leben schliessen würden, hier, am Ausgangspunkt von tollen Karrieren. Oder dass wir hier unsere vorgängigen Kenntnissen zum Nutzen aller und der Schule einbringen können und sollen. Nein. Herr Weissenberg legte Wert auf Anordnungen wie etwa die Zigarettenstummel doch in die dazu vorgesehenen Aschenbecher zu werfen und nicht daneben, dass die Damen doch von Schuhen mit Bleistiftabsätzen absehen möchten, welche das Schulparkett beschädigten. Und dass wir Herren ausnahmslos Jackett und Krawatte zu tragen hätten und die Damen Röcke, mindestens knielang. Hosen verboten!
 
Ohne Zweifel begünstigte der lächerliche Monsieur Michel diese beschissene Atmosphäre. Er war ursprünglich Berliner, der mit eiserner Faust das Office regierte – wo abgewaschen, getrocknet, gelagert und angerichtet wird - ja auch das ist Lehrstoff - und brachte uns für den Service bei, wie ein beladenes Plateau mit der linken Hand locker zu schultern war.
 
„Wie haben Sie so etwas nur gemacht?“fragte er nach einer Tirade von Beschimpfungen einen Schüler, dem eben eine Beige Teller aus der Hand gerutscht war und grösstenteils zerbrach. „Sehen Sie so, Monsieur Michel“. Er nahm eine zweite Beige und liess sie zu Boden fallen. Auch wenn es sich dabei um einen der Söhne des weltberühmten Conrad Hilton gehandelt hatte: er hatte auf der Stelle seine Koffer zu packen.
 
Von den meisten Studenten wurde Monsieur Michel nicht sehr ernst genommen. Sie hatten auch an der Schule diese lockere Haltung, wie ich sie an ihnen im Küchen-stage beobachtet hatte. Nur solche wie ich, liessen sich von ihm beeindrucken.
 
1963 war ein toller Sommer, strahlend sonnig. Ich hatte ein Zimmer gleich anschliessend an die avenue de cours, in der Nähe der Schule gefunden. Ein kleiner Balkon überblickte den ganzen lac léman. Auf diesem las ich in freien Momenten il Gattopardo, das einzige Buch von Tommaso di Lampedusa. Es war damals eben posthum erschienen und erlangte auf Anhieb den Nobelpreis für Literatur. Welch ein Krampf, bei diesem reichen, mir unbekannten italienischen Wortschatz. Erst viel später, bei dritter und vierter Lesung, konnte ich das Werk auch wirklich geniessen.
 
Der Kurs belastete mich nicht sehr. Als Koch kannte ich all die kulinarischen Benennungen, war auch mit der Organisation eines Restaurants vertraut, zumindest mit der rückwärtigen. Papa hatte mir seine Liebe zum Wein beigebracht, sodass mir die Weinkunde sehr willkommen war. Monsieur Tuor, Hauptlehrer des Servicekurses, ein schneidiger Bündner, ehemals Oberkellner, machte uns das Erlernen von Grundzügen der Oenologie und der Weingeographie leicht. Er war auch für den praktischen Teil des Service verantwortlich. Mit seinen knappen, eleganten Gesten in seinen Anordnungen beeindruckte er uns alle sehr.
 
Der eine seiner Assistenten, Monsieur Tschanz, sekundierte Monsieur Tuor . Der andere, Monsieur Luca vermittelte Servicetheorie. Beide waren nicht sehr beliebt. Bei ersterem mussten die Benennungen auswendig gelernt werden:
Potage sport?“ = „Parmentieraux cheveux d'ange“(Kartoffelsuppe mit Fideli) „Gujons de sole Prince Murat?“„Quer geschnittene Seezungenfilets, in Butter gebraten mit kleinen Bratkartoffeln und geviertelten Artischockenböden.“ Es gab und gibt zahllose solch klassischer Namen, für Hors-d'oeuvre, für Suppen, für alle unterschiedlichen Fleisch- und Geflügelarten, für Fische, Krustentiere und Meeresfrüchte und selbstverständlich gleich nochmals so viele für Süss-Speisen und Desserts! Für alle, die sich in ihrem bisherigen Werdegang eher fern der Küche aufgehalten hatten, eine echte Qual!
 
Die Servicetheorie von Monsieur Luca umfasste Zeichnungen vom „pli central“ des Tischtuches, wohin und wonach dieser auf dem Tisch ausgerichtet werden musste. Über Gedecke, vom einfachsten bis zum mehrgängigen richteten wir an, mit entsprechender Anordnung von Tafelsilber und Gläsern. Deren Ausrichtung wurde wenn nicht millimeter-, so doch mindestens zentimetergenau überprüft. Die Pflege der Ménages, d.h Salz, Pfeffer, Senf und der damals - zumindest in einfacheren Lokalen - noch unverzichtbaren Flasche Maggi. Zu den Kontroll-Obliegenheiten des Monsieur Luca gehörten ebenso unsere persönliche Hygiene, Frisur, Sauberkeit der Fingernägel, wie die Wahl des richtigen Schuhwerks: schwarze, glatte Halbschuhe ohne jede Verzierung, mit Ledersohle und Gummiabsatz für die Herren, ebensolche Pumps für die Damen. Die Pflege der Uniformen, das Reinigen des Tafelsilbers, der damals gebräuchlichen Silber-platten, diverser Krüge Karaffen und Gefässen. Alles unverzichtbare Basis des Handwerks halt. Wenn auch nicht gerade eine intellektuelle, aber eine Herausforderung war das allemal.
 
Die Hierarchie einer Servicebrigade sowie deren Organisation hatte etwas militärisches und orientierte sich am Aufbau eines Hofstaates. Davon rühren auch die Benennungen her: Major Domus = Maître d'hotel, maître de carré, chef de rang, commis de rang, commis de suite etc etc.
 
Die Küchensektion bekochte die gesamte Schule und das Essen für uns wurde im Verlauf des Semesters immer besser. Die Studenten des Servicekurses bedienten ihre Kommilitonen aller Sektionen sowie auch die Professoren unter den wachsamen Augen der diensthabenden Profs.
 
Die Servicebrigaden der Ecole hôtelière waren sehr gefragt für Bankette und Begebenheiten aller Art: von Hotels und Restaurants, von Gross-Organisationen wie dem Comptoir de Lausanne, von Vereinen für ihre Anlässe und von Privaten für Hochzeiten und Familienfeiern.
 
Monsieur Tuor war Anlaufstelle für alle Ereignisse, die sein Kurs auswärts servierte. Die Schule verlangte, dass alle Studenten des Servicekurses an mindestens zehn Banketten mitwirkten, um nicht ganz unbedarft den Stage, das Praktikum anzutreten. Jedes dieser Bankette wurde mit zehn bis zwanzig Franken honoriert. Besser gestellte Studenten drängten sich dazu nicht gerade vor. Für uns anderen war le service de banquets ein willkommener Zusatzverdienst.
 
Der allererste Anlass fand in einer ehemaligen kleinen Kirche statt, für etwa einhundert Mitglieder irgend eines Vereins. Es war ziemlich am Anfang des Servicekurses. Wir waren alle noch entsprechend ungeübt. Als wir dort ankamen, herrschte ein Durcheinander, die Tische standen kreuz und quer, die Verantwortlichen konnten sich nicht auf eine Ordnung einigen. „Laissez-moi faire, svpl.“meinte Herr Tuor zu den Verantwortlichen, schickte diese nach draussen und einem Kommandanten gleich, erteilte er mit ausgestreckten Armen seine knappen Anweisungen. In kurzer Zeit standen die Tische in langen Reihen, an denen links und rechts je gut zwanzig Gäste auf Bänken Platz nahmen. Zuerst wurde Fleischbrühe serviert. Nicht wie üblich in Tassen, sondern in Suppentellern. Einer hinter dem andern trugen wir recht unsicher, jeder in beiden Händen einen Teller mit der gefährlich schwappenden Brühe den Gästen entgegen. Je mehr sich dieser Gänsemarsch den Tischen näherte, umso mehr beugte sich die ganze Reihe der Gäste darüber. Erst als die Suppe vor ihnen stand getrauten sie, sich wieder aufzurichten...
 
Für Dîners und Empfänge privater Natur in den Villen und Landsitzen brauchte es zumeist nur einen einzigen oder zwei Kellner, ohne weitere Begleitung. Dafür wurden die einsatzfähigsten und engagiertesten Studenten bevorzugt. Zu denen gehörten Heinz Roger aus Berlin und Reto Grass aus Neuchâtel. Heinz, drei Jahre älter ich arbeitete zuvor als Barman im Hilton in Berlin. Ein gebildeter junger Mann, der das Lycée Français in seiner Heimatstadt absolviert hatte: er machte einfach alles perfekt. Ob er sprach, ob er handelte, ober er rechnete oder schrieb. Einfach immer alles perfekt. Die geschliffenen Manieren, die er sich hinter der Bar angeeignet hatte, rundeten seine preussische Eigenart etwas ab, verliehen aber seiner Berliner Schnauze noch besonderen Biss: Was nicht seinen Vorstellungen entsprach, kritisierte er mit beissender Schärfe. Der andere meiner besten Freunde war der Neuenburger Reto Grass. Warum dieser den Servicekurs absolvierte, hatte ich nie verstanden. Er war nämlich schon Maître de carré im Palace in St. Moritz, bevor er in die Hotelfachschule eintrat. Ein sympathischer Kerl, dem das Lachen immer zuvorderst stand, mit jener Leichtigkeit des Seins, welche die Welschen uns Deutschschweizern voraus haben. Wir drei trafen uns immer wieder an solchen „Extras“, wie der Bankett-Dienst genannt wurde.
 
Nicht nur der guten Bezahlung wegen waren diese privaten Anlässe für uns interessant. Wir kamen dadurch mit bemerkenswerten Menschen in Kontakt, zumeist in aussergewöhnlichem Ambiente. Mit der spanischen Königin, welche im Royal Savoy residierte und an allen gesellschaftlich relevanten Empfängen und Dîners zugegen war. Mit einem russischen Knias, einem Fürsten. Dieser lud seinen ergebenen Gästekreis in sein acht Zimmer Penthouse mit riesiger Terrasse. Obschon akzentfrei im Französischen - wie wir an seinen wiederholten Klagen über den (in seinen eigenen Kühlschränken) ungenügend gekühlten Champagner feststellen konnten - wandte er sich in keinem Moment direkt an uns. Nur und ausschliesslich auf russisch erteilte er Anordnungen seiner Hausdame, welche zu übersetzen hatte. Die Etikette verlangte, dass wir uns ebenfalls an sie wendeten und den Fürsten nicht direkt ansprachen. Der Service einer jüdischen Verlobung hatte mich ebenfalls in unbekannte Sphären entführt und bezaubert, auch wenn mich dort die ungewohnte Atmosphäre trotz der Fröhlichkeit recht intensiv forderte.
 
Und so weiter: Im Hause eines bedeutenden Botschafters, Nachfahre eines berühmten Schweizer Malers, welchen die spanische Königin immer wieder mit ihrer Anwesenheit beehrte. Im Anwesen eines Privat-Banquiers servierten wir in einer Kapelle des XV. Jh den Orden der Malteser Ritter, etwa zwanzig an der Zahl, bei denen der Gastgeber eine ranghohe Funktion ausübte. Die ausgesuchten Speisen des Privatkochs wurden auf dreihundertjährigen Fayence-Tellern präsentiert, so kostbar, dass die Dame des Hauses sie mit uns von Hand spülte.
 
Monsieur Tuor war immer auch für eine ordentliche Verpflegung seiner Brigaden nach solchen Anlässen besorgt. So etwa an einer Hochzeitsfeier in einem Schloss oberhalb von Vevey. Dieselben kalten Platten waren für uns étudiants vorgesehen, mit köstlichem Jambon à l'Os, pâté au foie gras und weiteren Leckerbissen, begossen von Champagne Mumm in Magnum Flaschen.
 
Obschon grosszügig verabreicht, hielten es jene zwei unserer Mitstudenten, die mit ihren privaten Sportwagen angereist waren für passend, ihren Kofferraum mit ein paar der verbliebenen Flaschen zu füllen. Immer würde ich nach einem Bankett sowohl die leeren wie die restlichen vollen Flaschen vor mir haben wollen, deren Total sich mit der Anzahl der zur Verfügung stehenden zu decken hat. Das war die kostbare Lehre, die ich aus dieser Begebenheit zog.
 
Die Weihe unserer Bankett-Karriere war das Dîner diplomatique in Bern. Der Anlass, zu welchem der schweizerische Bundesrat das gesamte diplomatische Corps ins Bellevue Palace einlädt. Man servierte in weissen Handschuhen, à la française. Dazu präsentiert man die Platte auf der linken Hand dem Gast von links, und zwar so, dass sich dieser  mühelos davon bedienen kann. Der rechte Arm bleibt locker hinter dem eigenen Rücken gebeugt.
 
Die Platten, auf welcher immer 10 Portionen angerichtet waren,  wogen schwer, die Gäste bedienten sich gemütlich. Vom Gewicht und der eher ungewohnten Haltung wegen begann der Arm von einem von uns dermassen zu zittern, dass die Saucière, die sich ebenfalls auf dem torpilleur befand, gefährlich nah an einem ambassadorischen Decolleté zum überschwappen kam. Hony soit qui mal y pense, die Sache regelte sich in diplomatischem Schweigen.
 
Zum Examen des Serivcekurses kamen die Experten angereist, Hôteliers, Küchenchefs. Ein Treffen von Honoratioren. Ich hörte, wie Monsieur Tuor und Monsieur Maire, der liebenswürdige Küchenchef des Kulm Hotels in St. Moritz mit einem Blick auf mich zueinander sagten: „der wird das Rennen schon machen. Aus dem wird mal was.“ Die Anerkennung der beiden von mir hochgeschätzten Fachleute freute mich noch mehr als die mention bien, mit welcher ich den Servicekurs abschloss.
 
Die Hotelfachschule Lausanne ist ursprünglich das Werk des Schweizer Hotelier-Vereins. Um die Saisonhotellerie zu unterstützen, wurden die Sommerkurse nicht zuletzt deshalb so angelegt, dass wir während unseren Ferien von Ende Juni bis anfangs September und nach Beendigung des Kurses im November, die Wintersaison für den obligatorischen Stage nutzen konnten. Ich verabschiedete mich von meiner bezaubernden Birgitta aus Dänemark, mit welcher die Freundschaft, die Liebe so federleicht war, dass sie mir unwirklich schien. Schweren Herzens erklärte ich ihr, dass ich mich für eine ernsthafte Verbindung noch nicht reif fühle. Weder war mir darum, noch hätte ich mir vorstellen können, dass ich wenige Monate später meiner Frau begegnen würde.
 
Ich kehrte ins Suvretta-House zurück, um dieses prachtvolle und erhabene Hotel auch vor der Kulisse kennen zu lernen. Als Stagiaires waren wir dank unserer theoretischen und praktischen Ausbildung in allen Häusern willkommen. Im Suvretta war meine Erfahrung von drei Saisons in der Küche von Vorteil.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Stagiaire de salle
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18.  Stagiaire de salle
Sie war die Leichtigkeit des Seins, diese Zeit: Der Gästekontakt hatte mich seit jeher fasziniert. Die Uniform, schwarze, peinlich genau gebügelte Hosen, schwarze Socken & glänzende Schuhe, täglich ein frisches, weisses Hemd mit schwarzer Fliege zur täglich frischen weissen Weste. Umher schweben in den beeindruckenden öffentlichen Räumlichkeiten des Suvretta-House!
 
So gerne ich Koch gewesen war, so sehr ich dieses Metier geliebt hatte: Der Service im Restaurant, in der Halle zum Tee, an der Bar zu Aperitif und after dinner drink, ja selbst in den Zimmern empfand ich sehr viel müheloser als Berechnung und Bereitstellung der mise-en-place in der Küche, Zubereitung der einzelnen Speisen am heissen Herd und die Nervosität in der Küche während dem Service.

Die Mentalität der – zumeist italienischen – Kellner empfand ich offener, als jene der oft in sich gekehrten Köche. Die meisten von ihnen scheuten den Gästekontakt, dem sie etwa hinter dem kalten Buffet oder am Tranchierwagen ausgesetzt waren.

Andrerseits setzte sich diese Leichtigkeit nicht so tief in meiner Erinnerung fest. Was bleibt davon? Etwa das überraschend bestimmte Auftreten des premier maître d'hotel, das an Grobheit grenzte, wenn er sich denn nicht gerade wieder ein neues Opfer unter den jungen commis de salle aussuchte, das seiner Neigung entsprach. Er hatte sich in seiner Position durchgesetzt, weil sein Gegenspieler nur im Winter fürs Suvretta verfügbar war. Den Sommer über war Signor Prina primo maître in der Villa d'Este am Lago di Como. Dieser Maître, nunmehr Oberkellner im Suvretta-Grill, der im Sommer geschlossen war, bestach mit vornehmer Eleganz und war ein Mensch von ausgesuchter Höflichkeit. Aufmerksam, diskret, im rechten Moment augenblicklich zur Stelle – oder genau dann eben zurückhaltend, ganz wie es die Situation gebot. Er führte seine Brigade nur mit Blicken äusserst effizient.

Die fröhliche Kollegialität unter uns Kellnern, die mich offen aufnahmen, mir das Kartenspiel scoppa beibrachten! Der gemeinsame Abwasch nach der rauschenden Sylvestergala von mehreren Tausend Gläsern, wo wir alle in Gian Carlo Colombos Er' una notte, che pioveva, la montanara und in andere, eher languröse Lieder der Alpini einstimmten!

Das Schleppen der grossen, schweren Plateaux vom Office zur entfernten Halle für den Tee Service am Nachmittag! Ich erinnere mich deren Grösse, von etwa 60x100cm, ein solides, dickes, gerahmtes Holzbrett. Wenn ein solches vollgeladen war mit schweren Silberkrüglein mit Tee, Kaffee, Schokolade und den Tassen, damals noch aus dickem Porzellan, war das schon ein rechtes Gewicht, das wir den sicher 150 m langen Korridor entlang schleppen mussten. Doch die behagliche Atmosphäre in der Halle, mit Klavierspiel und alle Gäste im traulichen Geplauder, gefielen mir dermassen, dass ich die Mühe gar nicht verspürte. Danach hatte ich eine Stunde Zeit um mich zu erfrischen und zu Abend zu essen, bis zum Aperitiv-Service. Wie die Gäste zahlreich in die kleine Carousel-Bar geradezu drängten, um bei Aperitif oder after-dinner drink verzückt dem virtuosen Geiger Eugène Thiel zu lauschen!

Meine Kollegen waren ein bis zwei Mal die Woche zum Tee in der Halle und zum Aperoservice an der Bar eingeteilt. Ich jeden zweiten Tag! Mir bereitete das dermassen Spass, dass ich diesen strengen Rhythmus als ebenso willkommenes wie notwendiges Training empfand, um vertraut werden mit den Eigenarten der Bedienung. Dies auch, wenn mir der Barman Sergio einmal lachend sagte: „Rossier mag die Stagiaires nicht. Er will dir mit dieser strengen Einteilung die Eier schleifen!“

Die Gäste! Zu jener Zeit legte man auf Eleganz ganz besonderen Wert: die Herren gelangten ohne dunklen Anzug – vorzugsweise Smoking – nicht ins Grand Restaurant. Die Damen trugen lang, jeden Abend anders. Wechselten vielleicht einmal mit einem Cocktailkleid, das die Direktion gerade noch tolerierte. Eine Frau im Hosendress? Undenkbar! Ein Anathema! Ein späterer Direktor des Suvretta, welcher einen jüdischen Gast bat, auf seine Kippa zum Dinner im Grand Restaurant doch zu verzichten, wurde ordentlich durch die entsprechende Presse gezerrt.

All das mag heute als Tenue-Terror erscheinen. Tatsache aber ist, dass Räumlichkeiten von der Art eines Suvretta, eines Kronenhof in Pontresina ohne eine gewisse Förmlichkeit in Kleidung der Gäste nicht zu ihrer Geltung kommen. Und vor allen Dingen: die Gäste selbst bringen sich um die Möglichkeit brillant aufzutreten, ihre erlesene Garderobe, ihren Schmuck zur Geltung zu bringen. Ereignisse, die in ihrer Festlichkeit ohnehin immer seltener geworden sind.  Ob das nun jeden Abend eines Aufenthaltes zu geschehen habe, bleibe dahin gestellt.

Der Kontakt zu den Gästen war zum allergrössten Teil angenehm. Es gab Ausnahmen, klar. Wie etwa ein gewisser Herr Landau der, vertieft ins Décollté seiner Dame, mir mit Fuss ans Bein zu verstehen gab, dass der Syphon in seinem Campari genüge. Oder der Wattefabrikant, der mich geradezu anklagend und gehässig anblickte, weil er mir auf den Fuss getreten war. Doch auch das war lehrreich für mich. Wenn ich mir später als Direktor ein Bild über einen bestimmten Gast machen wollte, war dessen Umgang mit untergeordneten Mitarbeitern aufschlussreich.

Gerne erinnere ich mich an jenen mit Mr. Philips, der mich ermunterte. An Dr. Laval der wohlwollend meinen sympathischen Kontakt zu seiner zauberhaften Enkelin überwachte. Julian Huxley, der mich auf die Bücher seines Bruders Aldous aufmerksam machte und viele weitere.

Die bedeutendsten Gäste wurden ausschliesslich von den Oberkellnern umsorgt, wir dienten lediglich zu. So etwa ein Waffenfabrikant, dessen Rechnung zur Halbzeit der Saison – er beehrte das Suvretta fast den ganzen Winter über – damals unvorstellbare einhundertsechzig tausend Franken betrug.

Ganz klar. Das war die Welt, in der ich leben, in der ich mich bewegen wollte!
 
 
 
 
Als Kellner in Florenz
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19.  Als Kellner in Florenz
Im Umgang mit meinen Kollegen und vor allem in jenem mit der italienischen Kundschaft merkte ich im Laufe der Saison, dass meine Italienischkenntnisse noch nicht im Verhältnis zu all dem Geld standen, das ich in Perugia verbraucht hatte. Warum nicht einen Sommer in Italien arbeiten?

Ich war erfreut, dass meine Bewerbungen sofort auf Zustimmung stiessen: Das Hassler in Rom, wohin ich aufgrund seiner Bekanntheit am liebsten gegangen wäre, sagte mir allerdings zwei Tage danach gleich wieder ab. Aber das Excelsior in Florenz war mir auch recht. Pierre Barrelet der freundliche, etwas trockene Vizedirektor des Suvretta, arbeitete in früheren Jahren den Sommer über als Empfangschef dort, als man sich aufgrund des kurzen und schwachen Engadiner Sommers seinen Posten nur den Winter über leistete. Möglich, dass die Verbindung der beiden Häuser für meine Bewerbung nützlich war. Ich jedenfalls ging dorthin im Bewusstsein, aus einem der besten Hotels der Schweiz zu kommen. Und dass wir Schweizer in diesem Fach eh Weltmeister wären.

Der Papierkram mit der Arbeitsbewilligung erledigte sich erstaunlich schnell. Die Anmeldung bei der Prefettura war für mich ebenso überraschend wie überwältigend: Nach Erledigung der Formalitäten erhob sich der Beamte, gab mir die Hand mit dem Wunsch, dass es mir hier in Italien gefallen möge. Ein grundlegender Unterschied zur Schweiz im Umgang mit einem „Fremdarbeiter!“ So hiessen damals in der Schweiz die Saisonarbeitskräfte aus Italien und anderswo.

Das Excelsior, früher im Besitze der Schweizer Hoteliersfamilie Kraft, wie auch das gegenüberliegende Grand Hotel, gehörten beide seit mehreren Jahren zur CIGA, der Compagnia Italiana dei Grandi Alberghi. Schon damals, 1963, logierte das Excelsior seine Mitarbeiter in einem separaten Gebäude, in klimatisierten Zweierzimmern mit eigener Dusche, 2 Lavabos und WC. Welch ein Unterschied zu den damals renovationsbedürftigen Mehrbettzimmern, an die ich mich in unsere Spitzenhäuser gewohnt hatten!

Zum ersten Mal sah ich hier ein getrenntes Mitarbeiter-Restaurant, wie sie erst 20 Jahre später in der Schweizer Grosshotellerie üblich wurden. Auch in der Schweiz wurde fürs „Personal“, wie Mitarbeiter damals noch hiessen, ordentlich gekocht. Der Plattenservice aber, auf dem geliefert wurde, war nicht mehr heiss, wenn man nicht genau pünktlich am Tisch war und oft waren diese bereits leergefegt, vor allem wenn es etwas besonders Schmackhaftes gab. Im Excelsior stellte sich Direttor dott. Scialanga ein bis zweimal im Monat in die Warteschlange der Angestellten und verkostete alles, was diesen angeboten wurde. Er hatte auch verfügt, dass es einige wenige Ausweichmöglichkeiten gab, wenn jemandem das Menu nicht zusagen sollte.

Allerdings war mir nicht ganz klar, wie ich mit dem vertraglich festgelegten Grundlohn über die Runden kommen würde: dieser erlaubte gerademal ein Überleben, keinesfalls das Leben, wie ich es mir als junger Mann wünschte. Darüber hinaus war irgend etwas von einem Punkteanteil geschrieben, unter dem ich mir nichts konkretes vorstellen konnte. In der Tat stellte diese Methode nicht nur das gerechteste, sondern auch das intelligenteste Lohnsystem dar, welches ich je erlebt habe. Sämtliche Mitarbeiter waren diesem unterstellt, ausser dem Direktor. Jede Funktion hatte einen Grundlohn, der festgelegt wurde aufgrund von
  • Anspruch der Funktion

  • Ausbildungsgrad

  • zusätzliche Anforderungen wie Sprachkenntnisse

  • Möglicherweise spielten auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit eine Rolle

Das Total dieser Grundlöhne stand den Einnahmen von 18% Servicepauschale gegenüber. Ein Teil von letzterem wurde dem Aufwand für den Grundlohn gutgeschrieben, der Rest entsprechend dem funktionsabhängigen Punktesystem verteilt. Im April arbeitete ich für den Grundlohn. Ab Mai überstieg meine Entlohnung den Grundlohn etwa ein bis drei mal.

Im Restaurant zahlte jeder Kellner und Oberkellner seine Trinkgelder in einen „Tronc“ ein, der ebenfalls entsprechend der Punkte (Funktion x Anwesenheits-tage) ausbezahlt wurde als Tipp, frei von Abgaben und Steuern. Die elegante italienische Kundschaft neigte zum over-tipp. So einträglich dieser war, mit der Zeit merkte ich, dass die Grosszügigkeit weniger Anerkennung für einen gediegenen Service war, als viel mehr monetäre Betonung des Klassenunterschieds. 

Das erlaubte mir ein grosszügiges Leben, mit Mietauto wann immer ich frei hatte, Besuche in den angesagten Restaurants von Florenz und Umgebung, Ausflüge ans Meer, nach Tirrenia.
Mein Frühstück nahm ich gerne an der kleinen Bar, die gleich beim Personalhaus von einer Familie betrieben wurde: Vater, Mutter, Sohn und Tochter Cynzia. Un cappuccino, una brioche o un mini panettone.Die Brioches waren ofenfrisch, entweder mit Konfitüre oder mit crema, Vanille-creme gefüllt. Die Familie mochte mich und Cynzia war ein intelligentes, sympathisches Mädchen. Ich war nicht verliebt in sie, doch hätte ich sie gerne einmal nach Tirrenia für einen Tag am Meer mitgenommen. Sie lächelte bei meiner Einladung und sagte nichts. Als mir am nächsten Tag die Mutter meinen Cappuccino reichte, erklärte sie mir: „Ich weiss, Giorgio, bei euch sind solche Einladungen üblich. Wir aber sind eine traditionelle Familie. Wenn wir Cynzia erlauben würden, dich zu begleiten, nähme ihr Ruf Schaden. Das können und wollen wir nicht zulassen. Das sind eben unsere Sitten hier, in Italien.“ Es tat der Herzlichkeit unserer Beziehung weder mit Cynzia, noch mit der Familie keinen Abbruch. Als ich Jahre danach wieder nach Florenz kam und nach der Bar schauen wollte, möglicherweise auch nach der Familie, existierte sie nicht mehr.

Signor Corvaroli, der erste Maître empfing mich ausserordentlich freundlich. Er erklärte mir, welches Ideal er mit seiner Brigade verfolge. Jedem einzelnen, der im Dienst war, stellte er mich persönlich vor. Wir waren an die sechzehn im Restaurantservice. Er erklärte mir die einzelnen Schichten der Stundenpläne, die Einteilung der Freitage und insistierte nochmals, worauf er besonderen Wert lege: nebst den Grundtugenden und das fachliche Können auf Zusammenarbeit im Team und Zuvorkommenheit Gästen wie Mitarbeitern gegenüber. Ich darf sagen, überall freundlich empfangen worden zu sein. Signor Corvaroli überbot selbst Monsieur Cruchon im Plaza Athénée. Er war ein wahrer Signore, der den Titel Maître zu Recht trug. Wenn er etwas zu beanstanden hatte, bat er den Betroffenen, nach dem Service doch kurz noch in sein Büro zu kommen. Dort erklärte er ihm sachlich und freundlich seinen Einwand. Ich erinnere mich nicht, das dieser Gran Signore irgend einen von uns ein zweites Mal für einen gleichen Grund zu sich hätte rufen müssen.

Ich fühlte mich dort ausserordentlich wohl. Zu jener Zeit war im Frühling und Herbst ein kultiviertes Publikum im Excelsior zu Gast, um in drei bis zehn Tagen die Schönheiten von Stadt und Umgebung zu entdecken, Konzerte, Opern zu besuchen, die in zauberhaften Orten dargeboten wurden: in die Giardini Boboli des Palazzo Pitti, oder im Kreuzweg von Santa Croce, die Aufführungen im Teatro del Maggio Musicale di Firenze. Selbstverständlich suchten diese Gäste all die berühmten Museen auf. Damals hatte man noch freien Zugang, musste sich nicht wie heute in langen Schlangen die Füsse in den Bauch stemmen, bis man endlich den Eingang erreicht und dann von Bild zu Skulptur geschoben wird.

Juli und August, wenn diese Kundschaft die trockene Hitze der Stadt mied, kompensierten diese amerikanische Gruppen auf Durchreise, ihrem Grand Tour. Das war zuweilen recht lustig, denn hie und da führten wir  junge Amerikanerinnen nach dem Dinner in eines der damals zahlreichen Dancings des Lungarno, entlang dem Ufer des Arno. Es war durchaus üblich, uns hie und da um die Töchter der Gäste zu kümmern. Angemessene Diskretion vorausgesetzt, hatte niemand von der Hotelleitung daran etwas dagegen einzuwenden.

Einmal allerdings übertrieb es einer der maîtres de rang gewaltig. Um die vierzig, graumelierte Haare, gut gebaut, charmant, humorvoll, hofften alle alleinstehenden Damen auf einen Tisch in seinem Rang. Jeden Herbst kamen die amerikanischen Buyers, die Einkäufer grosser Mode- und eleganter Warenhäuser, um sich die Kollektionen für das nächste Jahr zu sichern. Die Shows von Modeschöpfern wie Emilio Pucci und andern waren gesellschaftliche Ereignisse. An der Ledermesse offenbarten Taschen- und Schuhcreateure wie Ferragamo, Gucci und weitere Berühmtheiten ihre Werke.

Die Einkäufer waren zumeist weiblich, selbstbewusste, schicke Damen um die vierzig, mit denen wir uns beim Service auf Englisch unterhielten. Damals sprachen nur ganz wenige Amerikaner italienisch, was hin und wieder zu Vorwitzigkeiten verleitete. „ Allora, Signorina mia, come la mettiamo oggi, alla pecorina? Nun, mein Fräulein, wie nehmen wir sie denn heute, von hinten?“ Fragte unser Don Giovanni vom Dienst mit maliziösem Lächeln, während er einer ebensolchen Einkäuferin die Dinnerkarte präsentierte. Sie guckte ihm direkt in die Augen, meinte schlagfertig, mit breitesten amerikanischen Akzent: „Questo lo vediamo dopo, intanto mi dia da mangiare. Das werden wir nachher sehen. Bringen Sie mir schon mal was zum essen“. Sie gab ihre Bestellung auf, verzog keine Mine. Der maître war für den Rest des Abends nicht mehr zu sehen, hastig hatte er seinen Dienst einem Kollegen übertragen und bei Maître Corvaroli für die kommenden Tage Urlaub beantragt wegen eines plötzlichen Todesfalls in der Familie, den er eben erfahren hätte. Die Signorina mia aber unterrichtete die Direktion noch gleichenabends über Sitten und Gebräuche im Restaurant des Hauses, „deren Spontanität sie doch etwas überrascht hätte.“

Am folgenden Tag beorderte Signor Corvaroli die gesamte Brigade, ausnahmslos alle, auch jene die für diesen Tag frei hatten, zur Philippika. Er hiess uns in zwei Gliedern anzutreten. Auch da, war Maître Corvaroli gran Signore. Er erläuterte das Vorgefallene detailliert ohne den Schuldigen zu nennen, legte den moralischen Schaden fürs Haus und den möglichen finanziellen dar, sollte die Episode unter den Buyers die Runde machen. Ein erneutes Vorkommnis dieser Art würde die fristlose Entlassung zur Folge haben, wen immer es treffe. Wir wussten natürlich alle, wer gemeint war. Diesem wurde die „Trauerzeit“ auf die gesamte Dauer der Messe verlängert – unbezahlt und ohne Tronc-Anteil für diese Tage. Damit hatte es sich. Wie nach einer Maiandacht, ging jeder von uns in sich gekehrt seinen Obliegenheiten nach. Zumindest während meinem Sommer als Kellner, wurden im Excelsior keine weiteren solche Vorkommnisse beobachtet.

Besonders schön waren Anlässe auf dem Dachgarten des Excelsiors. Nicht nur genossen die Besucher die Sicht dem Arno entlang, über die Stadt hinauf nach Fiesole. Einer der Chefs de rang, Signor Pesenti, hatte ein aussergewöhnliches Geschick, Blumen zu arrangieren. Seine Gestecke waren grossartig. Tische bekränzte er, wie er es auf den Renaissance Gemälden gesehen hatte! Welch eine brillante Festlichkeit dieser Kollege damit zu schaffen verstand; Kunststück, dass an solchen Abenden auf der Terrasse immer Lebensfreude herrschte!

Hoher Besuch war angesagt für die kommende Woche: Monsieur Georges Marin, directeur général de l'hôtel Plaza Athénée de Paris et sa dame. Am dritten Tag nach seiner Ankunft arrangierte ich, ihn bedienen zu dürfen. Ich hätte vor zwei Jahren eine Saison in der Küchenbrigade von Monsieur Monier gearbeitet. Es hätte mir so gefallen, dass ich ihm das schriftlich verdankt hätte. Ob er sich daran erinnern würde? Bien sûr, sicher erinnere er sich. Solche Briefe bekäme man nicht oft. Und was machen Sie hier, welches sind Ihre Pläne? Ach so, zurück an die Hotelfachschule? Möchten Sie etwa Ihren Stage am Empfang des Plaza absolvieren? Freudig sagte ich zu. Direttor Scialanga des Excelsiors hatte davon gehört und meinte später nach Monsieur Marins Abreise: „sollte es nicht klappen in Paris, kommen Sie doch zu uns an die Reception. Sie werden uns willkommen sein.“

Etwa zwei Wochen danach hatte Margot Hauser ihren Besuch in Florenz angesagt. Mit ihr hatte ich die erste bis dritte Klasse besucht und die ersten zwei Jahre Sekundarschule. Mit zwei Freundinnen verbrachte sie während einer Reise durch Italien ein paar Tage in der Stadt. Im vergangenen November war sie nach zwei Jahren in Amerika  zurück gekehrt. Wir hatten uns zufällig auf dem Paradeplatz angetroffen. Leider fand sie keine Zeit für einen Schwatz und Kaffee, da sie gerade einen Vorstellungstermin hätte. Nachdem ich mich weder nach ihrer Adresse noch nach ihrer Telefonnummer erkundigt hatte, glaubte sie nicht, dass ich mich wie angekündigt melden würde. Umso überraschter war sie, als ich sie an einem Morgen gegen neun Uhr anrief und sie zum Frühstück im Kaffee zum "Grünen Heinrich" einlud. Ich kam eben vom Zahnarzt. Sie hatte das recht originell gefunden, es gab ein sehr langes Frühstück, das seine Fortsetzung auf den Weinschiffen fand, die damals erstmalig diesen Anlass durchführten.

Den Winter, während dem ich wie beschrieben im Suvretta arbeitete, begleitete ein mehr oder minder verliebter Briefwechsel, ein paar Telefonate. Ja, sie gefiel mir. Ihre schlanke Silhouette, ihre feinen Gesichtszüge, sie war bereist, sprachlich gewandt und ihre neue Tätigkeit als Werbeassistentin, damals ein ganz neuer Berufszweig, erhöhte ihre Attraktivität für mich enorm.

Ach so, du besuchst nächstes Jahr das Eurocentro hier in Florenz? Ist ja toll. Ich werde meinen Receptionsstage hier im Excelsior absolvieren! Vergessen war Paris, aus dem Kopf Monsieur Marin, der mir doch in Paris die Türen offen hielt. Und ich freute mich auf den Administrationskurs an der Hotelfachschule Lausanne.
 
 
Administrationskurs an der Hotelfachschule Lausanne
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20.  Administrationskurs an der Hotelfachschule Lausanne
Dieser Kurs war in jeder Hinsicht anspruchsvoller als der Servicekurs. Zum einen fand er im Winter statt, und der ist in Lausanne gerne trüb und neblig. Im Wesentlichen aber startete ich mit einem Handicap gegenüber jenen Mitstudenten, die ihre Ausbildung nicht mit einer Koch- oder Servicelehre, sondern mit einer Handelsschule oder kaufmännischer Ausbildung begonnen hatten. Da konnte ich lange mit Sprachen, Korrespondenz und    -mehr oder weniger – in Geographie punkten. Das zählte gerade mal soviel wie Zeichnen, Singen und Turnen in der Sekundarschule.

Im Vergleich zu heute steckte Marketing damals noch in den Kinderschuhen. Die Organisation von Rezeption und Conciergerie war eher einfach. Besonderen Wert wurde dabei auf die Kontrolle gelegt: Restaurant Inkasso mit handschriftlichen Bons oder mit Registrierkasse; auf die Überprüfung, ob auch alles auf den Gästerechnungen ordnungsgemäss verbucht wurde, sei es im Übertrags-, Durchschreibeverfahren, mit der NCR 42 und ihrem Nachfolgemodell. Diese beiden Maschinen waren im Vergleich zu den Kosten heutiger  digitalisierter Managementsysteme, die viel mehr erlauben als nur die Buchführung, unverhältnismässig teurer und deshalb noch nicht allgemein gängig in den Hotels. Lediglich die progressiv geführten hatten eine solche. Zumeist jene, in welchen die Führung, sei es Besitzer oder Direktor, aus dem kaufmännischen Sektor hervor gegangen war.

Dann führte man uns in die Buchhaltung ein, unterteilt in Kassabuch, Gästebuchhaltung, Debitoren/Kreditoren, Lagerbuchhaltung,  kurz ins amerikanische System, doch hauptsächlich zählte die doppelte. Alles gipfelte im Betriebs-Abrechnungsbogen. Mit solchem lassen sich Gewinn und Kosten den einzelnen Abteilungen zuweisen. Vernünftig für Stadt- und Ganzjahresbetriebe mit diversen Bars, Restaurants usw., welche auch von aussen besucht werden. Für Resort- und Ferienhotels eher theoretisch: Wenn die Zimmer gut belegt sind, arbeiten auch alle anderen Abteilungen gewinnbringend. Andernfalls herrscht Ebbe überall, BAB hin oder her. Bilanz-Analysen und Statistik waren ebenfalls von grosser Bedeutung. Unsere administrative Ausbildung war eine sehr umfassende. Das Problem war eher, dass bis zur Anwendung dieser Kenntnisse (zu)viele Jahre vergingen für jene, welche die klassische Karriere mit möglichst all ihren Sparten durchlaufen wollten.

Ach wie gut, dass ich da wieder auf meinen Kollegen und Bankett-Compagnon aus dem Servicekurs Heinz Roger traf! Wir hatten beide ein halbes Jahr übersprungen. Heinz um etwas Geld zu verdienen und ich des Italienischen wegen. Heinz hatte das Baccalauréat der französischen Schule in Berlin, glänzte mit Wissen, Strebsamkeit und vor allem, mit Intelligenz. Er schloss denn auch als Bester über alle drei Kurse ab. Damit gewann er ein Stipendium für einen Sommerkurs an der Cornell University. Darüber verfügte er damals und auch heute noch über ein phänomenales Gedächtnis. Das kam mir sehr zu statten. Eher introvertiert sah er in mir sein Fenster nach aussen. Vielleicht war es deshalb, dass er mir immer treffend und geduldig all jene Aufgaben erklärte, denen ich während den Lektionen nicht immer ganz zu folgen vermochte.

Das war umso angenehmer, als er mir diese Nachhilfestunden immer bei sich zu Hause erteilte, wozu seine Frau den Tee zubereitete und mit uns nahm. Heinz war einer der  wenigen, die bereits fest liiert waren: mit seiner schönen und charmanten Margot, ihres Zeichens Coiffeuse. Sie empfing uns in selbstgehäkelten Kleidern, die ihre makellose Silhouette erst recht zur Geltung brachte. Mit Schmunzeln erinnere ich mich daran. Allerdings vermag ich heute nicht mehr zu sagen, wie das auf meine eh schon schwache Konzentrationsfähigkeit wirkte.

Unser Hauptlehrer hiess Monsieur Barraud. Ein gebildeter, intelligenter Lehrer, der  sein Wohlwollen für jene Studenten hinter fröhlichem Spott verbarg, die mit seinen Fächern Mühe bekundeten  und sich deshalb umso mehr anstrengen mussten . Einmal  verblüffte er uns mit einer ganzen Serie von Söhnen berühmter Eltern, die ebenfalls hier die Bänke abgenutzt hatten. „Und, war der Sohn von Professor Nordhoff, dem Vater des VW, ebenso brillant wie sein Vater,“ fragte eine unserer Kommilitoninnen. Monsieur Barraud stützte seine Ellbogen auf das Pult, spreizte die Finger seiner gefalteten Hände und guckte lächelnd in die Runde: „Il faut croire que non; la preuve, il était ici...“ Das ist nicht anzunehmen. Der Beweis, er war hier...

Zweifelsohne mochte er uns. Er machte sich gleichzeitig etwas lustig über die Mühe, die viele von uns hatten mit seinem Stoff, den er als wirklich einfach betrachtete. Viele Studenten halfen weniger Begabten, so auch eine reizende Pariserin ihrem korsischen Freund. Sie half ihm so gut, dass dieser sie bei einer eher schwierigen Prüfung mit einer Glanznote übertraf: „Ah, voici que l'élève a dépassé la maîtresse, c'est le cas de le dire“ frotzelte Barraud beim Kommentieren der Noten vor der ganzen Klasse.

Anderssprachige bekundeten Mühe mit dem cours de droit, dem Kurs über das schweizerische Familien- und Obligationenrecht. „Les élèves qui auraient trop de peine avec le français, n'ont qu'à s'en aller et revenir quand il l'auront appris – Nun, die Schüler, denen das Französische zu grosse Mühe bereitet, sollen eben gehen und dann wieder kommen, wenn sie es erlernt haben werden.“ Das war Monsieur Barrauds erbarmungsloser Kommentar auf die achs und wehs unserer deutschen, dänischen und spanischen Kommilitonen. Heinz und ich halfen zwei sehr charmanten Hamburgerinnen mit grossem Vergnügen. Beide aber waren wir gefühlsmässig zu gefangen, um diese netten Verbindungen weiter zu pflegen.

Viele nützten die Wochenende im Winter zum Skilaufen. Ich nicht. Zum einen hatte ich oft zu repetieren. Zum anderen war mir der Aufwand zu gross und zu teuer. Ich würde wieder in Wintersportorten arbeiten und es dann wieder die ganze Saison durch geniessen. Ich nutzte deshalb meine Freizeit für Kino- und sonstige Stadtbesuche.

Zwei Restaurants waren fixe Orientierungspunkte von uns Studenten: Chez Max, eher eine Pinte als ein Restaurant. Max hatte die besten Weine des ganzen Lavaux und auch von La Côte im Offen-Ausschank. Dazu wurde Deftiges serviert, etwa die Boutefas, die üppigere Schwester des Saucisson vaudois, diverse Käse und vor allem der Vacherin Mont d'Or. Er war damals umso gesuchter, obschon er noch nicht so allgemein bekannt war wie heute, wo man ihn fast in jedem Supermarkt angeboten bekommt. Es herrschte immer eine fröhliche, etwas laute Atmosphäre dort. Das Restaurant Mont d'Or, etwas weiter entfernt, war trotz seines französischen Namens eher der Treffpunkt der Deutschschweizer, die sich dort namentlich am Sonntagabend zum vorzüglichen jambon à l'os et gratin savoyard trafen.

Ansonsten freute ich mich auf meinen Réceptionsstage im Excelsior in Florenz, Den Vertrag erhielt ich anfangs Februar, die Schule willigte ein, diesen im Ausland zu tätigen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Stagiaire am Empfang des Hotel Excelsior, Florenz
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21.  Stagiaire am Empfang des Hotel Excelsior, Florenz
Die Anreise war sympathisch, der Wiedereintritt einfach, denn viele Mitarbeiter im Hause kannte ich vom Vorjahr. Nur schade, dass Dott Scialanga, der Direktor vom vergangenen Jahr, ins Excelsior nach Rom befördert worden war.
 
Beim Betreten der weiten, neoklassizistischen Halle mit ihren korinthischen Säulen, überdacht von Glasmosaiken, fand man links den  banco del ricevimento, gegenüber davon die portineria. Signor Tomba hiess der diskrete, ausgesucht höfliche Chef-Concierge. Er gehörte selbstverständlich den clés d'or an. Dank dieser internationalen Vereinigung, die in Zeiten vor dem Internet wie eine Geheimbruderschaft anmutete, war ihren Mitgliedern das Wort „unmöglich“ unbekannt. Selbstverständlich in der eigenen Stadt, aber auch an der nächsten oder übernächsten Destination der geschätzten Gäste, und wäre diese am Ende der Welt. Dank ihren Verbindungen war es für die clés d'or nie ein Problem, allerbeste Theater-, Konzertplätze, Schlafwagencoupés auch in hoffnungslosen Fällen, Sitze auf ausgebuchten Flügen, vorzugsweise 1. Klasse, zu sichern. Sie bekamen für ihre Gäste Tische in den angesagtesten und ständig ausgebuchten Restaurants, ebenso kompetente wie charmante Führer und Begleiter für Museen, auf Stadt- und Umgebungstouren. Dazu kam die routinemässige Bestätigung von Flügen,  Empfehlungen der besten Geschäfte in der Stadt, berühmter Modehäuser, Schneider und vieles mehr. Wir beobachteten auch einmal, wie Signor Tomba einen neuen Ferrari für einen Gast vor dem Eingang bereitstellen liess. Das alles ergab regelmässige Kommissionen. Dazu kamen generöse Trinkgelder der Gäste, die, entzückt von der bevorzugten Behandlung die ihnen von den Geschäftsinhabern dank der  Beziehung des Signor Tomba persönlich zuteil wurden.
 
Signor Tomba assistierte ein zweiter Concierge. Die beiden waren umgeben von einem Schwarm von Gehilfen, den portieri und den beiden doormen. Letztere waren fürs Parkieren der Gästeautos in den allzeit überfüllten Parkplätzen vor dem Haus auf der Piazza Ognissanti verantwortlich, wie auch fürs zeitgerechte Herfahren der Wagen an den Hoteleingang. Keine leichte Aufgabe im damals chaotischen Verkehr von Florenz, welcher namentlich Ausländer völlig überforderte, dafür aber die Funktion umso einträglicher machte. 

Die portieri kümmerten sich um den Gepäcktransport zu und von den Zimmern, ebenfalls lohnend bei Privatgästen, auch wenn die Position wesentlich weniger einträglich war als jene der doormen. In jenen Zeiten war es undenkbar, sein Gepäck und wenn es auch nur ein kleiner Koffer war, selbst zum oder vom Zimmer runter zu tragen. Jemand der mit dem Koffer in der Hand das Hotel verliess gab zu erkennen, dass er aus dem Hotel rausgeschmissen worden war. Mühsam war die Arbeit der portieri bei den - damals hauptsächlich amerikanischen – Gruppen von achtzig, hundert und mehr Teilnehmern: Die Koffer der Anreisenden mussten entfernt von jenen der abreisenden Gästen platziert werden um Verwechslungen zu vermeiden. Jedem einzelnen Gepäckstück wurde die Zimmernummer mit Kreide angeschrieben. Wenn die Gäste dort ankamen, fanden sie ihr Gepäck bereits vor.

Signor Tombas Gehilfen unterstützten den Chef-Concierge in seinen mannigfaltigen Arbeiten und auch in der Plauderei mit den Gästen, weshalb auch sie eine gewisse Vertraulichkeit mit ihnen zu schaffen vermochten.

Über den Verdienst des Chef-Concierge und seinen unmittelbaren Gehilfen zirkulierten nur Vermutungen. Man munkelte damals, dass ein Chef Concierge wesentlich besser gestellt sei als der Direktor eines Hotels. Heute, in Zeiten des Internets, hat sich vieles verändert.

Der Empfangschef, il capo-ricevimento hiess Mauro Ravina und entsprach den Vorstellungen, die sich insbesondere Frauen von den Italienern machen: Er war schön. Er kleidete sich elegant. Er war sehr auf sein Äusseres bedacht. Er war eitel bis zum geht-nicht-mehr. Er wohnte ganz romantisch zuoberst in einem Wohnturm aus dem Mittelalter. Er war ein Frauenjäger, seine Erfolge trug er fast am Revers. Er war blitzschnell im Denken. Er war tüchtig, präzise, draufgängerisch Er bestand darauf, immer mit Signor Ravina angesprochen zu werden, während sich alle andern am Empfang duzten. Er hätte nett sein können. Er war im Grunde ein Ekel. Ein elegantes, amüsantes Ekel.

Sein Stellvertreter, il vice capo-ricevimento war ein bekennender Faschist mit Namen Adler. Silvio Adler. Eigentlich ein netter Kerl, halt beschränkt durch seine politische Einstellung, auch in seinen beruflichen Fähigkeiten. Namentlich in den sprachlichen. Sein flammender Nationalismus diente ihm als Entschuldigung, sich in Fremdsprachen nicht besonders anstrengen zu müssen.

Dann gab es einige segretari di ricevimento meines Alters, allesamt aus Florenz oder aus der Umgebung, sympathisch. Einer von ihnen, Sergio, spielte in einer kleinen Band. Er hegte sogar musikalische Ambitionen. Und dann gab es eben noch den aiuto-segretario di ricevimento, mich. Ich war mindestens ebenso gut im Englischen wie alle andern, besser im Französischen und im Deutschen. Nur im Italienischen haperte es noch, namentlich am Telefon, an welchem die Italiener immer so schnell reden.

Booking, Tripadvisor usw gab es damals noch nicht. Eine Reservierung erreichte uns oft brieflich, immer mehr per Telex, und namentlich die kurzfristigen, per Telefon. Einen Anrufer mit etwas ungewöhnlichem Namen hatte ich zum zweiten Mal gebeten, mir diesen doch bitte langsam zu buchstabieren. Entnervt verlangte er nach jemandem, der italienisch könne. Gut, dass Silvio neben mir stand und übernehmen konnte. Signor Ravina sah mich bedrohlich an und gab mir zu verstehen, dass so etwas nie mehr vorkommen dürfe.

Von allem Anfang an bemühte ich mich, den Akzent meiner toskanischen Kollegen zu imitieren. Das fiel mir leicht. Oft gingen wir nach dem Dienst an den sehr warmen Sommerabenden durch die Stadt, wo ganz Florenz zu flanieren schien. Hier ein Stand von cucumeri, Wassermelonen, die fortwährend aufgeschnitten und gelutscht wurden, dort eine kleine Bar mit vorzüglicher finocchiona, Salami mit Fenchelsamen durchsetzt, und porchetta, gewürztem Spanferkel. Alles wurde informell zwischen eine Tranche von focaccia oder in das toskanische, ungesalzene Brot geklemmt, schlendernd genossen und beurteilt. Wie am Arno entlang, spielten auch an einzelnen Plätzen fröhliche Amateurorchester, welche Sergio alle bestens kannte und sie kannten ihn. Welch ein sorgloses Leben! Da regierte der toskanische Akzent, aus der Coca cola wurde die Hohahola, und das piacere wurde zum piagièrè.

Mit raschen Fortschritte im Akzent beschränkte ich mich während den ersten Wochen am Telefon auf ganz kurze Aussagen: certo, volentieri, con piacere, confermato. Umso besser, wenn ich Namen und Ankunftsdatum einigermassen verstand. Wenn nicht, ignorierte ich die Reservierung und schmiss ich den Zettel weg.

Die allgemeine Verblüffung bei den namenlosen Anreisen versuchte Signor Ravina mit der Frage zu lösen: Hatte der segretario einen ausländischen Akzent? Die Gäste verneinten, noch immer verblüfft. In Zeiten freier Zimmer war das kein Problem, wohl aber bei vollem Haus. Dann zeigte sich Signor Ravina grosszügig, indem er uns herumtelefonieren liess, um in einem Hotel ähnlichen Ranges, möglichst in der Nähe, ein Zimmer zu finden. Das konnte in Zeiten wie dem Maggio Fiorentino oder der grossen Modemessen dauern, denn Zimmer waren zu solchen Zeiten rar in der ganzen Stadt. Auf jeden Fall waren die ausgelagerten Gäste hoch erfreut über unsere Dienstfertigkeit, während mich Signor Ravina mit einem vielsagenden Blick bedachte.

Wenn wir nahe an hundert prozentiger Belegung waren, lautete die Order für telefonische Anfragen: „Wir bestätigen, hier oder anderswo. Kommen Sie. Ein Zimmer finden wir auf jeden Fall für Sie“. Dank Ravinas virtuoser Beherrschung des Zimmerplannings, verzeichnete das Hotel oft eine hundert prozentigen Belegung, inklusive der hintersten und letzten Zimmer. Er sicherte sich so Goodwill bei Gästen und Interessenten des Excelsiors, Annerkennung und Wohlwollen der Direktion und meine Bewunderung für sein Draufgängertum. Es war zwar vorgekommen, dass wir Zimmer nur ausserhalb der Stadt gefunden hatten. Aber eine Lösung gab es immer.

Die Hauptaufgabe des aiuto-segretario bestand in der Aufnahme der Personalien aus den Ausweisen der Gäste, der Führung der Kundenkartei mit Aufenthaltsdauer, bezahlten Preisen, besonderen Bemerkungen wie etwa BS (big spender) CR (crostino- Meckerer mit Angabe knapper Details), hin und wieder auch CCC (camera con coperta – mit„Besucher/in“), zuweilen vom 2. portiere besorgt). Ebenso oblag uns die Begleitung der ankommenden Gäste auf die Zimmer. Dabei hatte man eine Konversation zu führen, die sich von den üblichen Fragen nach Anreise usw. des Signor Ravina unterschied, auf die Möglichkeiten im Hause aufmerksam machte oder auf die Anlässe, die im Moment in Florenz und Umgebung stattfanden. Im Zimmer hatte man alle Lichter einzuschalten, kurzen Kontrollblick zu werfen und Duftschnuppern, versichern dass das Gepäck gleich komme, wenn der Portier damit nicht schon vor der Türe stand und einen schönen Aufenthalt zu wünschen.

Das Bereitlegen der Korrespondenz ankommender Gäste in alphabetischer Unterschriftenmappe, auf welcher die Ankunftsliste zu liegen hatte war eine weitere meiner Aufgaben. Eine solche ist versehen mit Namen & Vornamen der Gäste und Zimmertyp, präzise Bemerkungen wie Ankunftszeit, besondere Wünsche. Die Zimmernummer legten Signor Ravina oder Silvio fest und zwar mit Bleistift, damit diese bei Bedarf immer wieder verändert werden konnte. Wichtig war der rote Punkt für regelmässig wiederkehrende Gäste, Salonzimmer und Suiten, um bei deren Ankunft den Direktor für die persönliche Begrüssung zu rufen. Nach Ankunft der Gäste, versorgen der Korrespondenz im File des Zimmers und jene der abgereisten in den entsprechenden alphabetischen Ordnern. Die Bedienung des Telex gehörte zu unseren Tätigkeiten, der rege auch von den Gästen benutzt wurde und damals wie auch beim Telefon mit seinen hohen Aufschlägen eine hübsche Nebeneinnahme für das Hotel generierte. Eher froh war, ich, nichts mit Kasse und Gästebuchhaltung zu tun zu haben. Arbeiten mit Zahlen war nie so mein Ding.

Maestro Ravina, stolz auf seine Gästekenntnisse, klärte uns jeweils über die Bedeutung der Stammgäste auf und als Kenner des italienischen Gothas, über die diversen Berühmtheiten, die das Excelsior beehrten. Solche Leute, und dazu gehörten auch schöne Frauen, wurden ausschliesslich von ihm empfangen. Der Direktor durfte diesen dann im Nachhinein seine Aufwartung machen. Zur Begleitung in die Zimmer oder Suiten, kamen die segretari und der aiuto-segretario zum Einsatz.

Wir hatten eben ein jüngeres, südamerikanisches Paar mit ihrem Vater in zwei „minimal rate rooms“ im ersten Stock auf die lärmige Strasse einquartiert. Sie fanden das ok, verliessen das Hotel gleich wieder, um die Stadt zu erkundigen. Ich stellte fest, dass der Pass des Vaters ein Diplomatenpass war: General Stroessner, der Diktator von Paraguay empfahl dessen Inhaber, wem immer dieser begegne. „Habt Ihr gesehen, wen wir da bei uns haben? Tomás Romero Pereira mit Tochter und Schwiegersohn, den ehemaligen Präsidenten von Paraguay“ ereiferte ich mich. Sofort wurden diese in zwei unserer schönsten Salonzimmer umquartiert, Suiten waren im Moment nicht verfügbar, dafür aber die grossen Aufmerksamkeiten mit Spumante, Früchten und Blumen, Blumen! in den Zimmern arrangiert. Am folgenden Tag kamen die drei zu mir an den Empfang und der Vater sagte: „Es ist sehr aufmerksam von Ihnen. Wir wollen und können das nicht annehmen. Sie müssen wissen, ich bin eigentlich Architekt. Und einer der ganz wenigen Paraguayer, die ärmer aus ihrer Präsidentschaft heraus gekommen als sie eingestiegen sind“. Wie tief hatte mich dieser wahre Gentleman mit seiner direkten, ehrlichen Einfachheit beeindruckt. Welch eine Ehre für den aiuto-segretario, mit dem Ex-Präsidenten und seiner Familie anzustossen und zu plaudern, als wir später zufällig in einer Bar aufeinander trafen.

Einmal, an einem sehr strengen Tag, traf bei uns eine Dame ein, die nun die Blicke aller Herren auf sich zog, vor und hinter dem Banco, und auch von jenen älteren Semestern auf den Canapés. Ihre Reservierung eines Zimmers „minimal rate“ für zwei Tage hatte niemals auf eine solche Erscheinung schliessen lassen. Maestro Ravina, der stolze, erhabene, konnte nicht anders, als die Dame höchst persönlich auf ihr Zimmer zu bringen. Bei allen anderen Gästen betrachtete er so etwas unter seiner Würde. Niemand von uns vermochte zu sagen, wie lange der Maestro gebraucht hatte, um dieses arrivée zu vollziehen. Am folgenden Tag aber, wurde die Dame in eine Junior-Suite auf den Arno umplatziert. Nicht nur das: sie verlängerte sogar noch um zwei weitere Tage! Und das zu vollem Preis, zu Rack-Rate!

Für uns hatte die Dame im Vorbeigehen höchstens ein kaum merkbares Lächeln übrig. Aber für Mauro! Welch ein Strahlen wenn sich die beiden erblickten. Trotz Hochsaison delegierte der maestro auch Arbeiten an Silvio , deren Erledigung er sonst als sein exklusives Vorrecht betrachtete. Nach neunzehn Uhr war er nun plötzlich nicht mehr zu sehen, wo er doch normalerweise in den Stunden danach das Planning für die nächsten Tage neu ordnete. Auch tagsüber, war er hie und da „für Sitzungen abwesend“, obschon der Direktor in den Ferien weilte. Er erzählte uns, wie sehr die Dame von Florenz entzückt sei und sogar nochmals um drei Tage verlängere. Unser Maestro war nun noch schöner, noch eleganter geworden, neuerdings auch noch parfümiert. 

Doch auch die schönsten Geschichten haben ein Ende. Nach weiteren drei Tagen – zweifelsohne zauberhaften – war die Schöne entschwunden. Ganz diskret. Sie wollte weder maestro Ravina noch ihr selbst den Schmerz der Trennung vergrössern. Sie ging, ohne Gruss und liess ihm,  maestro Mauro, als einziges Souvenir die Rechnung zur Bezahlung.

Plötzlich war Streik angesagt im Hotel. "Wie," fragte ich meine Kollegen, "ich arbeite hier unter besten Bedingungen, bin gut bezahlt, wunderbar logiert, esse hervorragend und wir alle werden zuvorkommend behandelt. Wofür streikt Ihr, was soll das?“
„Ja schon. Aber wir müssen durch den Streik die guten Patrons, wie unsere CIGA, zwingen auf die schlechten einzuwirken, damit diese ihren Angestellten dieselben vorteilhaften Bedingungen gewähren,“ antworteten die total ideologisch verblendeten Gewerkschafts-angehörigen. Dem Argument, dass nicht alle Hoteliers ebenso gute Voraussetzungen haben wie eine Hotelkette, und deshalb gar nicht in der Lage sind, mehr zu bezahlen, waren sie unzugänglich. Bei Dienstantritt wurde ich ins Büro des Direktors gerufen: „Sind Sie doch auch Koch, nicht war?“ Würden Sie nicht so nett sein, während den Streiktagen unserem Küchenchef zur Seite zu stehen?“

Signor Alzetta empfing mich mit offenen Armen. "Benevenuto, Signor Sbrinz!" Jürg konnte er nicht aussprechen und auch mein Familienname war ihm nicht geläufig. So war und blieb ich für ihn eben Signor Sbrinz, wie er mich schon im Jahr zuvor als Kellner genannt hatte. Zweihundert Leute waren im Haus und wir zwei alleine in der Küche. Auch wenn nicht alle Gäste das Restaurant aufsuchten oder das damals noch übliche Halbpensions-Arrangement gebucht hatten, mit amerikanischem Frühstück und einer Hauptmahlzeit gab es ordentlich zu tun. Dazu kam die Verpflegung der loyalen Mitarbeiter, die ihren Dienst verrichteten. Der Chef hatte ein relativ einfach zu handhabendes „Streik-menu“ von wenigen, populären Köstlichkeiten kreiert. Um uns möglichst nicht zu verzetteln kamen die Diensttätigen in den Genuss des gleichen Menus. Wir hatten Glück, die Gäste kamen nicht alle aufs Mal, das Angebot gefiel, es lief wie geschmiert.

Nach dem Service kam Frau Kraft, die ehemalige Besitzerin, in die Küche um den Chef zu beglückwünschen und zu ermutigen. Die rüstige, burschikos-charmante Dame besuchte das Haus mehrmals pro Woche und hatte hie und da mit mir geplaudert, letztes Jahr schon im Restaurant. „Was, kochen können Sie auch? Hören Sie, Ende nächster Woche fahre ich nach Venedig. Machen Sie mir Ihre Unterlagen bereit, ich bringe sie meinem Neffen ins Gritti Palace mit. Sie wissen, Fred Laubi, der Generaldirektor des Gritti-Palace am Canal Grande und dem Excelsior auf dem Lido. Der wird dann schon für Ihre Karriere sorgen.“

Der Streik dauerte drei Tage. Eine unwirkliche Situation, in welcher keine Zimmer besorgt wurden, nur ganz wenige Kellner servierten und Gäste ihr damals noch sehr voluminöses Gepäck selbst schleppen mussten. Einer der besonnenen, älteren Kellner, mit dem ich mich im vergangenen Jahr angefreundet hatte meinte danach: „Mach das nie wieder. Du bist zwar Ausländer. Trotzdem riskierst du als Streikbrecher ordentlich vermöbelt zu werden.“ Es gab keine weiteren Streiks, Gott sei Dank. Die Direktion honorierte meinen Einsatz grosszügig. Ich empfand das nicht als Judaslohn, sondern als Anerkennung, mich für meine Überzeugung eingesetzt zu haben. Es ging mir auch darum, die gute Behandlung zu honorieren, die ich im Excelsior genoss.

„Also, Herr Thommen, ich warte auf Ihre Unterlagen, vergessen Sie nicht,“ meinte Frau Kraft ein paar Tage später. Die sagt das so, dachte ich mir. Doch zwei Tage später wiederholte sie die Aufforderung in befehlsgewohntem Ton: „Übermorgen fahre ich. Morgen sind Ihre Unterlagen beim portiere, verstanden?“ So tat ich es.

An einem unsagbar heissen Nachmittag hatten Silvio und ich alleine Dienst. Es war nichts los. Silvio war mürrisch, dass es ihn dazu getroffen hatte. Viel lieber wäre er schwimmen gegangen. Die Drehtüre ging, herein trat eine etwa fünfundzwanzig jährige, wunderschöne blonde Frau. Silvio deutete mir mit einem Kopfschwenken, mich ihrer anzunehmen. „Auriez-vous une chambre, Monsieur?“ „Certes, Mademoiselle. Puis-je vous faire voir l'une ou l'autre?- Hätten Sie noch ein Zimmer frei?, Aber sicher, Mademoiselle. Darf ich Ihnen das eine oder andere zeigen?" Ich packte eine Anzahl Schlüssel – über ein passe-partout verfügten wir am Empfang nicht - hoch erfreut, die junge Dame durchs Hotel führen zu dürfen. „La voglio sull'Arno, la mia camera - Ich will es zum Arno hinaus, mein Zimmer,“ meinte sie, als sie die vielen Schlüssel sah. "Certo, Signorina". Auf meine Fragen nach der Anreise gab sie bereitwillig Auskunft und als die Konversation ganz in meinem Sinne verlief fragte ich: "Erlauben Sie mir die Neugierde Mademoiselle: Sie sprechen so perfekt französisch wie italienisch, woher stammen Sie, aus Frankreich oder aus Italien?" "Sono donna Paola Ruffo di Calabria, Princesse de Liège". Das liess mich verstummen. Ich freute mich, der Prinzessin, der zauberhaften, das schönste Salonzimmer mit riesiger Terrasse auf dem fünften, obersten Stock anzubieten und tröstete mich: Höchste Zeit, dass Margot endlich kommt!

In Florenz fühlte ich mich ausgesprochen wohl, trotz der zuweilen grossen Hitze. Nicht nur hatte ich mir den Akzent recht gut angeeignet, ich verstand sogar das Vernacolo, den ungeschriebenen, toskanischen Dialekt. Auf kleinen Freilichtbühnen amüsierten zumeist Amateurschauspieler mit Schwänken in dieser Sprache ein dankbares Publikum. Gerne ging ich hin, wenn es meine Arbeitszeit erlaubte.

Beim Schwimmen in der piscina trafen wir uns Mitarbeiter aus dem Excelsior, hatten Spass miteinander, scherzten mit Maria, der etwa zehn Jahre älteren Gouvernante, die für uns war wie die grosse Schwester. Hin und wieder besuchten wir zusammen eine trattoria im Freien unter Bäumen unterhalb des Piazzale Michelangelo, in welcher die beste costata fiorentina, der Stadt angeboten wurde, ein T-bone Steak aus vitellone, jenem weissen Rind, in der Maremma und in der Toscana gezüchtet. Oder Marias Lieblings-Osteria, wo wir uns an polpette, einer Art von gebackenen Frikadellen und süffigem Hauswein gütlich taten. Welch eine unbesorgte, fröhliche Zeit! Besser noch als das Jahr zuvor, als ich meinen üppigen Kellnerlohn mit Autos, Ausflügen und in angesagten Restaurants verjubelte, aber zu oft alleine. Ein Angeber war ich gewesen, während ich mich in diesem zweiten Sommer unter meinesgleichen einfach nur wohl fühlte, ganz im hier und jetzt lebte.

Margot stürzte sich gleich nach Ankunft im Eurocentro energisch aufs Erlernen der italienischen Sprache und Kultur. Damit beeindruckte sie mich noch mehr. Wir besuchten zusammen Konzerte, wie jenes im Kreuzgang der Kirche Santa Croce interpretiert vom grossen Geiger Rudolf Serkin, der im Excelsior logierte, Glucks Orpheus und Eurydike in den Giardini Boboli, machten Ausflüge ans Meer, in die umliegenden Hügel und waren verliebt. O temps, suspends ton vol!
 
 
 
 
 
 
 
Winter im alten Grand Hotel Tschuggen in Arosa 1966/67
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22.  Winter im alten Grand Hotel Tschuggen in Arosa 1966/67

Gegen Ende Oktober reisten wir nach Hause zurück, verliebt und bereits mit Gedanken an eine gemeinsame Zukunft. Mein Stage war beendet und ebenso Margots Semester am Eurocentro. Während sie in Zürich sofort Arbeit als Werbeassistentin in einer Industrie KMU fand, reiste ich nach Arosa ins alte Grand Hotel Tschuggen. Herrliches Herbstwetter herrschte, die Lärchen leuchteten in einem täglich blauen Himmel, bis am 11. November viel Schnee fiel und die ganze Saison über blieb.

Das Tschuggen wurde von Dr. Herwig, einem deutschen Arzt, im ausgehenden 19.Jh als Sanatorium gegründet und mit wechselhaftem Erfolg bis in die vierziger Jahre geführt. Die Entdeckung des Penizillins dann erlaubte Lungenkrankheiten an Ort und Stelle effizient zu behandeln. Der Begriff „Kurort“ von Arosa, Davos, Leysin und anderen verlor mehr und mehr seine Bedeutung von Heilung, zugunsten jener von Erholung und Sport.

Wie die Schweiz es fertig gebracht hat, Anstalten der Krankheit, der Schmerzen und des Todes in glitzernde Stätte von Lebensfreude und Luxus zu verwandeln gehört zu den bemerkenswertesten „Turn-arounds“ der Wirtschaftsgeschichte. Das Tschuggen brachte die Voraussetzungen für die Metamorphose von Sanatorium zum Wintersport Grand-Hotel mit: Ganz dem Süden zugewandt, die Zimmer mit weiten, sonnenbeschienen Loggias und herrlicher Aussicht auf Inner-Arosa, grosse öffentliche Räume, die nur darauf zu warten schienen, in ein elegantes Restaurant, eine tolle Bar umgewandelt zu werden!

Arosa liegt am Ende des Tals Schanfigg, wohin nur eine einzige Strasse und eine Linie der Rhätischen Bahn führt. Es eignet sich vorzüglich als Sportplatz und Hideaway für gehobene Kundschaft. Die Aufbaugeneration arbeitete in den Nachkriegsjahren hart, scheffelte Geld und wollte dafür etwas erleben, wollte sehen und gesehen werden. Galadiners wechselten mit grossen Bällen, zu denen Orchester wie Teddy Stauffer spielten der später in Mexico Weltruhm erlangte. Ebenso Modeschauen und während der Karnevalszeit Maskenbälle, wo Kostüme und Fantasie regierten. Es herrschte eine unbeschwerte Aufbruchstimmung

Früher führte sogar ein Bobsleigh-Run vom Eingang Arosas nach Litzirüti. Im Winter jener Jahre wechselten sich Pferdekutschen-Fahrten  mit Skilaufen ab, und spätestens ab sechzehn Uhr fand sich die ganze elegante Gesellschaft zum Thé dansant ein, sei es im Tschuggen, sei es im Kulm, wo später Hazy Osterwald täglich, nachmittags und abends, die Halle im Kulm füllte.  Damals herrschte Ines Torellis "Gigi von Arosa" nicht nur übers Schanffig, sondern über die ganze Schweiz. 

Die Schweizer Grand-Hotels waren zu jener Zeit sehr viel einfacher als die heutigen. Noch nicht alle Zimmer verfügten über ein eigenes Bad, die einfachsten Nordzimmer im Tschuggen waren gar noch mit den weissen Nachttischchen aus dem Sanatorium möbliert. Das spielte aber damals keine grosse Rolle. Es ging ums Dazugehören. „Besser die letzte Besenkammer im Grand-Hotel als das beste Zimmer in einem Hotel der unteren Kategorie,“ anvertraute mir einmal ein Gast. Die Häuser hatten nichts mit einem Plaza Athénée von Paris zu tun, auch nicht mit einem Excelsior Florenz. Sie lebten durch ihre Gesellschaftlichkeit, durch die Ambiance, die dort herrschte. Und es waren die Hoteliers jener Zeit, welche diese schufen. Als echte maîtres de maison, als wahre entertainer. Im Tschuggen war das zu meiner ersten Saison dort leider  nicht mehr der Fall. Es herrschte eher eine Atmosphäre „so gut wie nötig". Für mich war klar, dass ich nie mehr ins Tschuggen zurück kehren würde, so gut mir die ausgesprochen positive und herzliche Arbeitsatmosphäre gefallen hatte. Ebenso sehr spürte ich, nie mehr als main-courantier, Gästebuchhalter,  arbeiten zu wollen. Gott sei Dank gehörten in der Vorsaison Korrespondenz und Wareneinkauf zu  meinen Obliegenheiten, was wir im kleinen Team besorgten. Der Zahlenbeigerei der main-courante war ich eher abhold doch mit den allgemeinen Empfangsarbeiten war es ganz zufriedenstellend für mich. Praktische Erfahrung mit der Gästebuchhaltung war unerlässlich für das weitere Fortkommen.

Die herausragendsten Momentum der Saison waren ohne Zweifel Margots Wochenend - Besuche. Viele davon verbrachten wir bei Familie Jelen. Hans war der Erfinder der Keilhose (gleichzeitig mit Allard in Megève, Frankreich,) seine Frau Gret eine Freundin meiner Mutter. Mit ihren Söhnen Urs und Jan freuen wir uns auch heute noch zu treffen, bei den leider immer selteneren Besuchen in Arosa.

Frau Krafts Empfehlung bei ihrem Neffen hatte gewirkt: Im Februar bekam ich einen Vertrag als Korrespondent ins Gritti Palace Venedig. Nun ging es darum, ebenfalls für Margot eine Stelle in Venedig zu finden. Wir hielten es beide für ratsam, dass sie sich vor einer möglichen Heirat mit der Hotellerie vertraut machen würde. Dott. Natale Rusconi, der Vize-Direktor des Gritti Palace gab uns dazu nützliche Tipps, sodass es für sie im Hotel Marnin am Bacino Orseolo zum Klappen kam.

 

 

 
 
Verliebt in Venedig
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23.  Verliebt in Venedig
Im Januar 2016 kehrten Margot und ich für eine Woche nach langer, langer Zeit nach Venedig zurück. Wir schlenderten durch die Gassen, vorbei an der Werkstatt, wo die Gondeln auch heute noch hergestellt werden, blickten beim Tischler rein, bei dem wir damals eine „forcola“gekauft hatten, eine Stütze für die Ruder der Gondolieri, mit welcher sie die Richtung bestimmen, abdrehen oder ihre Gondola stoppen können. Damals führte der Heimweg von unseren Arbeitsorten täglich an dieser Werkstatt vorbei. Für mich vom Gritti Palace aus, das gegenüber der chiesa St. Maria della Salute am Canal Grande liegt. Für Margot weg vom Hotel Marnin am bacino Orseolo, wo sie  den ersten Sommer über arbeitete. 1967 vom Londra & Beaurivage aus, gelegen an der Riva degli Schiavoni.
 
„Weisst du noch, wie unsicher ich war, als ich das Marnin betrat, wie ungewohnt die Arbeit, die Arbeitszeiten für mich waren, und das Stehen am Empfang, den ganzen Tag lang,“ fragte mich Margot beim Schlendern,“ wie mein Kollege Huber, total unfähig, die Zahlen in der handschriftlichen Gästebuchhaltung ordentlich untereinander zu reihen und sauber zu schreiben, damit die Quersummen einfach zu ermitteln waren? Wie froh war er, dass ich das von ihm übernahm, wie glücklich ich, zumindest während den ersten drei Monaten, dass er für mich das Telefon bediente, bis mir das Italienische geläufiger war!“ Meinerseits berichtete ich vom Albtraum, den mir, dem Korrespondenten, die erste elektrische Schreibmaschine verursachte, wo ich doch schon auf der mechanischen mehr schlecht als recht tippen konnte. Und dann erst noch mit der italienischen Tastatur! Alle paar Stunden entsorgte ich meinen Papierkorb, ängstlich, dass dott. Rusconi, Vizedirektor und mein Vorgesetzter, mich entlassen würde, entdeckte er den enormen Verschleiss des festen, hocheleganten Schreibpapiers mit Prägedruck des Hauses.

Wir spazierten zum ristorante Do Forni, schon in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Autorität in venezianischer Küche. Diesen Rang hat das Haus heute noch inne. In jedem Detail sehr gepflegt, versetzte uns diese Atmosphäre einer etwas obsoleten Eleganz in die schönsten Momente unserer Saisons in den Jahren 1966 und 1967 zurück. In jene der Biennale, auch heute noch eine der tonangebenden Kunstausstellungen der Welt. Oder des Filmfestivals mit seinem Aufgebot an grossen Stars, um welche Sternchen und Starlets wirbelten. Was es aber heute nicht mehr gibt, sind die grossen Bälle, welche die Conti Volpi und Cini gaben. Diese waren ein Stelldichein der Grossen dieser Welt: Die Mutter des ermordeten amerikanischen Präsidenten Rose Kennedy logierte dafür im Gritti, die Agnellis waren da, Peter Ustinov, Richard Burton mit seiner Frau Elizabeth Taylor. Für diese Tage liess sie den Pariser Starcoiffeur Alexandre eigens und nur für sich einfliegen. Viele, viele andere grossen Namen waren da. Man sah die Schönen und Reichen dieser Welt abends in grosser Garderobe zur Harry's Bar schlendern. Andere wurden in den festlich geschmückten Gondeln von Gondolieri in Gala-Uniform der grossen venezianischen Familien  zu deren Palazzi gegleitet. Wer zur Spitze der Gesellschaft gehörte, war da. Nirgends sah man die heute allgegenwärtigen Leibwächter oder Bodyguards die romantischen Impressionen jener Zeit verunstalten.

„So, im Londra & Beaurivage haben Sie damals gearbeitet,“ meinte der etwas ergraute Maître zu Margot, dem wir mit Rührung unsere damaligen Arbeitsorte anvertraut hatten.        „Das gehört heute mehrheitlich Ihrem Kollegen, dem Concierge, mit dem Sie zusammengearbeitet haben. Sein charmanter Sohn ist der heutige Direktor, Signora. Ihrem dott. Rusconi," meinte er mir zugewandt, "dem geht es im Moment gar nicht gut, der hat grosse Rückenprobleme.“ Das traf auch zu, wie wir am Treffen am folgenden Tag feststellen mussten. Mir standen vor Rührung die Tränen zuvorderst: da kommt man nach einem halben Jahrhundert zurück, trifft im Restaurant jemanden, der bestens über unsere damaligen Kollegen und Vorgesetzten Bescheid weiss!

Dott. Natale Rusconi. Er hatte mich schon mit seiner Unterstützung zur Stellensuche für Margot beeindruckt, bevor wir uns persönlich begegnet waren. Wie spontan er auf meine eher schüchtern formulierte, schriftliche Frage einging!  Seine gewinnende Art habe er von Fred Laubi, der damit das ganze Haus prägte und auch die Art "hands on" das Haus zu führen.  Dott. Rusconi übersetzte das Deutschschweizerisch-nüchterne Wohlwollen seines Vorgesetzten in die italienische, spontane Herzlichkeit, die man im ganzen Haus spürte."Es wird Ihnen bei uns gefallen, Signor Thommen, meinte Personalchef Brocca, "wir sind hier wie eine Familie." So empfand ich es, vom ersten bis zum letzten Tag der beiden Sommer meiner Arbeit dort.

Entsprechend seinem Werdegang ging Rusconi unser Métier kultiviert an. Erst nach Erlangen von einem Lizenziat in Literatur und eines weiteren, ging er, dreissigjährig, als stagiaire in die Küche des Savoy Hotel nach London. Die Leidenschaft fürs Kulinarische liess ihn nie mehr los: er übersetzte den Pellaprat, damals ein massgebendes französisches Kochbuch ins Italienische, diktierte mir dafür die Rezepte. Er war einer der allerersten, welche schon in den Sechzigerjahren von der Grand Hotel Küche wegkamen, mit lokalen Spezialitäten, auch der cucina povera der Spitzenhotellerie einen sympathischen touch verlieh, (allerdings nicht zu prezzi poveri.) Auch denke ich, dass er der erste war, in einen Haus der Luxusklasse Kochkurse für seine Gäste einzuführen. Er unterhielt Kontakte zu berühmten Malern, wie ich an zwei kleineren Bildern von de Chirico in seinem Büro erkennen konnte. Jedermann, der in Venedig Rang und Nahmen hatte, kannte er, und selbstverständlich auch unter den Gästen. Der dottore  unterhielt sich mit allen, auch Mitarbeitern mit derselben Freundlichkeit, ohne sich von irgend jemandem vereinnahmen zu lassen. Wir verspürten auf diese Weise kaum seine Strenge, mit der er den Regeln des Hauses Nachdruck verlieh: Bis 17 Uhr grauer Anzug, danach dunkelblauer. Sofort vom Büro aufspringen, wenn ein Gast sich dem Empfang nähert, selbstverständlich mit dem Veston immer zugeknöpft. Das Telefon sofort nach dem ersten Klingeln abnehmen.  Rasch sah ich in Natale Rusconi mein Idol, dem ich zeitlebens nacheifern würde.

Das ist Venedig: die Abwesenheit von Autos und Verkehr verlangsamt den Rhythmus der Stadt, ja das Leben selbst. Die Venezianer können sich das Wohnen in der Stadt kaum mehr leisten, abgesehen davon, dass die Wohnverhältnisse in den alten noch erschwinglichen Häusern und Wohnungen nicht komfortabel sind. Steile Treppen,  fehlende Treppenabsätze vor den Wohnungseingängen erschweren insbesondere jungen Familien mit Kleinkindern und Kinderwagen das Leben. Besser Gestellte leben in einem der schönen Palazzi oder auf dem Lido, einfachere Leute in der Vorstadt Mestre. Wer eine Arbeit hat, und diese sind in Venedig verhältnismässig gut bezahlt, geht nicht weg. Untereinander kennen sich wenn nicht alle, so doch die meisten. Möge diese Beständigkeit in unserer schnell ändernden Welt andauern!

Wir gingen über den Campo San Marco nach San Giovanni e Paolo zurück. Dort hatten wir über den Dächern gewohnt, im Studio eines französischen Kunstmalers. Wir dachten zurück an die Freitage, die wir zusammen am Strand der nächsten Insel nach dem Lido genossen hatten: fast alleine. Ein halbes Dutzend Sonnenschirme, eine behelfsmässige Strandbar und vor uns das Meer. Welch eine zauberhafte Zeit. Wir waren verliebt, verlobt, und hatten das Leben vor uns! Kurz vor unserer Abreise, anfangs November, wurden die Passerellen fürs alljährliche Hochwasser aufgestellt. 1966 sollte es besonders heftig ansteigen: alle Hauseingänge standen unter Wasser, so Halle, Bar, Restaurant des Gritti und all der eleganten Hotels. Böse Zungen behaupteten, so habe sich die CIGA die Renovierung der öffentlichen Räume ihrer Hotels durch die Versicherung bezahlen lassen.

Den Winter verbrachte ich dank Vermittlung von dott. Rusconi in Manchester, Margot arbeitete wieder auf ihrem Gebiet in Zürich. Die Saison 1967 traten wir im März in der Gewissheit an, dass wir für einander bestimmt sind.

In der zweiten Saison kamen Spannungen auf zwischen uns beiden. Mir war so wohl im Gritti Palace, wo uns Mitarbeiter nicht nur eine familiäre, sondern geradezu eine verschworene Atmosphäre verband, sodass mir die zahlreichen Überstunden, die wir alle zusammen dort schoben leicht fielen. Es war schlicht und einfach faszinierend für mich! Auch Margot lobte den Arbeitsgeist, die herzliche Zusammenarbeit in ihrem Londra & Beaurivage. Vom Kaufmännischen her kommend, überlegte sie rationell, teilte ihre Arbeitszeit nach dem effektiven Aufwand ein und nicht nach der Stimmung, die gerade herrschte. Wenn ich dann mit bis zu zwei Stunden Verspätung bei ihr eintraf, war das Willkomm eher unterkühlt. Anstatt, dass ich auf sie gehört und dadurch unvergleichlich an Effizienz gewonnen hätte, legte ich ihr das als mangelndes Verständnis für die Eigenarten der gehobenen Hotellerie aus! Trotzdem überwog die Liebe, Venedig mit all seinen Festen nahm uns gefangen. All diese Annehmlichkeiten und Zerstreuungen erlaubten mir, über diese Meinungsverschiedenheit hinweg zu sehen. In jeder Hinsicht blieb Venedig prägend für unser späteres Leben.

 

 

 

 

Manchester
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24.  Manchester

Der Abschied war gar nicht so schmerzlich. Wir wussten ja, dass wir füreinander bestimmt waren. Vielleicht interessiert es einen möglichen Leser, wie sich eine solche Trennung in der Vor-Handyzeit, noch ohne E-Mail, SMS und all den heutigen Kontakt Apps ausnahm:

Zwar wussten alle Kontinental-Europäer, die zumeist zum Erlernen der englischen Sprache in GB lebten, wo sich die defekten Telefonkabinen befanden, aus denen man zum Lokaltarif nach Hause telefonieren konnte. Diese roten, malerischen Telefonkabinen waren zahlreich, die defekten aber selten und über kurz oder lang von BT, British Telephone repariert.In einer solchen Kabine war man für sich, vorausgesetzt, man vermochte die davor wartende Meute zu ignorieren. Dazu kam die unangenehme Gewissheit, dass zu Hause das einzige Telefon des Haushalts, ein schwarzes, mit Wählscheibe, im Korridor an der Wand fixiert war, was der Intimität von verliebtem Gesäusel nicht eben förderlich war. Auch wenn die Eltern um den Gefühlsrausch ihrer Kinder wussten, sie wünschten nicht damit konfrontiert und schon gar nicht involviert zu werden, wie es beim unfreiwilligen Zuhören nicht zu umgehen war.

So schrieben wir uns Briefe. Welch eine Wohltat, ein solcher Brief, erst recht beim Erhalt der Antwort, aber auch beim Schreiben! Selbstverständlich bewahrte man alle Briefe auf. Das Durchlesen, wieder und immer wieder, vermittelte Nähe zur fernen Geliebten. Es erlaubte ein Eingehen auf ihre Fragen, das Aufnehmen ihrer Argumente. Mehrere Tage, zuweilen eine ganze Woche war ein Brief von England in die Schweiz, von der Schweiz nach England unterwegs. Auf beiden Seiten erwartete man ungeduldig Antwort auf gestellte Fragen, Stellungnahmen zu den eigenen Aussagen! Im Hin und Her spannen wir gemeinsam an unseren Träumen, entwickelten zusammen Pläne. Das besänftigte einerseits das Vermissen, andrerseits erweckte es Freude, nachts gar Sehnsucht aufs Wiedersehen. Im Rückblick frage ich mich bisweilen, ob wir uns in der Ferne nicht näher waren, ganz wie das ein Gedicht beschreibt: „Wenn wir uns nicht haben und uns sehnen, dann ist's, als hätten wir uns endlich ganz...“

Ob man im heutigen Zeitalter allgemeiner kommunikativer Inkontinenz einen solchen Zustand noch nachzuempfinden vermag? Viel gab es aus dem Land zu berichten. Informationen darüber waren nicht so einfach verfügbar wie heute und schon gar nicht so aktuell. So hatte man immer etwas zum Schreiben bei sich. Heute will mir scheinen, dass man damals fast ebenso automatisch das Schreibzeug zückte, wie heute das Handy, wenn man irgendwo wartet oder Zeit zu vertreiben hat.

Mein Job als Bon-Kontrolleur langweilte mich über alle Massen. Es ging um die Kontrolle, ob all die handschriftlichen Bestellungen der Kellner in den diversen Restaurants und Bars, im Etagenservice, der Verkäuferinnen am Kiosk, auch korrekt auf den Gästerechnungen verbucht und später kassiert würden. Auf dem Kontinent hatte man diese Arbeit dank moderner Registrierkassen überflüssig gemacht, welche beim Eintippen den Bestellbon ausgaben und den Betrag gleich auf der Rechnung pro Tisch verbuchte, dessen Nummer man zuvor eingegeben hatte. Hier hantierte man noch mit handgeschriebenen Bons, die dem Restaurant-Kassierer übergeben wurden, der sie in zwei unterschiedliche, veraltete Kassen eintippte, eine für  für Speisen mit Mehrwertsteuersatz von 15%, die andere  für Getränke  von 18.5% !

Darüber beschwerte ich mich in meinen Briefen, machte mich lustig über den Trick, Auslagen für unauffindbare Gäste einfach dem Konto des Direktors, Mr Thurpie, anzulasten. Oder ich zog Margot schriftlich und telefonisch den exzellenten smoked salmon durch den Mund, welcher ein französischer Koch aus dem Midland regelmässig und grosszügig mitbrachte, der sein Zimmer im gleichen Haus hatte wie ich, bei einer sehr charmanten alten Dame, in einem Vorort von Manchester.

Ich gab meinem Erstaunen über die Butzenscheiben vor den Fenstern Ausdruck, die zwar malerisch waren aber miserabel isolierten, über das ständige Einwerfen von Shillings, um die Heizung zum laufen zu bringen und auch fürs Elektrisch für Licht und TV, damals noch schwarz-weiss. Ich schrieb vom Tea-time, zu der mich unsere liebenswürdige Gastgeberin hin und wieder einlud, von den Unmengen an English- Plum- Rhum- Fuitcakes, nach denen ich süchtig war, um mir das Fehlen meiner Braut wenigstens etwas zu versüssen.

Margot ihrerseits berichtete mir von ihren Obliegenheiten, welche diesmal nicht in der Betreuung der Werbe-Budgets lagen, sondern im technischen Bereich, dem Berechnen der Flächen für Bilder und Texte, der Auswahl der Schrifttypen usw. Obschon diese Tätigkeit ihrer präzisen Veranlagung entsprach, dachte sie oft und gerne an die abwechslungsreiche, lebendige Arbeit am Hotelempfang, und so träumten wir brieflich gemeinsam der neuen Saison in Venedig entgegen.

In England beeindruckte mich wie die ausgeprägte Hierarchie bei der Arbeit mit der  Kollegialität untereinander in der einzelnen Abteilung kontrastierte. Es gab die Managers einer jeden der zahlreichen Abteilungen, denen ein Schwarm von Assistant Managers unterstellt war. Alle waren sie mies bezahlt und entrichteten über einen Viertel ihres mageren Gehalts erst noch an Sozialabgaben und Steuern. Sie schienen vom Prestige zu leben, von den Untergebenen mit Sir angesprochen zu werden, überhöht noch durch die Zutrittsberechtigung zu den Bars und Restaurants des Midlands, die dem einfachen Personal verwehrt war. Die 50% Reduktion auf sämtlichen Konsumationen verlieh ihnen einen steifen Rücken und sorgte dafür, dass ein grosser Teil ihrer kümmerlichen Entlohnung gleich wieder im Betrieb liegen blieb.

Während tägliche Überstunden im Gritti üblich waren, verliess man die Arbeit im Midland auf die Minute genau. Genau gegenüber dem Hotel befand sich die Central Library, in welcher auch die international wichtigsten Fachzeitschriften auflagen. Ich ging gerne dorthin. Die Atmosphäre gefiel mir ebenso wie der Blick auf die Entwicklung der Hotellerie in verschiedenen Ländern, die ich dort in den entsprechenden Hotel- und Gaststättenrevuen verfolgen konnte.

Und die Freizeit? Gerne ging man ins Hallenbad schwimmen. Die Pubs waren mir zu laut. Es gab fast jede Woche eine Bottleparty in den enormen Zimmern der obersten Etage des Midlands. Irgend jemand hatte eine Plattensammlung, -spieler und Lautsprecher und es wurde wild getanzt. Jedermann war willkommen! Es genügte, eine Flasche und gute Laune mitzubringen. Was mich da erstaunte: alle hierarchischen Grenzen waren aufgehoben. Man tanzte, lachte, plauderte, schmuste querbeet, der gestrenge Personalchef verlustierte sich inmitten unter uns auf einem Canapé mit einer Rezeptionistin. Doch am nächsten Tag stellte sich die Hierarchie wie von selbst wieder ein.

Wenn ich mich an der Arbeit allzu sehr langweilte, verabschiedete ich mich mit der Entschuldigung, auf dem Schweizerischen Konsulat etwas erledigen zu haben. Das stimmte teilweise. Im ersten Stock des Konsulat-Gebäudes gab es nämlich den besten apple-pie der Stadt, selbstredend mit Double Devonshire-Cream. Welch eine Entdeckung, die englische Gastronomie, die zu jener Zeit zu Unrecht an einem lausigen Ruf litt. Welch eine Überraschung für einen Schweizer, die kräftigen Dairy-Products zu entdecken! Milch, die nicht entrahmt war, kräftige Sahne und jene double devonshire-cream! Dem köstlichen englischen Lamm kamen allenfalls die prés salés aus dem Bordelais gleich. Kenner schätzten schon damals das unvergleichliche Roast-beef, von gewieften Carvers geschnitten, mit köstlichem Yorkshire Pudding serviert, der aus Rinderfett, Mehl, Eiern und Milch hergestellt wird. Das Gemüse, auf dem Kontinent als aus dem Wasser gezogen verpönt, war hier von kräftigem eigenständigen Geschmack, leichte, bekömmliche Beilage zu den gehaltvollen Hauptplatten.

Obschon diese Erfahrungen ein eindeutiger Hinweis bildeten, vorgefassten Meinungen zu misstrauen, würde ich später noch und noch solcher Beispiele bedürfen, um endlich auf meinen eigenen Eindrücken eine persönliche Meinung aufzubauen.

Die Midlands empfand ich lieblich, bekam Lust, diese einmal im Sommer zu besuchen. „Der Sommer? Oh, wenn der so mild sein wird, wie dieser Winter, werden wir schon ganz zufrieden sein,“ beantwortete meine Landlady die Frage. Margot und ich kamen später noch verschiedentlich nach England, doch in die Midlands hatten wir es leider nie mehr geschafft.
 

 

 

Erste Ehejahre und Patricks Geburt
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25.  Erste Ehejahre und Patricks Geburt
Auch die zweite Saison in Venedig verlief sehr angenehm, trotz gelegentlicher Scharmützel wegen meiner ewigen Überstunden.

"Ja, ich habe gehört, dass Sie in die Schweiz zurück wollen um dort das Seminar für Unternehmensführung in Hotellerie und Restauration zu besuchen. Ja, warum nicht. Obschon ich Ihren Weggang bedaure," meinte Herr Laubi, als ich ihm meine Pläne darlegte. "Dann habe ich auch gehört, dass Sie heiraten wollen. Dazu möchte ich Ihnen einfach sagen, dass sich viele Türen schliessen, wenn man heiratet und dann Familie hat.  Sagen Sie mir jetzt nicht, wir wollen noch keine Kinder. Kinder kommen, wann sie wollen. Und das ist gut so. Doch dann ist man weniger flexibel, mehr ortsgebunden und das schränkt Karrierechancen ein. Und noch etwas: Sie haben die Tendenz, längere Schritte zu machen, als Sie Beine haben. Seien Sie vorsichtig. Denken Sie vielleicht über all das nach. So oder so, ich wünsche Ihnen alles Gute."

Dass mir diese Worte gefreut hätten, wäre wohl übertrieben. Immerhin gestand ich Herrn Laubi zu, dass er offen und ehrlich mit mir gesprochen hatte. Das war zweifelsohne mit ein Grund, dass wir uns später anfreundeten, als ich meine Empfänge in Montreal und New York in den Hotels durchführte, die er leitete. Bis zu seinem Tod, im Jahr 2011, blieben wir einander verbunden. Die Nähe unserer Wohnorte half dabei, er und seine zweite Frau Christina in Castagnola, wir in Minusio. Fred hatte spät, erst mit zweiundvierzig geheiratet. Seine erste Ehe verlief nicht glücklich, wie mir Georges Marin einmal anvertraute, als ich ihn sehr viel später einmal in Paris besuchte.

Unser Wunsch, in in der Chiesa St. Maria dei Miracoli zu heiraten, erwies sich einerseits als zu kompliziert, mit all den Papieren und Ausweisen, die dafür zu erbringen waren. Andrerseits wäre die Reise dorthin für einige unserer Verwandten zu beschwerlich, für andere zu kostspielig gewesen. So heirateten wir am 11.11.1967 in der Martinskirche in Zürich. Unsere Hochzeitsreise verbrachten wir als Touristen in unserer Heimatstadt Zürich. Wir besuchten Oper, Schauspielhaus, Ausstellungen, genossen die besten Restaurants, trafen uns mit Freunden, Familie und Bekannten.

Ich hatte mich für den Winter als Empfangschef im Hotel Schweizerhof in St. Moritz verpflichtet, Margot arbeitete dort in der Boutique eines französischen Paares. Unser Zuhause war ein Zimmer in einem Haus, das vom Dachstock her einem „Laubsägeli-Chalet“ entsprach, obschon sein Korpus Engadiner Elemente aufwies. Die Besitzerin erlaubte keine Küchenbenutzung. Das gestaltete unser Privatleben teuer und kompliziert. Ich fühlte mich im mittelständischen Betrieb nicht wohl. Dieser wies einen beträchtlichen Unterhalts- und Renovationsbedarf auf. Auch hatte das ganze Ambiente nichts gemeinsam mit den Häusern, in denen ich bis anhin tätig war. Immerhin beeindruckte mich der Gästeumgang von Direktor Albrecht: Im Smoking und mit kleinen Aufmerksamkeiten für jeden Gast zum Empfang am Sonntagabend, sportlich zu den Ski-Picknicks in der Hütte Acla Clavadatsch. Abends verstand er es, die Leute an der Bar zu unterhalten. Davon würde ich später das Eine und Andere übernehmen.

Das Bahnhofbuffet Zürich HB, mein Lehrbetrieb, suchte einen Assistenten für den Personalchef, wie der HR Manager damals genannt wurde. Herr Candrian akzeptierte nicht nur meine Bewerbung, er bot mir sogar an, mich freizustellen während den vier mal zwei Wochen des Seminars  an dem ich teilnehmen wollte. Darüber hinaus bezahlte er fünfzig Prozent meines Lohnes während dieser Zeit. Eine Grosszügigkeit, die damals durchaus nicht üblich war, umso mehr, als ich offen darlegte, nach den zwei Jahren dieser Weiterbildung wieder in die Hotellerie zurückkehren zu wollen.

Teilnahmebedingung für diese Kurse war eine Führungsposition. Herr Candrian unterstützte meine Anmeldung mit dem Hinweis, dass ich zwar nicht Abteilungsleiter wäre, so doch eine wichtige Funktion in der administrativen Leitung von über fünfhundert Mitarbeitern aus zwanzig verschiedenen Nationen inne hätte. Das wurde vom organisierenden Schweizer Hotelier Verein akzeptiert.

Bis dahin war ich ganz auf den Gast fixiert gewesen: er ist es, der uns bezahlt, er ist es, der unsere Existenz ermöglicht! Von seiner art de vivre wollte ich lernen, es ihm möglichst ähnlich tun! Hier waren es nun plötzlich Köche, Kellner, "Serviertöchter", Küchenburschen und -mädchen auf die ich mich zu konzentrieren hatte, ohne jeden Glamour, dafür „Fremdarbeiter-Kontingente.“ Arbeitsamt, Krankenkassen, Fremdenpolizei waren meine Kontakte nach aussen. Um mich mit den zahlreichen Spaniern verständigen zu können, musste ich wohl oder übel und schnellstmöglich meine Kenntnisse verbessern. Beim Anhören ihrer Probleme, entstanden zumeist aus Unverwandtheit mit unseren Gewohnheiten und unserer Mentalität, unseren unterschiedlichen Essensgewohnheiten und Speisen, merkte ich bald, dass es genau meine „neue Klientel“ war, die mich lehrte, auf Mitmenschen einzugehen.

Es war eine der glücklichsten, vielleicht die schönste und vor allem sorgloseste Zeit unserer Ehe. Wir hatten eine hübsche, kleine Wohnung im Dreispitz in Schwamendingen gefunden, die erst noch günstig war. Sie lag unweit des Au-Bades entfernt. Im Sommer liebten wir es, nach Feierabend dort zu schwimmen und zu entspannen, bevor wir gemeinsam unser Abendessen kochten. Margot arbeitete in der Werbung für die Vertretung der AEG Schweiz, die Haushaltmaschinen vertrieb. Sie verdiente 20% mehr als ich, doch bereitete mir das kein Problem. Es erlaubte uns, umso besser für das Seminar zu sparen, das einen ansehnlichen Batzen kostete.

Alle unsere Freunde in Zürich hatten eben geheiratet oder würden es in Kürze tun. Wir besuchten uns gegenseitig, bewunderten die Einrichtung derer Wohnungen, berichteten alle von unserer gegenwärtigen Tätigkeit, von unserer Weiterbildung und von unseren Zukunftsplänen. Zu diesen Einladungen kochten wir zum Teil recht anspruchsvolle Dîners, die wir vor allem aufwändig anrichteten. Obschon wir nicht über einen Geschirrspüler verfügten, wurden Suppentassen und -teller nie ohne zusätzliche Unterteller serviert, Haupt- und Nachspeisen ebenfalls möglichst Grand-Hotel like, selbstverständlich nur mit Stoffservietten usw, usw. Die Abende waren lang und der Abwasch danach ebenso. Doch genau dieser Abwasch hatte es in sich: Wie sehr gingen Margot und ich dann bei regem Plaudern doch auf einander ein, was hatten wir dabei nicht alles zu erzählen und zu besprechen! Abwasch, und besonders an den Wochenenden ein ausgedehntes Frühstück, welch ein fester Kitt uns das doch gab!

Ich erinnere mich noch gut: Margot arbeitete eine Fünftage Woche von 8-17 Uhr. Ich kam ebenfalls in den Genuss der „englischen Arbeitszeit“ wie man das damals nannte, hatte allerdings jeden zweiten Samstagvormittag „Wache“. Dies zumeist wegen Anreisen von neuen Angestellten und allgemeinen Fragen, die unter einer so grossen Belegschaft immer wieder auftauchen konnten. Diese Büro-Arbeitszeit kam mir vor wie eine Halbtagsstelle. Feierabend um 17 Uhr, Überstunden gab es nur höchst selten. Den Betrieb kannte ich, wenn auch aus einer anderen Warte von meiner Lehrzeit her und von den Zwischensaisons, in welchen ich als chef de partie im Buffet gearbeitet hatte.

Das US, das Unternehmer-Seminar, war eine tolle Sache: unterteilt in vier Sparten: Personalwesen, Hotel-Technik, Hotel-Administration und, zusammenfassend, Unternehmens-führung. Ausgewiesene Spezialisten führten uns in ihr jeweiliges Fachgebiet ein. Der Unternehmens-Ethik wurde grossen Stellenwert beigemessen. Der Mensch stand eindeutig im Mittelpunkt, sei er Gast, Mitarbeiter, Lieferant oder Vertreter der Öffentlichkeit, und wir wurden auch ermuntert, uns öffentlich zu engagieren, im Berufsverband, in Gemeinde und Vereinigungen. Der Schöpfer dieses Seminars war ein Hotelier aus Winterthur, Hans Schellenberg, der das Gelehrte auch wirklich vorlebte. Das Seminar profitierte viel vom Mövenpick-Konzern, welcher seine Arbeits- und Führungsinstrumente grosszügig offenbarte. Erstaunlich wenig wurde die Familie behandelt, wie mir im Rückblick auffällt. Oder war ich es, der diesem Aspekt nicht die gebührende Wichtigkeit schenken wollte ?

Wir Teilnehmer waren alle ab den späten zwanzigern, die Reifsten unter uns anfangs vierzig. So etwa Heinz Hunkeler, damals Direktor des Hiltons in Rom, René Zürcher, Direktor des Bahnhofbuffet Basels, Heinz Hiltl des gleichnamigen vegetarischen Restaurants. Dann waren da verschiedene Eigentümer von mittelgrossen Familienbetrieben, einer aus Crans Montana, ein anderer aus Baden. Etwa ein Drittel der Teilnehmer waren Betriebsleiter und Kaderangestellte aus dem Mövenpick. Einige jener Freundschaften sind noch heute lebendig.

Eines schönen Tages eröffnete mir Margot, dass sich unser Leben verändern würde: “Wir werden Eltern, Jürg“. Welch eine überwältigende Überraschung! Mir kam es vor, freudig und gleichzeitig ungläubig zu taumeln. Ich brauchte einige Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen. Dazu half die Suche nach Kinderbett, das Schwangerschaftsturnen mit Einbezug der werdenden Väter, Ende der sechziger Jahre eine absolute Neuheit. Margot sah man bis zuletzt ihre Schwangerschaft kaum an. Sie bewahrte ihre schöne Silhouette. Sie verstand es wunderbar, mich auf meine künftige Vaterschaft vorzubereiten, mich einzuführen in die Obliegenheiten, welchen wir entgegen gingen. Ihre Mutter, zu der ich ein herzliches Verhältnis pflegte, unterstützte uns beide mit Rat und Tat.

Margot verlebte ihre Schwangerschaft problemlos. Sie arbeitete bis kurz vor dem Geburtstermin, auch weil Patrick schon drei Wochen zuvor auf die Welt kam. Zu dieser Zeit wurden die Väter ermutigt, der Geburt beizuwohnen. Dafür gab es nützliche Einführungsabende, im Zusammenhang mit der gymnastischen Vorbereitung auf eine schmerzlose Geburt. Margots Mutter war bei uns zu Hause, als die Wehen einsetzten. Sie unterstützte ihre Tochter kompetent und liebevoll, legte sie in die richtige Stellung. Ich besorgte Mammas Wagen, schnell und recht aufgeregt fuhren wir in die Pflegerinnenschule, am anderen Ende der Stadt. Der Moment der Geburt beeindruckte mich tief, liess mich allerdings am Begriff der „schmerzlosen Geburt“ zweifeln. Trotz meinem Stützen von Margots Rücken, dem Zureden, Hände halten, fühlte ich mich ziemlich nutzlos. In nur einer knappen Stunde war Patrick da! Wie für jeden jungen Vater war es für mich einer der überwältigendsten Eindrücke meines Lebens.

Ich erinnere mich noch sehr lebendig und gerne an den ersten Spaziergang in den Wald mit Patrick. Er hatte uns Sorgen bereitet mit den Blutplättchen, die sich nicht bilden wollten. Sein Blut ausgewechselt, und endlich, beim dritten Mal zeigte die Massnahme Wirkung. Dann war sich der Arzt nicht sicher, ob sein Schädel altersgemäss wachse. So blieb er noch mehrere Wochen im Spital. Margot brachte ihre Milch täglich dorthin. Es waren Wochen schwerer Sorge. Doch hatten wir Vertrauen in die Ärzte, in das Pflegepersonal und auch ins Schicksal. Wie glücklich waren wir, als Patrick über dem Berg war und wir unseren Sohn nach Hause nehmen durften!

Patrick lag in seinem Kinderwagen, blickte während unserem ersten Spaziergang im Wald oberhalb von Oerlikon aufmerksam nach den grünen Buchenblättern, die sich in der Sonne wogen. Margot war für mich die Schönste und wir waren beide sehr, sehr glücklich.

Moderne Väter wollten wir alle sein, Peter Meier, Claudines Pate, Al, der Gatte von Margots Freundin Vreni. Wir übernahmen unsere Pflichten mit freudiger Neugierde: das „schöppelen“, wickeln, auch abwechslungsweise nachts nachsehen, wenn Patrick weinte. Und erst recht, wenn er nicht weinte, um uns zu versichern, dass er noch atme. Teilhaben auch am Haushalt aber und vor allem, uns in das neue Dasein der Familie einzuleben. Ich gestehe, dass das Aufstehen nachts mich hin und wieder Überwindung kostete, mich das Weinen unseres Sohnes in Ratlosigkeit stürzte. Im Nachhinein erkennt man solche Momente als wichtige Phasen der persönlichen Entwicklung. Aber im Moment?

Dass mir die Arbeit nicht schwer fiel und ich keinerlei Druck verspürte, half mir dabei. Ebenso die regelmässigen Arbeitszeiten. Aber es gab auch anderes. Ich erhielt von meinem Freund Fred Leuenberger, den ich in der Küche des Suvretta kennengelernt hatte einen Brief aus Caracas. Wir hatten gleichzeitig die Hotelfachschule besucht und waren Freunde fürs Leben geworden. Er arbeitete als Assistant-Manager fürs dortige Hilton. „Und du,“ sagte ich mir, „und du verlierst deine Zeit als Assistent des Personalchefs in deinem Lehrbetrieb! Wann nimmst du endlich dein Leben in die Hände, gehst raus in die Welt?“  Völlig absurd.

Strebsamkeit kann einem auch in die Quere kommen. Diese Bemerkung, die erste in meinem Tagebuch das ich seit 1968 führe, hatte sich tief in meine Seele geritzt. Unsinnig, aber so war es. Ich genoss mein Leben nach wie vor. Aber mein Ehrgeiz war aufgestachelt, die innere Ruhe verloren. Nach dem dritten Kurs im Herbst 68 streckte ich meine Fühler in der Hotellerie wieder aus, um nach Beendigung des Seminars mein Ziel zum Hoteldirektor weiter zu verfolgen. Vielleicht als Sektorverantwortlicher in einem Grossbetrieb, als Direktionsassistent in einem Familienbetrieb, Direktor eines kleineren Hotels einer Kette? Ich hatte keine Ahnung! Überall schrieb ich hin, in die CIGA nach Italien zuerst. Nach Belgien und natürlich nach Hongkong ins Peninsula, dem Traumziel jener, die besonders hoch hinaus wollten. Dann auch auf ein anonymes Inserat, mit welchem ein Directeur-adjoint, ein stellvertretender Direktor, für ein berühmtes Palace an der Côte d'Azur gesucht wurde.

Nach Italien wären Margot und ich sehr gerne zurück gekehrt. Doch gab es ein ungeschriebenes Gesetz in der CIGA, das alle Mitarbeiter kannten: Wer freiwillig ausscheidet, dem bleiben die Türen verschlossen. Leider bestätigte sich dies auch für mich. Hongkong verdankte die Offerte indem sie meinen Lebenslauf retournierten, den Zivilstand „vh mit Kind“ rot angestrichen. Verständlich. Man wollte dort das Risiko der Anpassung der Kandidaten an total unterschiedliche klimatische und mentalitätsmässige Verhältnisse nicht noch mit Familienmitgliedern erhöhen.

Die zwei Herren, die mich Wochen später zu einem langen, intensiven Vorstellungsgespräch ins Baur au Lac gebeten hatten, luden mich ein, mir das Hôtel du Cap d'Antibes - Eden Roc doch einmal anzusehen. Am 30. Januar flog ich von Kloten bei Schneetreiben ab und landete zwei Stunden später in der Sonne von Nizza. Die Gegend wie auch ihre subtropische Vegetation waren mir gleichermassen fremd. Ich war augenblicklich überwältigt. Die Palmen hatten etwas Verführerisches, wie sie ihre Kronen im Winde wiegten, ich lauschte den Wellen welche die galets, die runden Steine an den Strand spülten als spielte das Meer mit ihnen.

Der Kontakt mit Monsieur Irondelle, dem Direktor, war sehr spontan. Ebenso mit den wenigen Mitarbeitern, die den Winter über im geschlossenen Hotel administrative und Unterhaltsarbeiten besorgten. Ausgiebig versehen mit Dokumentation und total begeistert erzählte ich Margot, dass ich in Kürze den Vertrag erhalten würde und wir in drei Wochen zusammen unsere Wohnung aussuchen würden. Welch ein Glück ich doch hatte, dass Margot bereit war, überall dorthin mitzureisen, wohin mein beruflicher Weg mich hinführen würde!

Eine Unsicherheit schwebte allerdings noch über der endgültigen Zusage: Die Erteilung der Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Die Oetker Gruppe hatte das Hotel am 1. Januar 1970 über eine ihrer schweizerischen Gesellschaften gekauft, was die Sache erleichterte. Diese war es auch, die meinen Vertrag ausstellte. Im März siedelten wir um. Patrick war dreizehn Monate alt, würde nicht nur rasch französisch sprechen, sondern auch den dortigen Akzent annehmen.
 
 
 
 
 
 
 
 
Vive la France!
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26.  Vive la France!
Was für eine neue Umgebung, auf dem Boulevard du Cap: der grosse Balkon unserer Wohnung überblickte Les Roses Meilland, die Treibhäuser des berühmten Rosenzüchters und darüber hinweg Golfe Juan. Vom kleineren aus, vor Patricks Zimmer, sah man etwas weiter entfernt die Baie des Anges, die sich von Cros de Cagnes zum Golf von Nizza erstreckt. Und zu jener Zeit leuchtete noch der Phare de la Garoupe, vom höchsten Punkt des Cap d'Antibes aus ins Zimmer unseres Söhnchens. „Sieh, dein Freund, der über die Schiffe wacht, kommt dir gute Nacht sagen, er wacht auch über uns,“ pflegte ihn Margot in den Schlaf zu wiegen.

So wunderbar die Lage des Mehrfamilienhauses war in dem wir wohnten, wie zahlreiche andere an der Côte war auch dieses Haus ein Spekulationsbau. In jenen Jahren trieb der Immobilienverkauf an der Côte d'Azur verschiedenste Blüten.

Früher waren an seiner Stelle, bei der Chapelle St. Benoît, Schrebergärten. Ein promoteur immobilier kontaktierte deren Besitzer. Geld habe er keines, doch würden sie für ihr Land prachtvolle Wohnungen erhalten, und das selbstverständlich notariell verbürgt, wie der anwesende Notar und Freund bestätigte. Da die beiden Geld für den Bau brauchten, gaukelten sie den Banken gefälschte Grundbuchauszüge vor, in denen die Wohnungs-Versprechen an die Schrebergärtner nicht vermerkt waren. Das klappte. Der Bau ging zügig voran, zwar nicht in der Qualität, die seiner Lage entsprochen hätte. Schon vor Vollendung verkauften sich die Wohnungen zügig. Ebenfalls notariell verbürgt. Das bekamen die Besitzer der Gärten spitz. Sie gingen vor Gericht. Der Betrug flog auf, der Promoteur und sein Notar wanderten ins Gefängnis, die société de promotion immobilière ging pleite, der versprochene Swimmingpool hinter dem Haus wurde nie gebaut. Die gesamte Elektroversorgung des Hauses hing noch während Monaten an einer einzigen Leitung. Wenn jemand die Waschmaschine am Laufen hatte, ein Nachbar TV schaute und es einem dritten in den Sinn kam, den Geschirrspüler in Gang zu setzen, sassen wir im ganzen Haus im Dunkeln. Daran gewöhnte man sich rasch. Patrick kam so schneller zu seiner Schwester, als wir das eigentlich vorgesehen hatten. Nebst dieser erfreulichen Konsequenz gab es problematischere, etwa jene für unsere unmittelbaren holländischen Nachbarn: Das Geld, welches sie der Bank für ihre Wohnung überwiesen hatten, war verloren. Sie bezahlten ihre Immobilie ein zweites Mal, an die Schrebergarten-Besitzer, welche die erste, echte Verbriefung in den Händen hielten.

In echt schweizerischer Manier stellten wir uns kurz nach unserem Einzug bei den Nachbarn vor: auf unserer Etage allen sechs und bei jenen, die direkt unter und über uns wohnten. Die Reaktionen waren von spaltbreit geöffneter Türe mit abweisendem Gruss bis zum belustigten Erstaunen mit Aufforderung pour un verre, doch auf ein Glas einzutretenWir erfuhren dann, dass so etwas in Frankreich ungewöhnlich sei. Ebenso ungewöhnlich, wie mit jemandem den Lift zu teilen, der schon vor dessen Türe wartet. Lieber steigt man die vier Stockwerke zu Fuss hinauf, oder gibt sich am Briefkasten zu schaffen, bis der andere im Lift entschwunden ist. Individualismus wird gross geschrieben, man drängt sich nicht auf, und ist sehr auf den Respekt der Privatsphäre bedacht. Die der andern wie auch der eigenen. Bis wir die unterschiedliche Mentalität begriffen hatten, empfanden wir diese französische Eigenart als unfreundlich und abweisend.
 
Margot und ich sprachen beide sehr gut französisch. Das erleichterte unsere Anpassung und Integration. Die eingesessenen Franzosen waren ausnahmslos freundlich mit uns, wir spassten und lachten oft miteinander. Aber Zugang zu ihren Kreisen fanden wir nicht. Unsere Freunde waren alle „expats“, die für längere oder kürzere Zeit in Antibes und Umgebung lebten. Die Südfranzosen unterscheiden sich nicht von den Einheimischen aller Tourismusorte dieser Welt: Diese fühlen sich während der Saison von Fremden überschwemmt, gestört in ihren angestammten Gewohnheiten. In der Gewissheit, dass wer hier arbeitet, zu allermeist nur auf Zeit Freund sein kann, halten sie sich bedeckt. Das ist nicht Unfreundlichkeit. Das ist Selbstschutz. Wer das versteht, entgeht Enttäuschungen und verlebt durchaus angenehme Zeiten.
 
Die Villen auf dem Cap, von grosszügig bis phänomenal, stehen in bis zu mehreren Hektar grossen Parks, die bedeutendsten zumeist mit einer zweiten Villa für Gäste. Jede einzelne ist von hohen Mauern umgeben. Jedes Kind spielte wohlbehütet in seinem eigenen Park mit seiner eigenen Nounou,wie die Franzosen damals die Kindermädchen nannten. Dazwischen einige einfache Häuser der angestammten Bewohner des Cap. Eine total andere Welt. Mit deren Kindern besuchte Patrick den katholischen Kindergarten in Juan-les-Pins, wohin Margot ihn täglich brachte und holte. Welch ein Kontrast zu meiner beruflichen Umgebung!
 
Mit Herzklopfen lief ich am ersten Tag zum Hotel du Cap d'Antibes. Es war 1870 aus der Villa du soleil hervorgegangen, liegt in einem Park von 9ha mit wunderbarem Baumbestand, direkt am Meer. Eine prächtige Allee führt vom Hotel zur Küste, wo ein Schwimmbad direkt in den Felsen gehauen ist, eben, der Eden Roc, der paradiesische Fels. Daneben der Pavillon Eden Roc mit seinen Restaurants und Bars. Weiter an der Küste des Parks befinden sich 26 Cabanes, Strandhütten, jede mit eigener kleinen Terrasse, schön von Pittosporum abgegrenzt, in denen die Mieter tagsüber eine splendid isolation geniessen. Diese Anlage nahm sich F.Scott Fitzgerald zum Modell als Hôtel des étrangers in seinem Roman „Tender is the night“. Eine Bastion für Reichtum und Exklusivität: Wer berühmt war, logierte hier. Wer nicht da logierte, war halt nicht berühmt.
 
Wolfgang Geisse, zuständig für die Oetker Betriebe Brenners Park Hotel Baden-Baden und das Sanatorium Bad Wiessee, hatte das Hôtel du Cap d'Antibes & Pavillon Eden Roc für die Oetker Gruppe ausfindig gemacht und in deren Namen erstanden. Bei der ganzen Pracht der Anlage herrschte ein Erneuerungsbedarf, der die Mittel der Besitzerfamilie Sella überstiegen hätte. Die wilden achtundsechziger Jahre hatten zudem den Umsatz einbrechen lassen. Viele bewarben sich um den Kauf dieses ungeschliffenen Diamanten. Zumeist aber handelte es sich um Immobilienspekulanten, die die Anlage mit Villen und Appartementhäusern zupflastern wollten. Wolfang Geisse aber war ein weitsichtiger Mann, der das Entwicklungspotential des Hotels auf Anhieb erkannte. Sein Versprechen, André Sellas Lebenswerks weiterzuführen und zu erhalten, bewog den achtzigjährigen Eigentümer, der Oetker Gruppe den Zuschlag zu geben. Die Fachwelt schüttelte den Kopf über den Kaufpreis von fünfzehn Millionen französischen Francs, damals zwölf Millionen Schweizer Franken. „Rudolf August Oetker hat halt lieber schöne Hotels als Tänzerinnen, aber mit diesem Kauf kommt es auf dasselbe hinaus,“ hörte man da und dort.
 
Die historische Architektur des Hotels und vor allem die Natürlichkeit des gesamten Parks begriff Wolfgang Geisse auf Anhieb als zentrale Elemente der Exklusivität der Unternehmung. Deren Bewahrung bildete sein Leitmotiv in der Suche nach ökonomischer Verbesserung. Er hatte sofort erkannt, wie Diensträumlichkeiten im Gartengeschoss ins Nebengebäude verlegt, dafür zusätzliche Junior Suiten gebaut werden konnten. Die gesamte elektrische Versorgung, die Wasserleitungen mussten ersetzt, die Airconditioning modernisiert und auf alle Zimmer und Räumlichkeiten erweitert werden. Neben der Einfahrt zum Hotel stellte er sich einen neuen Trakt vor, welche die Exklusivität und Schönheit des Ganzen nicht nur schonen, sondern sogar ganz wesentlich erhöhen würden. Die Zukunft des Pavillon Eden Roc sah er klar vor sich, liess als erstes den Pool beheizen und entwickelte damit die ganze Anlage zu einem der schönsten und profitabelsten Hotels von ganz Europa. Bedeutende Architekten und Dekorateure aus halb Europa gingen auf Einladung von Herrn Geisse im Hotel ein und aus. Ihre Vorschläge – und deren Kosten - liessen den streng traditionellen Hotelier Jean-Claude Irondelle und seinen noch unerfahrenen directeur-adjoint mit offenem Mund zurück.
 
Herr Geisse kam ursprünglich aus dem Management. Im Brenners Park Hotel hatte er sich mit der Hotellerie vertraut gemacht und dort ganz entscheidend zur Modernisierung jenes berühmten Hauses beigetragen. Die Tatsache, dass er von Haus aus mit der Lebensart dieser Kundschaft vertraut war, erleichterte ihm, sich in diesem schwierigen Milieu zu Recht zu finden. Das bewog den Eigentümer der Unternehmung, Rudolf August Oetker, Wolfgang Geisse mit der Entwicklung der Hotelsparte seines Konglomerats zu betrauen. Geisse verstand es, internationale Kontakte auf höchstem Niveau zu nutzen, um die Hotels auf der ganzen Welt angemessen zu repräsentieren, beauftragte PR Agenturen, um deren Bekanntheitsgrad überall zu steigern.
 
Von PR hatten damals alle schon gehört. Was es in der Praxis wirklich bedeutete, darüber hatte weder JC Superstar noch sein directeur-adjoint eine realistische Vorstellung. Wir beide waren entsetzt über die enormen Spesen, die das „rumsitzen mit den eingeladenen Journis“ verursachte, für die paar Artikel, die sie danach publizierten. Da und dort auch kritische, die uns beide jedesmal bis ins Mark trafen. Eine Reaktion, die unsere beider Unerfahrenheit mit der Presse offenbarte.
 
Für den neuen Hausprospekt engagierte Geisse eine der angesagtesten Werbeagenturen Deutschlands, welche das „du Cap“ für eine neue, junge und wohlhabende Kundschaft präsentieren sollte. Diese neue Kundschaft war unternehmungslustig, neugierig auf das, was man an der Côte d'Azur alles machen und erforschen konnte. Für Irondelle aber wurde das Hotel solcherart zum Ausgangspunkt „reduziert“, anstatt das zentrale Element eines Prospekts zu bilden. Mannequins fuhren ein, wurden fürstlich bewirtet, während sie ein ebenso begabter wie arroganter Fotograf rollenweise knipste. Und das beim Hochbetrieb des Restaurants! Solch ein Vorgehen war damals noch völlig unbekannt, weckte mein Interesse und Irondelles Argwohn. Er hatte grosse Mühe sich die Idee zu eigen zu machen, dass man nur auf diese Weise eine Atmosphäre realistisch wiedergeben könne um neue Kundenkreise anzusprechen.
 
Mary Homi aus New York vertrat das „du Cap“ zusammen mit dem „Brenners Baden-Baden“ und den paar anderen exklusivsten Hotels Europas in Amerika. Sie tat das mit grossem Geschick. Nebst Chronisten grosser Revuen und Journalisten international bedeutender Zeitungen, sandte sie uns auch einen Regisseur aus Hollywood. Mit Jean Pierre Aumont, einem in Europa wie auch in USA sehr bekannten französischen Schauspieler, drehte dieser einen etwa 20 minütigen Film über das Hotel du Cap und die Gegend. Wolfgang Geisse hatte gleiches schon fürs Brenners veranlasst. Diese Filme wurden dann in den damals neugeschaffenen Reiseberichten diverser amerikanischer TV Stationen gezeigt. Die Reaktion von Irondelle war gespalten: die Presse-Relation betrachtete er als seine ureigenste Kompetenz. Mary drang damit in sein Allerheiligstes vor. Sie aber hatte ihren Pappenheimer rasch erkannt: dem Regisseur gab sie diskret zu verstehen, ihn im Film auftreten zu lassen. Die Szene mit JC Superstar (in Anzug und Krawatte!) und den Mannequins auf dem Motorboot, denen bei rasanter Geschwindigkeit vor der Küste Leckereien und Champagner serviert wurden, machte Marys Arbeitsfeld wieder frei.
 
Plötzlich verlangte Herr Geisse meinen Pass für ein US Visum: "Monsieur Irondelle und Sie kommen mit mir und Richard Schmitz vom Brenner's Park Hotel im November auf eine Promotion-Reise durch Amerika und Kanada". Ich durfte mit! Ich war überwältigt!
 
Mary Homi hatte in New York den Club 21 kontaktiert, die besten Hotels von Houston, Los Angeles, San Francisco, Toronto und Montreal um dort die Gäste unserer beiden Hotels und deren Freunde, sowie auch die wichtigsten Verbindungen der kontaktierten Hotels zu einem Cocktail dînatoire einzuladen. An diesen Anlässen wurden die Filme über das Brenners und das du Cap gezeigt. An zahlreichen Abenden waren wir von unseren Gästen in ihrem Heim eingeladen, die uns mit ihren Freunden zusammen bringen wollten. Viele von ihnen kredenzten uns Dom Pérignon und Romanée-Conti La Tâche, als gäbe es keine anderen Weine!
 
Die Empfänge waren sehr erfolgreich. Zum einen war es damals noch unüblich, dass Hotels ihre Gäste einluden, zum anderen verbürgte der Name Jean-Pierre Aumont für Qualität der Filme. Mary Homi hatte beste Unterkünfte in den diversen Hotels für uns besorgt, und dass Limousinen für uns direkt ans Flugzeug gefahren kamen. Sie liess uns im Flieger sogar ausrufen, obschon wir nur Touristenklasse gebucht hatten! Die Touristenklasse hatte damit zu tun, dass der schlaue Eigentümer der Oetker Gruppe selbst nur in dieser Klasse flog. Sein Beispiel verunmöglichte so selbst dem Top Management der Gruppe, Firmengeld in unnötigem Luxus zu verprassen...
 
In Houston war auch Jimmy Brennan, ein Stadt bekannter Restaurateur und Kollege aus der Hotelfachschule Lausanne an einem dieser privaten Abende zugegen. In Montreal waren wir im Ritz-Carlton, das von Fred Laubi geleitet wurde, unter dem ich so gerne im Gritti Palace in Venedig gearbeitet hatte. In Los Angeles lud ich die Familie ein, bei welcher Margot gut zehn Jahre zuvor als Kindermädchen gearbeitet hatte. Auch sie baten mich und J.C. Irondelle in ihr Haus in Beverly Hills, fuhren uns im Zentrum von Los Angeles umher, luden uns ins Four Seasons zum Dinner und wurden zu ständigen Gästen nicht nur des Hôtel du Cap d'Antibes, sondern auch des Mont d'Arbois in Megève. Ich erwähne das, weil mir diese Begegnungen offenbarten, wie klein die Welt auf einem hohen gesellschaftlichen Niveau sein kann...
 
Der Erfolg von Geisses Massnahmen zeigte sich rasch: während früher nur die Zeit des festival du film de Cannes, jene des Grand Prix de Montecarle sowie Juli und August wirklich ausgebucht waren, kannten wir nun plötzlich auch Engpässe schon an Ostern, im Juni und September. Gegen Ende Saison mieteten neu Firmen das ganze Hotel und den Pavillon Eden Roc für ihre sehr entspannten Tagungen.
 
Mary Homi hatte auch einen Abend für uns im Raffles Club New York organisiert, an seinem Sitz im Sheridan Hotel. Die Organisatoren waren von unserem Auftritt so begeistert, dass sie beschlossen, ihren Sommerball im Eden Roc zu feiern. „Le Rouge et le Noir“ war das Motto und alle Teilnehmer hatten sich in diesen Farben zu kleiden. Treibende Kraft hinter diesem Club war „Celebrity Service“. Dieser half Menschen, die zu Geld, aber noch nicht wirklich zu Renommee gekommen waren, sich in der Gesellschaft zu etablieren. Celebrity Service unterstützte Parties, Vernissagen, Hauseinweihungen solcher Personen, indem sie Berühmtheiten zu deren Anlässen vermittelte. Mit ihrer schieren Anwesenheit verliehen Primadonnen, Stars, Starlets, aber auch Aristokraten, ja gar ein Erzbischof und Politiker solchen Einladungen Glanz und unterstützten so den Aufstieg der Aspiranten ins gesellschaftliche Hochgebirge. Ganz gratis war das nie. Es wurden dafür „Aufmerksamkeiten“ erwartet.
 
Unter diversen Stars schwebten auch Liza Minelli und die Begum durch unsere rot schwarze Nacht. Deren Präsenz machte die Teilnahme am Ball für alle Kandidaten der High Snobiety zum absolute must. Sie liessen sich mit dieser Prominenz, oder zumindest in deren Dunstkreis ablichten, um sich auf den Hochglanz-Seiten berühmter Gesellschafts-Klatschspalten wieder zu erkennen! In unserem Falle bezahlten diese Teilnehmer einen Preis für die „Einladung,“ der die Spesen der präsenten Berühmtheiten locker deckte. Dem Hôtel du Cap d'Antibes sicherte der Anlass Publizität in genau jenen Kreisen, die sich einen Aufenthalt bei uns leisten konnten und wollten.
 
Monsieur Jean-Claude Irondelle, damals zweiundvierzig, war bereits seit siebzehn Jahren im Cap tätig. Er hatte sich bei der Familie Sella vom einfachen Rezeptionisten zum Direktor hochgearbeitet. Zu einem aussergewöhnlich fähigen, brillanten Direktor. Ebenso gewandt in der Handhabung des Zimmer-Plannings wie in Baufragen, in Inneneinrichtung, in Buchhaltung und Finanzierungsaspekten. Seine Neugierde dagegen war beschränkt. Was nicht im gewohnten Stil geplant wurde, fand bei ihm keine Gnade. Was nicht von aktuellem Nutzen war, entsorgte er augenblicklich. Nie lag da ein Artikel, eine Zeitung, die er für spätere Lektüre weggelegt hätte. Sein Pult war immer sauber aufgeräumt. Wer immer vor ihm stand, Gast, Lieferant, Mitarbeiter, schätzte er augenblicklich mit unglaublichem Flair für dessen Potential ein. Wer zu leicht befunden wurde, war ebenso charmant wie rasch abgefertigt. Die Mitarbeiter führte er eisern, mit einer positiven Grundhaltung, solange es dem Hause diente. Er war respektiert, aber nicht geliebt, zum Teil sogar gefürchtet. Das war JC Superstar nicht unangenehm, sondern nützlich. Es hatte auch damit zu tun, dass er und seine Familie ein ausgesprochen standesbewusstes Auftreten pflegten und sich mit erlesener Eleganz kleideten. In den Augen der Belegschaft galt er als Karrierist, der nebst den betrieblichen seine eigenen Interessen eng im Auge behielt. Zu mir war er jederzeit von ausgesuchter Freundlichkeit. Er führte mich sorgfältig in die Arbeit ein. Ich war hauptsächlich für die Restauration, was man heute das F&B nennt und fürs Personalwesen verantwortlich, er für die Rezeption, Empfang, Kasse und in der Zwischensaison für Unterhalt, Innendekoration und Umbau. Die Einkaufskonditionen legten wir im Winter über gemeinsam fest, während der Saison war es am économe und an mir zu überwachen, dass diese auch eingehalten wurden. Irondelle setzte alle Lieferanten unter gehörigen Druck, für jede Sparte gab es mindestens zwei, die er gegeneinander ausspielte. Trotzdem erwarb er sich den Ruf als Mr. Five percent, die er für sich noch kassiert haben soll.
 
Was für uns korrupt tönt, war es damals keinesfalls oder zumindest nur bedingt. Dieses Verhalten entspringt einer grassierenden französischen Volkskrankheit, der allergie fiscale. Wo immer man etwas schwarz kassieren konnte, um Steuern und Soziallasten zu sparen, machte das jedermann so. Der Küchenchef beispielsweise war zu einem lächerlichen Lohn engagiert, plus le marché, zusätzlich jener Prozente, welche er bei Metzgern, Fisch- Gemüse- Früchte- und Kolonialwarenhändler aushandeln konnteDas war gängige Praxis. Alle klagten darüber. Alle hielten sich daran. Es ist deshalb durchaus vorstellbar, dass die Familie Sella auch ihren wichtigsten Mann auf diese Weise entlöhnte.

Einer alten Tradition entsprechend, wurde das Personal im Kundenkontakt mit der „Masse du 15%“ bezahlt, dem Bedienungsaufschlag, der separat verbucht und nach einem gewerkschaftlich/staatlich abgesegneten Schlüssel aufgeteilt wurde. Die Tatsache, dass auf diesen Servicezuschlag keine Mehrwertsteuer anfiel, rechtfertigte es in den Augen von Monsieur Irondelle an diesem System festzuhalten, obschon dieses ein ausgesprochen unausgewogenes Lohnsystem zur Folge hatte. Kundenkontakt hatten Zimmermädchen, Etagenportiers, selbstverständlich das ganze Servicepersonal und die Conciergerie mit ihren Chasseurs, Voituriers und Telefonistinnen. Warum der Empfang nicht dazu gehörte, konnte mir niemand erklären. Im Hôtel du Cap, seit jeher eines der teuersten, wenn nicht das teuerste Hotel von ganz Europa, waren deshalb die Leute vor der Kulisse unverhältnismässig hoch bezahlt. Alle anderen, also das Büropersonal, die Köche und deren Gehilfen, die Wäscherei, die Handwerker im Unterhalt, die Gärtner, zwar korrekt, doch lagen ihre Fixlöhne weit unter jenen der Masse. Das führte hie und da zu Spannungen. So verpflichtete Monsieur Irondelle die Kellner, die Hors-d'oeuvre à la provençale voll- und selbständig zuzubereiten. Täglich frisch achtzig Sorten, für welche das Eden Roc berühmt war! Die zusätzlichen dafür notwendigen Kellner wurden aus der masse du 15% bezahlt. Dafür sparte er die Löhne der Köche im Betriebsertrag. In Anbetracht des hohen Bedienungszuschlags akzeptierten dessen Nutzniesser die Regelung, wenn auch zähneknirschend.
 
Es herrschte ein ausgesprochen freundliches Klima im Hause, auch und insbesondere unter den Mitarbeitern. Der Ausdruck „eine Familie“ würde dem nicht gerecht, es war viel mehr. Obschon...Ausser den Verwaltungs-Angestellten, den paar Unterhaltsmännern und Gärtnern, hatte niemand einen Jahresvertrag. Die Verabschiedung war an jedem Saisonende eine definitive. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zählten zwar darauf, dass man sich im kommenden Jahr wieder sehen würde. Zugesichert wurde das niemandem. Nicht einmal dem Küchenchef. Die rigide Arbeitsgesetzgebung sah im Falle von Kündigung mehrjähriger Arbeitsverhältnisse nicht nur bedeutende und jährlich steigende finanzielle Verpflichtungen vor. Die administrativen Hürden um den Bruch zu vollziehen, waren enorm. Trotzdem musste sich ein Angestellter sehr dumm anstellen, um in der Folge nicht wieder einen Saisonvertrag zu bekommen. Die Betriebstreue war enorm. Eine derartige Hochschätzung der Vorgesetzten hatte ich nirgends erlebt und würde es auch nie mehr: Einige Fischer arbeiteten seit vielen Saisons im Unterhalt. Südfranzösische Fischer laufen immer mit ihrer typischen Casquette umher. Wenn Irondelle oder ich an ihnen vorbeigingen, entblössten sie ihr Haupt. Meine Bitte, sie sollen das in meinem Falle unterlassen, ich hätte nur eine andere Funktion, als Mensch wären wir gleich, erntete nur Unverständnis. Nach wie vor zogen sie beim Vorbeigehen den Hut.
 
In Anerkennung der Verlässlichkeit des Arbeitgebers arbeitete dort jedermann mit Hingabe, alles war erlesen, gepflegt. Jedes Detail wurde sorgfältig kuriert, nichts blieb unbeachtet. Die Rosensträusse für die Gäste stammten aus dem eigenen Garten. Die Pflege der Privatwäsche hatte einen dermassen guten Ruf, dass italienische Familien jeweils kofferweise Schmutzwäsche mitbrachten, um sie bei ihrer Abreise gepflegt und sorgfältig verpackt wieder mitzunehmen. Nie zuvor und auch später nicht in den anderen Hotels wurde ein Auto dermassen sauber gewaschen, poliert und wieder eingewachst wie dort. Dafür brauchte es einen ganzen Tag. Bei warmer Karosserie war das unmöglich für den Fischer Néné: „la tôle est trop chaude“ sagte er dann in seinem ausgeprägten Akzent. Und wenn er keine Lust hatte, war die tôle eben trop chaude. Das wurde von der Direktion geduldet. Diese hatte sich seit jeher durch ein enges Begleiten ihrer Angestellten ausgezeichnet. Das war etwas anderes, sehr viel wirksamer als Kontrolle. Darin lag das Geheimnis der Exzellenz, die in diesem Betrieb erreicht wurde.

Das alles hatte natürlich seinen Preis. Man arbeitete ausgesprochen kostenbewusst. Gegenüber dem Gast jedoch war Geld kein Thema. „Sie können mit mir über alles diskutieren, ausser über unsere Preise,“ meinte Monsieur Irondelle, wenn ein Gast darauf zu sprechen kommen wollte. „Teuer, meinen Sie? Wäre es das nicht, kämen Sie nicht zu uns“ fertigte der geschliffene directeur solche Bemerkungen mit strahlendstem Lächeln ab.  Der Directeur de Restaurant meinte einmal zu mir: Hier ist nichts gratis, ausser der Luft zum atmen. Wenigstens diese Saison noch...


Die bürgerliche Tradition wurde anfangs der Siebziger Jahren zunehmend als einengend, gar als Zwang empfunden. Die "68er" lehnten sie ab und bekämpften sie offen. Trash-mode wurde jetzt zur Uniform: Kunstformen wie Theater, Konzerte sollten für sich selbst existieren, befreit vom bourgeoisen Ballast festlicher Kleidung. Missachtung von dress codes an mondänen Anlässen wurde als intellektuelle Eigenständigkeit und gesellschaftliche Unabhängigkeit zelebriert. Beim Tennis wurde zunehmend auf das klassische Weiss des Tenues verzichtet. Umgangsformen liess man fallen, wie Ausbrüche von Tennisstars jener Jahre bezeugten.

Diesem Umbruch hatte die Leitung des Hôtel du Cap d'Antibes mit der Einrichtung eines Snacks im Pavillon Eden Roc widerstrebend nachgegeben. Sie verachtete diese Entwicklung als vorübergehenden Sittenzerfall. Nur dort, im hintersten Teil der unteren Terrasse wurde die Verköstigung im Bade-Tenue toleriert. Sobald aber ein Gast die breite Wendeltreppe betrat, die unweit von dort, zur oberen Terrasse mit ihrem berühmten Buffet von 80 Hors-d'oeuvre à la provençale führte, hatten sich die Herren zumindest mit einem T-shirt, die Damen mit einer Bluse zu bekleiden.

Der Maler Camille H und seine junge Muse, die ihn zu post-kubistischen Kompositionen in leuchtenden Farben inspirierte, standen eben auf dem oberen Treppenabsatz. Der Meister in langen Hosen aus Leinen und ebensolchem Hemd, während die majestätischen Kurven seines Modells ihr Bikini zu sprengen drohten. Der Ober jener Jahre, Monsieur Orset war mehr ein rechtschaffener Kellner als ein maître. Mit hochrotem Kopf stürzte er dem Paar entgegen, verlegen bittend, Madame möge sich doch bitte mit einer Bluse etwas bedecken. „Aber gerne doch“, meinte die Schöne mit unschuldigem Lächeln und trippelte vergnügt zur Garderobe runter. Kurz darauf erschien sie wieder: Ohne BH, in transparenter Bluse, die ihrem bemerkenswerten Torso schmeichelte, setzte sie sich zum Meister an den Tisch.

Der gute Ober Orset war vielseitiger gefordert, als es in gängigen Restaurants der Fall gewesen wäre: Unter der Woche war es am Abend still im Restaurant. Die Gäste flogen aus zu Wallfahrten in all die besternten Restaurants der Gegend. Wer zurückblieb, erholte sich zumeist von kulinarischen Strapazen der Vortage oder befolgte eine der imaginären Diäten, von denen Wohlhabende und Unterbeschäftigte oft glauben, sich unterziehen zu müssen. Zehn bis fünfzehn besetzte Tische ergaben so schon eine gute Belegung. Trotzdem machte ich allabendlich meinen „tour de charme“ von Tisch zu Tisch, um die Gäste zu bestärken, auch bei niedriger Belegung auf unsere Oberaufsicht zählen zu können.

Eines Abends wurden Küchenchef Marin diverse pommes purée vorbestellt:
1 x ohne Salz, 1 x ohne Butter und Milch 1 x ebenso und ohne Salz und 1 x mit Milch, gesalzen aber ohne Butter. Als Beilage zu Fisch, Fleisch oder Scampi, zumeist gegrillt oder pochiert, auf jeden Fall ohne Fett.

Der Reizbarste unter den Gästen, ein alter Argentinier osteuropäischer Herkunft Señor Koszteliz, verheiratet mit einer Prinzessin de Polignac, hatte grillierte Lammkoteletts, mit grünen Fadenbohnen und pomme purée vorbestellt, „aber bitte, nur wenig gesalzen, absolut ohne Butter und Milch“. Die Gäste kamen an diesem Abend fast alle im selben Moment, was eine gewisse Hektik verursachte. All die gleichzeitigen Bestellungen führten zu einem Lieferstau in der Küche, und den Koch zum Griff in die falsche Pfanne der diversen pommes purée, ausgerechnet für Señor K.

Kaum hatte seine Prinzessin gekostet, reagierte sie augenblicklich als hätte man ein Attentat auf sie verübt: alles war MIT Milch, MIT Butter und erst noch normal gesalzen! Während sich Señor K mit dem Teller in der Hand, weiss im Gesicht langsam zum Oberkellner hin bewegte, machte sich der Franco-Kanadier, Major Leal bemerkbar, der es überhaupt nicht gewohnt war, warten gelassen zu werden. Señor Koszteliz stand nun Maitre Orset gegenüber, hielt ihm den Teller unters Gesicht und fragte mit erstickter Stimme: „Was habe ich Ihnen bestellt, maître?“ „Na, einmal Côtelettes d'agneau, mit Fadenböhnchen, pommes purée, alles ohne Butter, ohne Milch und wenig gesalzen“ entgegnete dieser mit versöhnlichem Lächeln.

„Und das, ist das ohne Butter?“ – Er schmetterte mit der Gabel den Kartoffelstampf auf des Maîtres Rever – „und das, ohne Milch, und das ohne Salz,“ schrie er, während er den Smoking des Oberkellners immer weiter voll kleckerte. Major Leal, der das Ganze aus seiner Ecke beobachtet hatte sprang nun von seinem Stuhl auf, fuchtelte mit Messer und Gabel durch die Luft und schrie zur Melodie der Marseillaise durchs Restaurant: „aux armes Citoyen!, aux armes Citoyen“.

Orset benutzte den Moment der Verwirrung um sich vor Señor Koszteliz aus dem Staub zu machen, stürzte sich auf mich und fragte mich mit weinerlicher Stimme: „Was soll ich jetzt bloss machen, Monsieur Thommen, was mach ich jetzt?“ „Beginnen Sie mit dem Wechsel Ihres Smokings. Ich kümmere mich derweil um die Gäste. Und nehmen Sie es vor allem nicht tragisch.“ Ich sprang kurz für Monsieur Orset ein, versicherte die Gäste, dass ich mich augenblicklich um die korrekte Ausführung ihrer Bestellung kümmern würde, stürzte in die Küche und eine Viertelstunde später kauten alle Gäste zufrieden vor sich hin.

Kein sehr einfacher Gast, Señor Koszteliz mit seiner Prinzessin. Sie blieben acht bis zehn Wochen in einer Suite, Jahr für Jahr, und belegten während der ganzen Dauer eine Cabane. Die teuerste, in der ersten Reihe. Im persönlichen Kontakt waren beide liebenswürdig. Liebenswürdig, ABER empfindlich.

Ich half an einem Samstag mit zahlreichen Ab- und Anreisen am Empfang mit. „Ich verbinde Sie mit Señor Koszteliz“ vermeldete die Telefonistin um fünfzehn Uhr.

Herr Thommen, kommen Sie augenblicklich in unsere Cabane. Wir haben zwei oeufs à la coque bestellt, der Oberkellner verwehrt uns das! Er beruft sich auf Sie. Sie Herr Thommen, Sie hätten verboten, warme Mahlzeiten in den Cabanes zu servieren! Ich erwarte Sie a u g e n b l i c k l i c h  h i e r!“

Sie kennen, Señor Koszteliz, die Schwierigkeiten, die wir haben, warme Mahlzeiten ordentlich in einer Cabane zu servieren und deshalb haben wir das einmal mehr abgestellt. Ich bitte Sie, betrachten Sie Herrn Orsets Weigerung für zwei Oeufs à la coque als Übereifer. Ich werde besorgt sein, dass Ihnen diese innerhalb zehn Minuten serviert werden. Leider kann ich jetzt aber nicht zu Ihnen kommen, die zahlreichen An- und Abreisen halten mich hier an der Rezeption fest. Ich komme, sobald es mir möglich sein wird.“

In der Tat hatten wir den warmen Speiseservice in den Cabanes aufgrund der langen Entfernung zur Küche aufgehoben. Vereinzelte Gäste aber verstanden es, mittels üppiger Trinkgelder halt doch zu bekommen, wonach sie gerade Lust hatten. Trotz der „splendid Isolation“ auf welche die glücklichen Mieter einer Cabane so bedacht waren, beobachteten sie sich gegenseitig. Eine bevorzugte Behandlung des Nachbars nahmen sie sofort wahr. Orset hatte seinen verklecksten Smoking nicht vergessen und versuchte sich an Señor Koszteliz zu rächen, indem er ihm zwei oeufs à la coque als warme Mahlzeit verweigerte.

Herr Thommen, wir verstehen nicht, was eigentlich los ist. Man will uns hier nicht mehr,“ ereiferten sich K und seine Prinzessin zitternd am Thörchen ihrer cabane, als ich drei Stunden später, um 18 Uhr dort eintraf. „Hören Sie nur, heute die Geschichte mit den oeufs à la coque. Und gestern hatten wir kalten Seebarsch bestellt, OHNE Kopfsalat, OHNE Tomate und OHNE Cornichons. Und was hat man uns serviert? Kalten Seebarsch MIT Kopfsalat, MIT Tomate und MIT Cornichons! Ich bin so wütend geworden, dass ich die ganze Silberplatte mitsamt dem Seebarsch ins Meer geschmissen habe.“

Zuhören. Nicken. Zeichen des Verstehens geben. Entschuldigen, aber nur ein einziges Mal und versprechen, alles sofort in Ordnung zu bringen. So hatte ich es im Unternehmerseminar gelernt. Es klappte. Weitere drei Stunden später liefen wir alle drei, Arm in Arm, zum Hotel hinauf, während mir die Prinzessin und ihr Señor immer wieder bestätigten, was für ein angenehmer, freundlicher Mensch ich doch sei...

Es gab auch würdigere Reminiszenzen. Zum Beispiel, als ich in Abwesenheit von Monsieur Irondelle Charlie Chaplin im Hause willkommen heissen durfte, der zur Entgegennahme der goldenen Palme für sein Lebenswerk zum Filmfestival angereist kam. Oder Plaudereien mit dem sonst eher wortkargen Marc Chagall. Jahr für Jahr verlebte er mit seiner Frau, Professor John Neff, einem amerikanischen Historiker mit Gattin, fast einen Monat im Hôtel du Cap. Oder morgens, wenn ich zur Kassen-Abnahme der Cabanes durch den Park lief, dem Spiel der Flötistin Elaine Shaffer lauschend, die zusammen mit ihrem Ehemann, dem Dirigenten Efrem Kurtz in einer Cabane die Morgensonne genoss. Die „Faboulous Four“, die Beatles, kamen alljährlich, lebten zurückgezogen in der Villa les Cèdres, die im Park etwas abseits steht.

Aber auch das: Zu einem mitternächtlichen Gala-Empfang des
Festival du film de Cannes im Eden Roc erschien ein Starlett. Gross gewachsen, „Beine bis zum Hals“, auf high heels und in hot pants, wie man die ultraknappen Shorts damals nannte, mit push-up BH, alles aus Jeansstoff. Anstelle vulgärer Nieten an den Nähten funkelten Diamanten in den Scheinwerfern des Eingangs. Mir war, als zelebriere diese Venus in Blue Jeans mit ihrem Auftritt im glitzernden Licht die neue Zeit des Überflusses, der ungehemmten Lust und der bedingungslosen Verzückung.

Was für eine faszinierende, aber auch eine verwirrende Welt! Verwirrend nicht nur wegen den attraktiven Torsos, die sich um die Piscine Eden Roc räkelten. Geld schien alles möglich zu machen: Macken wurden zu Wünschen, Wünsche zu Befehlen, so unsinnig sie auch sein konnten. Von Morgens halb neun bis Abends spät war ich im Hotel. Immer gab es etwas zu tun, immer jemand, der etwas furchtbar Wichtiges erledigt haben und damit eigentlich nur plaudern wollte.

Trotz der Nähe von Margot, Patrick und Claudine hatte ich Mühe, meinen Platz zu finden, mich selbst zu orten. Obschon grosszügig gehalten, war unser privates Leben total unterschiedlich von meiner beruflichen Atmosphäre, die mich absolut begeisterte und gefangen nahm. Unsere Besuche aus der Schweiz fesselte ich mit meinen Erzählungen. Meine Eltern waren mächtig stolz auf ihren Sohn, und auch meine Schwiegermutter, die öfters bei uns weilte und die ich sehr mochte, zollte mir Anerkennung. Endlich fühlte ich mich auch auf dem Niveau meiner Jugendfreundin Alice und ihrem amerikanischen Mann angekommen, dem Juristen einer Weltfirma. Auch sie willkommene private Besucher aus der Schweiz. Und trotzdem, mir war nicht wohl in meiner Haut, hatte Mühe, die beiden Welten auseinander zu halten. Überall auf der Côte d'Azur und insbesondere in meinem beruflichen Umfeld, dieses viel zu viele Geld, diese erotisch aufgeladene Atmosphäre, immer Sommer, Sonne, gelegentlich der unerträgliche Mistral, dann so etwas wie kein Herbst anstelle von Winter und dann wieder Sommer.

Soll das also dein Leben sein, Wünsche und Launen von Menschen zu erfüllen, deren einziges Problem es offenbar ist, zu viel Geld, zu viel Zeit und zu wenig sinnvolle Beschäftigung zu haben? Ich reichte meine Bewerbung als Leiter für eine Hotelfachschule in Südamerika ein, die von der schweizerischen Entwicklungshilfe unter Schirmherrschaft der DEZA betrieben wurde. Das wäre doch wenigstens etwas nützliches, viel Sinnvolleres!

Man sagte mir von Bern aus umgehend zu. Dann ging ich aber mit mir ins Gericht: „Gib's doch zu, du hast nur Schiss, dich der Verantwortung zu stellen, die du immer angestrebt und jetzt erreicht hast! Was soll dieser plötzliche soziale Trip? Jetzt packst du das! Nach deiner Pensionierung bleibt dir noch genügend Zeit für solche Flausen, falls sie dir bis dahin nicht ausgegangen sind!

Nach drei Jahren als zweiter Mann im Hôtel du Cap d'Antibes-Eden Roc übernahmen Margot und ich zusammen die Direktion des Hôtel du Mont d'Arbois in Megève, Eigentum von Baron Edmond de Rothschild.




Megève. Von der Côte d'Azur in die Savoyer Alpen
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27.  Megève. Von der Côte d'Azur in die Savoyer Alpen

Im letzten Sommer, 1972, zeichneten sich im Hotel du Cap Spannungen ab. Die Zimmer im Untergeschoss vermieteten sich nicht so einfach. Den Stammgästen behagte die Gartenebene nicht. Obschon die Unterkünfte grosszügiger sind als jene der oberen Etagen, wirkliche, geräumige chambres-salon. Sehr elegant eingerichtet, alle Badezimmer mit grossen Marmorplatten rose du Portugal ausgekleidet. Der private Garten davor wirkt einladend. Doch von der Halle aus die Treppe runter – oder im zauberhaften, antiken Lift - anstatt in die oberen Stockwerke zu entschweben - dazu mussten wir jeden Gast erst einmal überreden. So verknurrten wir vorzugsweise neue Gäste des Hauses in den sous-sol, wie die Garten-Etage von den Stammgästen abschätzig bezeichnet wurde.

JC Superstar machte seine Zweifel am Resultat offen kund. Ausser Wolfgang Geisse und der Gattin des Eigentümers sprach niemand aus der Verwaltung französisch. Und JC kein Deutsch. Die Unterhaltungen und Diskussionen tätigte man in einem nicht sehr fliessenden Englisch, ausser mit den zwei genannten Französisch sprechenden Persönlichkeiten. Bei Maja Oetker versprühte Monsieur le directeur seinen ganzen südfranzösischen Charme, grosszügig und erfolgreich. Geisse schilderte er seine Zweifel unmissverständlich und zuweilen scharf formuliert. JC wusste diese vor allem auch an den geeigneten Stellen zu streuen.

Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, mon cher Thommensagte er zu mir eines Tages. „Sie haben das Zeug zum Direktor. Stellen Sie sich vor, ich habe kürzlich vernommen, dass das Mont d'Arbois in Megève eine neue Direktion sucht. Es handelt sich um das einzige „Palace des neiges“ Frankreichs, von denen Ihr in der Schweiz so viele habt. Es ist im Besitz von Edmond de Rothschild. Das wäre doch etwas für Sie! Wenn es Sie interessiert, leite ich Ihre Bewerbung gerne an die passende Stelle.“

Dafür war ich ihm sehr dankbar. Spannungen ertrug ich schlecht, umso mehr als diese sich akzentuierten. Natürlich glaubte ich verstanden zu haben, sowohl von Wolfgang Geisse wie auch von seinem Vorsetzten, Dr. Sandler, dass es im du Cap schon Entwicklungsmöglichkeiten gäbe. Ich müsse sie nur wahrnehmen.

Sowohl aus meinem Naturell heraus als auch berufsbedingt, bin ich harmoniesüchtig. Mir eine Position gegen jemanden zu erkämpfen, der mich darüber hinaus geradezu freundschaftlich behandelt hatte, ausgeschlossen! Mit meinem Hang zur Harmonie bin ich allerdings nicht alleine. Vor allem Hoteliers in Ferienbetrieben leben von der guten Atmosphäre, die unter Gästen, Mitarbeitern aber auch in der Beziehung zwischen Direktion und Verwaltungsrat herrscht. Der schlaue Fuchs JC hatte das schnell einmal festgestellt. Auch bei meiner Weiterempfehlung handelte er nicht unbedingt selbstvergessen. Wir hatten im Frühjahr Max Keller als Empfangschef engagiert, den späteren Direktor des Peninsula Hongkong und Palace St. Moritz. Trotz seiner unbestrittenen Fähigkeiten konnte ihm Keller in der aktuellen Position nicht gefährlich werden: Während ich von der Schweizer Besitzerfirma unter Vertrag stand, hatte Max Keller einen solchen direkt mit dem Hotel. Über diesen entschied Irondelle selbstständig.

Voller Stolz nahm ich die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in Paris an. Diese erging an mich und meine Frau, obschon ich mich als Direktor beworben hatte, nicht wir als Direktionsehepaar wie damals noch üblich. In meiner Laufbahn hatte ich das eine oder andere unglückliche Direktionsehepaar gesehen. Die Frau übernahm traditionsgemäss die hauswirtschaftliche Leitung, verhärmte dabei leider oft, wurde bissig. Niemals wollte ich das meiner Frau antun und mit ihr zusammen arbeiten. Sie sollte für die Kinder da sein und mir entspannte Gefährtin. Ob meiner damaligen Vorstellung von Ehe und Familie kann ich heute nur den Kopf schütteln.

Zu unserer grossen Überraschung empfing uns Monsieur le Baron höchst persönlich. Er schilderte, wie seine Mutter, die Baronne Maurice de Rothschild, nach dem ersten Weltkrieg zur Erholung ins Palace nach St. Moritz kommen wollte, aber nur unter der Bedingung, dass dort keine deutschen Gäste logieren würden. Der erste Gast, der ihr die Hand entgegen gestreckt haben soll, sei ein deutscher Offizier gewesen. Beleidigt, verletzt reiste sie ab und schwor sich, einen Konkurrenzort zu St. Moritz und seinen grossen Hotels zu schaffen. Ihren Skilehrer, Herrn Parodi nahm sie gleich mit. Er würde nicht nur fürs Hotel, sondern auch für die Planung der Luftseilbahnen und Skilifte verantwortlich sein. Megève erreichte zwar nie die Grösse von St. Moritz. Aber es wurde zu einem kleinen, sehr feinen Resort. Madame la Baronne zog sehr elegante Familien an, deren Nachfahren ihrem Sohn, Monsieur Edmond die Treue hielten und deren Kinder wiederum heute ihrem Enkel, Monsieur Benjamin.

"Es geht um nichts weniger als um die Bewahrung und Entwicklung der corbeille de mariage“ meiner Mutter, welche die SFHM SA,  société française des hôtels de montagne verwaltet. Sie umfasst vier Sektionen: die Skilifte und Seilbahnen, denen Maurice Milloz vorsteht. Die promotion immobilière unter der Leitung von Michel Petit, die Sektion Club, Golf, Tennis Reiten unter Christian Henrion, der gleichzeitig der directeur général der SFHM und damit auch wichtige Verbindungen zum directeur d'hôtel pflegt. Die vierte Sektion ist die Hotellerie. Der Linienvorgesetzte des Hoteliers ist Pierre Copin, ein Direktor meiner Bank.

Nebst dem Hôtel du Mont d'Arbois von 150 Betten, das im Winter etwa vier und im Sommer drei Monate geöffnet ist, gibt es das Chalet du Mont d'Arbois, ein Relais de Campagne, mit 13 Zimmern und eigenständigem Restaurant. Es ist das ganze Jahr in Betrieb. Dort empfangen wir die Interessenten für Ferienwohnungen, die wir auf dem Plateau du Mont d'Arbois erstellen, um sie auf unsere Atmosphäre einzustimmen.

Die Verantwortlichkeit des Hoteliers erstreckt sich weiter auf das Restaurant les mandarines, auf 1600 m.ü.M, im Winter zum Lunch geöffnet. Auf 1800 Metern liegt das Hôtel Idealsport, sehr sportlich, mit 60 Betten, eingeteilt in Zwei- bis Vierbettzimmer, dessen grosses Terrassenrestaurant tagsüber auch von Skiläufern geschätzt wird. Es ist von les mandarines aus nur mit dem ratrac erreichbar, mit dem Pistenfahrzeug, sowohl für Gäste wie für Mitarbeiter und auch für die Lieferungen. Beide werden nur im Winter betrieben. Weiter hinten im Tal befindet sich das Restaurant de la ferme Côte 2000, am Fuss des gleichnamigen Skilifts. Dieser, gegen Norden gewandt, ist vor allem im Frühjahr wegen seiner Schneesicherheit beliebt und im Sommer ist das Restaurant Ausgangsort für Wanderungen.

Sehen Sie, Monsieur et Madame Thommen, ich freue mich, Sie kennenzulernen und ich erzähle Ihnen gerne vom Hotel und Megève, dem ich sehr verbunden bin. Aber dass das klar ist: ich will ein Ehepaar, nicht nur einen Direktor. Es macht nichts, wenn die Frau nicht vom Fach ist. Aber es muss immer jemand von den beiden im Hotel sein. Es braucht eine Seele, mein Hotel. Wären Sie denn bereit, Madame Thommen, mit Ihrem Mann mitzuarbeiten?" 

Als hätten wir uns abgesprochen, sagte Margot spontan zu. Damit hatte sie mich tief beeindruckt, denn sie kannte meine Einstellung zu Direktionsehepaaren.

"Aber ich muss Ihnen sagen, Sie beide scheinen mir sehr jung zu sein für diesen Posten. Wissen Sie, die SFHM ist ein panier de crabes, da ist jeder gegen jeden! Schrecklich! Da oben sind Sie dann ganz alleine. Die ideale Direktion wäre um die fünfundvierzig, mit richtigen Ellbogen um sich durchzusetzen! Doch wenn Sie meinen, die Position wäre etwas für Sie, sehen sie sich das Plateau du Mont d'Arbois einmal an und geben Sie uns Bescheid. Ich bitte Sie, das in nächster Zeit zu tun. Wir sind anfangs September und der jetzige Posten-Inhaber geht Ende Jahr nach Hamburg." 

Diskretion gilt, in der Hotellerie, vor allem in der gehobenen, als die hervorstechendste Tugend unserer Zunft. In der Tat wurden Direktoren und Mitarbeiter solcher Häuser, in jenen Zeiten, in denen es noch nicht üblich war, Doppelzimmer an unverheiratete Paare abzugeben, Zeugen von Situationen, deren Verlautbarung nicht allen Gästen zum Vorteil gereicht hätte. Im Hohelied auf unsere Verschwiegenheit schwangen deshalb mehr Hoffnung der Gäste als Tatsachen mit.

Bereits als ich nach Megève fuhr, hatte man mir den Namen eines Kollegen aus Cannes zugetragen, der als bevorzugter Kandidat für die SFHM gehandelt wurde. Margot hatte aber beim Tennis rein zufällig von einer Freundin der Frau eben dieses Kandidaten erfahren, dass sie keinesfalls Lust verspüre, von der Côte d'Azur weg von all ihren Freundinnen in die Berge zu ziehen. Französinnen stehen oder standen zumindest damals im Ruf, verspielte Gattinnen und Partnerinnen zu sein. Aber beim Weg- oder Umziehen aus der gewohnten Umgebung, da hörte der Spass auf. Margot und ich konnten uns deshalb von allem Anfang an gute Chancen für diese Position ausrechnen.

Es war ein zauberhafter Septembertag, als der Chauffeur Marcel mich am Flughafen Genf abholte, damals noch etwas über eine Stunde von Megève entfernt. Direktor Hans Appel, mit dessen Frau Johanna ich an der Hotelfachschule Lausanne in derselbe Klasse gesessen hatte, berichtete mir begeistert von seiner Berufung nach Hamburg während er mich auf und durch die ganze Domäne führte. Er versprach, alles vorzubereiten, damit ich die Saison problemlos angehen könne. Das Personal würde engagiert sein, die Einkäufe getätigt, die Saisonorganisation aufgelistet. Er machte mich mit den Jahresangestellten bekannt, kommentierte deren Stärken und allfällige Schwächen und versicherte, dass mich das Team unterstützen würde. Kühler waren die Treffen im „centre administratif“, wo die Leitung der anderen Abteilungen arbeitete und auch das Büro des Hoteldirektors war. Er hoffe, dass ich mit Monsieur le Baron einig würde und ich mich auch kurzfristig vom Hôtel du Cap freimachen könne, denn er beginne am ersten Dezember in Hamburg.

Auf dem Rückflug am folgenden Tag liess ich mir das Treffen nochmals durch den Kopf gehen. Mit seinen ganzen Aussenbetrieben war der Betrieb wesentlich umfangreicher, als ich mir vorgestellt hatte. Doch ging ich die aufgezeichnete Organisation nochmals durch, notierte mir Fragen dazu und was ich allenfalls zu ändern gedächte. Es gab da noch Einiges zu klären, doch zum Grossteil schien mir das machbar. Den Leuten im centre administratif, die sich vor Hans Appel recht zugeknöpft zeigten, wollte ich erst einmal zuhören. Das musste doch zu schaffen sein!

Margot wartete gespannt auf meine Eindrücke. Wir diskutierten bis tief in die Nacht, obschon uns beiden klar war, dass wir zusagen würden. Wir waren beide einunddreissig, und übernahmen das einzige Palace des neiges de France!

Von Monsieur Copin liess ich mir versichern, dass eine Schliessung des defizitären Hotels niemals auch nur in Betracht gezogen werden könne. Im Gegenteil, man suche intensiv nach einer Lösung, um es tragbar zu gestalten. Amortisationen seien keine zu tätigen, denn diese würden durch die Gewinne der Immobiliensektion getragen.

Die Bedingungen entsprachen unseren Vorstellungen, wir unterzeichneten den Vertrag. Sowohl Herr Geisse wie auch Monsieur Irondelle zeigten sich kooperativ und liessen mich anfangs Dezember ziehen. Zuvor arrangierte Jean-Claude noch ein Treffen mit seinem Bruder, welcher früher ein Wintersporthotel auf der Alpe d'Huez geleitet hatte und mir einige höchst nützliche Hinweise gab:

Ich bin für meine Gäste immer präsent. Ich offeriere meinen Gästen gerne und viel, dafür schalte ich keine Zeitungsinserate. Denken Sie daran, auch für schlechtes Wetter ein paar Unterhaltungen zu bieten. Seien Sie selbst sportlich und zeigen Sie sich auf den Pisten, dem Eisfeld!“

An den Übersiedlung erinnern wir uns nicht mehr. Schnell hatten wir eine Umzugsfirma organisiert, die unseren damals noch bescheidenen Hausrat vorbildlich packten und im Chalet Kisling, unserem neuen Wohnort unter Anleitung von Margot präzise einräumten. Patrick dreieinhalb, Claudine ein einviertel nahmen den Wechsel kaum wahr und erinnern sich nicht daran. 

****

Die ersten Festtage verliefen gut. Auch die distanzierteren Gäste zeigten sich bereits ab der ersten Cocktailparty du directeur aufgeschlossen und zugänglich. Bei der ersten war ich vor Aufregung einem Herzinfarkt nahe. Doch Madame Lacroix, die Elegante, Schöne unter den Schönen kam lächelnd auf mich zu: „Das ist wohl das erste Mal, dass man mir etwas  im Mont d'Arbois offeriert“ Damit löste sie meinen Krampf und alles verlief in entspannter, fröhlicher Weise. Nie, nie hatte ich diese entscheidende Hilfeleistung vergessen, die sie mir unbewusst erbracht hatte!

Aber für Margot war die erste Zeit nicht einfach. Die Verpflegung, die vom Hotel  in unser Chalet geliefert wurde und die Zimmermädchen, welche monatlich und auch für die saisonale Grossreinigungen bei uns mithalfen, erleichterten gewiss die Haushaltführung. Doch nun arbeitete sie erstmals in der Luxushotellerie, die ihr fremd war und hatte unsere Kinder einem Kindermädchen anzuvertrauen. Die ersten beiden, welche je eine Saison mit uns lebten, erwiesen sich als eher unselbständig. Für meine Frau bedeutete das fast ein weiteres Kind, wenn nicht gar zu hüten, so doch zum Ein- und Anweisen. Nachdem wir das dritte Kindermädchen gewechselt hatten, klammerte sich Claudine an Margot und sagte: „Du aber, Mamman, du bleibst doch, oder ?“ Doch dann kam Mathilde, die intelligente, sanfte, mit der wir noch über Jahre nach unserer Rückkehr in die Schweiz Kontakt pflegten, gefolgt von Cathy, mit der wir noch heute, trotz grosser Distanz zu ihrem Wohnort oberhalb Aix-en-Provence, befreundet geblieben sind.

Margot lebte sich dank ihrer kaufmännischen Ausbildung und beruflichen Praxis in der Werbung rasch ein. Sowohl an der Reception und dank ihres gesunden Menschenverstandes, gepaart mit einem ausgesprochenen Sinn fürs Praktische, auch in der Hauswirtschaft. Rasch hatte sie sich den Ruf als freundliche, sehr konsequente Vorgesetzte errungen. „Wenn du etwas willst“, hiess es unter den Mitarbeitern, „dann gehe besser zu ihm als zu ihr...“

Die Spannungen zwischen uns nahmen zu: Margot war wie ich mittelständischer Herkunft. Trotz des guten Ranges der Hotels Marnin und Londra & Beaurivage in Venedig, Umgang mit einer Kundschaft wie an diesem Ort kannte sie nicht. Instinktiv und sehr vernünftig hatte sie seit jeher eine Grenze zwischen beruflichen Kontakten und persönlichen Freundschaften gezogen. Beziehungen zu Gästen aufzubauen empfand sie als Aufgabe. Small talk war für sie oberflächlich, eine Verschwendung der eh knappen Zeit, die sie lieber mit ihren Kindern verbringen würde. Dazu kam, dass sie die Lebensart unserer Gäste nur sehr bedingt nachahmungswürdig empfand. Für mich hingegen war Gästepräsenz stimulierend. Unterhaltungen mit politischen Persönlichkeiten wie dem Bürgermeister von Bordeaux , dem Verleger JJSS“ Jean-Jacques Servan Schreiber, mit Senatoren und Parlamentariern gaben mir da und dort interessante Hintergrund-Informationen über die politischen wie auch gesellschaftliche Geschehnisse. Wie mir das schmeichelte! Für die Familie hatten wir doch so viel Zeit in der Zwischensaison... „Ja klar. In der Zwischensaison holst du uns aus dem Kasten raus und kaum beginnt die Saison, willst du uns wieder darin versorgen“ ärgerte mich Margot. Wie viel Zeit musste vergehen bis ich begriff, dass die vielbesungene Quality time“ der Kinder eben von deren Bedürfnissen und nicht der Agenda der Eltern bestimmt wird.

Irondelles Maxime, nach welcher jene Person das Hotel beherrscht, die Gäste und Mitarbeiter für sich zu gewinnen vermag, hatte ich mir tief verinnerlicht. Sie kam auch meiner Neugierde an Anderen, an meiner Freude am Schaffen eines harmonischen und stimulierenden Ambiente entgegen. Obschon ich blitzartig begriffen hatte, dass ich im Mont d'Arbois nur bestehen kann, wenn ich mich so gebe wie ich bin, ohne mondänen „Überschmäh“, wollte ich Margot nicht zugestehen, dass sie mit ihrem gesunden Menschenverstand und ihren Erfahrungen in der venezianischen Hotellerie es hier schon schaffen werde. Ich verlangte von ihr, dass sie sich ganz nach mir richte, wie etwa folgendes Beispiel illustriert:

Es war Mitternacht und wir waren gerade am weggehen. Ein Gästepaar, eben zurück vom Restaurant, welches wir ihnen im Dorf empfohlen hatten, erblickte uns und wollte seine Begeisterung über den Abend noch unbedingt bei einem Absacker aufleben lassen. Margot war müde. Obschon ich das klar feststellte, willigte ich ein, sehr zur Freude der Gäste, sehr zum Verdruss von Margot.

Ich bin todmüde. War jetzt das wirklich notwendig, nochmals eine Stunde bei so blödem Geschwätz zu verlieren? Hätten die uns das nicht morgen erzählen können?“ knurrte sie auf dem Heimweg. 

Wann immer du kannst, musst du den Gast in seiner Begeisterung abholen. Das ist es, was seinen Eindruck über Haus und Leitung prägt. Morgen ist seine Begeisterung verflogen, die Erinnerung an den Restaurantbesuch ein fait divers unter vielen. Nichts mehr, was ihm eine prägende Erinnerung schafft. Und von diesen leben wir. Von begeisterten Erinnerungen.“

Nichts hätte – und hat mich später – von dieser Überzeugung abbringen können. Meine Toleranz auf diesem Gebiet war gleich null. Eine Haltung, die nicht mit der meinen identisch war oder ihr mindestens glich, entsprach für mich nicht dem beruflichen Ethos, das nach grösstmöglicher Identifikation mit dem Haus verlangte. Gerade in solchen Situationen hatte man sich zu beweisen! 

Die Kundschaft des Mont d'Arbois bestand hauptsächlich aus liberalen Juden. Grossteils war es jenes elegante Pariser Set aus dem Umfeld des Eigentümers. Aus Frankreich kamen sie auch aus der Gegend von Marseille, wenige aus der France profonde, dem Zentrum des Landes. Vom Benelux waren es hauptsächlich Belgier, einige Engländer, praktisch keine Deutsche. Fast alle waren mit Israel verbunden. Drei Eigenschaften stachen aus den vielen hervor, die sie uns vermittelten: Grosszügigkeit, Lebensfreude und Witz, alles im Glanz von bestechender Eleganz. Deren Spass am Verhandeln der Konditionen schränkt ihre Grosszügigkeit in keiner Weise ein. Mir schien es oft mehr im intellektuellen Vergnügen begründet, als im eigentlichen Herausholen eines Vorteils.

Diese Grosszügigkeit fand ich auch in einem ganz anderen Bereich: Zu meinem entsetzten Erstaunen, fand ich am Faubourg St.Honoré 47, am Sitz von Edmond de Rothschild, also im eigentlichen Nervenzentrum des internationalen Kapitalismus unter diversen Zeitungen die Humanité aufliegen, das Zentralorgan der damals so mächtigen kommunistischen Partei Frankreichs. Nie hatte ich zuvor dieses Blatt auch nur anzurühren gewagt! Auf meine schüchterne Frage an Pierre Copin, meinen Vorgesetzten, antwortete er fast verständnislos: „Ist doch klar, dass wir das lesen. Schliesslich müssen wir wissen, was unsere Gegner im Schilde führen.“ Er sagte Gegner. Nicht Feinde.

An Galas und Festen, wie beispielsweise dem Showboat, in welches wir unser Restaurant für Sylvester verwandelt hatten, tanzten unsere Gäste schon beim Betreten des Restaurants, bevor sie sich an ihre Tische begeben hatten, zu den Klängen der ehemaligen haricots rouges. Welch ein fröhliches Einlassen auf die zauberhafte Atmosphäre, die wir mit grossem Aufwand geschaffen hatten! Nicht umsonst ist der schönste Trinkspruch, den ich kenne, ein jüdischer: „auf das Leben.“

Im Nachhinein kann ich in keiner Weise sagen, dass wir als Nichtjuden uns in irgend einer Art ausgegrenzt gefühlt hätten, ganz im Gegenteil. Ob sich das gleich verhalten hätte, wären wir nicht ihre Dienstleister, sondern Konkurrenten gewesen, vermag ich nicht zu sagen.

Wenn die ersten Monate waren für Margot nicht einfach waren, verkamen die ersten zwei Jahre unserer Zusammenarbeit zur Hölle: Obschon Margot ihre Arbeit gewissenhaft erledigte, genügte mir das nicht. Ihr Fehlen jeglicher Begeisterung für Mondänität empfand ich als Unfähigkeit, in einer Ambiance aufzugehen. Wer darin nicht aufgehen kann, vermag keine zu schaffen. Menschen, die sich nicht begeistern können, wovon leben die eigentlich?

Meine Haltung hatte überflüssige Kontrollen ihres Arbeitsgebiets zur Folge, die von Margot verständlicherweise negativ aufgenommen wurden und unsere Beziehung belasteten. Während sie mir vorwarf, ausgesprochen oder im Stillen, meine Verpflichtungen gegenüber der Familie nicht wahrzunehmen, war ich der Überzeugung, dass ihr das Verständnis für diese Art von Hotellerie abgehe – völlig abgehe - ganz zu schweigen vom mangelnden Einfühlungsvermögen in meine grosse Verantwortung! Wie wohl tat mir da das Scherzen mit den Gästen, das flirten, welches unser brillantes jüdisches Pariser Milieu, fröhlich und lustig kultivierte, ohne dem Inhalt irgend eine Bedeutung beizumessen. Wie man etwas sagt ist wichtig, nicht was – Hauptsache, es dient dem allgemeinen Amüsement. Auch das verbesserte Margots und meine Beziehung nicht unbedingt.

Im Moment, wo ich das schreibe, ist mir klar geworden, dass in der heutigen Hotellerie Margots Haltung aktuell ist und nicht die meine. Die meine entsprang wohl auch meiner Unsicherheit, der Situation gewachsen zu sein. Völlig daneben und umsonst: Bereits nach der Wintersaison wurde die elfmonatige Probezeit aufgehoben und unser Vertrag definitiv bestätigt. Mit den Kollegen der SFHM verstand ich mich auf Anhieb, denn mir leuchtete ein, dass der Gesamterfolg der Gesellschaft massgeblich war, nicht das Abheben des Hotels auf Kosten der anderen Abteilungen. Die Mehrkosten, die das beispielsweise bei der Schneeräumung durch die Seilbahngesellschaft mit sich brachte, gegenüber dem, was uns die Gemeinde berechnet hätte, wollte mein Vorgänger auf keinen Fall übernehmen und schuf sich so Schwierigkeiten. Nach wenigen Jahren befanden Verwaltungsrat und Gäste, dass wir beide die besten Direktoren seien, die den Mont d'Arbois je geführt hätten: nie hätte man je zuvor eine solche Wärme im Haus erlebt. Hätte ich Margot freier walten lassen, hätte das unserem Ansehen keinesfalls geschadet, uns beide hingegen wesentlich weniger gestresst und damit das Leben so sehr erleichtert!

Nach einem Jahr in der Wohnung von Appels im Chalet Kisling, eher ungünstig gelegen, zogen wir in ein Chalet inmitten grüner Wiesen im Gebiet le Maz, umgeben von Bauernhöfen. Es trug den Namen Le Fieuleu, nach einem Wind der Gegend. Patrick und Claudine bekundeten keinerlei Mühen, sich in ihren Schulklassen zurecht zu finden, fanden zu unserer Freude schnell Freunde, in der Schule selbst, der Nachbarschaft und auch in der Umgebung des Hotels. Dass es alles Einheimische waren und die beiden nun sehr naturverbunden lebten, machte uns besonders glücklich.

Auch wir wurden gut aufgenommen: noch im ersten Jahr wurden wir von Paul Duvillard in sein Bauernhaus eingeladen, zur Einsegnung seines neuen Hausaltars. Alle Alteingesessenen aus Megève waren da mit ihren Kindern, einfache Menschen, die an ihrer hergebrachten Lebensweise hingen. Für uns war das ein rührender Moment. Er zeigte uns, dass wir in ihrer Gemeinschaft aufgenommen waren.

Hotelierskinder in Häusern der gehobenen Kategorie haben es nicht einfach. Gerne werden sie von Gästen, zu denen sie nicht gehören, verwöhnt. Ebenso problematisch sind Aufmerksamkeiten der Angestellten. Beide Freundschaften sind heikel, denn allzu leicht könnten sie instrumentalisiert werden: Gäste messen der Beziehung zur Direktion oft Brillanz zu. Einige pflegen diese aus verstecktem, teilweise auch aus offenem Interesse heraus. Auf der Mitarbeiterseite läuft man Gefahr, als parteiisch zu gelten, wenn einzelne Mitarbeiter der Familie durch den Kontakt zu den Kindern näher stehen als andere. Margot hatte das sofort erkannt und von Anfang an darauf bestanden, ausserhalb des Hotels zu wohnen. Darin war ich mit ihr einig, obschon es natürlich sehr praktisch, bequem und schmeichelnd gewesen wäre, alle Dienste im Hotel in Anspruch zu nehmen, wenn wir dort gewohnt hätten. 

Unsere Kindermädchen konnten sich nicht über mangelnden Besuch von kleinen Freunden und Freundinnen in unserem Chalet beklagen: Alle waren immer willkommen und kamen auch gerne. Einzelne dieser Freundschaften überdauern bis heute.

Wir betrachteten die Kindermädchen als Teil der Familie. Ihr Zimmer war ihr Refugium, in welchem niemand anders, auch nicht die Kinder, etwas verloren hatten. Sie teilten unseren Tisch bei allen Mahlzeiten. Wenn wir Ausflüge unternahmen oder Besuch hatten, waren sie oft dabei, es sei denn, sie zogen es vor, für sich zu sein oder auszugehen.

Wir hatten es mit den meisten Nurses sehr gut, mit allen, die länger als nur wenige Monate blieben. Wir schätzten ihre Mithilfe, das Interesse, die Zuneigung, welche sie Patrick und Claudine entgegen brachten. Sowohl Margot wie ich fanden den Einfluss der jungen Französinnen auf unser Leben bemerkenswert, oft sogar spannend. Mathilde und Cathy waren beide sehr angenehm und fröhlich. Cathy geradezu geistreich. Ah Monsieur Thommen, un instant de honte est si vite passé- ein paar Gewissensbisse vergehen so schnell“ meinte sie, als ich sie bei einem Griff in die Pralinen an ihre Sorge um ihre Silhouette erinnerte. Ein ander Mal überraschte sie uns mit einem neuen eau de toilette. „Ich dachte, Sie wären treu, Cathy, nun überraschen Sie uns mit einem neuen Parfum?“ „Ich nicht treu, Monsieur Thommen? Ich bin sehr treu, Monsieur, so treu sogar, dass ich es mehreren bin!“

So angenehm eine Haushalt- oder Kinderhilfe sein kann die im Hause wohnt, man ist doch nie mehr ganz für sich. Das traf auch jene seltenen Male für die Ferien zu, wenn die jungen Damen ihren Urlaub aus familiären oder persönlichen Gründen nicht gleichzeitig mit dem unseren nehmen konnten. Dann kamen sie eben mit uns. In eine Wohnung nach Juan-les-Pins oder La Baule und genossen es mit uns, umso mehr als wir in diesen Wochen uns sehr gerne weitgehend selbst um unsere Kinder gekümmert haben.

Wie schön waren die Zwischensaisons! Megève wurde wieder zum Bauerndorf und die seltenen Pariser, die ihre prächtigen Chalets auch in dieser Jahreszeit besuchten, fielen nicht auf. In Bars und Beizen war man unter sich. Traf sich mit Handwerkern, Lehrern, Gemeindeangestellten und natürlich auch mit unseren benachbarten Bauern, den Mitarbeitern der Téléfériques. Die Restaurants waren grösstenteils geschlossen. Gerne erinnern wir uns an Abende, in denen Yves Ziegler, unser Vizedirektor, mit seiner Frau Marie-Hélène bei uns waren oder wir bei ihnen, denn sie wohnten unweit von uns im Maz. Michauds, sein alter-ego mit Frau, waren leider seltener dabei, da sie ein Chalet in einem entfernteren Dorfteil hatten und von ihren fünf Kindern nicht leicht weg konnten.

Yves war ein lustiger. Ein geborener Imitator. Sei es Général Charles de Gaulle, den Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing (dessen Familie Gäste des Mont d'Arbois waren) oder einen von uns, mich inklusive, er karikierte alle! Seine Frau Marie-Hélène war charmant, beide très vieille France. Das bedeutet, dass sie den Traditionen tief verbunden waren, diese aber mit Leichtigkeit und Eleganz lebten. Gerne erinnern wir uns auch Marie-Hélènes Mutter. Sie hatte acht, oder waren es gar elf Kinder geboren, sich nicht nur Witz und Geist bewahrt, sondern auch noch eine beneidenswerte Silhouette. Die Zieglers tauften ihre drei Töchter auf die Namen Astrid, Aude und Alix, damit die Initialen bei jeder auf AZ lauten.

Fachlich wie persönlich waren Yves und ich ähnlich gelagert. Ich erinnere mich nicht, dass wir irgend einmal grundlegende Differenzen gehabt hätten.

Michaud, der kaufmännische Vizedirektor, ergänzte uns beide vorzüglich mit seiner präzisen, skrupulösen Art, die ihm den Namen oncle piquesous“ einbrachten. Auf Deutsch Onkel Dagobert Duck. Genau übersetzt heisst es Pfennigfuchser, Rappenklauber. Hätte ich besser auf ihn gehört, wäre das für den Betrieb vorteilhaft gewesen. Vielleicht nicht mehr so gemütlich und harmonisch und hätte schneller zu Wechseln in einzelnen Positionen geführt. Späte Einsicht...

Wir waren einen guten Monat im Dienst. Da überreichte man mir eines schönen Morgens im Namen des Restaurants eine Streikdrohung: zu lange Arbeitszeiten - zu niedrige Entlohnung. Insbesondere die Aushilfe auf den restaurants de montagne zum Lunch wurde angeprangert. Ich war überrascht, denn ich pflegte einen lockeren Umgang mit allen Angestellten, insbesondere mit jenen aus dem Restaurant, die ich ja bei jeder Mahlzeit begleitete und ich hatte nie irgendwelche Unzufriedenheit festgestellt. Gut, das Delegieren auf die Mandarines, Ideal Sport und an die Côte 2000 war mühsam. Aber sonst? Die Vertragsbedingungen hatte mein Vorgänger Hans Appel festgelegt und niemand hatte diese jemals mir gegenüber beanstandet. Ich wusste nur eines: wenn du das nicht schaffst, bist du geliefert. Das würde Monsieur Edmond beweisen, dass wir für diese Position eben doch zu jung sind.

Ich liess die Brigade zusammenrufen, alle, auch jene, die im Moment frei hatten. Nachdem ich sie zehn Minuten warten gelassen hatte begrüsste ich sie:

Meine Herren, was Sie mir da unterbreiten bedeutet für mich eine persönliche Beleidigung. Die Bedingungen haben Sie mit meinem Vorgänger ausgemacht, niemand hat sie jemals bestritten. Und jetzt so was! Bevor ich auf Ihre Forderungen Stellung nehmen kann, muss ich das mit dem Eigentümer, Monsieur le Baron Edmond de Rothschild besprechen. Wir sehen uns in drei Tagen wieder. Inzwischen erwarte ich einen tadellosen Einsatz!" Schweigend gingen alle zurück an ihre Arbeit.

Im Büro liess ich mir vom Hôtel du Cap die Adressen von Obern und Kellnern geben, die nicht in einer Wintersaison arbeiteten. Ich rief Kollegen an, die ich mir in den vergangenen drei Jahren gemacht hatte, mir im „Falle des Falles“ einen oder zwei Kellner zu schicken. Kein einziger sagte spontan zu. Es wäre heikel, Streikbrecher zu schicken...

Am siège in Paris stellte man meinen Anruf gleich zum Baron durch. „Reden Sie mit den Leuten. Versprechen Sie ihnen eine gute Gratifikation, wenn die Saison reibungslos verläuft.“ Mit anderen Worten: „schauen Sie, wie Sie zu Rande kommen“. Die Gäste hatten die Streikdrohung irgendwie mitbekommen. Insbesondere Fred Lip, dessen Uhrenfabrik in Besançon seine Arbeiter als erste besetzt hatten, wunderte sich spöttisch, wie wir uns da wohl rauswinden würden.

Für den dritten Tag hatte ich sorgfältig einen strengen Zweireiher als Kleidung ausgewählt, mit rosa Hemd und roter Krawatte. Ich war pünktlich im kleinen Salon, wo sie alle auf mich warteten. Schweigend schaute ich in die Runde, jedem in die Augen. Nach einer gewissen Weile hob ich an:

Meine Herren. Ich habe Ihren Brief sorgfältig analysiert, habe ihn mit meinen Kollegen im centre administratif besprochen und wie angekündigt, Monsieur le Baron von Ihren Forderungen unterrichtet.

Monsieur le Baron konnte nicht im Detail auf Ihre Forderungen eingehen. Er ist zu weit weg, geographisch und vom Geschäft. Er hat jedoch für jeden eine Gratifikation in Aussicht gestellt, wenn die Saison ordnungsgemäss verläuft. Es wäre mir somit ein Leichtes, mich hinter den Entscheid des Eigentümers zu stellen."

"Aber meine Herren,“ sagte ich nach einer Kunstpause und in gestärktem Tonfall „so läuft das nicht. Ich bin als Direktor nicht nur Vertreter des Eigentümers, ich bin auch euer Direktor. Wo korrekte Abmachungen getroffen worden sind, muss und will ich denen Nachdruck verschaffen. Wo Ungerechtigkeit oder Unregelmässigkeiten vorliegen, ist es meine Aufgabe, diese zu beheben.

Ich verstehe, dass diejenigen, welche in den Aussenrestaurants helfen müssen, während dem das Hotelrestaurant leer ist, diesen Dienst als zusätzliche Belastung empfinden. Ich schlage Ihnen vor, diese jedesmal mit FF 15 netto zu vergüten, was für diese Stunde Zusatzarbeit grosszügig ist, wie Sie mir zugestehen werden.

Es wird eine Liste täglich bereitliegen, auf welcher Sie die notwendige Anzahl der Extras für jedes Restaurant finden. Die Freiwilligen wollen sich dort bitte eintragen.

Die Grundlöhne habe ich durchgesehen. Sie entsprechen dem Gesamt-arbeitsvertrag. Ich sehe keinen Grund, in der laufenden Saison etwas zu ändern. Wer aber die nächste Saison zurückkommt, dessen Treue soll mit monatlich Ff 100  zusätzlich zum  Gehalt belohnt werden.

Das ist mein Angebot, als euer Direktor. Als neuer Direktor des Mont d'Arbois. Nun haben Sie 10 Minuten, um darüber zu debattieren. Fühlen Sie sich frei. Sind Sie mit meinen Vorschlägen einverstanden, zerreisse ich hier und jetzt Ihren Brief, niemand soll von diesem Vorkommnis Schaden tragen, weder das Ereignis, noch Ihre Namen sollen irgendwo oder irgendwie festgehalten werden. Ich muss Ihnen aber auch sagen, dass Ihr Vorgehen nicht der französischen Gesetzgebung entspricht. Sie befinden sich in einer illegalen Situation. Diese Tatsache und meine Vorkehrungen die ich mit befreundeten Betrieben getroffen habe erlauben mir, Sie allesamt fristlos zu entlassen und zu ersetzen, sollte der Streik tatsächlich ausbrechen." 

Ich hatte mich entspannt. Blieb sitzen. Man hätte eine Fliege gehört. Die Atmosphäre war versteinert. Ich wartete.

Nun, was machen wir?,“ fragte ich nach etwa zehn Minuten. 

Stille.

Monsieur Tabouret, Sie haben doch alles inszeniert, haben Sie vielleicht etwas zu sagen?“

Vous êtes très fort Monsieur le directeur. Vous avez tourné tout à votre avantage“.(Sie sind sehr stark, Herr Direktor. Sie haben alles zu Ihrem Vorteil gedreht.)

Vor den Augen aller zerriss ich den Brief, drückte Tabouret zuerst, danach allen andern die Hand und die Saison ging geordnet, in angenehmer Atmosphäre weiter. Nicht nur das: während wir bis anhin Mühe gehabt hatten, Extras für die Aussenrestaurants zu motivieren, bemühten sich nun plötzlich alle drum. Es hatte uns dreimal nichts gekostet. Für den Kellnerbestand für die Sommersaison musste ich mir keine Sorgen machen, brauchte nicht einmal  Stelleninserate zu platzieren.

Ganz klar. Ich hatte geblufft. Keiner meiner Kontakte hatte mir auch nur einen einzigen Kellner fest vermittelt. Mir bleibt die unangenehme Frage, ob ich wohl auch auf eine solche Lösung mit der doch verdienten Entschädigung für die Extras gekommen wäre, hätte Monsieur Tabouret das ganz einfach höflich angefragt. Und auch die Treueprämie. Er blieb ein ruhiger, angenehmer Mitarbeiter. Später bedauerte ich sogar, den Kontakt zu ihm verloren zu haben.

Eine anekdotische Begebenheit mit einem Mitarbeiter ereignete sich im Chalet du Mont d'Arbois während einer Zwischensaison. Wie eingangs erwähnt, war dieses ganzjährig geöffnet, um Interessenten von Wohnungen zur Verfügung zu stehen, welche unsere Gesellschaft, die SFHM erbaute. Frühjahr und Herbst waren immer ruhige Zeiten, in denen nicht viel passierte und schon gar nicht nachts. Ausser den drei Stützen dieses charmanten Kleinhotels, dem 2. chef de réception, dem tüchtigen und liebenswürdigen Koch Mous(tapha) und einem ebenso guten Kellner behielten wir ein paar Angestellte vom geschlossenen Hotel die es ebenfalls brauchte um einen einwandfreien Betrieb zu garantieren. Zumeist waren das solche, die keine Stelle für die Zwischensaison gefunden hatten. So auch ein chasseur als Nachtconcierge, Léon, ein etwas einfacher Mensch, der aber sehr umtriebig und dienstfertig war.

Madame Valéry Giscard d'Estaing, die Frau des französischen Staatspräsidenten, weilte bei uns zur Erholung von einer Operation. Ihr Privatsekretär, der sie begleitete, gab genaue Anweisung, Anrufe für Madame immer an ihn weiterzu- leiten und niemals direkt durchzustellen. Niemals!

Als meine Frau eines Morgens ihre Arbeit aufnehmen wollte, schlich Léon zerknirscht an sie heran: „Sie müssen mich entlassen, Madame Thommen. Entlassen Sie mich!“

Was ist denn geschehen, Léon?“
Furchtbares. Entlassen Sie mich, Madame la directrice!
Er war dem Weinen nahe. „So erzählen Sie doch.“
Gegen Mitternacht klingelte das Telefon. Man verlangte Madame d'Estaing. Ordnungsgemäss habe ich gefragt: Wen darf ich melden?“
Le Président,“ war die kurze Antwort. Da habe ich die Nerven verloren, den Anruf direkt an Madame durchgestellt mit den Worten:
Madame la Présidente, je vous passe Giscard!“

Giscard nannte man den Präsidenten überall, wo es nicht offiziell zuging. Madame Giscard d'Estaing hatte das Vorkommnis später mit keinem Wort erwähnt.

Von Hans und Johanna Appel hatten wir den Hund geerbt. Sie hatten diesen drei Jahre zuvor von ihrem Vorgänger Petrak übernommen, der von Megève nach Kanada ging. „Tigre“ hiess er und entstammte einer Rasse von Schäferhunden, die lokal gezüchtet worden waren. Seinen Namen Tigre trug er zu Recht, er war ein wilder Kerl. Ein Koch hatte ihm früher angewöhnt, neben seinem Auto herzurennen. Dabei sprang er immer nahe am linken Vorderrad entlang, knurrte und bellte dieses stürmisch an. Eine bedauerliche Eigenschaft, welche diesem sonst so guten Gefährten unserer Kinder nicht viel Sympathien einbrachte. Das halbe Dorf kannte ihn aus unerfindlichen Gründen als chien du Baron, Hund des Barons. Niemand wagte ihm irgendwelche Grenzen zu setzen. Hin und wieder schlich er sich in die télécabine des mandarines, fuhr hinauf und schnupperte im Restaurant herum. Er liess sich von den Gästen da und dort einen Happen reichen, und kehrte wieder zur Kabine zurück. Im Glücksfall. Andernfalls machte er sich auf die Piste und trieb es mit den Skiläufern zu deren Schreck ähnlich wie mit den Autos. Gebissen hatte er niemals irgendwen. Habitués kannten ihn und amüsierten sich mit ihm auf der Piste. Recht erschöpft kehrte er dann ins Hotel zurück und erholte sich hinter dem Bürostuhl meiner Frau.

Votre chien, le tigre, Monsieur le directeur, a voulu faire un enfant à ma fille,“ japste die sonst so charmante Madame Lacroix ins Telefon. Das Mädchen, an welchem unser Tigre so grossen Gefallen fand, dass er es zu bespringen versucht hatte, war eine junge Dalmatinerin, dem Madame ebenso wie sein Herrchen so zugetan waren, dass sie es zuweilen sogar auf ihrem Bett schlafen liessen. So jedenfalls berichteten meiner Frau der Valet und die Femme de chambre vom 2. Stock

Seien Sie ganz unbesorgt, chère Madame,“ beruhigte ich sie. „Alles was mein Hund tut, ist im Preis Ihrer Vollpension eingeschlossen.“ So endete das Scharmützel in einem Gelächter.

Von berühmten Gästen gäbe es auch hier viel zu erzählen: vom Besuch der englischen Rothschilds, der berühmten Familie Oppenheimer aus Südafrika, Schauspielern wie Jacqueline Bisset, Sophia Loren, Monsieur 100'000 Volt Gilbert Bécault und viele andere.

Erwähnen möchte ich Hubert de Givenchy, Grand Seigneur der Haute Couture, und seinen Partner Philippe Venet. Jedes Jahr waren sie bei uns. Bei einem Drink war auch Bettina zugegen, das Supermodel der fünfziger und sechziger Jahre, Verlobte Ali Khans, dem designierten Aga Khan, der jung bei einem Autounfall ums Leben kam. Die Plauderei hatte ich auf die ewige Krawattenpflicht gelenkt. De Givenchy und Venet trugen grundsätzlich nur cashemere ensembles, Rollkragen-Pulli und Gilet Auch diese beiden Herren, trotz ihrer Berühmtheit, speisten im Vorzimmer des Restaurants, wo krawattenlose Gäste, etwa im Turtle-Neck bedient wurden. Beide fanden es unerlässlich, an der Krawattenpflicht festzuhalten. Bettina gab dazu ihre wunderbare Definition von Eleganz:

Wenn Ihnen am Restauranteingang jemand durch seine Kleidung auffällt, Monsieur Thommen, dann ist die Person nach der Mode gekleidet. Fällt Ihnen jedoch jemand ihrer Erscheinung wegen auf, dann ist sie elegant. Eleganz ist nämlich nicht eine Frage der Kleidung, sondern des Herzens.“

Wesentlich weniger elegant behandelte das Thema ein pied noir“ so nannte man französische Rückkehrer aus Algerien nach dessen Trennung von Frankreich. Monsieur Zizi,-welch ein Name – empörte sich dermassen, als ihm der Zutritt ohne Krawatte ins Restaurant verweigert wurde, dass er den Oberkellner Marcel Livertout angreifen wollte. Dieser flüchtete sich in die Nische hinter seinen schweren Schreibtisch aus Metall, mit zwei Schubladen-Korpus. Der untersetzte, bullenartige Mann packte das Pult und schleuderte es gegen den Restaurant-eingang. Mit der Brigade scharten wir uns um Marcel Livertout, verdankten Monsieur Zizi seinen Besuch und baten ihn eindringlich, sein Zimmer vor zwölf Uhr  am folgenden Tag zu räumen.

Unglaublich, wie viele Diskussionen die Krawattenpflicht entfachte! Die Krawatte war ursprünglich ein Umhang der Landsknechte, mit welchem sie sich den Mund abwischten. Später wurde es zu jenem langlebigen Mode-Accessoire, welches im neunzehnten Jahrhundert Wohlhabende von einfachen Menschen unterschied: letztere hatten für solchen Firlefanz ganz einfach kein Geld. So war es damals einfach, den Herrn vom Knecht zu unterscheiden...

Lustiger behandelten das Thema zwei Franco-Libanesen, die mit ihren jungen Frauen fröhliche Ferien bei uns verbrachten. Die beiden Herren präsentierten sich im Turtle-Neck ohne ihre Frauen am Restauranteingang, wo Marcel Livertout die beiden stoppte. 

Sehen Sie den Herrn, der dort im blauen Anzug und Krawatte an Tisch 15 speist?,“ fragte der eine. „Das ist mein Chauffeur. Macht nichts, Marcel. So essen wir heute Abend eben ausser Haus.“

Anekdotenhalber erwähne ich hier die Geschichte der Damen in Hosen, denen der Zutritt zum Restaurant ebenfalls nicht gestattet war. Zu Beginn der sechziger Jahre, kurz vor dem mini-jupe, kam die Mode der Hosenanzüge für Damen auf. Über die Hosen trugen die Damen einen knielangen Kasak. Eine hübsche junge Frau, welche im Hosenanzug am Eingang eines eleganten Restaurants abblitzte, entfernte sich kurz, kam ohne Hose zurück und ging kurz danach am verdutzten maître d'hôtel vorbei ins Restaurant.

Idealerweise hält der Hotelier die Funktion des arbiter elegantiarum inne wie im alten Rom, der aufgrund der Erscheinung entschied, wer elegant genug war, um zu den Banketten zugelassen zu werden und wer nicht. Ein solches Amt ist wohl nur Besitzern vorbehalten, die einen kultivierten und weiten Begriff von Eleganz pflegen. Eine solche Rolle ist als Angestellter, auch in der Position des Direktors, nur schwer wahrzunehmen.

Aussergewöhnlich war die Organisation der Bilderberg-Meetings im Jahre 1974. Diese Treffen wurden in den Nachkriegsjahren von Prinz Bernhard der Niederlande ins Leben gerufen, um die transatlantischen Beziehungen zu verbessern und stärken. Diese Zusammenkunft versammelt eine gute Hundertschaft der bedeutendsten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, teilweise der Kultur aus aller Welt, um ohne Beisein von Presse und Medias frei über die Weltlage reden zu können und Ideen zu deren Verbesserung zu entwickeln. Ihre Abgeschiedenheit hat die Organisation völlig unbegründet in die Nähe von Verschwörungen gerückt.

Die hundertzehn Teilnehmer wurden von 350 Polizisten beschützt, von der Anreise am Flughafen Genf über die Fahrt zum Mont d'Arbois. Unser Gebiet war in jenen Tagen völlig abgeriegelt. David und Nelson Rockefeller, damals sechzig und achtundsechzig Jahre alt, wurden gebeten, ein Zimmer zu teilen. Nelson war zu jener Zeit Vizepräsident der Vereinigten Staaten, David der Kopf der Chase Manhatten Bank. Beide nahmen sie es mit Humor: „Seit unseren Kindertagen haben wir das nie mehr getan," Gianni Agnelli langweilte sich und liess sich eines schönen Abends per Helikopter ausfliegen.

Weniger banal zeigte sich die Präsenz des türkischen Delegierten. Zu jener Zeit herrschte Krieg auf Zypern. Einer unserer Rezeptionisten war griechisch-zypriotisch und ausgerechnet er sah am TV seinen Bruder im Kampf . „Wenn meinem Bruder etwas geschieht, bring ich den Türken da um,“ schwor er. Unnötig zu sagen, dass wir ihn nie ausser Acht liessen, ihn immer jemand begleitete der ihn diskret vom Fernsehen fern hielt. Das war damals sehr viel einfacher als heute. Wir filterten auch mögliche Anrufe an ihn, was die damaligen nur halbautomatischen Telefonzentralen mühelos erlaubten. Trotzdem: Gott sei Dank geschah seinem Bruder nichts. Der ganze Anlass lief ab wie geplant, Baron de Rothschild äusserte sich zufrieden.

Im Mai jenes Jahres unternahmen Margot und ich zusammen mit den Kindern fantastische Ferien. In unserem Renault R16 fuhren wir nach Genua, schifften ein nach Malaga, durchquerten Spanien über Sevilla und Jerez de la Frontera nach Portugal. Wie eigenartig, niemand wollte bei der Ankunft an der Grenze unsere Francs in Escudos wechseln. Alle redeten von Revolução, Revolução. Wir verstanden kein Wort. Erst bei Ankunft bei unseren Freunden Hans und Tami Rutishauser in Albufeira klärten sie uns auf, dass eine Revolution im Gange sei, die Nelkenrevolution! Doch unten an der Algarve spürte man nichts davon. Wir verlebten herrliche Wochen, bestaunten die wunderbare Landschaft, die damals noch weitgehend unverbaut war. Hans und Tami führten ein familienfreundliches Aparthotel, alles kleine Villen mit eigener Küche, was fürs Frühstück und Abendessen mit den Kindern ideal war.

Nach unserer Rückkehr stellte Monsieur Edmond das neue Projekt für den Mont d'Arbois vor: Das Hotel sollte sehr viel luxuriöser gestaltet werden, mit einer Erweiterung von Chalets und Wohnungen in privatem Eigentum, mit Hotelservice, schön ineinander verschachtelt und miteinander verbunden, .

Ich besuchte in der Folge ähnliche Einrichtungen, von denen es damals noch nicht viele gab, schloss auch Kontakte mit einer ähnlichen Organisation auf den Barbados, mit welchen ich bereits einen Wohnungs-Austausch erwog. Das Konzept konnte ich beeinflussen, sodass der Hotelservice nicht mehr im Verkaufspreis eingeschlossen war, wie das jemand aus Monsieur Edmonds Umfeld sehr zu meinem Entsetzen wünschte. Dieser Service würde nach Aufwand berechnet. Das Projekt begeisterte mich und ich kann nur bedauern, dass es nie zur Ausführung kam. Alexandre Lamblin, ein sehr begabter Architekt und Innendekorateur hatte tolle Skizzen entworfen und ich bin noch heute überzeugt, dass deren Realisierung erfolgreich geworden wäre.

Die Entwicklung zog sich über mehrere Jahre dahin. Monsieur Edmond war zahlreichen Beeinflussungen ausgesetzt, die mit immer neuen Einfällen die Idee verwässerten, verfremdeten. Es gab Stimmen, die sagten, seine Frau Nadine sei Megève nicht so zugetan, weil sie dort noch immer als die Schauspielerin galt, die sie gewesen war und nicht als wahre Baronne wahrgenommen würde. Gleichzeitig spürte man das Aufkommen der Linken in ganz Frankreich, bis schliesslich François Mitterand zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Der Baron sah rabenschwarz: „Nun kommen die Kommunisten ans Ruder. Niemand mehr wird auch nur einen einzigen Franc in Frankreich investieren,“ orakelte er. „Wir müssen zu einer Formel finden, die sich jede Sekretärin leisten kann.“ Die Folge war das aktuelle Time-sharing Modell.

Ist diese Formel mit seiner Unzahl an Mitbesitzern denn auch wirklich erfolgs- versprechend?“ fragte ich Alain Mansion, die rechte Hand von Pierre Copin. „Wenn man alles Bestehende als abgeschrieben betrachtet, ja.“ 

Na dann danke schön und Glückwunsch für diese geniale Idee. Mir wirft man vor, die Abschreibungen nicht erbringen zu können und man deshalb zu dieser Formel greife.“

Das war natürlich Unsinn. Niemand hatte mir irgendwann irgendetwas vorgeworfen. Ich hatte mich, noch ganz von Irondelles Haltung inspiriert, viel zu sehr und weit über meine Position als angestellter Direktor hinaus mit dem Mont d'Arbois identifiziert. Ein Fehler, den ich noch lange beibehalten würde.

Das sei sein grösster Fehler gewesen,“ hatte er Annecy, seiner Erzieherin Catherine Pfeiffer, einer Davoserin anvertraut. Sie war uns wohl gesinnt und hatte uns das später, lange nach unserem Wegzug einmal erzählt.

Die Schliessung war für Herbst 1978 geplant. Die gesetzlichen Vorgaben verlangten, eine Betriebsschliessung ein Jahr im voraus den Mitarbeitern anzukündigen. Immerhin vermochte ich diese auf das folgende Frühjahr hinauszu- ziehen. Unser Argument, dass auf den Winter die Mitarbeiter grössere Schwierigkeiten hätten eine neue Stelle zu finden, wenn alle Kurorte am Meer schliessen und sich deren Angestellte ebenfalls auf den Arbeitsmarkt ergiessen, wurde Gott sei Dank erhört. Es leuchtete auch ein, die rentablere Wintersaison noch zu bestreiten.

Margot und ich setzten alles daran, damit ja keine Endzeitstimmung aufkam, weder unter den Gästen, und schon gar nicht unter den Mitarbeitern. Nachdem nun nach Jahren des Lavierens endlich ein Entscheid für die Zukunft gefallen war, wirkte das irgendwie erlösend auf uns alle.

Mit dem Pariser Juwelier Fred gestalteten wir einen Höhepunkt, der auch in der Presse Widerhall fand: Eine Soirée Offenbach mit Robert Manuel, dem Offenbachspezialisten seiner Zeit, mit seinen Sängern. Durch einen Bekannten gelang es uns, die Kostüme der Operette „La Péricole“ zu mieten, entworfen vom Kunstmaler Carzou, mit denen Fred die Gäste grosszügig einkleidete. Es wurde ein grossartiger Abend, mit einem ganz besonderen Clou: Unser Küchenchef, Michel Poitoux hatte fünf Jahre lang Gesangsunterricht am Konservatorium genommen. Er schritt in seiner Kochuniform als König Ménélas beim Quintett der Schönen Helena singend durch den Saal!

Meine Frau und ich dürfen den Mitarbeitern einen dicken Kranz winden: Niemand liess sich gehen, alle waren bis zum Schluss voll und ganz bei der Sache. Der Ruf des Mont d'Arbois und die Unterstützung, die wir den Stellensuchenden boten, hatten vielen zur Neuorientierung geholfen. Sicher ebenso sehr wie die Tatsache, dass bei Betriebsschliessungen der französische Staat ein volles Jahr 104% des Nettolohns leistete.

Überrascht hatte uns, wie sich die Gäste auf die 13 Zimmer im Chalet stürzten, dessen Preise auf die bevorstehende Sommersaison im Minimum verdoppelt wurden: Diejenigen, welche bei jeder kleinen Preiserhöhung am lautesten protestiert hatten, waren die ersten, die Anzahlungen auf ihren Sommerreservierungen leisteten...

Margot und ich waren drauf und dran gewesen, uns ein Chalet zu kaufen und uns um die französische Staatsbürgerschaft zu bemühen. Gut zwei Jahre zuvor brachten sich Patrick und Claudine Hand in Hand vor uns in Stellung: Vous deux, vous êtes Suisses. Nous deux, on est Français –Ihr zwei seid Schweizer – wir beide sind Franzosen!"

Unsere Absicht Franzosen zu werden, stiess auf völliges Unverständnis in unserem Umfeld. „Was? Seid Ihr von Sinnen? Wir würden alles tun um den roten Pass zu erhalten und Ihr wollt Franzosen werden?“

Irgendwie ging alles zusammen: Die Timesharing Property hatte nichts mit dem zu tun, was wir unter Hotellerie verstanden, nämlich das individuelle Eingehen auf möglichst jeden Gast. Das wäre von schwierig bis unmöglich geworden: „Besitzer auf Zeit“ haben andere Erwartungen als ein Gast. Bei diesem Konzept hätten wir anstatt der Exzellenz den besten Preis anstreben müssen. Cathy hatte geheiratet und würde uns sowieso verlassen. Tigre war alt geworden, litt an den Folgen der Misshandlung, die ihm ein Nachbar mit seiner Mistgabel angetan hatte.

Die Frage stellte sich, unsere Karriere international zu entwickeln oder in die Schweiz zurückzukehren. In Frankreich selbst zeigte sich im Moment nichts auf dem Niveau der Leading Hotels of the World, dem das Mont d'Arbois bis anhin angehört hatte. International tätig zu sein hätte möglicherweise bedeutet, die Kinder an einer international school, möglicherweise in einem Internat weiter zu schulen. Das wollten wir auf keinen Fall, sondern viel eher vom guten Niveau der Schulen zu Hause profitieren.

Margot und ich hatten die Wahl zwischen dem National Luzern, dem Kurhaus Lenk und dem Palma au Lac in Locarno. Nach zehn Jahren Frankreich schien uns das Tessin die geeignetste Zuflucht zu sein. Gleichzeitig wollten wir, beide nunmehr gegen vierzig, ein bleibendes Hauptquartier aufschlagen. Grosser Nachteil der sehr vorteilhaften „freien Station“ eines Saison-Hoteliers ist der zwingende Wohnort- und Wohnungswechsel, der mit beruflichen Veränderungen einhergeht. Das ist für Kinder nicht unproblematisch. Sie sollen wissen, wo sie zu Hause sind und sich geborgen fühlen.

Unweit der Piccola Baronata, in welcher der russische Denker, Revolutionär und Anarchist Michail Bukanin 1869 Aufnahme gefunden hatte, kauften wir unsere erste Wohnung. Am 18. März 1979, nach einer kleinen Party zu Patricks zehntem Geburtstag und zum Abschied von allen kleinen Freunden der Kinder, reisten wir mit vollgepacktem Auto ins Tessin. Bei strömendem Regen trafen wir gegen drei Uhr früh im Hotel La Palma au Lac in Locarno ein.

 

 

 

 

 

Sesshaft am Lago Maggiore
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28.  Sesshaft am Lago Maggiore

Auch unter diesem strömenden Regen war die Gegend zauberhaft. Er sollte noch zehn Tage anhalten. „La Buzza“ nennt man dieses Phänomen hier. Es wäscht alles runter, treibt das morsche Holz der zahlreichen Bäche und Flüsse in den Lago Maggiore. Danach bricht gewöhnlich das sonnige Sommerhalbjahr an.

Wir waren beide neununddreissig. In diesem Alter sollte man sich langsam Gedanken zur Sesshaftigkeit machen. Patrick und Claudine sollten von jetzt an wissen, wo sie zu Hause sind und sich da geborgen fühlen.  Mit dem Wohnungskauf ging die Unterzeichnung der Hypotheken einher, der Abschluss einer Lebensversicherung mit Sparanteil und einer reinen Risikoversicherung für den Fall, dass meine Gesundheit oder ich ganz abhanden käme. Der Versicherungsmakler war ein sehr gepflegt gekleideter Herr, der mir die Adresse seines Schneiders in Como anvertraute. Wenn das alles nicht vorteilhaft für Sesshaftigkeit war, was dann?

Wir fanden eine Wohnung inmitten eines grosszügigen Gartens mit bemerkenswertem Schwimmbecken. Ja, warum nicht Minusio? Ist ja wie Höngg in ZH, oder Schwamendingen, wo wir die ersten sehr glücklichen, verheirateten Jahre lebten. Oder Hottingen, wenn man's wohlhabender will. Zu Fuss, entlang dem Torrente Navegna hinunter, dann dem See entlang, erreichten wir in zwanzig Minuten unseren Arbeitsort, das Hotel La Palma au Lac. Damals rühmte es noch 5 Sterne und war Mitglied der Leading Hotels of the World.

Wir hatten schon von Frankreich aus mit den Schulbehörden einen Termin reserviert, um zu erfahren, wie das Schulsystem im Ticino funktioniert. Der Beamte erklärte es uns recht ausführlich. Plötzlich fragte er: „Sie leiten das La Palma au Lac. Wo genau wohnen Sie, wissen Sie das schon?“

„Am vicolo della pergola 12, in Minusio.“
"In Minusio? Nicht in Locarno? Ja dann müssen Sie sich mit den dortigen Schulbehörden treffen. Alles Gute.“ Damit war die Unterhaltung beendet.

Das war die erste Lektion in Tessiner Kirchturmpolitik. Mit der Schule in Minusio, geleitet von Silvano Fiscalini und die Mittelstufe von Annamaria Gélil, hätten wir es nicht besser treffen können. Schulleitung, Lehrer und Eltern kannten sich fast alle persönlich, man pflegte einen sehr angenehmen Kontakt. Das vermittelte den Kindern Vertrauen und erleichterte ihr Einleben in die neue Umgebung. An Besuchstagen in der Schule gab es sich, dass mehrere Elternpaare danach in der Campagna oder sonst wo zu Wein und Essen zusammensassen. Da und dort gab es eine Gruppe von Müttern, die sich nach den täglichen Kommissionen zum Kaffeeschwatz trafen. Unsere Kinder sind (2019) mittlerweile selbst dem halben Jahrhundert nahe. Diese Kreise treffen sich noch heute, in nur leicht veränderter Form.

Alles erschien uns klein. Klein unterteilt. Klein kariert. Tessin, das war doch die Côte d'azur oder die Riviera der Schweiz; wo aber bleibt die Grosszügigkeit von Cannes, die emsige, franco-italienische Urbanität Nizzas?

Damals hatte der Kanton Tessin eine Viertelmillion Einwohner und eine Unzahl Gemeinden. Trotz der Fusionswelle die seitdem losgetreten wurde, haben wir es auch bis heute noch nicht fertig gebracht, die Polizei der Gemeinden von Minusio (7'000 Ew), Muralto (3'000 Ew) und Locarno (15'000 Ew), allesamt in 30 minütiger Fussgängerdistanz, zusammenzulegen. Minusio ist nicht Muralto, Muralto nicht Locarno und Locarno und Ascona (5'500Ew) sind sich spinnefeind: wo Asconas Villenviertel beginnt endet Locarnos industrielle Zone. Ascona hatte bis vor wenigen Jahren einen Gemeinde-Steuersatz von 45% (heute 75%), Locarno einen solchen von 100%, Muralto von 85% und Minusio von 78%. Früher, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, soll die Gegend auch noch sprachlich unterschiedlich gewesen sein. Den Dialekt von Orselina, das oberhalb von Minusio liegt, sollen die Leute unten am See nicht verstanden haben. Damals anfangs des 20.Jh, als ein Schulmeister die Stelle im armen Orselina ablehnte, ablehnen musste, weil man ihn nicht mit Geld sondern nur mit Land bezahlen konnte, dessen qm kaum 20 Rappen wert gewesen sein soll. Womit hätte er denn seine Familie ernähren und kleiden können? Trotzdem, irgendwie vermittelt uns diese eng verwobene Struktur Geborgenheit, das Gefühl dazu zu gehören.

Patrick und Claudine sprachen bei unserer Ankunft kein Wort Italienisch. Glücklicherweise funktionierten die Schulen im Tessin damals schon ganztägig. Für die Kinder aus den Tälern boten sie einen Mittagstisch, für die Kleinen Schlafgelegenheit nach dem Essen, also alles das, worüber die Deutschschweiz und insbesondere Zürich heute noch, vierzig Jahre später werweisst, ob und wie so etwas einzuführen sei. Unsere Kinder beeindruckten uns, wie sie an die Sache herangingen. Wie überall Fremde, die nichts verstehen, wurden auch unsere beiden nicht eben spontan aufgenommen. Eine ausschliesslich italienischsprachige Studentin unterstützte uns im ersten Jahr in der Kinderbetreuung. Während den Schulferien, die hier zweieinhalb Monate dauerten, steckten wir Patrick und Claudine in die Tessiner Ferienkolonie in Sognono, am Ende des Val Verzasca. Erst nach zwei Wochen war der Elternbesuch erlaubt, dafür durften wir sie den Sonntag über nach Hause nehmen. Wir brachten sie nach einem wunderbaren gemeinsamen Tag abends wieder zurück. Hand in Hand standen Patrick und Claudine da und winkten uns beim Wegfahren. Wir fühlten uns den Tränen nahe, als wahre Rabeneltern. Doch ihre grosse Anstrengung wurde belohnt: sie sprachen und verstanden italienisch ganz ordentlich und ohne eine Klasse zu wiederholen, konnten sie im Herbst in die nächst höhere übertreten.

Der Hotel Betrieb war ein ganz anderer: Ganzjährig geöffnet. Obschon in einer Tourismusregion gelegen, war das La Palma au Lac mehr Stadt- als Ferienhotel. Das Hotel entsprach weder von der Lage her, wo es eine Durchfahrtstrasse vom See trennte, noch von seiner Substanz und schon gar nicht von seiner Inneneinrichtung her dem Niveau, welches Gäste von einem Leading Hotel of the World erwarten. Ursprünglich als Apartment Haus gedacht, hatte dieses Arturo Bolli erworben. Herr Bolli war ein pfiffiger Mann. Er verstand es, dieses Gebäude in eines der bestbekannten und geradezu berühmten Hotels der Schweiz zu entwickeln. Er hatte die Werbewirkung hochstehender Gastronomie begriffen. Diese war das Leitmotiv seiner ganzen Werbung und alles weitere, Zeitungsartikel, TV Sendungen waren die natürliche Konsequenz seiner Anstrengungen. Klar, dass er bei der populären Chaîne des Rôtisseurs Grand Officier war, den Club gastronomique Prosper Montagné – Académie Suisse des Gastronomes mitbegründete. Ja sogar die damals noch rein französische und sehr elitäre Vereinigung „Tradition et Qualité“ hatte ihn mit seinem Grill „Coq d'Or“ als erstes ausländisches Mitglied aufgenommen. Alle Korridore des Erdgeschosses im La Palma waren mit unzähligen Diplomen, Ehrenmeldungen, Auszeichnungen und Goldmedaillen geschmückt, welche seine Brigade an internationalen Kochkunstausstellungen errungen hatte. Küchenchef Artino de Marchi blieb dem Hause treu, auch als es in die Hände der Zentra AG überging, unsere Arbeitgeberin. Diese hatte die Schauküche im Grill eingerichtet. Diese Investition, die Leistungen der Chefs Artino de Marchi, Gérard Périard und nicht zuletzt meine Verbindungen zu Georges Prade, eine Grösse in französischen, kulinarischen Zirkeln machten, dass dieses Lokal mit den begehrten zwei Sternen vom Guide Michelin ausgezeichnet wurde.

Als einziges fünf Sterne Haus am Platz war es von den massgebenden Veranstaltern für Ehrengäste immer gefragt. Allen voran das internationale Filmfestival Locarno brachte manche Stars und wichtige Leute aus dem Filmbusiness im Hause unter.

Ein Jahresbetrieb verläuft ganz anders als ein Ferienhotel, welches nur im Winter und im Sommer geöffnet ist. Mit Ausnahme der „resident guests,“ den Langzeitmietern, sind die Aufenthalte kürzer. Die Highlights zu denen beispielsweise die Ostertage, der erste August gehörten, empfand ich weniger intensiv, als beispielsweise Weihnachten und Sylvester in der Berghotellerie wie Megève, den Karneval weniger ausgelassen. Das hatte hauptsächlich damit zu tun, dass es hauptsächlich Restaurant-Kunden von ausserhalb und weniger die Hotelgäste waren, welche das gros zu diesen Festivitäten bildeten. Die Stadtkundschaft lernten wir ebenfalls kennen, doch hatten wir beide niemals den vertrauten Kontakt wie zu Hausgästen, die Jahr für Jahr eine bis mehrere Wochen bei uns verbrachten.

Es war ein viel regelmässigerer Betrieb als Megève. Wir frühstückten mit den Kindern gemeinsam zu Hause, kamen danach zur Arbeit. Margot kümmerte sich um das, was man heute Front Office nennen würde, nämlich um Empfang, Conciergerie, Etage und Lingerie, während ich mich um Restauration, Personal, Kaufmännisches und Marketing kümmerte. Letztere beiden wurden weitgehend von der Zentrale in Stansstad gesteuert und entsprechend intensiv war das Reporting, welches mit jedem zusätzlichen Direktor in der Zentrale zunahm. Obschon die Mitarbeiter nur zu einem kleinen Teil in unseren Personalhäusern lebten, waren wir mit ihnen recht eng verbunden. Das hing wohl mit deren italienischer Mentalität zusammen: la famiglia. Diesem Geist, der auch der unsere war, waren sie natürlich zugetan.

Auch im Palma gab es Stammgäste, auf die wir Jahr für Jahr zählen konnten. Mit Rührung denke ich an Rabbi Carlebach aus Manchester zurück, sehr gerne an die Familie Reichlin, und viele andere. Darunter eine witzige, sehr charmante Berlinerin. Von einem Gast sagte sie: „Der? Ach, den kenne ich eigentlich nur vom Wegsehen.“

„Er kann aber sehr nett sein.“

„Wissen Sie, Herr Thommen, Leute die nett sein können interessieren mich nicht. Mich interessieren nur Leute, die nett sind.“

Besondere Aufmerksamkeit widmeten wir unseren Jahresgästen und solchen, die den grössten Teil des Jahres in der „Casa Palma,“ dem Apartment-House des Hotels, mit entsprechendem Service wohnten:

Professor Kempner war ursprünglich Berliner, der nach Amerika emigriert war. Kurz nach dem Beginn des Krieges hatten er und seine Frau sich aus den Augen verloren. Er kam als Offizier mit der amerikanischen Armee nach Europa zurück und war am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/1946 stellvertretender US-Ankläger. Ein paar Jahre später heiratete er seine damalige Gerichts-Assistentin. Ende der Fünfzigerjahre aber tauchte seine Frau wieder auf. So reisten sie überall im Trio umher und wohnten auch im La Palma zu dritt.

Kurz vor unserer Ankunft war der Dauermieter Salvador de Madariaga verstorben. Dieser frühere spanische Botschafter in Washington und beim Völkerbund in Genf war vor Franco nach Oxford entflohen, wo er eine Professur für spanische Literatur innehatte und sich auch als weltweit angesehener Journalist betätigte. Er war in der düsteren Zeit der dreissiger/vierziger Jahre bis in die sechziger hinein das gute liberale Gewissen Europas, Leitartikler von führenden westlichen Zeitungen. Seine Witwe Emilia „Mimi“ war uns sehr zugetan, auch den Kindern. Sie war mir eine wunderbare Spanisch Lehrerin. Als solche schenkte sie mir die Bücher ihres verstorbenen Gatten, wie etwa Francisco Cortez, das Herz von Jade, die witzigen dialogos famosos, in deren campos eliseos sich Goethe, Maria Stuart, Voltaire, Napoleon, Karl Marx und Präsident Washington über Faschismus und Kommunismus unterhalten.

Frau Gottlieb sagte man 20% an Metro Goldwin Meyer nach. Welch eine quirlige, charmante alte Witwe, ursprünglich Sudetendeutsche, die mit ihrem Mann in Mexico gelebt hatte, bevor sie ihr Leben zwischen Locarno und Gstaad aufteilte. In allen Vereinigungen war sie aktives Mitglied: Alliance Française, Angloswiss Club, dem spanischen, dem deutschen Club und sowieso im International Club.

Die anglo-irische Dichterin Sheila Wingfield, mit wahrem Namen Viscountess Powerscourt, war die mondänste von allen. Für sie hatte man zwei Zimmer im fünften Stock des Hotels zu einer eleganten Suite umgestaltet. Den Winter verlebte sie auf den Bahamas. Da sie nur Englisch, und Italienisch mit einem starken Akzent sprach, die anderen Dauergäste aber hauptsächlich Deutsch, nahm sie an den gemeinsamen Anlässen mit den übrigen Dauermietern kaum teil.

Dann gab es da eine Schweizer Rentnerin, deren Wohlergehen sehr vom Börsenkurs abging. Wie viele, die ihren Unterhalt hauptsächlich mit Geldanlagen bestreiten, hatte, ja pflegte sie geradezu eine ausgesprochen pessimistische Lebenshaltung. „Meinen Sie, es werde andauern, das schöne Wetter? Schon heute Nachmittag wird es regnen“ meinte sie, nachdem sie missgelaunt in den strahlend blauen Himmel blickte und die verfrühte Rückzahlung einer hochverzinslichen Anlag beklagte. „Sehen Sie, Frau Tanner, das schöne Wetter ist wie das Glück. Geniessen Sie es, wenn es da ist und fragen Sie nicht, wie lange es dauert,“ versuchte ich sie zu trösten.

Die gescheite Frau Gersmann, verbrachte hauptsächlich den Frühling und den Herbst, zuweilen auch den Winter bei uns. Die übrige Zeit lebte sie im Hotel Beau Rivage in Ouchy. Ihre bevorzugten Situation schien ihr die Weisheit Sacha Guitrys zu bestätigen, dass Geld zwar nicht glücklich macht, aber erlaubt, auf angenehme Art unglücklich zu sein: Ein Portier versuchte sie aufzumuntern, als sie mürrisch zu ihrem Apartment zog. Er wies sie darauf hin, wie gut es sie doch habe, an einem so schönen und vorzüglichen Ort wie unserem Hotel in Locarno zu wohnen:

„Schauen Sie doch mich an, wie ich ihre Koffer schleppe!“

„Ist doch klar: Sie haben's in den Muskeln, ich aber habe meine Muskeln im Kopf,“ schnauzte sie ihn an, während er gutmütig lachend ihr Gepäck zum Auspacken platzierte.

Eine bemerkenswerte Dame war Frau Orenstein. „Kennen Sie doch, Orenstein & Koppel? Vor dem Krieg bis zu 15'000 Angestellte.“ Wir erfuhren, wie die Familie im Zuge der Arisierung deutscher Unternehmungen enteignet wurde. Sie emigrierten und führten ihre Niederlassung in Südafrika weiter. Ihr Sohn war auch in Kenya tätig. Vielleicht war es dieses abenteuerliche Leben, das sie der Esoterik näher brachte. Aus dieser zog sie Kraft, um alle Ups und Downs, und auch die weite Streuung ihrer Familie von Afrika über Europa nach Australien zu meistern und zu ertragen. Sie beobachtete Margot und mich ebenso diskret wie genau: „Und wie geht es in der Ehe?“, pflegte sie mich zu fragen. Auf mein „oh danke, gut, nichts zu klagen,“ sah sie mir jeweils tief in die Augen und sagte: „Lernen Sie Ja zu sagen. Danach Danke“. Als wollte sie die Wirkung ihrer weisen Worte vertiefen, ruhten ihre Augen weiter in den meinen. Danach lief sie weiter. Ohne eine Antwort abzuwarten. Hin und wieder gab sie mir Schriften zu lesen, die mir Ruhe schenkten.

Ihre Enkelin Barbara kam ein bis zwei Mal pro Jahr für ein paar Tage auf Besuch. Was für eine tolle, junge Frau! Tolle Figur und ein Blick, der verriet, wie sie voll ins Leben biss. Sie erfreute uns immer mit prächtigen Protheas, wenn sie direkt aus Südafrika angereist kam. Frau Orenstein besuchten oft Verwandte und Bekannte, auch ihr Sohn, Barbaras Vater. Doch wenn sie mit Barbara zusammen war, bedeutete das einen Höhepunkt für die Grossmutter. Auch Barbara schien sich bei ihr sehr wohl zu fühlen.

„Übermorgen kommt Barbara wieder für ein paar Tage,“ kündigte uns Frau Orenstein nach einem guten Jahr an. „Sie kommt, um sich von mir zu verabschieden. Virulenter Krebs. Die Ärzte geben ihr noch maximal sechs Monate. Tun Sie nichts dergleichen, aber ich wollte, dass Sie das wissen.“

Welch ein Schock! Wir wussten, dass sie erst sechsundzwanzig war. Margot und ich mochten sie beide sehr. Wir machten uns gegenseitig Mut, um uns unbeschwert zu zeigen und all ihre Wünsche zu erfüllen.

Barbara kam, wiederum mit wunderschönen Protheas. Es war aber keine kranke Frau, die vor uns stand, sondern ein verklärtes, strahlendes Wesen. Barbara schöner denn je! Ihre Grossmutter und sie verlebten eine gute, schöne Zeit zusammen. Bei der Abreise meinten wir zu ihr: „Kommen Sie doch vor dem Winter nochmals, Sie wissen doch, Ihre Grossmutter freut sich so über jeden Ihrer Besuche.“

„Vor dem Winter? Oh nein, dann bin ich viel zu weit weg,“ lächelte sie zurück.

Es war April. Im August teilte uns Frau Orenstein Barbaras Tod mit. Barbara habe ihr von ihrem intensiven, packendem Leben geschwärmt. Das Glück aber, meinte Barbara, habe sie erst in ihrer Krankheit gefunden. Noch lange, lange, bewahrten wir ihre längst vertrocknete Prothea auf.

Namentlich im Winter, wenn es so ruhig war, luden wir diese resident guests auf einen high tea einbesuchten mit ihnen Ausstellungen. Der Atelierbesuch beim bekannten Maler und Illustrator Horst Lemke wurde besonders geschätzt. Wenn es wieder wärmer wurde, fuhren wir zusammen in die Umgebung. Der Eigentümer der Zentra AG unterhielt auch eine Kunstgalerie, die Wechsel-Ausstellungen im Hause machte oder wir gingen zusammen direkt in die Galerie. Welch sympathische, und angenehm unverbindliche Momente!

Margot holte die Kinder zum Mittagessen, wir hatten einen Familientisch. Margot bestimmte das Menu, nach dem Essen rannten Claudine und Patrick zum nahen Spielplatz, bis Margot sie wieder zur Schule brachte. Während Margot abends meistens zu Hause blieb, war ich auch abends präsent, um im Restaurant und im Grill die Gäste zu begrüssen.

Claudine und ich schlenderten im ersten Jahr unter den Bögen der Piazza Grande entlang. “Möchtest du mich nicht zu einer Schokolade einladen, Papa?“ Meine achtjährige Tochter! Wir gingen zu Ravelli, jenes Kaffee, das in seiner Ausstattung im 1. Stock am ehesten den Cafés glich, wie wir sie in der Deutschschweiz kannten. Noch heute rührt mich die Erinnerung an diesen ersten gemeinsamen Ausgang. Ich weiss nicht, wer es mehr genoss, sie oder ich.

Claudine liebte es, mich hin und wieder beim Tour de Charme von Tisch zu Tisch zu begleiten. Patrick hasste das. Als ihm Frau Orenstein einmal durch seine blonden Locken fuhr um ihm Mahlzeit zu wünschen, fauchte er sie an: „Bon appétit“! Sie erschrak, die Arme, und traute sich in den Wochen danach kaum mehr an unseren Tisch. Er nahm Frau Orensteins Geste gar nicht als jenes Zeichen der Zuneigung, wie sie gedacht war. Er wollte, dass wir im Hotel während dem Essen ganz für uns blieben.

Schon ab zweitem Sommer bemühte ich mich, Patrick darauf vorzubereiten, dass er dieses Jahr zu den Festtagen nicht mehr im Pullover kommen könne, sondern als nun junger Mann einen Veston zu tragen habe. Ich übergehe hier seine pubertären Reaktionen auf meine insistenten Wiederholungen. Doch an einem regnerischen, kalten Dezembertag meinte er unverhofft: „Papi, du wolltest doch immer für mich einen Veston kaufen. Wollen wir das garstige Wetter heute dazu nutzen?“ Noch immer überrascht und ungläubig betrat ich mit ihm nur wenig später den Kleiderladen Monn. Ich glaubte meinen Augen und Ohren nicht zu trauen, als er einen Zweireiher-Veston in dunkelblauem Velours auswählte, dazu ein seidenes Turtleneck, graue lange Flanellhosen und dabei auch noch strahlte! Natürlich nicht so sehr wie sein stolzer Vater, der sich in seiner Erziehung voll und ganz bestätigt sah. Am folgenden Tag verstand ich den überraschenden Sinneswandel unseres Sohnes. Er war gerade bei Freunden, und auch Margot war ausser Haus. Ich entdeckte sein Schulzeugnis auf meinem Pult. Es war miserabel...

In der Schule lehrten sie damals schon Frühenglisch. Patrick und Claudine waren darin lausig. Ihre Lehrer trösteten uns: „Ihre Kinder sind zuerst zwei-, und jetzt im Tessin sogar dreisprachig aufgewachsen. Die Deutsch- und Französischkenntnisse haben die beiden sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Das Italienische haben sie sich fast automatisch in der Umgebung hier angeeignet. Die müssen nun erst erfahren, was das Erlernen einer Fremdsprache in der Praxis bedeutet, nämlich Vokabular repetieren bis es sitzt und erst noch Grammatik büffeln.“ Genau wie nach Patricks damaligem lausigen Zeugnis beschwichtigten die Lehrer: „Machen Sie sich keine Sorgen, die beiden sind nicht dumm. Sie müssen lernen eine Sprache zu lernen.“ Was für tolle Erzieher sie doch waren!

In unserer Freizeit genossen wir das vielseitige Tessin in all seinen Facetten: Im Winter zum Skilaufen auf Cimetta-Cardada, im Sommer kannten wir lauschige Plätze in den umgebenden Tälern, wir besuchten das nahe Italien, Como, Mailand.

Eigentlich eine sorglose Zeit. Die Zentra AG beabsichtigte zuerst, sich im Tessin auszubreiten, hatte mit dem La Palma au Lac auch das Grand Hotel von Arturo Bolli erworben, ein Jahr später das La Perla beim Flugplatz Agno. Dann aber ging es Schlag auf Schlag: Pacht des National Luzern, Kauf des Waldhaus Vulpera und danach auch die Bühlerhöhe bei Baden-Baden. Zum Teil war die Höhe der Pacht in Luzern und des Kaufpreises des Waldhaus Vulpera öffentlich. Zur Bühlerhöhe hatte ich verlässliche Informationen aus meiner Zeit bei Oetker. Ich teilte diese unserem Eigentümer mit. Der aber war daran nicht interessiert. Abstruse Ideen zu Betriebsführung der Bühlerhöhe und zur weiteren Expansion der Zentra AG wurden am Hauptsitz entwickelt. Ich spürte, dass das nicht gut kommen konnte und dass meine Zeit bei der Zentra AG abgelaufen war.

 

 

 

 

 

 

 

Das neue Tschuggen Grand Hotel in Arosa
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29.  Das neue Tschuggen Grand Hotel in Arosa
“Hier spricht Ralph Meierhofer von Engel & Associates in Zürich. Wir suchen einen Direktor für ein Grand Hotel von internationalem Ruf, dessen Namen ich Ihnen noch nicht nennen darf. Ein bekannter Schweizer Hotelier hat Ihren Namen als möglichen Kandidaten genannt. Könnten wir uns vielleicht einmal treffen um die Sache zu besprechen?”
“Sie erstaunen mich. Ich bin nicht auf Suche.”
“ Ich verstehe. Trotzdem würde ich Sie gerne kennenlernen. Darf ich Sie einmal besuchen in Ihrem La Palma au Lac, oder sind Sie in nächster Zeit einmal in Zürich?”
“Ausgeschlossen, dass Sie hierher kommen. Ich habe nicht im Sinne, meine Anstellung, die mir gefällt und sicher ist, in irgendeiner Weise zu gefährden.“
„Dann also in Zürich?“
„Hören Sie, ich habe in wenigen Minuten eine Sitzung und deshalb keine Zeit zu plaudern. Nächsten Samstag haben meine Frau und ich in Zürich Klassenzusammenkunft. Wenn Sie bereit sind, mich am späteren Vormittag zu empfangen, können wir uns ja einmal unverbindlich darüber unterhalten. Dies aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass niemand davon erfährt.“
„Das versichere ich Ihnen gerne, Herr Thommen. Also Samstag um 11 Uhr im roten Schloss?"

Das Wetter in Zürich war an jenem Novembersamstag kalt, die Strassen menschenleer. Es nieselte. „Ich habe Ihren Wunsch nach Diskretion respektiert. Nur den Präsidenten des Verwaltungsrates habe ich davon eingeweiht, der selbstverständlich die Sache für sich behält. Es handelt sich um Dr. Fritz Aegerter, der Sie in meinem Büro erwartet und Sie kennenlernen möchte,“ meinte der Headhunter, wie sich Angehörige dieser Berufsgattung damals nannten.

Ausgerechnet Dr. Aegerter, der Schwager von Hans Leu, dem wohl bekanntesten Hotelier der Schweiz, mit dem ich lose befreundet war! Hans hatte mich mit seiner Familie sowohl in Antibes wie auch in Megève besucht. Vor allem aus Megève rief ich den „Direktor des fröhlichsten 5 Sterne Hotels der Alpen“ gerne an, um ein bis zwei Mal im Jahr den Geschäftsverlauf unserer beiden Häuser zu vergleichen. Das Arosa Kulm Hotel war mit seiner Formel ausserordentlich erfolgreich. Mir war bekannt, dass sein Schwager der Architekt dieser Erfolgsformel war. Schon lange hätte ich diesen Mann gerne einmal getroffen. Und nun wartete dieser auf mich. Welch eine Überraschung!

Dr. Aegerter, eine schlanke, vornehme Erscheinung erklärte mir, dass er im Kulm die Formel des fröhlichsten 5 Sterne Hotels der Alpen um die Persönlichkeit seines Schwagers aufgebaut hatte. Das Tschuggen sei er daran, in „ein Grand Hotel unserer Tage“ zu entwickeln und brauche dazu den geeigneten Direktor. Der jetzige Inhaber der Position sei wohl gut, doch noch nicht reif dafür und er könne nicht warten. Aufgrund der Häuser, in denen ich gearbeitet habe, könnte er sich vorstellen, dass ich dafür geeignet wäre. Er legte mir die Organisation im Hause dar, es gab das übliche Frage- und Antwortspiel, das in meiner Frage nach seiner effektiven Position im Betrieb gipfelte.

„Das Tschuggen ist nur im Winter geöffnet. Dann bin ich die meiste Zeit dort, mache meine Beobachtungen, lege die Strategie fest. In den Betrieb mische ich mich nicht ein. Ansonsten lebe ich in der Toscana.“
„Das wäre mir schon wichtig. Ich hätte nämlich nicht die Absicht, als Vize-Direktor nach Arosa zu kommen. Geben Sie mir einen Monat Bedenkzeit.“
Er stimmte zu, lud mich ein, das Tschuggen im Winter für zwei drei Tage zu besuchen und bat mich, ihm dann auch meine Konditionen mitzuteilen.

Im Palma hatten wir einen sympathischen Kellner, Tiziano der im Winter seit mehreren Saisons im Tschuggen arbeitete und seine Freundin Michèle am dortigen Empfang. Wenn er uns bediente, plauderten wir immer ein bisschen über dies und das. Nachdem er bald wieder in die Wintersaison nach Arosa gehen würde, befragte ich ihn über das Tschuggen und ob er Dr. Aegerter kenne. Er erzählte freimütig über den Betrieb, dass er Dr. Aegerter eigentlich nur als normalen Gast kenne. Nein, er hätte nie erlebt, dass dieser eine aktive Funktion im Hause wahrgenommen hätte. Auch die neuen Besitzer, die Familie Kipp und Dr. und Frau Bechtolsheimer, ihre Tochter und ihr Gatte, würden nur zu den Festtagen im Hause sein, im Februar zwei Wochen und an Ostern, wenn diese in die Öffnungszeit falle. Als normale Gäste, soweit er das sehen könne.

Das Tschuggen empfand ich bei meinem Besuch sicher sehr elegant mit seinen öffentlichen Räumen, die der angesagte Genfer Décorateur Gérard Bach eingerichtet hatte. Die Atmosphäre war jedoch dermassen unterkühlt, dass sich die Gäste nicht einmal im Lift anlächelten, geschweige denn ansprachen. Und es war deutsch. Deutsch mit dem Grossbuchstaben D. Lockerheit und Internationalität ist da gefragt, sonst erstick ich hier!

Ich rief sofort JC Irondelle an um ihm die Lage zu schildern und bat ihn, sollte ich die Stelle antreten, im Februar, während der besten Zeit doch eine Semaine du Cap D'Antibes zu organisieren. Er würde das gerne, meinte er, doch müsse ich ihm im Gegenzug helfen: „Ich habe einen aussergewöhnlich guten Oberkellner im Eden Roc, den ich verlieren werde, wenn ich ihn im Winter nicht platzieren kann. Das Café de Mougins hat ihm nämlich eine Jahresstelle angeboten. Wenn Sie ihn nehmen, kommen wir ins Tschuggen.

Wen fand ich, als ich im Sommer zwei Tage bei meinem ehemaligen Vorgesetzten logieren durfte? Gian Carlo Colombo, mit dem ich mich als Kellner im Suvretta angefreundet hatte, beim „Gruppenabwasch“ von mehreren Tausend Gläsern nach den grossen Galas an den Festtagen. Er hielt die Truppe wach und bei Laune, indem er für alle anstimmte: „Er' una notte, che pioveva! La montanara“ und weitere Lieder der Alpini.

In Megève hatten wir uns damals wieder getroffen. Seine Frau stammt aus dem nahen Sallanches und seit unseren Treffen dort blieben wir lose miteinander verbunden. Welch eine Freude, erneut miteinander zu arbeiten!

Die Vertragsverhandlungen mit dem Tschuggen waren unkompliziert und grosszügig. Man eignete sich auf einen Dreijahres Vertrag. Ohne Probezeit. Danach stillschweigende Erneuerung jeweils für ein Jahr. Zweimaliger Kündigungstermin von sechs Monaten auf Ende April und Ende Oktober. Es brauchte nun nur noch den Segen des Besitzers. Der Supermarkt Tycoon Karl-Heinz Kipp, seit einem Jahr Besitzer des Tschuggen, war ein ganz anderes Kaliber als Dr. Aegerter. Er wirkte fordernd, streng. Es war offensichtlich, dass Ambiance, Stimmungen, Mondanität und Glamour - im Luxusgeschäft unerlässliche Ingredienzen - für ihn Firlefanz waren. Ich war mir nicht sicher, wie ich mit ihm zurecht kommen würde. Doch da war auch seine Frau. Sie wirkte sanft. „Sie wird dir helfen, wenn es einmal schwierig werden sollte“, sagte ich mir.

Und meine Familie? Unsere Kinder? Nachdem wir sie Italienisch eingeschult hatten, war es undenkbar, sie nach nur drei Jahren bereits wieder zu verpflanzen. Sie waren nun dreizehn und elf. Für die Mittelschule hätten sie wenige Jahre später täglich nach Chur reisen müssen. Wir hielten Familienrat. Zu viert. Nachdem das Tschuggen nur im Winter geöffnet war, beschlossen wir unser „Quartier Général“ in Minusio beizubehalten. Patrick und Claudine würden die Schule weiterhin in Minusio, später in Locarno besuchen, sollten sie das Gymnasium „Liceo“ wählen. Während den Ferien im Winter wie im Sommer würde die ganze Familie in Arosa sein, wo eine Dienstwohnung zur Verfügung stand und ebenso während den Winter Weekends. Während den Schliessungszeiten würde ich für die Wochenende ins Tessin kommen.

Hannes Portmann, mein sympathischer Vorgänger, führte mich während dem ganzen Monat Mai in Betrieb und Umgebung ein. Es war wunderbar mild, sonnig. Wir genossen das Wetter, die wenigen Jahresangestellten waren sehr nett und offen, die Zusammenarbeit angenehm. Eine besondere Freude war esdie Familie Jelen wieder zu finden, bei der ich mit Eltern und meinem Bruder in früher Jugend oft, Margot und ich in unserem ersten verheirateten Jahr Ferien gemacht hatten. Welch gute Vorzeichen!

Für die Dezemberskiwochen gelang es mir, Marie Theres Nadig, mehrfache Olympia Gold- und Bronzemedaillen- und Weltcup-Siegerin als „Hôtesse de Ski et de Charme“ zu gewinnen. Diese Vorsaisonwochen wurden günstig angeboten, von den Hotels, den Bergbahnen und den Skilehrern. Sie dienten ein bisschen als „Einfahren“ der Betriebe, bevor die anspruchsvolle und teuer bezahlende Kundschaft für die Festtage eintraf. Jeder Skilehrer bildete mit seiner Klasse eine verschworene Truppe, beim Skilaufen sowieso, aber auch beim Lunch in den Berghütten, beim gemeinsamen Picknick. Ebenso zum Abendessen und oft noch bis spät in den Morgen an der Bar. Nicht nur die Konditionen, auch die Atmosphäre machten, dass diese Wochen sehr beliebt und die Hotels bis zum letzten Bett besetzt waren. Hannes Portmann hatte in seinen beiden letzten Wochen je 250 Gäste!

Mitte November 1982 aber herrschte noch immer mildes Herbstwetter. Sonne, weit und breit. Keine Wolken. Kein Schnee. Als anfangs Dezember die Wetterlage noch immer unverändert war, spöttelten die Einheimischen, dass wir Hoteliers an Halsstarre leiden würden, vom steten Absuchen des Himmels nach Wolken. Die Reservierungen für den Dezember waren miserabel. Die Dezemberskiwochen abzusagen wagte ich nicht. Das schien mir als erste offizielle Amtshandlung nicht geeignet. Mit meinen Hoteliers-Kollegen im Dorf hoffte ich noch auf ein Wunder. Schliesslich lag überall Schnee: im Engadin, in Splügen, in San Bernardino. Bei uns hatte es über Nacht gerade mal grosszügig überzuckert.

Genau dreissig Gäste reisten am Samstag, den 4. Dezember 1982 an. Ich bat alle zu einem Eröffnungs-Cocktail an die Bar. „Herzlich willkommen zu den Dezemberskiwochen, liebe Gäste. Erlauben Sie mir, mich als neuer Hausherr des Tschuggen Grand Hotels vorzustellen. Mit Erstaunen musste ich bei der persönlichen Begrüssung Ihre irrige Annahme zu Kenntnis nehmen, dass wegen dem noch etwas knappen Schnee nur so wenige Gäste im Vergleich zum Vorjahr angereist seien. Das stimmt in keiner Weise. Die Wahrheit ist viel mehr, dass ich die Anmeldungen für diese ersten Wochen meiner neuen Direktion einer penibel strengen Selektion unterzogen habe und nur die schönsten, die sportlichsten, gleichzeitig die glamourösesten und liebenswürdigsten unter der grossen Gästezahl des Tschuggens ausgewählt habe. Und für Sie, handverlesene Gäste, haben wir selbstverständlich eine ganz aussergewöhnliche Woche geplant."

Marie Theres Nadig lachte. Sie war und bleibt ein Naturkind. „Wenn's nicht besser kommt, fahren wir zum Skilaufen eben dorthin, wo's Schnee hat,“ ermunterte sie die kleine Schar. „Wir organisieren Minibusse, werden Sie bei ungünstiger Witterung hinter den Kulissen des Hotels herumführen, Küchenschef Otto Limacher wird Sie in Kochkursen in seine Geheimnisse einführen“, ergänzte ich. „Und Otto Prager mit seinem fünf Mann Hausorchester wird Sie bis spät in den Morgen hinein an der Bar behalten...“

Wir hielten die Truppe immer schön beisammen: Nur das Frühstück servierten wir individuell, jede Hauptmahlzeit wurde täglich in einem anderen der vier hausinternen Restaurants „en table d'hôte“ an einem gemeinsamen Tisch serviert. Das förderte die ohnehin schon sehr persönliche, vertrauliche Stimmung unter den Gästen während beiden der zwei Skiwochen. Herr Dr. Aegerter betrachtete das Treiben amüsiert und die Zahlen mit Sorge. Er machte mich aufmerksam, auch ja im Budget zu bleiben. Angesichts der Vorjahreszahlen ein schwieriges Unterfangen.

Von J.C. Irondelle hatte ich gelernt, Namen und möglichst viele Details der Gäste und ihrer Geschichte nicht nur zu kennen, sondern möglichst präsent zu halten. Dasselbe strebte ich mit den Mitarbeitern an. Letztere fühlten sich auf diese Weise begleitet, die Gäste ernst genommen und umsorgt. Wie bereits in Megève, brachte mich diese Haltung auch hier Gästen wie Mitarbeitern nahe. Die Zusammenarbeit mit den Concierges Giulio und Alfredo sowie mit Giancarlo Colombo klappte auf Anhieb bestens . Sie stützten mich, wo sie nur konnten, informierten mich ständig und wesentlich über das, was ich von den Gästen wissen musste. Diese schätzten meine ständige Präsenz umso mehr. Stimmung und Echos waren erfreulich, die Zahlen miserabel.

In Anbetracht des mageren Saisonauftakts hielt ich die Ausgaben für die Festtage aufs Wesentliche beschränkt. Die Gäste schienen zufrieden. Doch Herr Kipp suchte mich vor der Abreise in meinem Büro auf, respektive heim: Er verpasste mir einen memorablen Abrieb. Das zugegebenermassen phantasielose Kinder-Menu zu Weihnachten hatte vor allem seine Tochter mit ihren drei kleinen Buben enttäuscht und überhaupt... Er war in Rage. Hätte mein Vertrag eine Probezeit beinhaltet, wäre es dann das gewesen.
Ich hörte ihm aufmerksam zu, versuchte ihm zu erläutern, dass wir uns aufgrund des schlechten Saisonbeginns zurückgehalten hätten. „Sie können doch nicht die Festtags-Gäste dafür bestrafen, dass die Dezemberskiwochen-Gäste nicht gekommen sind“, schnaubte er.
Das leuchtete mir nicht nur ein. Das fand ich einen ermutigenden Hinweis.
„Ich habe begriffen, was Sie wollen. Wenn Sie im Februar wieder da sind, Herr Kipp, werden Sie eine deutliche Verbesserung in Ihrem Sinne feststellen.“ "Das wolle er wohl hoffen," meinte er und verschwand. Dr. Aegerter, der Gran Signore, war sehr verlegen. Die Reklamation von KHK war berechtigt. Ob er sich schuldig fühlte, zu sehr auf die Zahlen hingewiesen zu haben?

Mittlerweile war der Schnee eingetroffen, mit ihnen die Reservierungen. Meine Art den Betrieb zu führen gefiel. Nachmittags wurden alle Tische in der Halle zum Tee aufgedeckt, die Bar- und Hallenbelegschaft eingeschult um die bemerkenswerte Sandwich & Pâtisserie-Auswahl sympathisch anzubieten. Einmal spielte nur der Pianist, dann eine Kleinformation des Orchesters dazu. Die Gäste liebten es, sich auf diese Weise zum „High-Tea“ zu treffen und die Ereignisse des Tages auszutauschen.
Zum Aperitif wurden Lachs, Austern und Kaviar angeboten, dazu die Top-Champagner im Offen-Ausschank. Besonders unsere zahlreichen Flamen begeisterten sich daran und verführten auch viele der übrigen Gäste zum Mithalten.

Den Directors-Cocktail nahm ich wahr, um die Gäste untereinander bekannt zu machen. Unser Bestehen auf Smoking oder dunkelblaue Kleidung ermunterte die Damen zu eleganter Abendrobe. Die persönliche Atmosphäre durch das gegenseitige Kennenlernen machte den concours d'élégance heiter und sympathisch. Das Restaurant war fürs anschliessende Dîner-dansant geschmackvoll dekoriert. Ein wahrer Event!

Unter unseren Mitarbeitern hatte es tolle Skiläufer: Der österreichische Vizedirektor Kurt Wagner sowieso. Fabiola Andenmatten, Vize-Direktorin am Empfang war im Schweizer Ski-B-Kader und eine Mitarbeiterin aus der Massage im B-Kader Österreichs. Peter Humig, Kochlehrling, war in Arosa aufgewachsen und fuhr wie ein junger Gott. Sie verliehen den Gästeskirennen den wahren sportlichen Touch. Diese endeten oberhalb vom Bergkirchli, gingen über in einen Picknick oder Raclette für alle, begleitet vom Hausorchester. Ausgelassen wurde getanzt, so weit es die schweren Skischuhe eben zuliessen. Bei den Personal-Skirennen von Arosa räumte unser Tschuggen Team regelmässig die ersten Preise ab.

Im Februar war die Familie Kipp wieder zu Gast. Sie waren erst seit einem Jahr die neuen Besitzer des Tschuggen.
„Wenn ich mir erlauben darf, Herr Kipp, viele unserer Stammgäste kennen Sie noch nicht und würden sich sehr freuen, Ihnen zu begegnen. Möchten Sie nicht unseren nächsten Gäste-Cocktail präsidieren?“
„ Präsidieren nicht. Aber ich komme gerne, wenn Sie meinen.“
Es war mir rasch gelungen, unter den Stammgästen, die wirklich zählten und Gefallen an meiner Betriebsführung fanden, eine Gruppe zu bilden. Zu diesen steuerte ich Herrn Kipp hin, machte diese mit ihm bekannt und verzog mich. Ein anwesendes Gästepaar berichtete mir, KHK sei von Komplimenten über die neue Direktion geradezu überschüttet worden. „Aber seine Zahlen sind nicht so gut wie die vom Vorgänger,“ soll er eher kleinlaut geklagt haben. „Schmeissen Sie Ihren Direktor raus, Herr Kipp. Dann nehm ich ihn für mein Hotel,“ antwortete darauf Werner Spross, der Gärtner der Nation.

Gegen Ende seines Februar-Aufenthalts hielt KHK Direktions-Sitzung in seiner Suite. „Die Situation hat sich merklich verbessert. Aber ich vermisse eine feste Hand. Ich sehe noch immer Dinge, die einem Haus wie dem unseren nicht anstehen.“
„Da muss ich Ihnen absolut Recht geben, Herr Kipp. Aber mit einer harten Hand ist dem nicht beizukommen. Wir sind in einem sehr sensiblen Milieu, das von der Ambiance lebt. Wenn ich nun so entschieden da reinfahre, jedesmal wenn ich etwas Unpassendes sehe, verängstigen wir diese jungen Mitarbeiter. Sie werden sich versteifen, die Atmosphäre wird darunter leiden, sehr zum Schaden der Klasse des Hauses. Wir müssen Fehler und Ungenügen aufnehmen, notieren und später erklären. Demonstrieren am praktischen Beispiel. Niemals vor den Gästen.“
KHK sah mich an, sagte nichts. Dr. Aegerter war unbehaglich zu Mute. Er kannte Herrn Kipp länger und merkte sehr wohl, dass mein Argument bei ihm nicht ankam.

Mit meinen Jahres-Mitarbeitern verlebte ich eine einzigartige Zeit: Sie waren zumeist zwischen fünfundzwanzig bis dreissig, ich einundvierzig. Diese Altersspanne war gross genug um Respekt zu gebieten. Gleichzeitig erlaubte sie mir gerade noch, zu den Jungen zu gehören und eine flache Hierarchie zu festigen, wie sie meinem Wesen entspricht. Obschon wir bis zum definitiven Betriebsaustritt eines jeden miteinander per Sie blieben, lebten wir in einer Übereinstimmung, die alle ermunterte, ihre Ideen einzubringen, und danach im Team zu diskutieren. Die Umsetzung ging danach fast automatisch: Seien es die Sonnenaufgangsfahrten aufs Weisshorn, Ablauf und jeweiliger Dekor unserer zwei wöchentlichen Galas, die Erneuerung und vor allem die Abwechslung im kulinarischen Angebot, Aufmerksamkeiten für Gäste an speziellen Tagen, die Mottos jeweils für den nächsten Karneval.

Über den Karneval wurde heftig diskutiert: die eine Fraktion befand „nur ja nicht! Die Deutschen sind doch alle hier, um dem Karneval zu entfliehen! Wie wollt Ihr denn die Gäste motivieren, ein Kostüm mitzubringen?“ Die andere meinte, es brauche Abwechslung. "Immer diese Galas! Machen wir doch einmal etwas Ausgelassenes!" Wir einigten uns schliesslich auf einen ersten Versuch mit dem Thema „das alte Rom.“ Wohl deshalb, weil sich ein Trio mit Lyra, Trommel und Gesang dafür angeboten hatte. Wir beschlossen, die Gäste darüber erst im hauseigenen Wochenprogramm zu informieren. Kostümiert hatten wir für den Rosenmontag ausschliesslich die Mitarbeiter an der Bar und im Grand Restaurant. Jene Gäste, die davon not amused wären, hätten Gelegenheit, entweder im Restaurant Français oder noch weiter vom Treiben entfernt, in der Bündnerstube unbehelligt zu essen. Hanno Hämmerle, der kulturell interessierte F&B Manager, hatte ein Buch von alt-römischer Küche ausfindig gemacht und mit Küchenchef Otto Limacher ein historisches Menu zusammengestellt. Margret Hofer, ihres Zeichens Personalchef und Vizedirektorin, steckte den Kopf mit Rosetta, der Lingerie Gouvernante zusammen um die Kostümierung so attraktiv und gleichzeitig so einfach wie möglich zu gestalten, während ich mit dem technischen Betriebsleiter, seinen beiden Assistenten und der Floristin Ideen für Dekor, Beleuchtung und Regie des Abends ausdachte.

Der Rosenmontag überraschte die Gäste, verführte sie rasch zum Feiern. Bei Abreise wollten sie schon das Thema fürs kommende Jahr wissen: Le carnéval des animaux. Da kamen sie dann angereist, die Micki-Mäuse, die Schweinchen schlau, Löwen, niedliche Ratten, Schmeichelkätzchen, aber auch die Paradiesvögel und sogar zwei Poulets de Bresse! Eine andere mémorable Fasnacht war den vier Elementen gewidmet und so weiter... Es war schnell klar geworden, dass die Gäste für Sonderanlässe, seien es die Galas oder die Themenabende nicht nur ge- sondern wirklich verführt werden wollten. Das hiess, dass nicht nur die Direktion persönlich, sondern Kader und auch das Team freudig mithalten sollen. Saisonprogramme waren damals noch eher selten. Wir investierten ziemlich viel Geld darein.

Dr. Aegerter veranstaltete in den Jahren unserer Zusammenarbeit mit mir einen Meisterkurs. „Sehen Sie Herr Thommen, wenn Sie die Sonnenaufgangsfahrt nur im „Bun Dì“, dem Tagesprogramm, ankündigen und die Oberkellner beauftragen, die Reservierungen dafür aufzunehmen, wird kein einziger Gast um 4 Uhr früh aus den Federn kriechen. Sie müssen das machen! Gehen Sie von Tisch zu Tisch. Ihnen nein zu sagen getraut man weniger. Und machen Sie sich fürs erste Mal keine zu grossen Hoffnungen!“

„Gerademal ein knappes Dutzend Leute habe ich aus unseren fast zweihundert Gästen überzeugen können. Dann schneit es auch noch. Wenn's nicht aufhört, werden wir niemanden wecken. Das musste ich schon versprechen.“
„Gut. Sehen Sie zu, dass diese Wenigen ein einmaliges Erlebnis haben werden.“

In der Nacht hatte es zu schneien aufgehört. Während dieser ersten Fahrt füllten die Teilnehmer aus dem ganzen Dorf knapp die halbe Kabine der Weisshorn Bahn. Selbstverständlich hatten alle einen early morning cup und einen Gipfel in ihren Hotels bekommen. Schweigen herrschte während der Fahrt durch die Dunkelheit und ebenso wortkarg stiegen wir gemeinsam von der Bergstation zum Gipfel. Sterneklar und saukalt war's, während wir noch etwa zwanzig Minuten warteten, uns die Füsse warm stampften, uns gegenseitig abrieben gegen die Kälte. Doch da: der erste rosa Schimmer, langsam, immer kräftiger erstrahlte; morgenblau der Himmel, ein Glitzern und Funkeln über Spitzen und Hügeln, die Hänge leuchteten jungfräulich verschneit und die Sonne thronte über allem! Ein unglaubliches Glücksgefühl übermannte alle, wir umarmten uns, staunend über das grossartige Schauspiel!

Der Weisshorn Wirt Tobler hatte alles berggerecht vorbereitet und unsere Gemeinschaft, zu der wir zusammengewachsen waren, liess es sich gut gehen. Nicht allzulange danach, schwangen wir uns durch den unberührten Schnee, über frisch gepflügte Pisten, jubelnd und johlend! Vergessen die Mühe zum Aufstehen! Schadenfreudig über jene, die sich nicht dazu durchringen gemocht hatten, ging's die Hänge runter. Zum High tea, zum Apero an der Bar und auch während dem Dîner gab es nur ein Thema unter den Gästen: das grossartige Erlebnis!

„Natürlich hatten Sie Wetterglück, Herr Thommen. Aber sehen Sie, darum geht es: Diejenigen, die teilnehmen, müssen voll auf ihren Genuss kommen. Im nächsten Monat werden Sie mehr Gäste haben, Sie werden sehen. Erinnern Sie sich: auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“ So war er, Dr. Aegerter. Ein Weiser. Zwei Jahre später musste man in sämtlichen Hotels und Pensionen rechtzeitig seinen Platz reservieren, wenn man zu den dreihundert Auserwählten für die Sonnenaufgangsfahrt gehören wollte.

Leider folgte ihm die Eigentümerschaft in seinem ambitiösesten Projekt nicht. Der kultivierte, sehr belesene Dr. Aegerter pflegte grosses, ökonomisches Interesse. Er korrespondierte mit dem Monetaristen Milton Friedman, lud Prof. Küng von der Uni St. Gallen ein, besuchte die Spitzen der heimischen Industrie. Seine Intention war ein Wirtschaftsgipfel, jedoch in viel privaterem Rahmen als ihn das Forum Davos bot. Es sollten nur einige wenige, dafür umso massgebendere Unternehmer und Wirtschaftsführer versammeln. FAE, wie Dr. Aegerter im privaten Kreis genannt wurde, schlug eine Stiftung vor, welche einen Wirtschaftspreis von 100'000 Franken für aussergewöhnliche, unternehmerische Leistungen. Schade, dass Herr Kipp dem nicht folgte. Milton Friedman hatte seine Teilnahme bereits zugesagt.

Budgetieren war nicht so mein Ding. Mit umso grösserem Stolz legte ich Herrn Kipp eine realistische, eine optimistische und eine pessimistische Variante der Vorschau fürs kommende Jahr vor. Er sah mich verständnislos an und lachte: „Lassen Sie das, Herr Thommen. Machen Sie mir ein Budget so, wie Sie denken, dass sich der Geschäftsverlauf entwickeln wird. Ein pessimistisches Budget? Was soll das? Wissen Sie, wenn der Himmel runterfällt, sind wir alle arme kleine Mäuschen!“

Er lud mich im April nach der ersten Saison nach Alzey ein, den Mutterbetrieb seiner dreissig Grossmärkte zu besichtigen. Niemand hatte mir die finanzielle und schon gar nicht die unternehmerische Potenz meines Arbeitgebers geschildert. „Kommen Sie morgen um acht in mein Büro," meinte er bei meiner Anreise. "Ich nehme Sie mit auf den Betriebsrundgang.“
Der Massamarkt von Alzey hatte 40'000m2, mit Autoabteilung, Tankstelle, Abteilung do-it your self bis zum Fertighausverkauf. Einen so grossen Supermarkt, mit Ess- & Kolonialwaren, Traitteur-Confiseur, Kleiderabteilung inklusive Mercerie, Parfumerie hatte ich noch gar nie gesehen. Herr Kipp war 17 Jahre älter als ich, neunundfünzig. Er raste in einem Tempo durch, dass ich froh war, weit weg von ihm zu arbeiten. Nie hätte ich seinem Tempo mithalten können! Kein Detail entging ihm: „Warum stehen diese Shampoos so weit unten? Die bezahlen ordentliche Standgebühr. Wechselt mir das sofort mit jenem anderen Produkt aus!“
„Warum kriegen wir bei uns keine halben Torten und Vierteltorten? Meine Frau wollte gestern eine halbe und kriegte zur Antwort, dass wir nur ganze verkaufen! Ändert das schnellstmöglich,“ und schon ging es weiter. „Tja, mit allen Produkten können wir es nicht machen, wie mit diesem Shampoo. Als Ferrero nicht zahlen wollte, hatten wir sie rausgeschmissen. Es hagelte Proteste, wir mussten sie gegen unsere Überzeugung wieder reinnehmen.“
Ich hielt gerade noch einigermassen mit, als wir den Rundgang beendeten, der noch viele solche Gegebenheiten beinhaltet hatte. „Fahren wir zur Gärtnerei: Wir sind vor Pfingsten. Sie sehen hier eine halbe Million Geranien. Eine Anzahl, die wir sicher sind zu verkaufen, produzieren wir selbst. Die Spitzen kaufen wir zu.“ Weiter zur Bäckerei: „Hier verbacken wir 10'000 Tonnen Mehl pro Jahr." Mit einigen Erklärungen ging es weiter Richtung Metzgerei Wursterei, wobei wir an einem Sitzungszimmer vorbeikamen – langsameren Schrittes – um mir Gelegenheit zu geben, die zahlreichen Gold- und Silberauszeichnungen für seine Charcuterie-Produkte wahrzunehmen . Diese schmeckten auch alle vorzüglich, wie eine „Verprobung“ bewies. So nennt man die Degustation dort. Auch in der Metzgerei ging es nur um Tausende von Tonnen und die Zahlen, die ihm für den eben eingeführten Autoverkauf vorschwebten – mit zinsloser Abzahlungsmöglichkeit, ein absoluter Einzelfall damals – waren für mich jenseits vom Vorstellbaren. Er schilderte mir all das auf der Rückfahrt zu seinem Domizil. „Herr Kipp, wie machen Sie das nur? Ich habe nur ihr Stammgeschäft gesehen, nun haben Sie aber an die dreissig gleichgearteter Zentren. Und trotzdem haben Sie jedes Detail im Kopf?“
„Ach wissen Sie, Herr Thommen, wenn Sie so etwas selber aufbauen, haben Sie das im Blut.“ Leider hätte er heute noch eine Verwaltungsrats-Sitzung um 16 Uhr und müsse mich jetzt dem Hotelier überlassen. Zuerst aber noch einen gemeinsamen Tee mit meiner Frau zu Hause. „Hanni, ich werde den dunkelblauen Blazer und die graue Hose für die Sitzung anziehen.“ „Liegen schon auf deinem Bett, Karl-Heinz,“ antwortete Frau Kipp mit einem Lächeln. Diese unscheinbare Begebenheit hatte mich tief beeindruckt. Ich spürte daraus eine Einheit des Paares, wie ich sie nur selten anderswo feststellen konnte.

Ein kleines Massa Hotel gehörte dazu, etwa im Stil eines Ibis. Der Hotelier, dessen Name ich vergessen habe, war jemand, den man dort nachgezogen hatte. Er machte seine Sache gut, doch war er unter einem enormen Druck: Die gesamte Hotelkorrespondenz ging ins Büro von Herrn Kipp, wurde von seiner Assistentin geöffnet und KHK brachte sie eigenhändig rüber, wenn er sonst noch etwas zu besprechen hatte. Mein Kollege und seine Frau litten darunter und gingen dann ein Jahr später zu Ibis. Ob sie dort glücklicher geworden sind, habe ich nie erfahren. Hätten sie ihre Sorge mit KHK besprechen wollen, ich bin nicht sicher, ob er verstanden hätte, was die beiden wollten. Er blieb durch und durch der Selfmade-man. „Die haben doch alles, was sie brauchen, ein schönes, kleines Hotel, eine günstige Wohnung, essen im Haus, was wollen die noch mehr?“ KHK brauchte seine eigene Kontrolle, musste den Daumen draufhaben, sonst wurde er misstrauisch. Die grosse Distanz Alzey-Arosa verschonte mich davon. Wir waren so verschieden voneinander! Wir mochten einander, glaube ich sagen zu dürfen, auf jeden Fall, solange er noch aktiv seine Unternehmung leitete. Trotzdem war da eine Barriere, die nicht zu beseitigen war. Vielleicht wollte er das ja auch gar nicht. Ihm war die Harmoniesucht eines Saisonhoteliers völlig fremd. Ich hingegen wollte Kontrolle immer als Begleitung und Anleitung verstehen und erfahren.

Fritz Meisser, seines Zeichens Direktor der UBS, beherrschte laut eigenen Angaben trotz der in Arosa vertretenen CS und GKB 70% des lokalen Marktes. Er war Mitglied des VR. Schwierig fassbar. Gott sei Dank hatte ich bei seiner attraktiven Assistentin einen Stein im Brett, sodass ich bei ihr die Stimmungslage vor einer Besprechung immer auskundschaften konnte. So etwas verbindet. Mit ihrem Mann und ihr bin ich auch heute noch so weit befreundet, dass wir uns noch jedes Jahr zum Geburtstag gratulieren und versprechen, im kommenden Jahr uns unbedingt zu treffen...

Besagter Fritz Meisser kam eines Tages an und verkündete Dr. Aegerter und mir, dass er eine interessante Entlöhnung an der kommenden VR Sitzung vorzuschlagen gedenke. Sollte es gelingen, unser Betriebsresultat um 25% anzuheben, hätten jeder von uns beiden 10% von allem, was darüber liege. Wir nahmen es zur Kenntnis. Natürlich war es eine gute Nachricht. Sie wurde aber in einem Ton vorgebracht oder zumindest empfand ich es so, der voraussetzte dass ich mich dadurch mehr anstrengen würde. Wie kann der nur denken, dass ich mich des Geldes wegen anstrenge? Natürlich will ich verdienen, gut sogar. Aber Geld kann doch nicht der Grund meiner Anstrengung sein! Bis zu meinem Weggang hatten wir Umsatz und Betriebsresultat um 80% verbessert. Ich wurde ein ziemlich teurer Direktor.

Dr. Aegerter hatte das Marketing im Blut. „Was wollen Sie denn mit Inseraten, Herr Thommen?,“ fragte er als ich noch zu Beginn unserer Zusammenarbeit mit ihm eine Inseratekampagne besprechen wollte. „Das Geld, das wir fürs Marketing zur Verfügung haben, ist lächerlich wenig. Wir sind doch kein Waschmittelkonzern! 99% der Leser sehen Ihr Inserat nicht. Von denjenigen, die es bemerken, können sich 99% das Tschuggen nicht leisten und von denen, die es sich leisten können, haben 99% schon ihr bevorzugtes Hotel. Effizient ist, die wenigen Mittel nicht an jene zu verschwenden, die sich unsere Hotel eventuell leisten könnten, sondern bei denen einzusetzen, die sich unser Hotel leisten. Fahren Sie weiter, mit Ihrer stilvollen Hotel-Animation, pflegen Sie weiterhin Ihre Kontakte mit besseren und berühmteren Betrieben als wir es sind. Bringt uns mehr!“

Die Woche des Hôtels du Cap hatte alle Gäste beeindruckt, inklusive die Familie Kipp. Madame Irondelle erwies sich als Meisterfloristin, mit ihren prachtvollen Arrangements, mit Blumen, die sie selbst mitgebracht hatten und sich für die weiteren Tage direkt von Nizza aus schicken liess. Ihr Gatte blühte als Showman auf. Die persönliche Verbindung, die beide mir bekundeten und auch das freundschaftliche Verhältnis zum angereisten Küchenchef Michel Poitoux, der vier Jahre mit mir im Mont d'Arbois in Megève gewirkt hatte, und Gian Carlo, der ja den Sommer über nach wie vor im Cap war, verwandelte die Show in eine Party.
„Oh, ich sehe, wie Sie das machen, Ihre Beziehungspflege zu bedeutenderen Orten als das Tschuggen,“ meinte Monsieur Lommaert, einer der wichtigsten Gästen des Tschuggens. „Ich werde Roger Souvereyns davon erzählen, ein grossartiger Chef. Hat seinen Scholteshof in Hasselt. Er macht alle Anlässe der Bourgeoisie von Flandren und im angrenzenden Holland. Wenn der kommt, kommt auch die richtige Kundschaft zu Ihnen.“
Zu den andern flämischen Gästen empfand ich den Zugang im ersten Winter schwierig. Meine Besuche bei Tisch während meinen abendlichen „tours de charme“ im Restaurant, die Begrüssung an den Gäste-Cocktails schienen an ihnen abzugleiten. Na ja. Wir werden sehen.
Trotzdem leistete ich Monsieur Lommaerts Anregung Folge. Wir reisten im Sommer 1993 nach Hasselt. Welch eigenartiges Land, Belgien. An Frankreich gewohnt, entdeckten wir die Wallonen in Bruxelles zwar französisch sprechend, aber in der Mentalität sehr anders. Sie erschienen uns verschlossener. Dem Fremden gegenüber nicht sehr einladend. Ein Abend in der Rue des Bouchers von Brüssel zeigte uns die Belgier noch verfressener als die Franzosen! In Hasselt, wo man nur flämisch spricht, blieb unsere Frage auf Französisch nach dem Weg, trotz offizieller Zweisprachigkeit, ohne Antwort.

Der Scholteshof Roger Souvereyns war ein Bijou, seine Küche mit zwei Michelin Sternen ausgezeichnet: Ein Manoir mit knapp zwanzig Suiten und Zimmern in weiter Ebene gelegen, inmitten eines kunstvoll gestalteten Gartens. Weiter davon entfernt, durchzogen Alleen von Pappeln die Landschaft. Eine offene Küche, in der Roger mit seinen Köchen wirkte, prägte das Restaurant, so diskret ausgeleuchtet, dass es die grossen, hängenden Kerzenleuchter waren, welche die Stimmung ausmachten. Alles antik möbliert, ein barockes Ambiente, das zu festlichem Geniessen einlud. Roger war ein Gastgeber von unvorstellbarer Grosszügigkeit: Auf jedes Detail achtete er. Nur das Beste war gut genug für seine Gäste, auch für uns. Und da fanden wir sie auch alle wieder, unsere Flamen und Holländer vom Tschuggen! Fröhlich, locker genau wie ich sie im Hotel beobachtet hatte. Hier aber öffneten sie sich uns, nahmen uns herzlich in ihren Kreis auf. Wie wichtig es doch war, den Gästen an ihren angestammten Orten die Ehre zu erweisen! Ja, Roger würde gerne ins Tschuggen für ein Gala und eine Scholteshof Woche kommen, am liebsten über Sylvester!

Fertig mit dem endlosen Sylvester-Gala Menu! An seine Stelle setzte Roger einen leichten Dreigänger, zu servieren zwischen 21-23 Uhr. Zwischen den Gängen spielte das Orchester, verhalten nach dem ersten Gang, einschmeichelnder nach dem zweiten. Nach dem kleinen Dessert riss es alle auf die Tanzfläche! 10 Minuten vor zwölf mussten die Cotillons verteilt und der Champagner an allen Tischen in den Gläsern sein, um Punkt 24 Uhr auf Neujahr anzustossen; welch ein Fest! Alle umarmten, küssten sich und die Cotillonschlacht ging los! Anstelle der Papierschlangen hatten wir Schaumdosen auf den Tischen verteilt, mit welchen man mehrere Meter weit schiessen konnte. Während einer knappen Stunde vermengten sich alle Gäste in einem beispiellosen Allotria, in Gelächter, Reigen, Polonaisen.
Das zweite Orchester setzte sofort ein, als die Stimmung abzuflauen begann. Derweil wurde in der Halle ein buffet de fruits de mer et de crustacés - von Krustentieren und Meeresfrüchten - aufgebaut. Es fand nicht nur regen Zuspruch, sondern kurbelte den Champagner Umsatz aufs Neue an! Sehr viel später machte dieses einem Dessertbuffet Platz und man glaubt es kaum, ab drei Uhr liessen sich fast alle noch zur Mehlsuppe verleiten. Margot und ich zogen uns danach zurück, Claudine und Patrick blieben noch mit der Jeunesse. Gegen fünf Uhr sollen auch die letzten gegangen sein.

Ein besonderer Stolz des Hauses war, dass beim Frühstück, das am 1. Januar erst ab 9 Uhr serviert wurde, alle Räumlichkeiten aufgeräumt und penibel gesäubert waren. Welch eine tolle Equipe wir doch hatten! Die ganze Organisation erforderte eine gut durchdachte Regie und Miteinbezug des gesamten Teams. Das war es, was mir den grössten Spass bereitete!

Mit Roger bauten wir eine Freundschaft auf, die lange Jahre, über seinen beruflichen Rückzug hinaus, andauerte. Wir gaben jedes zweite Jahr einen Empfang für unsere Gäste im Scholteshof, zu denen sich die Kunden des Hauses gesellten. Und er beglückte die Tschuggenkundschaft regelmässig mit einem Gala, blieb für eine gute Woche im Hause und pflegte seine Kundschaft bei uns.

Mit den Referenzen des Hotels du Cap und des Scholteshof lockte ich das Plaza Athénée in Paris an. Zu meinem grossen Stolz war der Küchenchef der Neffe von Monsieur Monier, unter dem ich 1961 gekocht hatte! Dr. Natale Rusconi, mein verehrter Chef, mein berufliches Vorbild damals im Gritti schickte mir die Villa San Michele und das Splendido in Portofino, die zur „Orient-Express Hotel-collection“gehörten, der er vorstand, bevor er selber mit dem Cipriani Venedig unseren Saisons Glanz versetzte.

Ich achtete streng darauf, Hotels einzuladen, welche vom Rufe her berühmter waren als das Tschuggen, gesellschaftlich noch höher angesiedelt. Das verlieh unserem Hause über die Jahre jenes internationale Flair, welches ich bei meinem Antritt vermisst hatte. Das verpflichtete auch, unsere Zimmer den gehobenen Ansprüchen anzupassen und ein paar Suiten einzurichten. Dr. Aegerter war der Ansicht, dass wir die beliebten Eckzimmer zuerst dran nehmen sollten, denn eine Renovation sollte sich kolonnenweise durchs Haus ziehen, der Leitungen wegen. „Die Eckzimmer vermieten wir bereits relativ teuer. Wenn wir den 7. und 8. Stock renovieren würden, erlaubte das eine zusätzliche, starke Preiserhöhung. Wir haben sowieso für nächstes Jahr vor, die Preise im 1. Stock zu belassen und jeden Stock 5 Fr. teurer als der untere zu berechnen. Wenn wir die obersten beiden Stockwerke, die beliebtesten von allen, schön gestalten, verlangen wir nochmals Fr. 50.- zusätzlich. Die Badezimmer sind zwar nicht gerade luxuriös, aber die machen wird dann, wenn wir die unteren Stockwerke kolonnenweise renovieren.“ Gesagt, getan.

Unseren Gästen aus dem hohen Norden taten wir im Hôtel d'Angleterre in Kopenhagen die Ehre an. Die Engländer luden wir zum high tea in den venezianischen Garten des Ritz in London, ein anderes Jahr in Anton Mosimann's Club. Die Deutschen hiessen wir im Breidenbacher Hof in Düsseldorf, im Vier Jahreszeiten in Hamburg, in der Traube Tonbach und im Bareiss in Baiersbronn willkommen, die Holländer im Europe in Amsterdam, welche dieses mit dutch days mit ihrem hochkotierten Küchenchef erwiderten. Sie traten in ihren traditionellen Trachten auf, organisierten einen diamonds cocktail, der die Gäste elektrisierte: In jedem Champagnerglas befanden sich ein kleiner Quartz. Einer davon war ein echter Diamant. Die Echtheit wurde durch den anwesenden diamantaire mittels einer Elektroprobe festgestellt. Unglaublich, welch eine Wirkung so ein winzig kleines Diamäntchen auf eine doch sehr wohlhabende Kundschaft haben konnte!

Zwei Mal auf der MS.Europa, einmal von Bergen nach Hamburg, das andere Mal auf der Kreuzfahrt Venedig-Südamerika bestritten wir das Eröffnungs-Diner, zusammen mit den Chefs des Eden Rocs Ascona und des Carlton in St. Moritz, die ebenfalls zur Tschuggen Group gehörten. Die Verlosung von Aufenthalten in allen drei Häusern verlieh der Abendunterhaltung nach dem Dîner einen besonderen Anreiz. Alle diese Aktionen dienten der Kontaktpflege zu bestehenden und potentiellen Gästen. Besonders erfolgreich und langlebig waren die Beziehungen zum Schlossgarten in Stuttgart. Zum Einen, weil aus Baden-Würtemberg sehr viele unserer deutschen Gäste stammten, zum anderen, weil die Kontakte zu Direktor Wille Schrader und seinem Küchenchef, der gleichzeitig das F&B des Schlossgartens versah, Siggi Keck, auf Anhieb funktionierte. Fast alle diese Häuser vermittelten uns auch ausgezeichnete Mitarbeiter für die ganze Saison. Deren Verbindung zu den Gästen, die sie oft wiedererkannten, förderten die Verbundenheit der Gäste sowohl zum Tschuggen wie auch zu unseren Partnerhotels und generierten auch neue Kunden für alle Beteiligten.

Wir pflegten und suchten auch Verbindungen zu Unternehmungen, welche denselben Kundenkreis ansprachen: Juweliere, Uhrenfabrikanten, Modehäuser und Gallerien. Diese schätzten nicht nur die Umsätze, die sie im Tschuggen machten. Wir waren bestrebt, unsere Partner in unsere PR Massnahmen einzubinden und umgekehrt. Da gab es tolle Beispiele: etwa eine Modenschau mit Bogner im Hotel am Schlossgarten in Stuttgart, vom Ursprung der Skimoden bis zu den aktuellen Kollektionen. Tigre Royal aus München arrangierte bei uns getanzte Modenschauen. Der Juwelier Sven Boltenstern aus Wien, der über den Rosenmontag bei uns ausstellte, half uns Peter Gut zu finden, Konzertmeister und Arrangeur des Wiener Opernballs, für unseren „kleinen Opernball mit Damenorchester“. Boltenstern, selbst ein bemerkenswerter Cellist, spielte zusammen mit Peter Gut an der Violine zu Aschermittwoch.

Das Wohlsein aller Mitwirkenden im Tschuggen, als ständige Mitarbeiter oder auch die unserer Partner, war uns ein besonderes Anliegen. Das sollte auch ganz allgemein gelten. Wir gingen alle von der Überzeugung aus, dass ein Betrieb, um erfolgreich zu sein, an Ort einen guten Namen geniessen müsse. Die Gemeinde war in all ihren Bestrebungen zu unterstützen. Es war klar, dass wir im Gemeindeführungsstab mitmachten, uns beim Kurverein aktiv beteiligten. Lokale Anbieter waren bei ähnlichen Konditionen zu bevorzugen. Die Rechnungen waren pünktlich zu bezahlen. Der alljährliche Lieferantenanlass gegen Saisonende sollte nicht dazu dienen, diese abzuzocken, sondern sie mit der Art und den Vorzügen ihres Kunden vertraut machen. Wer von auswärts kam, übernachtete zu 50% des Minimalpreises. So entwickelten sich diese Anlässe zu beliebten Treffen, an welchen sich neue Verbindungen anbahnten, private wie geschäftliche.

Die Personalchefs, wie die HR Manager damals noch hiessen, bestätigten Offerten umgehend und baten um Geduld für deren Auswertung. Innerhalb 14 Tagen hatte der Entscheid zu fallen und mitgeteilt zu werden. Absagen durften nie abwertend sein. Fürs Kader und teilweise auch für einzelne Abteilungen hatten wir ein bis zwei Seminare von auswärtigen Spezialisten. Rückblickend muss ich allerdings gestehen, dass wir die interne Weiterbildung strukturierter, konsequenter hätten angehen können. Wenigstens ermunterte ich das Kader durch finanzielle Beteiligung des Tschuggens, sich fürs Unternehmerseminar in Hotellerie & Restauration des Schweizerischen Hoteliervereins einzuschreiben, damals das Beste, was es in Sachen Weiterbildung gab. Die Interessierten bezahlten die Kurse voll ein. Nach erfolgreichem Abschluss wurde jährlich ein Drittel davon rückvergütet, wenn sie noch im Hause arbeiteten.

Immerhin liessen wir alle Mitarbeiter einige Tage vor Saisonbeginn kommen und sie von den Abteilungsleitern sehr durchdacht instruieren. Sie sollten sich nicht nur im Hause auskennen, sondern auch in Arosa. Sport- und Freizeitmöglichkeiten wurden ebenso behandelt wie die betrieblichen Besonderheiten und Ansprüche. Abschluss dieser Einschulung, am Vorabend der Saisoneröffnung war ein Personalfest im Grand Restaurant mit Buffet-Dinner, zu dem das Hausorchester aufspielte und ausgiebig getanzt wurde. Wer bereits zum zweiten Male oder schon länger hier war, erkannte die Möglichkeit, sich an diesem Abend Freundin oder Freund anzulachen. Ein Teil dieser Liaisons schichteten sich dann gegen Ende Januar wieder um, andere hielten durch, einige sogar ein Leben lang! Auch heute habe ich noch den Eindruck, dass sich die meisten Mitarbeiter als Ambassadoren des Tschuggens fühlten, wozu wir sie ermunterten. Nicht wenige neue Angestellten fanden durch ehemalige und aktuelle zu unserem Team.

Die Eltern der Lehrlinge wurden eingeladen, ihre Sprösslinge zu ihrem Arbeitsantritt zu begleiten. Zu gut erinnerte ich mich, wie die persönliche Bekanntschaft meines Vaters zu Lehrmeister und -chef, mir Geborgenheit im Betrieb verlieh. Das sollten unsere Auszubildenden auch geniessen. Gegen Ende Saison luden wir sie auf ein Eltern-Wochenende ein, an welchen die Lehrlinge sie bekochten und umsorgten. Auch hier war unserem Team ein vertrauter und vertrauensvoller Kontakt mit den Eltern wichtig.

Am „Personalfest,“ wie es damals hiess, bekamen alle ein Geschenk vom Betrieb. Das konnte ein schöner Kugelschreiber sein, ein Badetuch, ja sogar einmal ein Bademantel, alle mit dem Tschuggen Signet gezeichnet, jedoch in unterschiedlicher Farbe von den Gästeartikeln, damit nie jemand in Verdacht kam, etwas vom Betrieb mitlaufen gelassen zu haben. Für Dezember 1991 hatten wir einen schicken, hellgrauen Regenschirm ausgesucht, der begeistert entgegen genommen wurde. Viele von ihnen spannten ihn auf, es war eine Polonaise von ganz besonderer Art. „Wie gut sind Kipps nicht hier,“ sagte ich mir, mich des ausgeprägten Aberglaubens von KHK erinnernd.

Für mich war es eine tolle Zeit: Herr Kipp leitete bis 1989 aktiv seine Massa Märkte. Er schien meine Selbständigkeit zu schätzen. „Alles, was Sie mir unterbreiten, ist ok,“ sagte er, als er mir das Budget bei einer VR-Sitzung unbesehen zurück schob. Das war nach dem grossen Umsatz- und Gewinnschub nach der Renovierung der beiden obersten Etagen. „Und noch etwas, Herr Thommen: Wissen Sie noch, wie Sie mir damals erklärt hatten, dass Sie sachte vorgehen müssten bei der Personalerziehung? Erinnern Sie sich? Kein Wort davon hatte ich Ihnen geglaubt! Und heute darf ich Ihnen bestätigen, dass Sie Recht hatten. Genau so muss man es machen!“ Diese Grösse hatte er, Karl-Heinz Kipp.

Trotzdem. Er musste immer den Daumen draufhaben. „Die obersten Stockwerke sind ja recht schön geworden, doch haben wir viel zu viel Geld dafür ausgegeben, mit 60-80'000 pro Zimmer und Suite. Ich zeige Ihnen jetzt einmal wie man Zimmer renoviert: Budget 5-10'000 pro Einheit.“ Ein paar Wochen später brachte er mit seinem Hausarchitekten Teppich- und Vorhangmuster aus seinen Massamärkten, gängige Ware für einfachen Wohnungsbau und modernes, kühles Mobiliar. Stolz fragte er mich: „ Und, ist das etwa nicht schön?“ "Natürlich ist das schön Herr Kipp. Die Vorhänge passen bestens zu den Teppichen. Aber Herr Kipp, wir sind hier in einem Luxus Ambiente. Fürs Tschuggen sind 5mm dicke Spannteppiche aus Kunstfasern nicht geeignet!“ Diese Offenheit wurde nicht unbedingt geschätzt. Er liess mich durch den Juristen im VR anfragen, ob man da möglicherweise einen Fehler begehen würde. „Machen Sie's. Das Haus ist dann wenigstens wieder sauber. Erwarten Sie aber nicht dieselben Echos, wie für die obersten Stockwerke.“

Frau Dr. Bechtolsheimer, sehr an zeitgenössischer Kunst interessiert, hatte in einer Galerie Lithographien und einfachere Bilder ausgesucht, um alle Zimmer zu schmücken. Die Echos auf diese Schnellrenovation waren gelinde gesagt, verhalten. Trotzdem wollte ich das Vorhaben gut präsentieren und hatte vorgesehen, Artikel, eventuell gar Publireportagen in Kunstzeitungen über „zeitgenössische Kunst im Ferien-Hotel“ zu generieren. Der Galerist, bei dem man die Bilder gekauft hatte, lachte mich aus: „Was? Mit dieser Massenware? Wenn man damit wenigstens ein Thema verfolgt hätte, etwa Schweizer Maler oder was weiss ich. Aber da hat man kreuz und quer zusammengekauft. Vergessen Sie es, wenn Sie sich nicht lächerlich machen wollen!“

Schon möglich, dass ich mich etwas zu selbständig gefühlt habe. Allerdings darf ich sagen, dass ich immer im Interesse des Tschuggens und nie zu meinem Vorteil gehandelt habe. Ich bin mir durchaus nicht sicher, ob er meine Amerika-Promotion Tours, unsere Cocktailserien in den erwähnten Hotels gebilligt hätte, an denen wir den Tschuggen-Film zeigten, der von einem professionellen Regisseur gedreht worden war. Das war damals noch eine unübliche Hotelpräsentation, die dann in den Folgejahren eine rasend schnelle Verbreitung fand. Auch das Drehen des Films selbst. Als ich diesen seiner Familie und seinen Freunden aus Alzey vorführte fragte er: „Und, was hat das gekostet?“
„Vierzigtausend“.
„Gefällt mir,“ meinte er schmunzelnd und verliess den Raum.
 
Am 9. Mai 1992 klingelte das Telefon bei mir zu Hause.
„Kipp hier. Was höre ich? Sie waren mit Ihrer Crew auf einer Belohnungsreise in Wien?"
„Jawohl Herr Kipp.“
„Wie kommen Sie nur dazu, und das ohne zu fragen?“
„Herr Kipp, das ist die fünfte Reise, die wir unternommen haben. Jedesmal um...“
„Das ist ja wohl kaum zu glauben....“
„Herr Kipp, es ist zwar schon 21 Uhr. Wenn es Ihnen nicht zu spät ist, darf ich rüber nach Ascona kommen und Ihnen das erklären?“
„Jawohl. Kommen Sie!“ und hängte auf.
„Sieht nicht gut aus“, meinte ich zu meiner Frau. Ich geh schnell rüber. Herr Kipp empfing mich alleine in seiner Wohnung, im Penthouse seines Hotel Eden-Roc.
„Das hat nun wirklich das Fass zum Überlaufen gebracht. Das ist das Ende unserer Zusammenarbeit, Herr Thommen. Erklären Sie mir die Sache mit Ihren Kader-Reisen doch einmal!“
„Immer, wenn wir eine erfolgreiche Saison hinter uns haben, organisiere ich eine Reise für das leitende Team. Da nicht alle dabei teilnehmen können, weil beispielsweise Didier Vary, der Barman, die Oberkellner und oft auch die Hausdame ihre Sommerjobs schon angetreten haben, beschränkt sich die Einladung des Tschuggens auf ein Abendessen in einem angesagten Restaurant und eine Abendunterhaltung. In Wien war es ein Musical. Wir reisen in unseren Privatautos und jeder bezahlt seine Übernachtung und weiteren Kosten selber.“
Ich sah Erstaunen in seinem Gesicht. „Sie können ja gar noch nicht sagen, wie die Saison war, die Zahlen liegen ja noch gar nicht vor!“
„Dafür brauche ich keine Buchhaltung. Ich kann Ihnen versichern Herr Kipp, die Resultate werden sehr gut sein.“ Es waren in der Tat Zahlen, die das Tschuggen in den zwölf Jahren nach meinem Weggang bis zu seinem Umbau nie mehr erreichen würde. So jedenfalls berichtete mir der Direktor des Carlton St. Moritz, das zur Tschuggen Group gehörte, anlässlich einer Jahrestagung der Leading Hotels of the World 2004. "Die Zahlen von Thommen werde ich wohl nie mehr sehen", soll Herr Kipp gesagt haben.
„Sie sagen, dass dies das Fass zum Überlaufen gebracht habe, Herr Kipp. Was war denn sonst so schlimm. Sie waren lange im Hause im vergangenen Winter und haben kaum mit mir gesprochen?“
„Ja. Im 5 Stock, einzelne der Bastblumentöpfe waren ja ganz verbeult. Da musste ja ich Sie darauf aufmerksam machen!“
„Tatsächlich, Herr Kipp. There is always a better way to do a job. Hätten Sie jetzt aber noch etwas Substantielleres?,“ fragte ich halb amüsiert, realisierend, dass die Sache gelaufen war.
„Ja sicher! Da machen Sie den ganzen Sommer über frei und nehmen sich erst noch jeden Montag, jeden Montag! frei während der Saison!“
„Herr Kipp, Sie wissen genau, dass ich den ganzen Sommer über einen Bürostundenplan ausfülle, einen guten Teil von September und Oktober auf Werbereisen bin. Eine Saison wie Sie sie im Tschuggen erleben, braucht eine intensive Vorbereitung. Während der Saison stehe ich dauernd im Betrieb, inmitten meiner Gäste und meiner Mitarbeiter, auch an den Montagen über Weihnachten, Neujahr, am Rosenmontag und, wenn wir offen sind, selbstverständlich auch an Ostern. Dazwischen brauche ich einen Tag Abstand für mich. Hat denn etwas nicht funktioniert während meiner Abwesenheit?“
„Nein. Das nicht. Aber es herrscht nicht dieselbe Atmosphäre wenn Sie nicht da sind. Da fehlt etwas.“
„Na also. Und was sind nun Ihre Absichten?“
„Nun, Sie hören auf.“
„Es wäre natürlich vermessen von mir anzunehmen, dass ich der Einzige bin, der das Tschuggen führen kann. Für meine Nachfolge aber wünsche ich Ihnen ein gutes Händchen. Beabsichtigen Sie, dass ich die Saison noch vorbereite?“
„Nein. Sie gehen nach Arosa und räumen Ihr Büro.“
„Ich sehe. Ihr Treuhänder hat ja auch ordentlich an meinem Stuhl gesägt, während dem Sie mich diesen Winter kaum beachtet und schon gar nicht gesprochen haben.“
„Wir wollen ja Freunde bleiben, Herr Thommen. Ich weiss ja, was mich das kostet.“ In der Tat hatte er den Zeitpunkt meiner Kündigung ungünstig gewählt. Es kostete ihn ein Jahressalär, inklusive Boni und die waren happig.
Freunde blieben wir nicht. Waren wir es denn je?
Ob es wohl deshalb ist, dass ich noch lange nach meinem Weggang vom Tschuggen, ja sogar auch nach seinem Tod, 2018, mich bei Fragen über Hotels, Tourismus aber auch in politischen Anliegen, wie jetzt, bei den Mühen mit den bilateralen Abkommen der Schweiz zur EU frage: „Was würde Herr Kipp wohl dazu sagen?“
Der historische Kronenhof Pontresina - Ein Grand Hotel von 1848
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30.  Der historische Kronenhof Pontresina - Ein Grand Hotel von 1848
“ Lieber Herr Thommen,
ich hoffe, Sie haben sich den Wechsel reiflich überlegt. Ich würde das Tschuggen als katholisch romantisch geprägt beschreiben, derweil Sie im Kronenhof in eine protestantische Nüchternheit fallen, in der es Ihnen möglich sein wird, die reichsten Schweizer in ihren Knickerbocker aus den fünfziger Jahren zu bewundern.” 

Also schrieb mir ein prominenter Basler Jurist auf die Mitteilung meines Wechsels nach Pontresina.
Dr. Liatowitsch feierte alljährlich die Festtage zusammen mit seiner Frau im Tschuggen. Im Februar lud er seine Kinder und Enkel dorthin ein und jeden Sommer verbrachte er im Kreise seiner Lieben zwei, drei Wochen im Kronenhof. Ein wunderbarer Mensch, hochkultiviert, humorvoll, umgeben von einer grossen, sympathischen Familie mit wunderschönen Enkeln. Sie alle entsprachen meinem Bild der idealen Kundschaft, jene des gebildeten Bürgertums, elegant, aber nicht mondän. Bei den reichsten Schweizern deutete er den Spross einer grossen Industriellendynastie an, der sommers und winters bei uns residierte und die Familie seines Treuhänders immer dazu einlud. Es war die barocke Lebensweise unserer Flamen im Tschuggen, welche Dr. Liatowitsch zur Bezeichnung katholisch-romantischer Prägung jenes Hauses verleitete.

Fritz Meisser, VR aus dem Tschuggen, den ich immer etwas unnahbar fand, sass ebenfalls in diesem Gremium des Grand Hotels Kronenhof. Er hatte mich seinen Kollegen vorgeschlagen. Mir brachte er den Kunstführer mit, den meine Vorgänger Edwin und Esther Lehmann mit der Gesellschaft für schweizerische Kunstgeschichte verfasst hatten, um mich auf dieses einzigartige Hotel des Engadins einzustimmen. Dieses historische Haus aus dem Jahre 1848 mit öffentlichen Räumen in schönstem Neo-Rokokko, restauriert mit Hilfe der kantonalen Denkmalpflege war hervorgegangen aus dem Gasthof Rössli, später Krone genannt. Die Erweiterung desselben zum Kronenhof durch die Architekten Niklaus Hartmann sen. (1838-1903), Jacob und Georg Ragaz (1846/1857-1922) , stellt baugeschichtlich ein Markstein im Engadin dar. Der Berner Maler Otto Haberer (1866-1941) ganz dem Münchner Akademismus verpflichtet, hatte die Salons, das Restaurant und die Korridore der „bel-étage“ ausgeschmückt. Der Kronenhof ist in seiner Art das Monegassische Hotel Hermitage in den Alpen. Norman Foster, der grosse englische Architekt, mittlerweile im Engadin heimisch geworden, sagte mir, dass er den Kronenhof für seine Vorlesungen an der Londoner Uni verwende, um darzulegen, wie an sich wesensfremde Architekturformen bei dichter Bebauung eines Nukleus ineinander verschmelzen.

Sonst aber war es problematisch: Die wenigen kürzlich renovierten Zimmer waren nicht sehr gelungen. Die übrigen waren in einem Zustand, der nicht mehr den Ansprüchen einer verwöhnten Kundschaft genügte: nicht mehr zeitgemäss die besseren, die anderen nicht nur veraltet, sondern hoffnungslos abgewohnt. Geld war keines mehr da, denn mit den bisherigen Renovationen hatte sich die Gesellschaft bis an den Hals verschuldet. Dies im Vertrauen auf den Hauptaktionär, der noch eine beträchtliche Summe aus dem Mittleren Osten erwartete, die zu investieren er versprochen hatte. In den kommenden Monaten, wenn nicht gar Wochen, sollte das Geld eingetroffen sein.

140 Jahre hatte das Unternehmen der einen und gleichen Familie Gredig gehört. Den Visionen des grossen Lorenzin Gredig verdankte es auch Landreserven und Wald hinter dem Bahnhof, auf der anderen Seite des Tals. Er wollte damit sicherstellen, dass der Blick seiner Gäste immer in eine unbefleckte Natur gleiten würde. Erbteilungen der nachfolgenden Generationen fiel diese erhabene Vision dann zum Opfer. Erhalten geblieben hingegen waren die Häuser entlang der Via Maistra bis fast zum Schlosshotel, jene gegenüber dem Hoteleingang waren bereits weiter vererbt. Hinter der protestantischen Kirche gehörte der Gesellschaft auch das, was den ganzen dortigen Nukleus bildete: Das grosse, mehrstöckige Wäschereigebäude, diverse Personalhäuser. Stallungen, die im Laufe der Jahrzehnte zu Garagen umfunktioniert worden waren mit Ausnahme jener, welche der Fuhrhalter Costa für seine Pferde weiterhin behielt, die im Winter Schlitten und im Sommer Kutschen ins Rosegtal zogen. Die höchstgelegene Veltliner Weinhandlung Europas mit mächtigen, prall gefüllten Fässern von 4'000 bis 30'000 Liter gehörte ebenfalls zum Betrieb.

Die Familie Gredig hatte ein bemerkenswertes Archiv gebildet, dies vor allem dank zweier Tatsachen: zum einen, dass eine Familie nichts wegwirft. Zum anderen war unbegrenzter Platz in den Kellerräumlichkeiten. Gästeregister bis zurück nach 1878 finden sich darunter, Blaukopien aus Zeiten, als auch Geschäftsbriefe noch handschriftlich verfasst wurden, Kassabücher aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert der Weinhandlung, uralte Koffer, von Gästen zurückgelassen für einen nächsten Aufenthalt, der nie mehr stattfand, zusammen mit Bergen von Hickory Skis, alle mit Blaukanten und Bambusstöcke, altes Porzellan, Nachttöpfe, Waschtröge und vieles mehr.

Trotz begonnener Restaurierung und Renovation war der Kronenhof heruntergekommen. Seine fünf Sterne glänzten nur noch schwach. Doch die architektonische Substanz des Hotels und der übrigen Gebäude bargen grosses Potential und ebenso grossen Charme. Der Verwaltungsrat war ausgesprochen nett und hatte klare Ideen zur Unternehmensentwicklung: Die angrenzenden Flarzhäuser sollten renoviert und verkauft werden, mit der Möglichkeit des Hotelservice für die Erwerber. Die Häuser hinter der protestantischen Kirche boten weitere Möglichkeiten, um zahlreiche Ferienwohnungen zu erstellen.

Unter den Hotelgästen warb man Aktionäre mit einem Mindesteinsatz von Fr. 100'000, das zu 5% in natura verzinst wurde. Immobilienerlös und immer neues Aktienkapital sollten dazu dienen, das Haus wieder auf ein internationales Top Niveau zu bringen.

Wie hätte ich all dem widerstehen können? Einzigartiger Charme, eine Grösse des Hauses, dessen Führung erlaubte, ganz auf den einzelnen Gast einzugehen. Die Ideen des VR überzeugten mich. „Wo Ideen sind, findet man auch Geld,“ war ich überzeugt und für mich war klar: „Aus dem Kronenhof machst du das Hôtel du Cap-Eden Roc des Engadins!“ Es sollte die schwierigste, und gleichzeitig die schönste meiner Hoteldirektionen werden.

Zur Vorstellung beim Kader wurden Margot und ich von Schneefall überrascht. Endlose Staus und Kolonnen behinderten die Hinfahrt. Mobiltelefone gab es noch nicht. Über drei Stunden warteten der VR Präsident Duri Bardola mit dem Hauptaktionär und dem ganzen versammelten Kader, bis wir endlich eintrafen. Alle guckten uns erwartungsfroh an: „Tja, das fängt schon gut an. Der neue Direktor kommt schon mit drei Stunden Verspätung,“ begrüsste ich. Fröhliches Gelächter eröffnete meine Zeit im Kronenhof, die herzlich und fröhlich bleiben sollte, ungeachtet der Schwierigkeiten, die auf uns alle warteten. Margot begleitete mich. Wir waren aber überein gekommen, dass sie weiterhin im Tessin leben würde und alle zwei Wochen eine bis zehn Tage nach Pontresina kommen würde.

Das Ambiente unterschied sich vom Tschuggen: Es war elegant, weniger mondän, stärker geprägt von schweizer- und deutschen Stammgästen. Einige Leute aus USA, aus England, Schottland und Italien, wenige aus Frankreich waren schon auch da. Die gehörten aber nicht jenem Jet-set an, mit dem ich es im Tschuggen und vor allem in Frankreich zu tun hatte. Alle hingen sie am Charme des Hauses, der sich nicht nur in der Innenausstattung der öffentlichen Räume zeigte, sondern durchaus auch in den knarrenden Böden der Hurdisdecken im Westflügel des Hauses und in den unteren Stockwerken, die noch nicht renoviert waren. Galas dansants, ausser zu Sylvester, wären hier deplatziert gewesen. Das Haus verlangte nach einer privateren Unterhaltung.

Von Arosa her war ich mit Hanspeter Schuh, dem Solo Trompeter der Wiener Philharmoniker verbunden geblieben. So kam er über die Festtage mit Kollegen und seinen Schüler um den Heiligabend mit einem Bläserkonzert zu eröffnen, dem alle Gäste lauschten, in festlicher Garderobe um den riesigen, mit echten Kerzen bekränzten Christbaum herum versammelt. Danach offerierten meine Familie und ich Champagner. Eine feierlich-fröhliche Atmosphäre herrschte, bis alle sich an die weihnächtlich geschmückten Tische begaben. In der Mitte des Speisaals befand sich der director's table, an den meine Familie alle alleinstehenden Gäste persönlich geladen hatte. Leise Pianomusik zum Dinner, bis dann danach noch etwas getanzt wurde, um auch den Franzosen und Anglophonen Tribut zu zollen, die Weihnachten ausgelassener feiern als wir. Später begaben sich alle in die Halle zu Kaffee und Weihnachtsgebäck. Gegen halb zwölf baten wir die Gäste in den Ehrenhof vor dem Eingang, um sich bei Glühwein dem „Turmblasen“ der Wiener zu erfreuen, dessen Töne vom obersten Stockwerk weit über den Kronenhof hinaus zu hören waren. Welch eine Stimmung, wenn es dabei wie so oft, noch schneite!

Eigentlich hatte ich den director's table fürs Tschuggen vorgesehen gehabt. Hier, in diesem ganz besonderen Saal und geringerer Gästezahl, kam diese Idee intimer zur Geltung: Jeder Gast wurde persönlich eingeladen, das Dîner wurde an Tischen von acht bis zehn Personen serviert, alle festlich gekleidet und einem unserer Kaderleute in black-tie gehostet. Deren Aufgabe war es, die Konversation schön in Gang zu halten, bei den einen etwas zu bremsen und andere mit direkter Ansprache zum Mithalten zu ermuntern. Selbstverständlich waren Gäste, die ihre Zweisamkeit der Gesellschaftlichkeit des director's table vorzogen, im Kronenstübli für ihr Diner willkommen. Das gab es. Aber es waren zumeist nur sehr wenige.
Die Abteilungsleiter nahmen die Aufgabe gerne wahr, kamen sie doch so den Gästen auf elegante Weise näher und genossen ein Dîner, welches dem Abendessen des Mitarbeiter-restaurants klar überlegen war, und erst noch erlesen begossen wurde. Allerdings machte ich aufmerksam: Jeden Montag seid Ihr da! Freitage werden nicht als Entschuldigung akzeptiert! Am ersten Montag nach Saisonschluss versammelte sich das Kader mit mir zum director's table bei Wurstsalat und Bier, entweder in meiner Wohnung oder bei einem der Abteilungsleiter, alle im Rollkragenpulli...

Zumeist stellten wir bei diesem Anlass Musiker mit einem kurzen impromptu vor dem Dessert vor, die dann am Donnerstag darauf ein Konzert geben würden. Das Winterthurer Quartett ars amata wurde sehr geschätzt, ebenso die Pianistin Dalia Banerjee, die alle mit unserem Mitarbeiter Frederick King befreundet waren, dann spielte José Vazquez mit seinem Ensemble von Gambisten auf.

Durch Hanspeter Schuh hatten wir das Glück, dass Birgit Minichmayr einmal zum Vorlesen anreiste und einige Tage bei uns blieb. Sie sass in der Rotonde, leicht erhöht. An die hundertdreissig Gäste warteten gespannt in den Fauteuils und Canapés, die ihr allesamt zugeordnet waren. Wie kann eine so zierliche, nicht sehr gross gewachsene Frau all das nur dominieren? Sie hatte einen passenden Ausschnitt aus Thomas Manns Zauberberg ausgewählt. Wir Anwesenden erlebten einen Rausch der Verwandlung: Minichmayrs Persönlichkeit füllte den Raum aus, schlug uns alle in ihren Bann. Die Gäste sprachen nicht nur am anschliessenden Aperitif, sondern noch lange von diesem ganz besonderen Erlebnis und für Gesprächsstoff am anschliessenden director's table war gesorgt..

Trotz ausgezeichneter Leistung kam ein Schauspieler des Schauspielhauses Zürich weniger gut an. Hans Leu, der ebenfalls anwesend war, meinte: „Die wollen keinen Schauspieler. Versuch's doch selber, die wollen dich hören! Aber pass auf: es muss eine spannende Geschichte sein mit erotischem Unterton. Etwas Knisterndes.“

Zwei Wochen später mit Gästen die nicht in Birgitt Mininchmayers Genuss gekommen waren, präsentierte ich „Gerichte & Geschichten“. Dafür würden sich nur wenige Gäste interessieren, sagte ich mir. Deshalb sah ich dafür das urgemütliche, holzgetäferte Gredig Stübli mit Erker und Butzen Fenster vor, in dem man etwa ein Dutzend Zuhörer unterbringen kann. Ich hoffte wenigstens auf um die acht Interessierte. Zu meinem freudigen Erstaunen meldeten sich aber ebensoviele Gäste, wie zum normalen director's table.  Knellwolfs „Tod in Sils Maria“ eignete sich zum Vorlesen bestens: das Buch war erst kürzlich erschienen, die Geschichten spielen im Engadin, jede ist spannend, nicht zu lang, die meisten auch knusprig. Sorgfältig hatte ich mich eingelesen, den Vortrag laut geübt. Zwischen Hauptgang und Dessert hob ich an. Welch eine Aufmerksamkeit! Alle hörten zu, niemand sprach oder plauderte: welch wunderbare Gäste! Applaus, Applaus, zum angeregten Gespräch wurde das Dessert serviert. Etwas später gingen die Gäste fröhlich plaudernd in die Halle. Das Hotel lebte; welch eine Freude!

Zur Belebung des Hotels haben alle beigetragen auch im Sommer: Andreas Ludwig und Robert Frisch sekundiert von Küche und Service zum Alpfrühstück. Dieses wurde auf der Alp Tritt gefeiert, wohin ein Fussmarsch von etwa dreiviertel Stunden führte. Ganze Käseleiber, an Ort gebratene Rösti, Speck, Eier und Würste nebst dem obligaten, bretterbiegenden Frühstücksbuffet von Gesalzenem und Süssem. Der Pianist Rudi Fuchs an der Handorgel, seine Frau Erika willkommene Gesellschaft und Helferin, sorgten für eine tolle Stimmung. Wenn die Familie Scheidegger, unsere Sommer-Stammgäste mit dabeiwaren, jodelte Doris aus voller Kehle, riss die ganze befreundete Gäste-Gruppe mit.

Frederick King hatte während einem Wochenende im Gasthof Post in Lech den „Wanderonkel“ gesehen und mir die Idee wärmstens empfohlen. Wir hatten Glück Monika Pegoraro zu finden. Nicht nur war sie Engadin begeistert und kannte jede Ecke. Auf dem zweiten Bildungsweg hatte sie sich psychotherapeutisch und theologisch weitergebildet. Nicht nur führte sie die Gäste an Orte, an die Engadin Besucher nicht ohne weiteres hinkamen. Sie war allen eine kluge Gesprächspartnerin und leitete uns diskret auch Wünsche weiter, welche die Gäste uns nicht in jedem Falle persönlich formulieren wollten. Deren Erfüllung sorgte da und dort für erfreutes Erstaunen.

Jede Woche hatten wir Kadersitzung. Mit der Zeit wohnte ich dort nur noch als Coach bei und liess turnusgemäss jeden Anwesenden die Sitzung führen, die Pendenzen überwachen und deren Ausführung kontrollieren. Das führte zu einer flachen Hierarchie und ich glaube, sie wurde allgemein geschätzt: „Darf ich einen Moment reinkommen?,“ fragte Regula, Empfangschef  und Verlobte von Andreas Ludwig an einem Tag, der noch trüber war als die vorangegangen. Sie schloss die Tür hinter sich. „Herr Thommen, wenn Sie neue Ideen entwickeln und vorlegen, ziehen Sie uns mit, es ist phantastisch!“ Geschmeichelt nickte ich ihr zu. Das lausige Wetter und die damit ausbleibenden Reservierungen machten das Kompliment umso willkommener. „Bei einem Wetter wie heute aber verbreiten Sie eine Stimmung, Herr Thommen, die uns alle hinunter reisst. Was soll das? Wenn Sie so weitermachen, gehen wir alle den Bach runter! Die Sonne wird doch immer wieder scheinen und damit die Reservierungen eintrudeln. War noch jedesmal so. Ich bin schon länger als Sie im Engadin und kenne das.“ Was für eine tolle, mutige Mitarbeiterin. Ich gratulierte ihr zu ihrer Offenheit, dankte für die Ermutigung und schämte mich nicht zu zeigen, dass ich das wirklich benötigte.

Ein anderes Beispiel: Damals war in Mode, die Mitarbeiter zu qualifizieren. Ohne die Nähe, die wir zueinander hatten, wäre das zu einem unerträglichen Ritual verkommen. Der Offenheit zuliebe wünschte ich, von ihnen ebenfalls qualifiziert zu werden. Einzeln, wie ich das ja auch mit ihnen machte. Und offen. Von allen erinnere ich mich Angelo Filligers Qualifikation. Es war die kürzeste und treffendste. Er war wesentlich älter als die anderen Abteilungsleiter, vielleicht etwa fünf Jahre jünger als ich. Er kam ins Büro, verweigerte den angebotenen Stuhl und stützte sich mit beiden Armen vor mir auf mein Pult. „Sie wissen genau, dass Sie ein toller Direktor sind, Herr Thommen. Aber in zwei Momenten sind Sie unerträglich: wenn die Zahlen schlecht sind und wenn Ihre Frau ankommt.“ Nickte mir zu, und verliess das Büro. Wie nützlich! Aus unerfindlichen Gründen erlaubte ich mir nicht und hatte es mir in all den Jahre nicht erlaubt, während den Öffnungszeiten für meine Familie Zeit zu reservieren. Ungeplant liess ihre Ankunft über mich ergehen, was einen total unnötigen Druck auf mich bewirkte. Dank Angelo begann ich dann endlich, endlich, den Freiraum für die Meinen vorzusehen. Und tatsächlich, es ging danach besser. Trotz Rückfällen, hie und da...

Wie gerne erinnere ich mich dieser Mitarbeiter, des Klimas, das wir miteinander geschaffen hatten. Das ermöglichte weitgehend meine höchst effiziente Assistentin Susi Olgiati, die sich nicht scheute, mir aus ihren Ferien die zehn goldenen Regeln für Ordnung im Büro zu faxen. Ohne ihre tatkräftige Unterstützung wäre es mir niemals möglich gewesen, so zentral und aktiv am Geschehen teilzunehmen. Wie sie mich beeindruckte, mit ihrer enormen Energie, ihrer klaren Analyse von Gegebenheiten, von Stimmungen im Team!

Roland Maier, der Küchenchef, war eine weitere, starke Stütze. Er hatte nicht nur das Niveau der Küche angehoben, sondern auch die Brigade um einen Drittel reduziert. Von Stucki im Bruderholz war er als Sous-chef, verantwortlich fürs à la Carte Restaurant ins Tschuggen gekommen und folgte mir in den Kronenhof. Roberto, der Oberkellner des Kronenstübli, der dieses Restaurant wieder auf die frühere Beliebtheit zurückbrachte. Die Hausdamen, mit den den treuen Zimmermädchen und Portiers, Frau Spirk, die die Wäsche perfekt hielt und ihr Mann, der Unterhaltschef... Ach wie viele, tolle Menschen wir dort hatten! In diese Aufzählung gehörten noch viele.

Einen besonderen Gedanken möchte ich unseren jugoslawischen Service Mitarbeitern widmen. Bei meiner Ankunft war ich von ihnen nicht begeistert. Es fehlte ihnen an Schliff und Eleganz. Als ich dem Oberkellner, Ferruccio Piatta dell'Abondio, eine entsprechende Bemerkung machte, verteidigte er sie: „Schon möglich, dass ihr Auftreten nicht dem entspricht, wie Sie sich den Kronenhof wünschen. Was die aber krampfen! Niemand schiebt das Mobiliar so effizient und ohne mit der Wimper zu zucken umher wie die und dasselbe gilt für Überstunden. Und dann, achten Sie einmal darauf, wie jeder von ihnen von den Stammgästen geschätzt wird, denn während den recht intensiven Brigadewechseln sind sie dem Hause immer treu geblieben. Tatsächlich. Kein Gast hätte sich je über Stillosigkeit beklagt. Im Gegenteil, sie lobten ihre Anstrengungen, den Ansprüchen des Hauses zu genügen. Dank dessen machten sie echte Fortschritte. Johann beendete seine Karriere dort sogar als Oberkellner und Liubiscia erwies sich als pfiffiger, tüchtiger Unterhaltsmann in allen Bereichen, wenn er in der Zwischensaison dafür tätig war. Danke Ferruccio für das Zurechtrücken meines Blicks!

Keinem Mitarbeiter möchte ich Unrecht tun, wenn ich deren viele hier nicht mehr zu erwähnen vermag. All die tollen Leute an Rezeption & Conciergerie, die diskreten, effizienten Zimmermädchen und ihre Hausdamen...

Im dritten Jahr gelang es uns, Umsatz und Betriebsgewinn um die 20% zu steigern, einige weitere Aktionäre zu gewinnen. Einer der bestehenden verdreifachte sogar seine Anteile. Dieser Erfolg ermunterte den VR die Fassaden hofseitig zu renovieren, wiederum unter Beteiligung der kantonalen Denkmalpflege. Dafür machte uns Dr. Hans Rutishauser, ihr Chef die Ehre, seine Hochzeit bei uns zu feiern. Ein rauschendes Fest, zu dem zahlreiche Denkmalpfleger der Schweiz geladen waren. Linard Bardill, der Bündner Liedermacher, beseelte alles aufs Fröhlichste. Auslöser zur Gründung des Preises „Historisches Hotel des Jahres“ durch die Landesgruppe Schweiz von ICOMOS, des „International Council On Monuments & Sites“, war die Renovierung der historischen Saale des Hotel Schweizerhof in Luzern. Dazu beigetragen hatte diese Hochzeitsfeier mit Sicherheit in ganz entscheidendem Masse. Wir wurden eingeladen, unser Finanzierungskonzept am Eröffnungskongress ICOMOS in Luzern vorzutragen und der Vorstand optierte mich als Fachvertreter in die Jury dieses Preises.

Mittlerweile war ich fünfundfünfzig geworden. Ein bis zweimal pro Jahr schmeichelte mir eine berufliche Anfrage oder sogar ein konkretes Angebot. „Meine Herren,“ entgegnete ich dem VR, als er seine Zufriedenheit über diese Feier und deren Konsequenzen ausdrückte, „Ich danke Ihnen für eure Wertschätzung und möchte hier einmal mehr betonen, wie gut es mir im Kronenhof gefällt, wie sehr mich unser Einvernehmen anspornt. Darf ich Ihnen vorschlagen, unsere Eintracht etwas konkreter zu fassen, indem wir meinen Vertrag auf unkündbare fünf Jahre verlängern?“
Der Banker lachte: „Jürg, du weisst doch, dass du unser aller Mann bist; so etwas brauchst du doch überhaupt nicht.“
„Ich weiss und schätze das. Trotzdem, ich fände es eine konkrete Anerkennung meines Wirkens. Auch will ich betonen, dass ich keinerlei Ausflugsgedanken hege. Ohne eine weitergehende Sicherheit als meinen jetzt unbefristeten Vertrag würde ich künftige Angebote möglicherweise etwas näher betrachten. Doch ich betone, es gefällt mir hier und mit euch.“
Im Hinterkopf hatte ich nämlich noch den Astrologen Gupal in Bombay, der mir 1992 vorausgesagt hatte, dass ich bald in den Bergen arbeiten und dort um die drei Jahre bleiben würde.
„Werde ich denn keinen Erfolg haben?,“ fragte ich ihn.
„Sie schon, die Gesellschaft aber nicht. Ich weiss nicht an was es liegt. Ich vermag es nicht zu erkennen.“
Mit diesem Vertrag ging es mir auch darum, Gupals Prophezeiungen Lügen zu strafen. Immer wieder musste ich beim VR auf mein Anliegen zurückkommen. Freundlich. Unaufgeregt. Nach sechs Monaten gab der VR dem Juristen schliesslich den Auftrag, den Vertrag in meinem Sinne auszuarbeiten. Welch zähes Ringen! Es dauerte nochmals sechs Monate, insgesamt ein ganzes Jahr bis der neue Vertrag unterzeichnet war. Doch ich hatte ihn und zog Gupal eine lange Nase: Nicht drei, sondern mindestens acht Jahre würde ich hier insgesamt wirken!

Weniger faszinierend aber umso dringender als die Fassadenrestauration war das Schamottieren der Öfen unserer Heizung, die noch immer Dampf betrieben war. Wenn wir den Zusammenbruch im kommenden Winter nicht riskieren wollten, galt es, unverzüglich daran zu gehen. Kostenpunkt: um die Fr. 50'000.- Unser Hauptaktionär, seines Zeichens Architekt, hatte bereits ein revolutionäres Projekt im Kopf. Dieses sollte unsere Energiekosten enorm senken. Es basierte auf Heizöl, welches gleichzeitig elektrischen Strom produzieren sollte. Kostenpunkt: 1 Mio. Innerhalb acht Jahren wäre diese Investition glatt amortisiert. Zwar liefen noch keine Anlagen, welche diese Prognosen hätten bestätigen können, aber bereits zwei weitere Hotels wären uns in der Planung weit voraus, berichtete unser Hauptaktionär.

Wie sich der gesamte Verwaltungsrat und auch ich – mit Ausnahme des Juristen – von der Begründung des Hauptaktionärs blenden liess, ist mir heute noch ein Rätsel: „In unserer prekären finanziellen Lage sind wir darauf angewiesen, diese aussergewöhnlichen Amortisationsmöglichkeiten zu nutzen. Die billige Lösung können wir uns gar nicht leisten!“
Gewitzt von der Erfahrung mit Herrn Kipp, der meine Bemerkungen zu seinen billigen Renovierungs-Vorhaben nicht geschätzt hatte, unterdrückte ich meine Skepsis.

Unser Hausjurist versuchte eine Mehrheit für eine Verantwortlichkeitsklage gegen den Hauptaktionär zusammen zu bringen, auf dessen Geld aus dem Mittleren Osten wir immer sehnlicher warteten. Vergebens. This Prager beunruhigte das Ausbleiben des versprochenen zusätzlichen Aktienkapitals und er war skeptisch gegenüber der neuen Investition, die so weit über unsere finanziellen Möglichkeiten hinausging. Wir anderen waren alle der liebenswürdigen, überzeugenden Art unseres Hauptaktionärs erlegen, obschon diese auf Hoffnung und Versprechen und keinesfalls auf Realitäten fusste.

Diese Installation benötigte enorm viel Platz im Kellergeschoss, war lärmig, was zusätzliche Schallisolation notwendig machte. Wie jeder Prototyp wies auch dieser Kinderkrankheiten auf. Gleichzeitig stiegen Ölpreis und Hypothekarzins um die Wette. Mit diesem Projekt hatten wir eine Million mehr auf der Schuldenseite. Unser Banker, der die Finanzierung des Kronenhofs von der Graubündner Kantonalbank abgelöst hatte, war etwas weniger oft an den VR Sitzungen zugegen. Gleichzeitig kündigte die CS ihre Hypothek. Kurz darauf wies die UBS den Kronenhof der Abteilung „Spezialfinanzierung“ zu. Im Klartext: notleidender Kredit, Risikozuschlag von einem halben Prozent. Wir waren damit auf über acht... Die Fälligkeit der gekündigten Hypothek rückte näher.

Wohl waren wir seit längerem daran, Gestaltungs- und Zonenpläne für den Nukleus hinter der protestantischen Kirche zu entwickeln, doch war es ein Hin und Her: einmal war es die Baukommission der Gemeinde, welche Änderungswünsche hatte, das andere Mal jene des Kantons. Dazwischen verging viel, viel Zeit. Die Kosten für die Gestaltungs- und Zonenpläne stiegen und stiegen. Käufer zeigten sich keine, die das Projekt übernommen hätten. Nur noch das Engagement der Baufirma Costa hielt uns über Wasser, deren Inhaber sich sowohl gegenüber dem Kronenhof als Kulturgut wie auch Pontresina verpflichtet fühlte.

Ich weiss nicht, wie Präsident Bardola, der mit Bürgschaften für das Projekt beladen war, in seinem tiefsten Innersten fühlte. Aber nach aussen zweifelte weder er, noch irgend sonst jemand von uns am schlussendlichen Erfolg unseres Vorhabens. Nicht Optimismus, schon gar kein verzweifelter herrschte, sondern Zuversicht. Ganz einfach Zuversicht.

King hatte in die Buchhaltung gewechselt. Ich war zufällig da, als ein Lieferant am Telefon bei ihm ziemlich energisch auf die Bezahlung seiner Ausstände pochte. „Die zweite Mahnung gehe raus, meinen Sie? Ach wissen Sie, im Moment bezahlen wir niemanden vor der dritten. Aber wir bezahlen. Machen Sie sich keine Sorgen!“ Seelenruhig hängte er das Telefon wieder auf und lachte mich an. „Ja, so geht das im Moment, Herr Thommen....“

Die Veltliner in den grossen Fässern waren mittlerweile in Flaschen abgezogen und grossteils verkauft. Hansjürg Valentin hatte die Kellerei übernommen, mit Triacca einen potenten Partner gefunden und unsere Unternehmung Lorenz Gredig AG entlastet. Die Kellerei benutzte Roberto vom Kronenstübli als stimmungsvollen Ort für Aperitifs und Empfänge. Das machte er mit der Konferenz der europäischen Zentralbankers, die bei uns tagte. Mir fiel auf, wie einzelne der Herren an die Fässer klopften. Zum Abschluss meiner Begrüssung erlaubte ich mir folgenden Hinweis: „Meine Herren, darf ich Ihnen etwas sagen, auf das man mich aufmerksam gemacht hatte, als ich vor ein paar Jahren hier meine Arbeit aufnahm: Zwei Dinge darf man in einem Keller nicht. Zum einen, über Essig zu sprechen oder solchen nur auch erwähnen. Bringt Unglück. Zum anderen, an die Fässer klopfen. Es käme dem gleich, wenn ich an Ihre Kassenschänke klopfen würde um zu sehen, ob sie auch voll sind.
„Das können Sie, das können Sie!“ rief einer aus der hinteren Reihe. „Unsere Safes sind so leer wie Ihre Fässer!“

Ob uns die GKB, die Graubündner Kantonalbank wohl helfen würde? Schliesslich war der Kronenhof über Jahrzehnte treuer Kunde dieses Instituts gewesen. Aus seiner langen Geschichte heraus genoss unser Betrieb einen guten Namen.

Generaldirektor Monsch empfing unsere Delegation mit ausgesuchter Höflichkeit in seinem Büro. Aufmerksam hörte er den Ausführungen zu und schwieg einen langen Moment.
„Tatsächlich herrschen im Tourismus allgemein schwerere Zeiten als auch schon. Die Zinssituation trägt das ihre dazu bei“. Herr Monsch machte einen detaillierten Tour d'horizon über den momentanen Bündner Fremdenverkehr und kam auf die langjährigen Beziehungen seines Instituts zur Hotellerie zu sprechen. Diese – zusammen mit anderen dauerhaften Verpflichtungen – zeichneten die Graubündner Kantonalbank besonders aus. Diese Verbundenheit aus langer Tradition verpflichtete doch eine Bank, in Würde und Anstand jederzeit, und gerade jetzt, zu ihren Kunden zu stehen. Darauf beruhe der Ruf seines Instituts. Genau gleich erwarte er selbstverständlich, dass auch jene Institute, die in besseren Zeiten langjährige Beziehungen seiner Bank abgelöst hätten, jetzt in dieser schwierigen Zeit, in Würde und Anstand zu den übernommenen Pflichten stehen. Damit war selbstverständlich die UBS unseres Verwaltungsrates – seines Offizierskollegen - gemeint. Herr Monsch verdankte unseren Besuch, wünschte uns alles Gute und entliess uns.

Einige Wochen später fand sich dieselbe Delegation des Kronenhofs in der Abteilung Spezialfinanzierung der UBS in Zürich wieder. Der Bankvertreter war auch hier ein Generaldirektor, ein Studienkollege unseres Juristen. Wie ein Löwe, stundenlang, unermüdlich kämpfte This Prager für uns. Alle Register zog er, von der Ablösung des Kredits vor wenigen Jahren durch die UBS, über das besondere Potential des Hotels und seinem Immobilienbestand, seiner kulturellen und architekturhistorischen, regionalen Bedeutung und insbesondere über den aussichtsreichen und originellen Entwicklungsplan. Er detaillierte, erklärte diesen in den wesentlichen Einzelheiten, betonte gar die persönlichen Beziehung, die sie beide doch verbinden würde.

Schliesslich bewilligte der Banker einen Aufschub der Fälligkeiten und unterstellte uns einem seiner Adlaten. Dieser, ein Absolvent der Handelshochschule St. Gallen, war erst seit kurzem bei der UBS. Von Hotellerie, schon gar nicht von Luxushotellerie war er völlig unbeleckt und erhielt mit dem Kronenhof Gelegenheit, sich zu beweisen. Was aus Sicht unserer Unternehmung eine intensive, langfristige Entwicklungsplanung mit Zinsmoratorium bedeutet hätte, war für den aufstrebenden jungen Mann die möglichst rasche Abwicklung des Problems, welches offenbar wie ein Mühlstein an der Bank hing.

Eine Lösung brachte ausgerechnet der Sohn des Hauptaktionärs mit einem Sparringspartner, der den Betrieb retten würde. Dies unter der Bedingung, dass die Aktionäre ihre Anteile abschreiben würden. Meinen Vertrag würde man weiterführen, jedoch ohne die Verpflichtung für weitere vier Jahre. Die Liebe der Aktionäre zum Unternehmen ging so weit, dass sie dem Vorhaben zum Weiterbestand des Kronenhofs zustimmten.

Ein halbes Jahr später war ich entlassen. Ich erinnere mich noch, wie ich weinte. Nicht, dass ich mir berufliche Sorgen gemacht hätte. Doch ich liebte dieses Haus und alle, die damit verbunden waren: „Dieses Hotel passt zu Ihnen wie ein Handschuh,“ sagte ein Gast zu mir. Der Hauptkunde schrieb mir nach meinem Weggang „Ich darf Ihnen versichern, lieber Herr Thommen, dass Sie der beste Direktor des Kronenhofs waren, von den vielen, die wir in den vergangenen dreissig Jahren erlebt haben“.

Ein paar Jahre später verkauften die beiden Neuerwerber die Anlage dem Kulm St. Moritz, das den Kronenhof zu dem blühenden Betrieb entwickelte, der heute an der Spitze der schweizerischen Berghotellerie glänzt. Die meisten der damaligen Verwaltungsräte, alles ehemalige Teilhaber, sind heute noch miteinander befreundet. Mit dem Präsidenten und einem der damaligen Aktionäre treffen wir uns in alter Freundschaft noch fast jedes Jahr.
Auf zu neuen Ufern
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31.  Auf zu neuen Ufern

Kurt Wagner, der Vizedirektor aus dem Tschuggen, entwickelte die Villa Siemens in Bergisch Gladbach sehr erfolgreich ins Schlosshotel Lerbach. Sein Arbeitgeber, Thomas Althoff, hatte in Roquebrune-Cap-Martin eben die Pacht des Vista Palace erworben. Ob ich nicht die Übernahme begleiten würde, fragte mich Kurt. Als Mandat vorerst, und wenn man übereinkäme später als Direktor? Herr Althoff, dem er mein Interesse mitteilte, meinte sogar, dass er sich später eine Minderheitsbeteiligung vorstellen könnte.

Kurt hatte ja gleichentags wie Margot und ich 1979 im Hotel La Palma au Lac in Locarno zu arbeiten begonnen. Er als Kellner, der eben die Lehre im Hotel Imperial in Wien abgeschlossen hatte, wir als Direktionspaar. Grosse Angst hatte er, dass im Tessin niemand Deutsch verstehen würde! Trotz der Grundlosigkeit seiner Befürchtungen war er froh über die Deutschschweizer Direktion. Seine sprachlichen Fortschritte waren gross und beruflich war er ein Könner. Wie damals üblich, hatte er einen Saisonnier-Vertrag mit neun monatiger Gültigkeit. Um ihn auch im nächsten Jahr für uns zu gewinnen, empfahl ich ihm, von Januar bis Ende März doch die Università per stranieri in Perugia zu besuchen, wo es mir damals so gut gefiel und ich die Sprache gut erlernt hatte. Er folgte mit grosser Begeisterung meiner Empfehlung. Ähnliche Erfahrungen in Perugia wie ich und noch zwei weitere Saisons im La Palma schufen die Basis für eine Verbindung, die ihn Jahre später als Empfangschef ins Tschuggen nach Arosa führte, Vizedirektor wurde und seine Frau dort kennenlernte. Das alles begründet die auch heute noch lebendige Freundschaft.

Am Freitag, den 25. April 1997, beendete ich meine Arbeit im Kronenhof und war zwei Tage später in Roquebrune. Ich tat das nicht ohne Stolz, um der neuen Besitzerschaft zu demonstrieren, nicht auf sie angewiesen zu sein: Sie musste mich noch ein halbes Jahr bezahlen und gleichzeitig nahm ich meine Arbeit in Frankreich auf. Trost über den schmerzvollen Abgang vom Engadin, wo ich mich zu Hause fühlte und dem geliebten Kronenhof, der nicht mehr der meine war!

Nach einer so harten Trennung wäre es möglicherweise vernünftiger gewesen, zuerst zu mir selbst zu kommen. Doch muss man die Feste feiern wie sie fallen. Ich war glücklich, nach Frankreich zurückzukehren, erst noch an die französisch-italienische Grenze. Grenzsituationen hatten und haben auf mich seit jeher grosse Faszination.

Meine erste Begegnung beim Betreten des Vista Palace waren Prof. Schaupp und seine Frau, Stammkunden aus dem Tschuggen. Das Paar hatte damals das Dach über dem Olympiastadion in München entworfen und gebaut. Ich stellte sie gleich Herrn Althoff vor, der dort auf mich wartete, zusammen mit meinem alter-ego, dem Verwaltungsdirektor Axel Deitermann.

Das Hotel war klein mit seinen etwa vierzig Unterkünften, spektakulär auf den Felsen gebaut, welcher das Cap-Martin und Monte-Carlo überblickt. Sieben Lifte verbanden die zahlreichen Ebenen, die Restauration war unterteilt auf drei Stockwerke. Ein halbes Dutzend Suiten verfügten über einen privaten Mini-pool, alle Zimmer hatten zum Meer hin schrankenlose Fensterfronten von der Decke zum Boden. Die südliche Inneneinrichtung war gepflegt, jedoch etwas in die Jahre gekommen. Das Vista Palace gehörte zur Grundig- Stiftung, die es mit allem möglichen technischen Schnick-Schnack ausgestattet hatte: Storen, die sich bei Sonneneinfall automatisch senkten, sich ab einer gewissen Windstärke und unabhängig von der Sonne ebenso von selbst wieder hoben, ein fixes, allzu kleines Bedienungstablett integriert an der Vorderseite des Nachttisch, für besondere Beleuchtungszenarien, die Aircondition, den elektrischen Eingangs-Türöffner, die Anzeige bitte nicht stören/bitte Zimmer herrichten und eben für besagte Sonnenstoren. Normal begabte Menschen brauchten eine Woche, um so etwas bedienen zu können. Deshalb kam es zu ebenso komischen wie wütenden Situationen mit Zimmerbewohnern, die sich kaum daran gewöhnen konnten.

Mein Vorgänger, Patrice Glogg mit seiner begabten Frau Agnès hatten es verstanden, dem Haus einen urbanen Touch zu verleihen ohne der südlich geprägten Eleganz ihren Charme zu nehmen. Sie hatten das Haus wirklich geprägt. Nur eine Wahl von Agnès konnte ich nicht verstehen: die Uniformen der Hostessen. Ein zweireihiges, schwarzes Deux-pièces, mit ausgeschnittenem Jackett, alle 10 cm versehen mit 1 cm breitem Fischgrat-Muster und beidseitig parallel verlaufenden feinen grauen Linien. Die jungen Damen wirkten darin ausgemergelt. Sie hätten besser in eine Pompes funèbres, in ein Beerdigungsinstitut, als in ein Hotel gepasst. Mit Herrn Althoff kamen Gloggs zu keiner Übereinkunft. Sie verliessen das Vista Palace nach fünf Jahren dortiger Tätigkeit. Diese Tatsache begründete meinen Einsatz im Vista.

Das Haus machte mir den Eindruck, dass alle Abteilungen nicht nur selbständig, sondern losgelöst voneinander arbeiteten, wie das in grossen Kettenhotels der Fall sein kann. Für mich entsprach dieser Arbeitsstil weder der Grösse, noch der Art des Hotels, welches unter seinen ursprünglichen Besitzern „Vistaero“ hiess und lange den „Relais et Châteaux“ angehört hatte. Als solches wurde es von ihnen sehr persönlich geführt. Wahrzeichen des Hauses war damals ein grosses V auf dem Dach, das in die Nacht über der Küste leuchtete. Aber nur, wenn noch Zimmer frei waren. Wer also nachts eine Unterkunft benötigte, was im eleganten, lebensfreudigen Monte-Carlo ebenso zufällig wie oft vorkam, war sich bei leuchtendem V gewiss, im Vistaero willkommen zu sein. Den Ruf des Hauses veredelte das nicht unbedingt, doch einträglich war es allemal.

In Vista Palace wurde es umbenannt, als die Grundig-Stiftung es erworben und erweitert hatte, mit Konferenz- und Bankett-Räumlichkeiten, ja sogar mit einem Helikopter-Landeplatz. Herr Althoff war mächtig stolz auf diesen Zuwachs seiner Gruppe und schlug vor, uns am Telefon mit „Grand Hotel Vista Palace“ zu melden. Mit höflichem Hinweis auf die wirklichen Grand Hôtels, de Paris und Hermitage, im nahen Monte-Carlo, jene Monumente des ausgehenden 19.Jh. konnte ich ihn überzeugen, dass eine solche Ankündigung vielleicht nicht so überzeugend wäre. Gefallen hat ihm mein Einwand nicht.

Schon der Namenswechsel von Vistaero zu Vista Palace wurde damals von der Öffentlichkeit als unpassend wahrgenommen. Die Leading Hotels of the World, um deren Mitgliedschaft Herr Althoff warb, lehnten uns ab. Nicht als Werturteil, sondern weil es eben einem Palace nicht entsprach und die Small leading Hotels of the World damals noch nicht existierten.

Mir schwebte vor, dieses kleine Haus, das zu einem guten Teil von Stammkunden lebte, die mehrere Male pro Saison für Wochenende und Veranstaltungen kamen, so persönlich wie möglich zu führen. Der Empfangschef sollte Anschluss zu den Clés d'Or finden, den Concierges der grossen Hotels, die PR Abteilung mit den Vorständen der attraktivsten unter den zahllosen Vereinigungen und Clubs von Monte-Carlo, um immer auf dem Laufenden für brillante Veranstaltungen zu sein. Unsere Stammkunden sollten wir im voraus darauf aufmerksam machen, ihnen Zugang zum einen oder anderen Anlass verschaffen. Das ergäbe eine Kundenbindung, die einem kleinen, feinen Hotel entspricht. Sie liesse sich weiterentwickeln und den Anteil der Stammkunden ausweiten. Es ging darum, das Vista als Geheimtipp zu etablieren. Bereits konnte das Hotel auf Ferrari- und Oldtimer-Vereinigungen zählen, die zur guten Belegung des Hauses beitrugen. Leider sprach Herr Althoff kein Französisch. So erfolgreich seine deutschen Betriebe auch waren, deren Formel konnte nicht eins zu eins auf Frankreich und Monte-Carlo übertragen werden, wie er sich das vorstellte. So gut wir uns menschlich verstanden, auf beruflicher Ebene hatten wir unterschiedliche Auffassungen.

Franzosen sind trotz ihrer Lebensfreude eher reserviert, zumindest im ersten Kontakt. Mein direktes Zugehen stiess sowohl bei Gästen namentlich im Restaurant, wie auch bei Mitarbeitern auf Erstaunen, wenn zuweilen nicht gar auf Unverständnis. Lächelnd setzte ich mich darüber hinweg, gewann das Vertrauen beider. Die Mitarbeiter wurden nach kurzer Zeit auch im Team offener, die Zusammenarbeit und das ganze Ambiente lebendiger.

Mit den Mitarbeitern traf ich es gut: Ich sah mir schon einmal an, was sie leisteten, lobte sie, wo angebracht und unterstützte, wo notwendig. In der Tat gab es da und dort materielle und personelle Engpässe, die es zu überwinden galt.

Ich war ausgesprochen froh, dass Axel Deitermann sich um all die administrativen, buchhalterischen und inventarbezogenen Aspekte kümmerte, die eine Übernahme mit sich bringt, um mich mich ganz auf den Betrieb zu konzentrieren. Wir hatten es gut miteinander, kamen uns nie in die Quere, ausser vielleicht beim Dessert-Buffet, da wir beide recht verschleckt waren. Der Pâtissier Pascal war in der Tat ein Ausnahmetalent, von dessen einfallsreichen Kreationen mir ein Fenchel-Sorbet und ein Zichorien-Eis in süsser Erinnerung bleiben, nebst all den klassischen Nachspeisen, Patisseries und Croissants, die er mit seltener Meisterschaft herstellte.

Meine Position als Mandatsträger gefiel mir. Gleichzeitig beeindruckte sie mich: „Nun stehst du ganz alleine da. Erfolg oder Misserfolg hängen nur von dir ab. Nicht nur von deiner Leistung, auch von der Disziplin, mit der du deine administrativen Aufgaben erledigst und von der Klugheit, mit der du  neue Mandate suchst. Hast du dazu auch den nötigen Durchhaltewillen?“ Ich war mittlerweile sechsundfünfzig, nicht gerade ein Alter um sich zum ersten Mal selbständig zu machen. „Um deinen Durchhaltewillen zu trainieren, unterziehst du dich jetzt einer schwierigen, langen und nutzlosen Anstrengung. Es geht um Lernwillen und Ausdauer, nicht um das, was du lernst. Ans Fortschreiten, so beschwerlich es auch ist. Doch was könnte das sein?“

Die Russen waren damals gerade daran, die neue Kundschaft im gehobenen europäischen Tourismus zu bilden. Patrice Glogg hatte für deren Akquisition Olga Bobrova aus Moskau betraut. Eine blitzgescheite Frau, welche die Gunst der Stunde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erkannte, und als damals 18-jährige die Reiseberatung „ars vitae“für vermögende Russen aufbaute. Ihre Kunden vermittelte sie ausschliesslich an allerbeste Adressen in Westeuropa. Für die Betreuung der bemerkenswert zahlreichen Gäste, die sie uns zuhielt, hatte mein Vorgänger eine ukrainische Studentin als Hostess aus Lvov, dem früheren Lemberg, eingestellt, auch eine Olga. Diese hatte den concours international de la dictée françaiseihres Landes gewonnen und damit ein Stipendium für ein halbes Jahr an der Uni in Sofia Antipolis. Um über die Runden zu kommen hütete sie das elfjährige Kind einer Familie in Nizza, führte unsere Russen in der Gegend umher, half im Service und überall dort mit, wo Not am Mann, respektive an der Frau war.

Die Russen! Ich erinnere mich an zwei junge Paare, das eine hatte zwei kleine Kinder. Beide Paare hatten jedes für sich während des ganzen Aufenthalts einen Ferrari und einen grossen Mercedes gemietet und gemeinsam eine Motoryacht. Nicht nur diese, alle Russen waren von überschäumender Lebensfreude, genossen den Moment und alles, was sich an Bestem bot. „Lerne doch Russisch!,“ sagte ich mir, „dann hast du deine schwierige und nutzlose Anstrengung. Allzu lange wird sie nicht sein. In zwei, drei Jahren wirst du das ordentlich können, wenn vielleicht auch nicht gerade beherrschen.“ Schliesslich bist du mündlich und schriftlich gut in vier Sprachen und verständigst dich darüber hinaus im Spanischen ganz ordentlich.

Was die Schwierigkeit, die Länge angeht, hätte ich es nicht besser treffen können. Nach zwanzig Jahren lese ich zwar Dostojevski, lieber Tschechow, aber mit welcher Mühe! Von fliessendem Reden keine Spur! Sicher aber hat mir die Anstrengung das Bestreiten meiner Selbständigkeit erleichtert in den fünf Jahren, die ich rückblickend als die beruflich segensreichsten bezeichne.

Dabei ergaben sich auch komische Situationen. Als ich mit meinen ersten Brocken eine russische Familie bei Tisch fragte: „Vkussno?, schmeckt es ihnen?,“ meinte die Dame: „Ach, Sie sprechen auch Japanisch?“ Später ging es dann schon besser. Doch als ich eines Tages der Hauptperson  am Tisch von Russen aufwartete, um mich nach deren Zufriedenheit zu erkundigen, sprangen vom Nebentisch vier Männer auf und umringten mich sofort. Was mich amüsierte, beunruhigte die Bodyguards zutiefst und sie gaben es mit ihren Blicken zu verstehen.

Die Frauen, die mit ihnen reisten, waren zumeist jung, wunderschön und alle sehr elegant gekleidet. Olga Biganska stand neben mir in der Halle, als eine Gruppe von ihnen direkt an uns vorbeizog. „Oh, welch hübsche Höschen die Russinnen tragen,“ sagte ich zu ihr als ich feststellte, wie deren weisse Hosen Olga fesselten, durch welche jene durchschimmerten.

„Mein Höschen haben Sie aber noch nie gesehen, Herr Direktor“.
„Mit Ihrer Uniform besteht da keinerlei Risiko.“
„Das hat nichts mit meiner Uniform zu tun. Ich bin Ukrainerin, nicht Russin!,“ rief sie pathetisch aus.

„Hören Sie Olga, Sie haben doch relativ viel freie Zeit. Wären Sie bereit, mir Russischlektionen zu erteilen? Überlegen Sie das bitte doch einmal und sagen Sie mir auch, wieviel Sie dafür wollen.“

„Ich? Dafür will ich Deutschstunden!,“ kam es wie aus der Kanone zurück.

Diese Übereinkunft sollte mir nicht nur sprachlich weiterhelfen. Nebst ihrer geduldigen Lehrtätigkeit löste sie mir mehr als einmal zahlreiche Knöpfe in der Bedienung des mir damals nur rudimentär bekannten Computers. Ihre Beharrlichkeit, mit der sie sich an Frankreich festkrallte, ihr Draufgängertum, mit welcher sie ihre Karriere bis zum Doktorat an der école des mines als Chemikerin verfolgte, um heute in der Forschung eines bedeutenden französischen Unternehmens tätig zu sein, sollten mir als Beispiel in meiner Selbständigkeit dienen, wenn mich der Mut verlassen wollte. Olga wusste nur eines: in die Ukraine kehre ich nicht zurück.

Margot und ich führten unsere Wochenend-Ehe weiter, welche im Tschuggen begonnen hatte und uns auch in Pontresina recht gut bekommen war. Meine Frau pflegte unser Heim im Tessin als unser Quartier général. Nicht nur ihr war es wichtig, die Wurzeln zu pflegen, die wir hier vor zwanzig Jahren geschlagen hatten. Auch mir war der Rückzugsort lieb und teuer. Wir beide erinnerten uns nur zu gut, wie der Wegzug von Megève unsere Kinder geschmerzt hatte. Ihnen im Tessin ein Heim zu bieten, das immer das unsere bleiben würde, unabhängig davon, wohin meine beruflichen Orientierung mich verpflanzen würde, war für uns ein unverrückbares Ziel. Das auch für uns beide, jetzt wo die Kinder bereits in Zürich und Fribourg studierten und dort lebten. Margot hatte nicht zuletzt über die Schule mit diversen Eltern der Schulkameraden Freundschaft geschlossen, die sie sehr gerne pflegte. Sie kam und ging nach Roquebrune, wie sie nach Arosa und Pontresina gekommen war.

Die Kinder begleiteten sie über die Feiertage. Zusammen mit uns verlebten sie die ganzen Sommerferien in Roquebrune. Patrick und insbesondere Claudine waren begeistert von meiner neuen Position. Die Wohnung im Hotel selbst, auch die beiden Zimmer der Kinder hatten denselben spektakulären Blick übers Meer. Die Feuerwerke zum Wettstreit von Monaco im Juli und August waren von dort aus prächtig zu sehen. Die Küche im Hause war vorzüglich, Monte-Carlo das Mekka von Showbegeisterten, die ganze Côte d'Azur und insbesondere deren alter Teil bis Cannes, die Spielwiese der Schönen und Reichen. Welchen Twens würde so etwas nicht gefallen? Die Abende in den tollen Bars und Clubs dem Hafen entlang, die Superstars, denen man im Sporting in Abendkleid und weissem Dinner-Jacket zujubelte? Es war ein Leben in Dauer-Ekstase des Spektakulärsten, des Schönsten, Elegantesten, in einer kaum zu überbietenden Brillanz! Wer daran teilnahm, schien keine Sorgen zu kennen und Geld hatte offenbar ebensowenig Bedeutung, wie die Luft die man atmete. Alle schienen sich dauernd für irgendetwas zu belohnen, alle waren des amis, de très chers amis.

Von aussen vermochte man keine Rivalität unter ihnen zu erkennen, ebensowenig die strenge Hierarchie die in diesen Kreisen herrscht. Der bal des petits lits blancs fürs Rote Kreuz offenbarte solches den Eingeweihten. Die Teilnahme kostete damals sechstausend Francs, das fünffache des gesetzlichen Mindestmonatslohnes wie ich unpassenderweise hier anführe. Zutritt bekamen Einzahlende, deren Scherflein so lange auf einem Sperrkonto blieb, nur „auf Einladung“ hin. Die Tischzuteilung nahm das Komitee im Ermessen des gesellschaftlichen Ranges vor, welchen die Anfragenden bekleideten. Längst nicht alle Anfragen wurden erfüllt. Die Abgewiesenen erhielten ihre Anzahlung kommentarlos zurück. Wer dann schlussendlich zugelassen wurde und seine mondänen Ambitionen dadurch erfüllt glaubte, seinen Tisch aber in der Nähe zum Toiletten- oder Servicedurchgang zugeteilt bekam, konnte danach seine Koffer gleich wieder packen...

Eine Dauererektion soll dem Vernehmen nach in Schmerz übergehen. Permanente Exaltiertheit äussert sich weniger leidvoll. Sie verliert schlicht und einfach ihren Geschmack, entleert sich ihres Gehalts, endet im déja-vu. Das stellte ich im Kontakt mit lieben Gästen aus dem Tschuggen fest, die, in Monte-Carlo ansässig, mich mit fast wöchentlichem Besuch im Gourmet-Restaurant des Vista den ganzen langen Sommer über beehrten. Sorgen über die äusserst schwierige Schwangerschaft ihrer Tochter, die schliesslich ihr Kind verlor, und Betrübtheit über die zunehmende Entfernung von ihrem Sohn, der seine Hauptaufgabe darin sah, das Familienvermögen ebenso rasch wie unterhaltsam in Umlauf zu bringen, bestimmten ihr Leben, untermalt von gepflegter Langeweile.

Derweil schlug ich mich mit dem kyrillischen Alphabet und dem schwer einprägsamen, russischen Vokabular herum. Die Russisch Lektionen unterbrach ich bisweilen mit gemeinsamer Lektüre von einigen Gedichten aus Kästners lyrischer Hausapotheke, Geschichten aus „Tod in Sils Maria“. Das amüsierte Olga und bewahrte mich vor dem Ersticken an den sechs Fällen der russischen Grammatik. Olgas Mutter hatte rudimentäre Deutschkenntnisse, die sie ihrer Tochter erfolgreich vermittelt hatte. Olga verstand gut, begriff schnell. Welch eine Geduld sie dagegen mit mir hegen musste...

Wenn es mir zuviel wurde, liess ich sie aus ihrer Heimat erzählen. Der Vater stammte aus einer kultivierten und prominenten Familie. Ein „Klassenfeind“, der zum Kommunisten umerzogen worden war. Er leitete eine Mittelschule und seine Frau lehrte Mathematik. Olga schilderte mir die Schwierigkeiten, vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, aber auch die aktuellen, wie sie während einem halben Jahr keinen Lohn gesehen hatten und wie viel Wert das Geld in dieser Zeit verlor. „Und wie kommt man da zurecht?“ fragte ich sie ungläubig.„On s'arrange. Es gibt immer Mittel, sich zu arrangieren.“ Dabei strahlte sie ein Selbstvertrauen aus, das mich beschämte.

Wie lange könnte ich wohl ohne Lohn überleben, bevor's ans Eingemachte ging? Drei Monate,   vier  vielleicht? Wo müsste, könnte ich dann sparen? Solche Fragen stellte ich mir auch in Bezug auf meine Selbständigkeit, die Tatsache völlig ausblendend, dass ich im laufenden Jahr doppelt bezahlt war, einmal in der Schweiz, in Frankreich sogar steuerfrei, unsere angesparten Reserven vergessend. Doch war ich in Gedanken bereits im nächsten Jahr, wenn dieses Mandat abgelaufen sein würde. An eine Umwandlung in eine entlöhnte Direktion war aus verschiedensten Gründen nicht zu denken. Beunruhigt stellte ich fest, dass Steuern, Kranken- und Lebensversicherungen, Zinsen und Amortisation der Hypotheken bereits die Hälfte meiner komfortablen Einkünfte wegfrassen. Zu sparen gab es da nicht viel. Stipendien für Kinder zu beantragen die an zwei verschiedenen Unis studierten, hätte ich als erniedrigend empfunden. „On s'arrange“lachte mir im Geiste Olgas Gesicht entgegen.

Bei einem Besuch zu Hause erfuhr ich rein zufällig, dass Patrick und Claudine um einen Ausbildungskredit ersucht hatten. Was haben wir doch für wunderbare Kinder! Ohne dass wir darüber gesprochen hätten, strebten sie danach uns zu entlasten! Am Familientisch dankte ich ihnen gerührt. Sie sollen mir aber doch noch die Chance geben, auch ihre Kosten aus eigener Kraft zu bestreiten. „On s'arrange“.

Olga hatte nur ein Ziel: ihre beschränkte Aufenthalts- und Studienbewilligung zu verlängern. Wieviel die Familie dazu beigetragen hatte, bei der sie wohnte und deren Kind sie hütete, habe ich nie erfahren. Nicht viel, vermutlich, denn es waren einfache, ganz normale Leute.

Eines Tages wurde sie ins Polizeikommissariat gebeten wegen ihrer Aufenthaltsbewilligung.
„Wann, und nach wem frage ich dort?“
„Morgen um 15.15. Uhr. Geben sie einfach folgende Nummer an am Empfang.“
Damit war das Gespräch beendet.

Man führte sie in den dritten Stock, wie sie mir erzählte, und hiess sie auf dem Stuhl Platz zu nehmen, der vor einem blechernen Büro stand, wie sie damals in der französischen Administration üblich waren. Dahinter ein leerer Bürostuhl und in der Wand darüber ein blindes Fenster, wie sie bei Einvernahmen üblich sind. Nach geraumer Wartezeit kam schliesslich ein Beamter in Zivil. Er legte ein Dossier vor sich hin, das offensichtlich das ihre war:

„Guten Tag, Mademoiselle. Ihr Name, Vorname, Geburtsdatum, Wohnort“, alles wollte er wissen.
„Das haben Sie doch alles bereits in meinem Dossier,“ gab Olga zur Antwort, als die Fragerei immer weiter ging.
„Ja, aber wir wollen wissen, ob Sie die Wahrheit sagen. Und dann arbeiten Sie im Vista Palace, obschon Sie dazu Ihre Aufenthalts-Bewilligung nicht berechtigt.?“
„Nur aushilfsweise“. Man ruft mich jeweils, wenn für russisch sprechende Gäste Übersetzungen nötig sind“ untertrieb sie.
„Sie haben um Umwandlung Ihrer Bewilligung in eine permanente nachgesucht, ist mir bekannt. Gilt das noch immer?“
„Ja, natürlich. Ich würde gerne in Sofia Antipolis weiterstudieren.“
„Wenn Sie uns helfen, können wir vielleicht Ihnen helfen. Könnten Sie sich das vorstellen?“
„In was würde meine Hilfestellung bestehen?“

„Wir wären froh, wenn Sie uns die Ankunft von bestimmten Gästen aus dem Ostblock im Hause bestätigen möchten, sich deren Unterhaltung etwas aufmerksam verfolgen und uns darüber Bescheid geben würden? Mit der angemessenen Diskretion, versteht sich. Hier haben Sie einige Namen, die möglicherweise im Vista Palace absteigen werden. Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, dass Sie nicht mit Details der Arbeitsbewilligung behelligt würden.“ Ein klarer Wink, womit sie zu rechnen hätte, sollte sie nicht einwilligen.
Er reichte ihr einen anonymen Zettel mit etwa einem Dutzend Namen, bedankte sich fürs Kommen und verabschiedete sich.

Ein paar Tage bestätigte man Olga, dass ihr Gesuch um Jahresbewilligung zu Studien- und Arbeitszwecken bewilligt worden war. Das alles hatte sie mir kurz vor meiner Wegreise vom Vista Palace erzählt. Auch mit einem Lachen. Es ging um Frauenhandel. Nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war, standen sehr viele Beamte der Geheimdienste ohne Beschäftigung da. So versprach sich die französische Administration neue Tätigkeiten für ihre Agenten, indem man der traite des blanches, dem Frauenhandel, nachging. Die Piste im Vista war dafür die falsche.

Olga doktorierte an der école des mines, ersuchte sobald es möglich wurde erfolgreich um die französische Staatsbürgerschaft. Danach lernte sie ihren Mann Arnaud kennen. Sie haben zwei reizende Kinder, Milan und Olena, leben in der Nähe von Paris. Ich freue mich über ihren persönlichen, familiären und beruflichen Erfolg und natürlich auch, dass wir heute noch Freunde und im Kontakt geblieben sind. Mit ihr, ihrer Familie und mit ihren Eltern in Lvov.

 

 

Berater, Vermittler, Hotelier auf Zeit
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32.  Berater, Vermittler, Hotelier auf Zeit
Im vollgepackten Auto fuhr ich vom Vista Palace weg. Ich hatte noch bei der Selektion des französischen Direktors mitgewirkt, darauf geachtet, dass dieser nebst fachlichen Eigenschaften auch über gute Deutschkenntnisse verfügen würde. Bis im April würde ich noch allmonatlich für je zwei, drei Tage Unterstützung leisten, um zu vergewissern, dass der Übergang im Team so gut wie möglich aufgenommen würde. Führungswechsel bringen leicht Spannungen im Team zu Tage, können Brüche bewirken. In Frankreich bedeutete dies oft Wechsel im Kader, Spannung und bald einmal Streik. Der Erfolg eines Hotels hängt weitgehend von der Übereinstimmung ab, die in der Belegschaft herrscht. Doch auch das schien zu klappen.

Was mach ich jetzt? Eben, Berater. Wen berate ich und überhaupt was? Mir war klar, dass meine neue Tätigkeit zumindest bis zum Pensionierungsalter dauern soll, respektive dauern muss. Wie war mein Auftritt? Wohl hatte ich Kollegen beobachtet, die in ähnlichem Falle sich ein Büro an möglichst prominenter Lage mieteten, einzelne ein Sekretariat bestellten und gar eine sehr repräsentative Broschüre gestaltet hatten. Doch was war ihre Aussage? Auch der Managerslang vermochte nicht in jedem Fall über die Allgemeinplätze ihrer Argumentation hinwegzutäuschen. Das konnte es nicht sein. Dafür wollte ich meine Mittel nicht einsetzen. Wie lange muss ich meine Sparversicherungen noch zahlen? Wie hoch sind die Hypos? Wie gut, dass wenigstens unsere Zürcher Wohnung etwas abwirft, sozusagen „die Miete bezahlt“.

No staff, no stocks - Weder Personal noch Lager. Soviel war mir klar. Jetzt mutig bei diesem Schritt bleiben. Ja nicht in Selbstmitleid verfallen, etwa über den Kronenhof, dem ich bisweilen nachtrauern wollte. On s'arrangera bien. Zwar hatte ich den Kontakt zu Olga verloren. Ihr Beispiel aber leuchtete mir hell: On s'arrange!

Was ich zu beraten habe, können ja alle. Die Luxushotellerie würde wohl kaum einen Anfänger in der Beratung mit ihren Problemen betrauen. Als klarer Nachteil erwies sich meine Abneigung für das ganze Rechnungswesen, das financial ingineering, die Aufteilung einer Unternehmung in ihre einzelnen Teile und deren Neuentwicklung. So etwas lag mir ebenso wenig wie Baufragen oder die Inneneinrichtung. Dabei hatte ich im Cap d'Antibes-Eden Roc doch mitverfolgt, wie Wolfgang Geisse genau solche Ideen entwickelte und auch Schmid hatte im Kronenhof Lösungsansätze demonstriert! So einfach vom Schiff aus vermochte ich das einfach nicht, ich musste im Betrieb stecken, ihn erleben, um neue Möglichkeiten aufzuspüren. Also, was habe ich zu bieten?

Langsam dämmerte mir, dass wenn ich schon nichts Konkretes anzubieten habe, ich mich darum kümmern könnte, was die andern brauchen. Alle beklagen den Mangel an guten Mitarbeitern; Personalvermittlung wäre doch was!

Doch was soll ich überhaupt verlangen? Welch eine Mühe ich doch verspürte, Beratung als Arbeit zu betrachten und entsprechend zu verrechnen! Garantiert war da gar nichts. Die Unsicherheit machte mir zu schaffen und trotzdem erloschen meine Existenzängste mit fortschreitender Planung. Es kam schlussendlich alles ziemlich automatisch: Wieviel möchtest du pro Jahr im Idealfall verdienen? fragte ich mich. 220 Arbeitstage hat das Jahr. Von diesen zählst du einen Drittel ab für Akquisition und Verwaltung. Verbleiben rund 150. Nun teilst du deinen angestrebten Jahresverdienst durch diese Zahl und kennst so deinen Tagespreis. Der entsprechende Stundenansatz wird 25% höher berechnet, wobei die Summe von acht Stunden immer auf den Tagesansatz reduziert wird. Es brauchte einiges an Disziplin, pro Kunde die Stunden zu notieren, zu verrechnen, seien sie an Ort und Stelle geleistet, am Telefon oder in der Erfassung der Probleme und dem Erarbeiten eines Lösungsvorschlags. Wo waren nur Susi Olgiati und all die anderen Assistentinnen, die mein Büro in Ordnung hielten? Wenn mich der Mut verlassen oder ich in Selbstmitleid über den verlorenen Kronenhof fallen wollte, dachte ich an Olga, an ihre Unerschrockenheit, ihren Durchhaltewillen und an ihren Humor. Das half mir immer wieder auf die Beine. On s'arrangera bien!

Niemand rief mich an. Als Hôtelier war ich es gewohnt gewesen, dass die Gäste auf mich zukamen, schon am Morgen Komplimente über das auserlesene Frühstücksbuffet machten, nachmittags beim High Tea vom schönen Tag schwärmten und abends, bei meinem tour de charme durch die Tische Freundlichkeiten über die Küche, die angenehmen Mitarbeiter und die Stimmung im Hotel zu vernehmen.

Jetzt rief niemand mehr an. Das Telefon schwieg. Tagelang. Margot, an ein regelmässiges, komfortables Einkommen und an die Abwesenheit ihres Gatten gewohnt, der nun plötzlich dauernd da war, wurde unruhig. Auch wenn sie es zu verstecken suchte, spürte ich das deutlich. Mein erster Einkauf waren ein paar Hausschuhe. Hausschuhe, nicht Pantoffeln. In meiner Lage wurde ich von einer geradezu pathologischen Abneigung gegen Pantoffeln heimgesucht. An jene Zeit erinnert meine Erzählung „der Pantoffelheld“.

Die nächsten Anschaffungen waren eine elektronische Agenda, die damals gerade aufkamen und ein Notebook, wie die Laptops damals hiessen. Mir war wichtig, up-to-datezu erscheinen, denn schlussendlich würde ich es mit jüngeren Auftraggebern als ich zu tun haben. Die Absagen auf zwei, drei Offerten für Direktionsstellen, die ich sicherheitshalber versandt hatte, wiesen zwar nicht wörtlich, so doch sinngemäss auf mein Alter hin: Das Team, das Sie zu leiten hätten, ist ein ganz junges! Wir können uns Sie nicht leisten! Und das, bevor wir nur über Geld gesprochen hatten. Also, wollte ich mich aufgeschlossen, vertraut mit den neuen Techniken und Hilfsmitteln präsentieren.

Regelrechte Angst hatte ich, in Bequemlichkeit zu verfallen und damit meine Persönlichkeit zu verlieren. Ich hielt mich an einen strikten Stundenplan, der mit Gymnastik oder Schwimmen begann, gefolgt von etwas spiritueller Lektüre, eine halbe Stunde Russisch. Danach frühstückte ich mit meiner Frau. Dieser gemeinsame Moment war angenehm. Danach anrufen meiner Verbindungen, die ich am Tag davor terminiert hatte. Jeden Tag mindestens sechs Anrufe, hatte ich von einem erfolgreichen NCR Verkäufer gelernt. Ich studierte die Hotelrevue, damals noch das zuverlässige Anschlagbrett von allen, die Personal suchten, vom Direktor bis zum Lehrling, vom Küchenchef bis zum Zimmermädchen. Ich analysierte die Stellenangebote, forschte nach möglichen Kandidaten. Dann Kontaktaufnahme mit den Personalverantwortlichen, um in gezieltem Gespräch ein möglichst genaues Jobprofil zu erfahren und damit vor allem meine Dienstleistung zu platzieren. Eine Tätigkeit, die Mut, auch etwas Frechheit erforderte, denn oft hatte ich noch keine Kandidaten zur Hand. Die Erinnerung an Howard Johnson, Begründer der amerikanischen Hotelkette, en vogue in den fünfziger bis sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts half mir dabei. Dieser Gast hatte mir damals im Cap d'Antibes erzählt, wie er in den Kriegsjahren der amerikanischen Armee Konfitüre verkaufte, obschon er zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, woher er sie bekommen könnte... Hin und wieder ging ich nach dem gleichen Muster vor. Und siehe da: es funktionierte!

Margot, wenn sie von ihren Kommissionen heimkam und mich beim Durchblättern der Zeitung sah, fragte ängstlich: „Hast du nichts zu arbeiten, liest du die Zeitung, einfach so, mitten am Morgen?“ „Stell dir vor, chérie, ich bin am arbeiten. Ich suche nämlich nach dem, was den andern fehlt.“

Verschiedene Vorteile tauchten nach und nach auf: Die sechs Jahre als Präsident der Vereinigung der diplomierten Hoteliers der Schweiz hatten mich recht breit bekannt gemacht. Dank meinen Stellenwechseln kannte ich eine Menge Leute. Die zugängliche Haltung gegenüber all unseren Mitarbeitern, die Margot und ich immer pflegten, machten meine Anrufe willkommen. Bei wem ich immer anklopfte, informierte man mich über Bekannte, die gerade nach der Position strebten, die ich zu besetzen hatte oder anerboten sich, rum zu hören. Überall hatte ich Mitstreiter! Meine direkten Kollegen aus dem Groupement des hôtels de tout premier rang und der ERFA Gruppe informierte ich persönlich über meine Neuausrichtung.

In jener Zeit waren sowohl Berater wie auch Personalvermittler eher neu und auf jeden Fall noch dünn gesät. So kam es, dass ich bald einmal da einen Küchenchef vermittelte, dort einen Vizedirektor, anderswo eine Hausdame. Die Kommissionen waren damals noch saftig: je nach Stufe des Mitarbeiters und Schwierigkeitsgrad betrug diese fünfzehn bis fünfundzwanzig Prozent eines Jahressalärs. Wenigstens das, wenn es auch nicht jede Woche jemanden zu platzieren gab. Tu vois, on s'arrange!


Monika Bilfinger vom Amt für Bauten und Logistik, mit der ich sieben Jahre in der Jury ICOMOS für das "Historische Hotel & Restaurant des Jahres" sass, rief mich an: Ob ich für ihr Amt nicht einmal den Landsitz Lohn durchleuchten und eine Ansicht über eine  adäquatere Verwendung abgeben möchte? In diesem historischen Landsitz heisst der Bundesrat seine ausländischen Besucher willkommen, sei es für ein Treffen, zum Teil übernachten die Gäste auch dort. Welch eine spannende Aufgabe: Die Art, wie dort Gäste empfangen werden, unterscheidet sich von den Gewohnheiten der gehobenen Hotellerie. Es kommt etwas Familiäres hinzu, zum Teil von den Bundesräten selbst, aber auch von den jeweiligen Verwaltern. Diese nahmen die Gewohnheiten der einzelnen Regierungsmitglieder auf und integrierten sie in den Gästeempfang.

Mir machte die ganze Anlage einen übernutzten Eindruck. Ich schlug unter anderem vor, die Gewächshäuser in Presse- und Verhandlungsraum zu entwickeln. Auch wenn der Vorschlag nicht umgesetzt wurde, hatte er offenbar gefallen. Das Jahr danach verlangte das Amt ein ähnliches Gutachten für das von Wattenwyl Haus, wo die „von Wattenwyl-Gespräche“ der Regierungsmitglieder mit den Parteipräsidenten stattfinden. Auch dieses reizvolle Stadtpalais wird für Regierungsempfänge in kleinerem Rahmen genutzt.

Davon erzählte ich einem Schulfreund. „Was, wirklich?,“ fragte er ungläubig. Er hätte nämlich Schwierigkeiten mit seinem Kurhaus, in dessen Verwaltungsrat er sass. Seitdem die Quersubventionierung durch die Krankenkasse nicht mehr zugelassen sei, hätte sich die Belegung halbiert. Bis zu jenem Zeitpunkt kurten die Mitglieder auf Kosten der Kassen und liessen sich so ihre Ferien subventionieren: an herrlichster Lage, mit spektakulärer Aussicht. Man erwarte frischen Wind im etwas trägen Betrieb und Vorschläge, um das Kurhaus in ein Wellnesshotel zu entwickeln. Ob ich mich damit befassen möchte? So für ein Jahr oder so?

Nicht nur gab mir das finanziell Luft. Während meinen Besuchen dort staunte ich über den unpersönlichen Gästeumgang, die unbeholfene Korrespondenz, damals noch wichtigstes Bindemittel zur Kundschaft. Die Gastronomie brauchte Erneuerung, Phantasie. Man sollte den Gästen das Essen servieren, wo sie die einmalige Aussicht geniessen und nicht dort, wo es für das Servicepersonal am bequemsten war. Der Personalbestand war immer noch auf dem Niveau einer über neunzig prozentigen Belegung...
 
„Hast du immer noch den Eindruck, alle wüssten bestens Bescheid über das, was du zu bieten hast?“ fuhr es mir tröstlich durch den Kopf, als ich schon während meinem ersten Aufenthalt im Hause meine Notizen aufarbeitete. Damit zeigte sich eine neue Perspektive: Hotelier auf Zeit. Doch in diesem Hause war ich Beobachter, verfertigte meine Rapporte und entwickelte das Konzept zur Neupositionierung des Kurhauses. Die Präsentationen wurden vom Verwaltungsrat lebhaft verfolgt und diskutiert, abgeändert, weiter, in neue Richtungen entwickelt. Ich fühlte mich der Aufgabe gewachsen, sicher in Idee und Präsentation. Es war ein interessantes Jahr in jeder Beziehung. Hätte ich genau hingehört, wäre es möglicherweise viel müheloser gewesen. Es ging vor allem darum, den Direktor auszuwechseln. Wenige Jahre später wurde die ganze Anlage verkauft.

Etwas später zeigte sich eine erste Stellvertretung für vier Monate in einem Viersterne Haus, dank der Vermittlung eines befreundeten Kollegen. Der neue Direktor war noch nicht verfügbar, um das Direktionspaar zu ersetzen, welches das Haus nach mehreren Jahren überraschend kurzfristig verlassen hatte. Das war etwas ganz Neues für mich. Während in einem Fünfsternhaus ein Spezialist für alles und jedes zur Verfügung steht, galt es hier, bei nur einem Stern weniger, selber Hand anzulegen: In der Buchhaltung besorgt da der Direktor zumindest das Kassabuch, stellt die Löhne aus. In der Restauration ersetzt er auch einmal einen Oberkellner oder besorgt den Küchenpass während dem freien Tag des Chefs, ganz zu schweigen von den Einkäufen, um die ich mich selbst zu kümmern hatte. Ich durfte mir ja keine Blösse geben und stellte mich den Anforderungen. Welch eine Entdeckung: ich stand mitten drin, nahm viel intensiver als früher am Tagesablauf teil. Wie wohl fühlte ich mich augenblicklich! Mit Gesten aus meiner angestammten Kategorie bewirkte ich Überraschung bei Kundschaft, das Team, nahm alles lernbegierig auf. Auf mich selbst gestellt zu sein zwang mich, Pendenzen so rasch wie möglich zu erledigen. Niemand kümmerte sich um die Ordnung in meinem Büro. Systematisch räumte ich nun plötzlich alles auf, was ich früher gerne einmal liegen gelassen hatte. Ungemein förderlich, um endlich zu lernen, Wesentliches von bloss Interessantem zu unterscheiden...

Das Segensreichste für mich aber war der Zwang, mich auseinander zu setzen mit dem, was ich zu bieten hatte, aber auch mit demjenigen, der ich war. Ich entdeckte und überwand allmählich uneingestandene Hemmungen, Unsicherheiten, die ich bis dahin schauspielerisch übertüncht hatte. Das hatte auch Auswirkungen auf unser Privatleben. Wenn ich nicht für ein Mandat abwesend war, arbeitete ich zu Hause fünf bis sechs Stunden pro Tag mit Rapporten, Mandatssuche und persönlicher Administration. Wie viele Spaziergänge haben Margot und ich dank dem konzentrierten Arbeiten gemacht, zahlreiche Ausstellungen besucht, geredet miteinander! Kurzum, meine Selbstständigkeit bot mir höchste persönliche Lebensqualität. Nach und nach gewöhnte sich auch Margot an die unregelmässigen Einkünfte. Ganz klar, in den ersten zwei Jahren galt es haushälterisch mit den Mitteln umzugehen. Doch die Besteuerung von Selbstständigen mildert solche Situationen ja etwas. Eine tolle Zeit!

In den beiden folgenden Jahren schätzten wir noch mehr als sonst unser fast alljährliches Feriendomizil, la Cantilène in Sanary. Ein charmantes Haus. Gross genug für vier Personen um darin bequem zu hausen und klein genug, um nicht gross Hausarbeit zu haben, lag es etwa fünfzig Meter zurück von der abrupt abfallenden Klippe, von welcher eine Steintreppe ins Meer führte. Links vor dem Haus schirmte eine Glaswand den Essplatz mit grossem Tisch unter einer Pinie gegen Wind. Davor der Garten, mit einer zentralen Allee, die vom grossen Saloneingang aus zur Küste führte. Links und rechts säumte Pittosporum die Allee, dahinter Kiefern und Pinien. Durch all das wand sich ein steinumrahmter Weg zu einem von windgebeugten Nadelgewächsen geschützten Liegeplatz. Wenn der Mistral blies, machte man es sich hinter dem Haus im Schatten von Pinien bequem. Am Rande ein Gasgrill, auf dem eine Unzahl von loups de mer, côtes de boeuf und Koteletts des köstlichen Lamms aus dem Hinterland gebrutzelt hatten.  Das Haus war zauberhaft eingerichtet, ganz nach dem künstlerischen Geschmack der Hausherrin Gerhilde. Der Salon mit Vinimi Mobliar und blumigen Kissen, eine Essecke mit Blick durch Garten aufs Meer. Schöne Bilder, antike Flaschen, Gläser und eine Unmenge Vasen des örtlichen Kunsthandwerks, die von den zahlreichen Ferienfreunden  der Eigentümer zeugten, denen sie grosszügig ihr schönes Haus Jahr für Jahr zur Verfügung stellten.

Sanary ist zwanzig Autominuten von Toulon und dem sehr touristischen Bandol entfernt. In seinem Hafen schaukeln zuerst einmal die Fischerboote, danach die Segler und erst weit hinten die Motoryachten. Ein idealer Ferienort: Der Tourismus gehört zu den Hauptaktivitäten. Er ist französisch geprägt. Sein Markt wurde unlängst zum schönsten von ganz Frankreich gekürt, unweit davon, direkt an der Mole, bieten kleine Fischer ihren Fang an: Wer auf Loup, wer auf Pajots und all die lokalen Fische spezialisiert ist, wer auf Thon, wer auf Langusten. Was für ein appetitliches Nebeneinander!

In den dreissiger Jahren bildete Sanary die Hauptstadt der deutschen Exilliteratur. Dort warteten sie auf eine mögliche Passage nach Amerika: Feuchtwanger, die Familie Mann, Schickele und wie sie alle hiessen. Zu ihnen gesellte sich auch Aldous Huxley, der ein sehr offenes Haus führte und seine „schöne neue Welt“ dort schrieb. Schön, wie die Stadtverwaltung sorgfältig die Lebensorte der einzelnen Persönlichkeiten an Ort und Stelle, zum Teil sogar mit ihren Photographien beschrieben und bezeichnet hat.

Das Hinterland ist zauberhaft, unzählige gute und sehr gute Restaurants buhlen um die Gunst der Gäste. Die Leistung ist gut bis hervorragend, die Preise vorteilhaft, zuweilen geradezu rührend. Vor allem: no snobiety! Immer und immer wieder durften wir dorthin zurück. An die fünfzehn Mal in den Jahren 1992 bis 2017! Einmal waren wir nur zu zweit dort. Ein andermal waren Claudine und Patrick mit uns, als sie noch nicht liiert waren, dann Claudine und unsere Schwiegertochter, später auch Claudine und Alberto. Dann wieder Patrick mit seiner Frau Simona.  Jedesmal war es eine wunderbare Zeit.


                                                          ***
Bei meiner Suche nach möglichen Kunden und Kanditaten stiess ich auf das Inserat einer vermögenden Privatperson, welche einen Personalverantwortlichen für ihre diversen Anwesen suchte. Kontaktadresse war ein Anwaltsbüro in Zürich. Auf meine Offerte wurde ich zu einer distanziert freundlichen Unterredung eingeladen:

„Es handelt sich um sieben grosse Anwesen in Europa, in der Karibik und in New York. In jedem arbeitet zumindest ein Hausmeisterpaar, welches die Villa und den Park so zu pflegen haben, dass sie jederzeit bezugsbereit ist. Für den Park beaufsichtigt das Paar aussenstehende Gärtner. In der Residenz selbst arbeiten nebst dem Hausmeisterpaar eine Hausdame, ein Zimmermädchen, der Koch und der Butler. Sicherheitspersonal und Bodyguards unterstehen nicht dem Personalverantwortlichen, ebenso wenig die beiden Piloten des Jets oder die Mannschaft auf der Yacht.

„Was meinen Sie dazu, reizt Sie eine solche Aufgabe, fühlen Sie sich gewachsen?“
„Nun, ich habe zeitlebens in der Luxushotellerie gearbeitet, in Häusern wo man sich ganz den individuellen Bedürfnisse der Gäste widmet.“

Der Kontakt war angenehm, sodass der Anwalt mich an den Vermögensverwalter im Tessin verwies.
 
„Sehen Sie,“ meinte dieser, „ in einer maison bourgeoise ist man noch viel mehr als im Hotel dem Gast, der Arbeitgeberin ergeben. In unserem Falle handelt sich um eine ganz besondere Person. Diese beiden Aspekte bringen es mit sich, dass wir eine relativ hohe Personalfluktuation haben. Im Moment beispielsweise brauchen wir dringend ein Hausmeisterpaar in der Residenz, die sich ausserhalb der Schweiz befindet. Sollte Ihre Bewerbung zusagen, arbeiten Sie teils in der Verwaltung im Malcantone, wo Sie administrative Arbeiten erledigen, die zu einem grossen Teil in Kontakten zu ausgesuchten Vermittlungsagenturen bestehen. Dann reisen Sie an die Orte, wo sich die Gräfin gerade aufhält, beaufsichtigen das Personal, das Anwesen und machen sich Gedanken zu den Abläufen, zum Zustand der Anlage und unterbreiten mir gegebenenfalls Vorschläge zur Verbesserung und Vereinfachung. Diese besprechen wir gemeinsam, bevor wir sie der Herrschaft unterbreiten. Nein, mandatsmässig ist da gar nichts zu machen, das entspricht nicht unseren Gepflogenheiten. Wer für uns arbeitet, tut das zu hundert Prozent.

Wenige Tage nach unserem Treffen bestätigte mir der Vermögensverwalter, dass die Gräfin von meinem Dossier angetan sei, vor allem von meiner Haltung, mit beiden Füssen fest auf der Tradition zu stehen, um mit beiden Händen nach der Moderne zu greifen. Auf meine Gehaltsvorstellungen war man voll und ganz eingegangen: sie entsprachen meiner Entlohnung als Hoteldirektor.

Die Residenz, wohin ich etwa zur Hälfte meiner Arbeitszeit hinflog, war traumhaft: Zwei Villen in einem über sechs Hektare grossen Park, direkt am Wasser, die eine schlossähnlich, die andere in zeitgenössischer Architektur. Diese war früher der Geschäftssitz der Unternehmungen des verstorbenen Gatten. Das Wohnhaus hatte die Eigentümerin zauberhaft gestaltet und mit wenigen, aber erlesensten Bildern und Antiquitäten ausgestattet. Die Wellness-Anlage im Erdgeschoss hätte einem mittelgrossen Familienhotel höchste Ehre erwiesen. Im Park ein Jagdpavillon mit Kegelbahn und zahllosen Trophäen aus Afrika des Hausherrn. Ein Bootshaus mit einem prächtigen Riva gehörte dazu, in der Garage standen ein Ferrari, ein Lamborghini, ein grosser Audi, dazu ein Kleinwagen für die Botengänge des Personals. Das Stadthaus in London war an allerbester Lage, durch einen hübschen Garten mit einem Mews-House verbunden, in welchem die Dienstboten logierten, auch sie angenehm und komfortabel. In den Alpen besass man ein Chalet modernen Zuschnitts, das mich von aussen nicht beeindruckte, innen aber stattliche Gemütlichkeit ausstrahlte.

Diese Tätigkeit offenbarte mir den Lebensstil der Spitze meiner bisherigen Kundschaft. Dieser übersteigt nicht nur alle gängigen Vorstellungen von Reichtum. Er überstieg auch die meinen, trotz langer Jahre des Kontakts mit solchen Gästen. Doch im Hotel bleibt der Kunde Gast. Obschon bezahlend und dadurch Sprichwort gemäss König, bleibt er an die Gebräuche des Hauses gebunden. An seinem Wohnort jedoch ist der Angestellte Untergebener. Im positiven Fall herrschen Regeln, Abmachungen, die auch von den Arbeitgebern eingehalten werden. In Kontakten mit ähnlichen Familien, zu denen ich als Personalvermittler fand, konnte ich das oft feststellen. Das sind die positiven Beispiele, in welchen Dienstverhältnisse lange, oft bis zur Pensionierung dauern, danach in eine freundschaftliche, fast familiäre Beziehung münden.

Die bedingungslose Ergebenheit, die von allen Mitarbeitern erwartet wird, beinhaltet absolute Diskretion und das Verbot von Aufnahmen aller Art, sei es von Anwesen, sei es von Menschen die dort verkehren.  Die Arbeit war nicht besonders viel, aber von grösster Sorgfalt. Eine solche Position bedeutet ständige Disponibilität. Von allen Mitarbeitern und jedermann. Kein Nein wurde dort akzeptiert. Dafür wurde grosszügig bezahlt, Steuern und Versicherungen vom Arbeitgeber voll übernommen. Erhöhter Einsatz, beispielsweise bei Besuchen, mit Zuschüssen belohnt. Eine goldene Fessel, denn anderswo hätten die Leute keine vergleichbare Verdienstmöglichkeit. In der kurzen Zeit meiner Tätigkeit stellte ich schnell fest, dass jeder Franken und jeder Rappen verdient waren.

Die Gepflogenheiten waren in etwa folgende: Monsieur und Madame teilen sich das Zimmer nicht. Beide haben ihr eigenes Apartment, die miteinander verbunden sind, jedes mit privatem Büro, Schlafzimmer, Bad und Ankleide. Diese nehmen den gesamten ersten Stock über den Empfangs-Räumlichkeiten ein, zu dem man aus der grossen Eingangshalle über eine ausladende Ehrentreppe gelangt, oder im künstlerisch gestalteten Lift. Dieser ist ausschliesslich Madame vorbehalten. In den oberen Etagen befinden sich Bibliothek mit Lese-Erker zum See hinaus und Gästezimmer. Auf der Ebene der Eingangshalle gehen die Wohn- und Empfangsräumlichkeiten ineinander über.

Die Gewohnheiten der Herrschaft entsprachen nicht den landesüblichen Vorstellungen des Familienlebens: Frühstück nahm jedes allein in seinem Appartement und wenn sie denn die Hauptmahlzeiten zusammen einnahmen, waren es oft unterschiedliche Menus. Die Ansprache des Dienstpersonals zur Familie war etwa wie folgt:
 
  • Es wird nicht vorgeschlagen und noch viel weniger eigenständig entschieden. Alles, auch Selbstverständliches, wird unterbreitet: was meinen Sie wenn...? Wenn es Ihnen recht/angenehm ist, dann würde ich jetzt das und das tun.... Wünschen Sie, dass ich....

  • Der Dienst wurde nicht quittiert, weil es Zeit ist. Sondern man präsentiert sich zum Dienstende und spricht in etwa wie folgt vor: Es ist .... Uhr. Haben Sie noch einen Wunsch Madame, oder darf ich mich zurückziehen?

  • Im Hause benimmt man sich diskret. Man ruft sich niemals zu. Im Office und beim Mittagessen, das in zwei Schichten eingenommen wird um die Dienstbereitschaft aufrechtzuerhalten wird nur leise gesprochen, und vor allem ist lautes Lachen zu unterlassen. Die Herrschaft könnte sonst meinen, man mache sich über sie lustig.

Das ganze Anwesen war mit einem hohen Zaun und Überwachungskameras umgeben, an denen Mr. Trump seine helle Freude hätte. Das Haus war dermassen gesichert, dass die Handhabung der Anlage äusserst delikat war. Das Warum des Ganzen hatte ich nie begriffen: niemand in dieser ruhigen Gegend wollte der guten Gräfin etwas antun und im Falle von Diebstahl oder Raub wären die Gegenstände unverkäuflich gewesen, so bekannt waren diese.

Man behandelte mich sehr zuvorkommend, nett sogar. Die Atmosphäre empfand ich trotzdem als drückend, düster. Obschon ich frühere Mitarbeiter dort platziert hatte, bat ich nach vier Monaten später um meine Entlassung.

Bis zu diesem Engagement hatte ich mich als Champion der Kundennähe empfunden, als bedingungsloser Erfüller aller Gästewünsche. Ich muss aber gestehen, dass ich mich damit im Privathaushalt schwerer tat, denn man hing vollständig vom Arbeitgeber ab. Überraschungen waren da gar nicht gefragt. Vielleicht aber fehlte es mir an Geduld, den richtigen Moment abzuwarten, um solche zu gestalten.

Nebst Kontakten in der Personalvermittlung für gehobene Privathaushalte, die mir nützlich wurden, hatte ich erneut erfahren, wie belastend und einschränkend grosser Besitz ist. Vor allem ist man von Angestellten abhängig und deshalb nie ganz für sich alleine. Kontakte mit gleichgestellten Kreisen sind vorzuziehen, wenn man nicht von allen möglichen Bittstellern angegangen werden will. Das ist ganz klar eine Einschränkung. Solches kann aber auch ein Ziel sein, wie ich bereits in den Hotels beobachtet hatte: Sich von der Masse, dem Pöbel abzugrenzen. Eine Illusion. Nie hebt man sich von der Masse ab, auch nicht mit noch so viel Geld. Wer das nicht glaubt, sehe sich einmal einen der Yachthafen in Südfrankreich an: Yachten die -zig Millionen kosten und mindestens eine im jährlichen Unterhalt, gibt es dort zu hunderten. Also auch Masse. Doch das Wichtigste: wenn man sich alles leisten kann, hat man keine Wünsche mehr. Sind es nicht genau Wünsche, unerfüllbare Träume, die zu unserem alltäglichen Glück entscheidend beitragen?

Es kamen neue, spannende Mandate: das Coaching von jungen Direktoren in sehr einfachen Hotels eines bekannten Zürcher Gastronomen. Dort lernte ich, wie mit man „mit wenig Sternen viel Kohle machen kann“. Und was für eine zum Teil kauzige, aber sehr interessante Kundschaft dort verkehrte. Die Gastronomie der Zürcher Seeschifffahrt, wo man leider meinen Empfehlungen zum geduldigen Aufbau eines Teams nicht folgte und dadurch Schiffbruch erlitt. Ein weiterer Auftrag brachte mich in ein zauberhaftes Hotel in der Westschweiz. Dort erreichte ich das zu begleitende, junge Ehepaar nicht. Ich musste lernen, dass ein Berater, Consultant, Coach oder wie man es immer nennen will, in etwa dem Arzt gleicht: Der verschreibt die Medizin und macht Empfehlungen, bespricht zusammen einzuschlagenden Therapien, respektive Strategien. Anwenden und befolgen muss es der Patient schon selbst. Das wollten die beiden nicht. Zu sehr litt der Mann unter der Tatsache, dass seine Frau die Hauptverantwortung trug und er „nur“ für die Restauration verantwortlich war. In dieser war er allerdings Spitze. Doch das genügte ihm nicht. Dabei ergänzten sich die beiden ideal!

Immer wieder gab es private Familien, die einen Chef, einen Butler oder Major-Domus suchten, in Monte-Carlo, London, in Zürich. Für ein chinesisches Restaurant suchte ich einen chinesischen Chef. Eine junge Frau meldete sich, die eben im du Rhone in Genf für ein Hotel aus Goa mit einem Team eine gastronomische Woche bestritt. Trotz ihrer Versicherung, bestens mit chinesischer Küche vertraut zu sein, sagte ich ihr ab: Wo China drauf steht, muss China drin sein. Doch sollte sich daraus eine ebenso schöne wie überraschende Liebesgeschichte anbahnen:

Zwei Jahre später beauftragte mich der Zürcher Gastronom, einen Chef für sein indisches Restaurant zu suchen. Ich erinnerte mich der jungen Frau aus Goa und bat sie um ihre Unterlagen, falls sie noch immer an einer Anstellung in Zürich interessiert sei. Diese erreichten uns umgehend und beeindruckten uns beide, den Gastronomen und mich. Der Papierkram zur Erlangung der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis war umtriebig, doch schliesslich konnte ich sie am Flughafen Kloten abholen. Ein junges Persönchen kam auf mich zu, so zierlich, dass ich mich anerbot ihren Koffer zu tragen: Er riss mir fast den Arm ab. Wie hat die Kleine es nur fertig gebracht, diesen ins Flugzeug zu schleppen? Ob es die wohl schaffen wird, nicht zu jung für den Job ist? Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als ich mit ihr den Rundgang durch die Küche ihres zukünftigen Arbeitsortes machte, die in ihrer Einrichtung und auch Sauberkeit eher zweifelhaft wirkte. Ruhig und leise schilderte sie ihre Eindrücke und auch, dass der Tandoori Ofen gesprungen und zu ersetzen sei. Na ja.

Kaum aber hatte sie Tage später ihre weisse Jacke an, bäumte sie sich zum Riesen auf. Sie liess die Brigade die Küche bis ins hinterste Eck putzen, sorgte sich um den Tandoori-Ersatz, stellte Karte und Menu-Vorschläge zusammen und wies die Brigade ebenso ruhig wie bestimmt ein, dass sie ihr aufs Wort folgte. Wenige Wochen später war das Restaurant the talk of the town. Doch ein Jahr später kündigte sie, um nach Genf zu übersiedeln, nicht ohne ihre Stellvertretung sicherzustellen. Der Grund dafür war folgender: Fast fünf Jahre zuvor, während der gastronomischen Quinzaine in Genf, hatte sie sich in Michel, den Sous-chef des Hôtels du Rhone verliebt. Nur um ihn wiederzusehen hatte sie all die Strapazen und Zürich auf sich genommen, das sich nur als Zwischenhalt erweisen sollte. Ziel war, ihrem Michel näherzukommen. So erzählte sie mir freimütig bei einem späteren Treffen in der Rhonestadt. Die beiden heirateten bald. Ich platzierte sie später noch als Rezeptionistin in einem Serviced Luxury Apartment House. Heute arbeitet sie als Executive Assistant to the CEO & Corporate Travel Coordinator  einer weltweit tätigen Rekrutierungs-Agentur von Verwaltungsräten und oberster Leitung für Grossfirmen. Und kürzlich kontaktierte sie mich für ein Ferienpraktikum für ihren fünfzehnjährigen Sohn Lilian... Jedes Jahr reist die Familie in die Ferien nach Goa, wo sie herkommt und noch Familie hat. Ich freue mich sehr, zum Glück dieser Familie beigetragen haben zu dürfen.

Eines schönen Tages rief mich ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem Tschuggen an: „Machst du noch immer Hotelier auf Zeit? Würde dich der Bürgenstock für sechs bis achtzehn Monate interessieren? Dann kontaktiere doch mal Jean-Jacques Gauer, der dort im VR sitzt.“
 
Familienfeste und Private Reisen
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33.  Familienfeste und Private Reisen
Auch sonst machten wir wunderbare Reisen: Mit Margots Schwester Esther und ihrem Mann Rolf 1999 eine Kreuzfahrt durchs westliche Mittelmeer und entlang der nordafrikanischen Küste, bis nach Las Palmas auf den Kanarischen Inseln, und zurück über Malaga, Barcelona und Marseille nach Savona.

Unsere Kinder überraschten uns zu unserem 59. Geburtstag. Im Gedanken, dass wir zum sechzigsten wieder auf Reisen sein würden, arrangierten sie heimlich eine Party in einem Schützenhaus im Zürcher Hinterland. Uns hatten sie zu einer Fahrt ins Blaue eingeladen, zu welcher wir uns „mit nüchternem Magen" einzufinden hätten. Ich staunte, in diesem abgelegenen Winkel sogar Autos mit Tessiner Nummernschilder zu finden. Als wir die Türe öffneten, sassen die ganze Verwandtschaft und all unsere Freunde im dekorierten Säli. Welch ein tolles Fest, welch wunderbare Kinder wir doch haben!

2001, zum 60. Geburtstag von Margot, erfüllte ich ihren lang gehegten Wunsch: Zurück nach Mexico, ganz Yucatan hinunter, wo sie und Vreni als junge Frauen nach ihrem Aufenthalt in den USA, vor ihrer Rückreise in die Schweiz Ferien, genossen hatten . Fly & Drive, welch eine tolle Möglichkeit Mexico-Tulum – Kohunlich – Palenque – Villahermosa mit Park La Venta – Campeche mit seinen abgerundeten Häusern, damit die bösen Geister sich nicht verstecken können – Uxmal – Saidul – Merida – Chichén Itza – zu besuchen. Danach Ausruhen in Playa del Carmen, in einem reizenden kleinen Strandhotel, das einer Mexikanerin und einem Schweizer gehörte. 

Andere Reisen brachten uns zwei Mal nach Indien, nach Vietnam, nach Portugal, nach Saint-Malo zur Thalasso, ins Tal der Könige nach Aegypten. Die unterschiedlichen Eindrücke von Lebensweise, Kleidung, Gastronomie, von der Art sich zu unterhalten, bereicherten uns und gaben immer wieder neue Impulse. Berufliche, wie auch für unser privates und persönliches Sein.

Wir versuchen, alle ein bis drei Jahre für ein Wochenende mit der Familie irgendwo hinzureisen. Eigentlich war Istanbul auf dem Programm, doch ich sagte: Warum fahren wir nicht nach Palermo? Das kennen wir doch alle noch nicht. Vielleicht lernen wir sogar Albertos Eltern kennen? Damals waren er und Claudine nur befreundet. Trotzdem überraschten uns seine Eltern mit einer Gastfreundschaft, von der wir Schweizer nur träumen können:

„Ja selbstverständlich, nur ein Teller Pasta,“ meinte seine Mutter Ina auf unseren telefonischen Vorbehalt, dass wir mittags eigentlich fast nicht essen würden, besonders bei der gegenwärtigen Hitze. „Ja natürlich, das verstehen wir doch!“

Wir kamen pünktlich wie abgemacht um ein Uhr an. Neben Grossmutter, Vater, Mutter und Tante, die im Haushalt leben, waren weitere zehn Verwandte da, „selbstverständlich nur die engsten.“ Herzliches Kennenlernen, fröhliches gegenseitiges Beschnuppern beim Apero auf der hofinternen Terrasse und danach "der Teller Pasta" um einen langen Tisch. So viele Personen, dreizehn Sizilianer, vierzehn mit Alberto und wir fünf, können sich natürlich nicht auf eine Konversation einigen, sondern man führte deren drei gleichzeitig. Und alle nahmen an jeder teil! Albertos Mutter trug auf, was sie nur konnte und zelebrierte ihre Freude am Kochen und an Gästen aufs Schönste. Es war ein Lachen, ein Schmausen und ein Geplapper, das nur von gelegentlichen Trinksprüchen unterbrochen wurde. Gegen fünf Uhr endete Inas „Teller pasta“ mit der Bemerkung: In ganz Sizilien fand Alberto keine Frau, die schön genug für ihn gewesen wäre. Dafür brauchte es eine Schweizerin!

Obschon den Eltern klar war, dass, sollte aus der Freundschaft etwas werden, ihr Sohn für immer fern von ihnen in der Schweiz leben würde! In keinem Moment erfuhren wir und noch weniger Claudine auch nur den Hauch von Ablehnung, nicht einmal von Vorbehalt.

Zwei Jahre später, am 14. Juli 2007, feierten wir Claudines und Albertos Hochzeit in Palermo, in der prächtigen Chiesa Immacolata Concezione di Capo, ganz im sizilianischen Barock. Claudine hatte diese Kirche nicht nur ihrer Schönheit wegen bevorzugt, sondern auch weil Ina, ihre Schwiegermutter, dort zur Kirche ging, dort die Kommunion empfing und gefirmt wurde. Danach blieb sie vierzig Jahre geschlossen, wurde restauriert und öffnete gerade rechtzeitig für die Hochzeit von Claudine und Alberto. Wie stolz war ich, meine Tochter an meinem Arm die paar hundert Meter durch den Markt Capo zu geleiten, der zur Kirche führt. Rufe wie "Viva la sposa!" und "Tanti figli Maschi - Viele Söhne!," begleiteten uns bis zum Kirchenportal Die Händler rückten ihre Auslagen zurück, um in der schmalen Gasse Raum für den weiten Brautrock zu schaffen, viele winkten der Braut zu, lächelten, lachten. Ein befreundeter Tenor von Alberto aus dem Teatro Massimo sang zu den feierlichsten Momenten der Segnung des neuen Paares. Beim Hinaustreten ins noch immer lebendige Markttreiben wurden sie mit Reiskörnern beworfen, wie es die Tradition dort verlangt, Hurra Rufe begleiteten die ganze Gesellschaft zur unweiten Piazza Porta Carini. Alberto hatte mit der dortigen Trattoria "supra i mura" einen Empfang vorbereitet mit typisch sizilianischen Bräuchen und Spezialitäten: ein traditionelles "Teatro dei puppi", Marionetten; ein fröhlicher gelataio  kratzte einen Eisblock zu "Grat.XXXXX, an seinem Stand, vollgeklebt mit den Reportagen von Zeitungen und Revuen aus aller Welt, die ihn portraitiert hatten, es gab "fritelle", gebackene Innereien die köstlich schmeckten, ein weiterer bot an seinem Stand "sfincione" an, eine dicke Pizza mit markantem Hefegeschmack und selbstverständlich durften am Tag der Santa Rosalia, der Stadtheiligen von Palermo auch die "babalucce" nicht fehlen, Schnecken al sugo. Auch einige Passanten und Markthändler mischten sich unter die Gesellschaft, es herrschte eine ausgelassene Fröhlichkeit bis wir nach 15 Uhr der heissen Sonne nicht mehr widerstanden und uns alle zur Siesta zurückzogen.

Nach 19 Uhr wurden wir alle nach Villa Bosco Grande gefahren. Ein zauberhafter Ort, erbaut im 18.Jh. in der sich die aristokratischen Latifundisten jener Zeit zu ihren Festen zusammenfanden. Alle, das waren gut fünfzig Sizilianer und etwas mehr Gäste aus der Schweiz. Ein Paar war sogar aus Shanghai extra angereist, Freunde und Kolleginnen von Alberto aus London. Für sizilianische Verhältnisse eine eher bescheidene Anzahl. Zu Hochzeiten finden sich gut und gerne bis zu dreihundert Geladene ein. Ein guter Teil der Schweizer begleitete uns anschliessend nach Cefalù,  dem Saint-Tropez Siziliens, jedoch nicht so mondän,  wo wir mit dem Brautpaar eine entzückende Woche am Strand verlebten. Täglich kam sizilianischer Besuch, aus Palermo und Catania, wo Alberto studiert hatte. Welch ein zauberhafter Einstieg in ihre Ehe.

Patrick und Simona hatten ebenfalls vorgehabt, im selben Jahr zu heiraten, liessen das Jahr aber ganz ihrer Schwester und Alberto. Sie schlossen ihren ehelichen Bund am 5. September des folgenden Jahres. Nachdem sie bereits seit zehn Jahre zusammen waren, verleitete mich das zum Spötteln, dass es sich hier mehr um eine Legalisierung ihrer Situation handle...

Die ersten Jahre hatten sie in Zürich verlebt und waren danach nach Meggen gezogen, wo sie sich sehr wohl fühlten. Deshalb beschlossen sie, die Gegend zur Kulisse ihrer Hochzeit zu machen. Wir trafen uns im Balm in Meggen, wo viele der Gäste wohnten: Das war zuerst einmal die Familie von Simona, mit der wir in den vergangenen Jahren eine herzliche Freundschaft geknüpft hatten. Ihre Verwandten, teilweise aus Italien, kamen dazu, Studienfreunde aus Fribourg, erste Freunde aus Frankreich, auch aus Deutschland.

Sie hatten das altehrwürdige Rathaus von Luzern ausgesucht, um ihren Bund fürs Leben zu schliessen. Die Zivilstandsbeamtin wusste, dass die beiden auf den kirchlichen Segen verzichteten. Sie zelebrierte die Eheschliessung besonders würdig, wie alle bemerkten und berührte damit das Brautpaar wie die Nahestehenden. Luzerns Altstadt, durch die wir zum See hinunter schlenderten bezauberte alle, besonders aber die Tessiner und Italiener. Dort wartete ein Schiff auf uns, das uns durchs Luzerner Seebecken über Kehrsiten und Hertenstein zur Anlagestelle von Schloss Meggenhorn brachte. Diese gute Stunde ermögliche jedem mit jedem zu plaudern, sich wo nötig einander vorzustellen, einander zuzuprosten. So entstieg dem Schiff eine wahrlich geschlossene Gesellschaft. Auf halbem Weg erwarteten uns die Feuerwehrkollegen Patricks mit einem alten Löschzug zu einem spassigen Umtrunk. Durch die Reben im Saft stiegen wir zur Schlossterrasse auf, wo der Aperitif serviert wurde. In dieser zeitlosen Atmosphäre erkundete man in wechselnden Grüppchen Park und Anlage ums Schloss. 

Simona und Patrick waren seit Zuzug nach Meggen Stammgäste im exzellent geführten Hotel-Restaurant Balm. So hatten sie sich das Catering des Wirtepaares Sandra und Beat Stofer im Schloss Meggenhorn gesichert. Sie servierten ein Menu, das alle entzückte und lange in Erinnerung blieb. Studienkollegen überraschten mit witzigen Reminiszenzen über die beiden. Der Abend verflog köstlich und fröhlich, bis sich in den Morgenstunden auch die letzten Gäste verzogen, um einer glücklichen Zukunft entgegen zu träumen.
Bürgenstock Hotels and Resort. Mein letztes, glücklichstes Assignment als Hotelier
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34.  Bürgenstock Hotels and Resort. Mein letztes, glücklichstes Assignment als Hotelier

Als Jean-Jacques Gauer noch den Schweizerhof Bern seiner Familie geleitet hatte, veranstaltete ich mit diesem Hotel diverse Galas, zuerst im La Palma Locarno, danach im Tschuggen in Arosa. Wir kannten uns deshalb persönlich. Er leitete mich gleich weiter an Monsieur Förster, den CEO der Richemond Group.

Victor Armleder, Besitzer des gleichnamigen Hotels in Genf, hatte dieses einer französischen Investorengruppe verkauft, welche im Sinne hatte, eine Hotelgesellschaft in der Schweiz aufzubauen. Diese Gruppe erwarb innert weniger Jahre auch das Royal Savoy in Lausanne, den Schweizerhof in Bern, das Drei Könige in Basel und eben, den Bürgenstock. Für alle fünf Häuser zusammen hatte die Gruppe um die zweihundert Millionen Schweizerfranken bezahlt.

Man sei noch nicht entschlossen, ob man den Bürgenstock selber entwickeln oder verkaufen wolle. Bis man Genaueres wisse, suche man eine Übergangslösung. Er rechne mit mindestens sechs bis maximal achtzehn Monaten. Allerdings sei das „Bürgenstock Hotels & Resort“ so gross, dass sie sich nicht mit einer mandatsmässigen Betreuung begnügen könnten. Die Sozialversicherungen würden in dieser Form nur maximal vierzig Prozent meiner Arbeitskraft zulassen und das sei für eine so grosse Anlage zu wenig. Man suche jemanden, der sich voll und ganz dafür einsetzt.

„Darüber kann man reden. In diesem Falle muss es ein unbefristeter Vertrag sein, mit einer Mindestdauer von sechs Monaten und einer ebenso langen Kündigungszeit, jeweils auf Ende Monat. Ich brauche das, um meine Verbindungen danach wieder zu aktivieren.“
„Einverstanden.  Können Sie mir gleich zusagen?“
„Geben Sie mir drei Tage Bedenkzeit. Ich werde Sie nicht hinhalten.“

Sehr zufrieden reiste ich von Lausanne, wo wir uns im Palace getroffen hatten, nach Hause zurück. Ich besprach mich mit Margot, die von der Sache sofort angetan war, und bestätigte Herrn Förster mein Interesse pünktlich. Er verwies mich an den Vizepräsidenten des Bürgenstock Hotels und Resort, dem ich administrativ unterstellt sein würde, Herr Max Ammann. Operativ aber würde ich die Anweisungen von ihm direkt erhalten.

Herr Ammann, Gründer und Inhaber der gleichnamigen Immobilien- & Ingenieur Unternehmung in Stansstad, hatte den Anstellungsvertrag bis auf wenige Präzisierungen schon vorbereitet, als ich bei ihm am Firmensitz vorsprach. Gemeinsame Freundschaften ebneten mir den Zugang zu ihm augenblicklich, dank denen er mich sozusagen indirekt kannte. Meine Erfahrung vom Mont-d'Arbois, ein ähnlich strukturiertes Resort wie der Bürgenstock, stärkte Herrn Ammanns Vertrauen in die gemeinsame beruflich unmittelbare Zukunft.

Patrice und Agnès Glogg hatten den Bürgenstock seit drei Jahren geleitet. Bei ihrer Ernennung hatte mich erstaunt, dass die beiden sehr urbanen Persönlichkeiten sich auf den Bürgenberg, wie der Ort ursprünglich hiess, verbannen liessen. Wir lachten alle drei beim Zusammentreffen. Er zeigte mir an einem Nachmittag die ganze Anlage und weg waren sie, Richtung Portugal. Dort übernahmen sie gemeinsam die Leitung eines Hotels an der Algarve.

Der Bürgenstock ist einer der attraktivsten Orte der Schweiz, geschaffen von den beiden Freunden Bucher und Durrer, von denen jeder die Schwester des andern geheiratet hatte. Waghalsig war der erste, genauer Planer der andere. Ihre Geschichte lohnte ein eigenes Buch. Gut illustriert ist sie im 1998 erschienen Band des Brunner Verlags, Edition Magma: „Hotelkönig, Fabrikant Franz Josef Bucher, Bergbahnbauer, Erfinder Josef Durrer und Kunstmaler, Phantast, Beda Durrer“.

Von dort oben geniesst man eine wahrhaft dramatische Aussicht über fünf Seen: den Sempacher-, Hallwiler-, Baldegger-, den Zuger-, und zu Füssen den Vierwaldstättersee. Das alte Grand Hotel war das schönste in seinen Proportionen. Es wurde in nur 2 Jahren, ab 1870 am stärksten Punkt des Kraftortes gebaut, als welcher der ganze Berg anerkannt wird. Ansteigend fügt sich der Bürgenstock-Club an, mit Aussichtsbad, Restaurant und Gesellschaftsräumen. Ein zauberhafter Ort des gehobenen Wohlseins! Wenn man an ihm vorbeischlenderte, kam man zur Piazzetta, wohin die Bürgenstockbahn von Kehrsiten aus führt. Gesäumt war die Piazzetta von einer Kunstgalerie und einem Kiosk, an dem sich die Tageskundschaft gerne bediente. Die Terrasse des Parkhotels überblickte die Piazzetta. Sie war beliebter Treffpunkt, sowohl für Hotel- wie für Tagesgäste. Der Weg führt weiter an der historischen Wetterstation vorbei, entlang der Terrasse des Palace-Hotels. Etwas weiter führte die achtzigjährige Françoise Ebneter zusammen mit Frau Manser die Boutique für Stickereien, wie man sie schon anfangs der Nullerjahre nur noch selten fand. Mit einer Mauer davon getrennt, die Terrasse der Villa Daniel. Der grosse Geiger Nathan Milstein hatte sie in früheren Jahren gemietet, ebenso wie zuvor die Komponisten von „My fair Lady“. Ihretwegen hatte man die Mauern um das Anwesen hochziehen müssen, so gerne wollten sich Passanten auf der Terrasse niederlassen, wenn die beiden am Spielen waren. Das Haus diente später der Familie Schindler als Sommerhaus und während zwölf Jahren bewohnte es Sophia Loren jeden Sommer. Und nun diente es als Direktionsvilla. „Stellt euch vor,“ erklärte ich spasseshalber, wenn ich eine Auswahl an Gästen über das Resort führte, „ jeden Tag nehme ich mein Bad in Sophia Lorens Wanne!“ Gegenüber befindet sich die Taverne, ein volkstümliches Restaurant, im hinteren Teil mit bemerkenswerten, antiken Bauernmöbel. Von dort führt das eine Strässchen zur Kapelle, berühmt geworden durch Audrey Hepburn und Mel Ferrers Hochzeit. Wie viele Paare nach ihnen hatten dort ihren Bund fürs Leben segnen lassen! Weiter hinten erblickt man den Spycher, den der frühere Besitzer, Fritz Frey in Appenzell gefunden hatte, demontieren liess und originalgetreu wieder aufbaute. Er diente eine Zeitlang als Nightclub, später als private Event Location.

Etwa drei Kilometer weiter, nachdem man das Waldhotel passiert hatte welches damals noch der Familie von Véronique und Leander Kummer-Amstutz gehörte und von ihr sehr gepflegt geführt worden war, gelangte man zum 9 Loch Golf Platz. Ein typisches kleines Bauernhaus war in das sehr beliebte Clubhouse umgestaltet worden.

Diese ganze Anlage galt es zu pflegen, zu unterhalten und vor allem auch zu füllen. Entwicklungsvorschläge waren von der Richmond Group ausdrücklich unerwünscht. Mit anderen Worten, wie ein Grossvater hütete ich hier einen Enkel, den ich abends wieder zurückgeben könnte.

Der Bürgenstock ist enorm wetterabhängig: bei schönem Wetter glich er einem Bienenhaus, bei ungünstiger Witterung und im Winter zuweilen einer Geisterstätte. Er war auch sehr beliebt für Konferenzen: in einer knappen Stunde vom Flughafen Zürich erreichbar, nahe bei Luzern und doch weit genug, damit die Teilnehmer den Organisatoren nicht davonlaufen wie es in Städten leicht der Fall sein kann. Bedeutende Schweizer Unternehmungen und eine der feinsten Privatbanken Zürichs buchten uns dafür regelmässig. In den Sommermonaten erfreuten wir uns einer sehr angenehmen Privatkundschaft. Die raschen Direktionswechsel – die Gloggs waren nur drei Jahre geblieben, Rolf Brönnimann zuvor auch nicht länger, obschon er das Resort stark geprägt hatte bewirkten, dass sich die Luzerner Kundschaft etwas abgewendet hatte. Private hatten sich allgemein ziemlich ausgedünnt. Seit mindestens zehn Jahren verdüsterte Unsicherheit die Zukunft des Resorts, während denen nur noch Unterhaltsarbeiten aber keine Erneuerungen mehr getätigt worden waren. Die Spa des Clubs war nicht mehr gepflegt, wie das erwartet worden war. Im Team, das sich viel zu sehr auf die Nachteile der Anlage konzentrierte, hatte sich eine zum Teil recht entmutigte Haltung breit gemacht.

Trotzdem fühlte ich mich ausgesprochen entspannt: als Consultant würde ich wie der Arzt Rezepte verschreiben, als Hotelier darauf achten, dass diese auch befolgt würden. An die einführende Sitzung mit dem Kader hatten sich einige erlaubt, mit etwa zehn Minuten Verspätung einzutreffen. „Sie werden entschuldigen, dass ich pünktlich begonnen habe. Ich habe die Gewohnheit, zu jenen Leuten nett zu sein, die es mit mir sind. Diese wollte ich nicht warten lassen.“ Damit war der Tarif ein für allemal durchgegeben.

Ich stellte mich vor und bat sie, in den ersten fünfzehn Minuten die dringlichsten Probleme und Anliegen vorzutragen. Wie erwartet betraf das die Konferenzräume, die nicht mehr up-to-date waren, die Wetterabhängigkeit, der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern usw, usw. Jemand mutiger meinte, mit dem Betriebsklima stünde es auch nicht zum Besten.

Alles, was Sie hier vorgetragen haben, entspricht meinen Beobachtungen. Doch finde ich diese unvollständig. Niemand spricht von der absolut einmaligen Lage, der tollen Aussicht, der Geschichte des Ortes und seinen Traditionen. Sehen Sie: wir haben hier doch einen ganz tollen Organismus, na ja mit Nachteilen, einem Klumpfuss sozusagen, wenn ich an die Konferenzräumlichkeiten denke. Na und? Ist jemand mit einem Klumpfuss zu Misserfolg verdammt? Wechseln Sie ihre Blickweise. Wir können auch einmal ins nahe Nottwil ins Paraplegiker-Zentrum fahren. Menschen, wie Sie und ich haben dort enorme Handicaps zu überwinden, müssen sich auf das Positive konzentrieren, das ihnen bleibt. Der Bürgenstock bietet einmalige Vorteile. Diese wollen wir hervorheben. Die Nachteile behalten wir im Hinterkopf, reden aber niemals darüber. Fasst Mut. Macht einander Mut. Das ist es, was das Betriebsklima verbessern wird. Das hängt nämlich nicht vom Verwaltungsrat ab, sondern einzig und allein von uns. Wie mir miteinander umgehen. Wie wir uns helfen, aushelfen über die einzelnen Arbeitsstätten und den Stellenbeschrieb hinaus.

Wie lange ich unter euch sein werde, weiss ich nicht. Sicher ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes, anderthalb gar? Aber eines weiss ich: diese Zeit, wie lange immer sie dauert, wollen wir, ja wir alle zusammen so gestalten, dass sie uns positiv und schön in Erinnerung bleiben wird."

Auch da gelang es mir, die Mitarbeiter ziemlich rasch mit Ideen zur Zusammenarbeit zu überzeugen. Das Glück wollte es, dass ich die fröhliche, unglaublich arbeitsame Beatrice Amstutz, die Margot und ich noch vom Hotel Orselina her kannten, für die Leitung des Clubs engagieren konnte. Sie verstand es, die Mitarbeiter ins beste Licht zu setzen und so für sich zu gewinnen. Diese verdienten das auch. Antonello Contu war ein Maître von Weltniveau, der bestens mit Armin Amrein zusammenarbeitete. „AA“ hatte sich in den langen Jahren seiner Tätigkeit im Club zu einem der bekanntesten Küchenchefs der Schweiz entwickelt. So war Beatrice Club-Members, Gästen, Mitarbeitern gerade dank ihrer persönlichen Zurücknahme eine strahlende Gastgeberin und geschickte Vorgesetzte. Für Daniel Moos, der seit Jahren Konzerte mit tollen Sängern dort organisierte, schufen wir gemeinsam den Rahmen auf der Terrasse für seine „Opera sotto le stelle“. Der riesige Schirm bot dafür ideale akustische Verhältnisse. Daniel kreierte tolle Abende mit unterschiedlichsten Ensembles und Sängern, welche wieder zahlreiche Musikliebhaber zurückbrachte.

Mit grosser Effizienz und ebensolcher Diskretion war Johanna Hussauf seit bald zwanzig Jahren im Bürgenstock tätig, während einigen Jahren sogar als Co-Direktorin. Jetzt war sie verantwortlich für den Front-Office und den Event-Bereich. Auch sie bewies, zusammen mit ihrem Eventteam und den Receptionistinnen, dass Frauen, besonders in Führungspositionen, sich bis zum Umfallen einsetzen, wenn man sie respektvoll behandelt und nett zu ihnen ist. Alle leisteten unter Johannas Anleitung nicht nur grossartige Arbeit. Johanna war allen Organisatoren und Verantwortlichen von Events die Ansprechpartnerin und Garantin für Kontinuität. Sie war es, die in jener Zeit der raschen Direktions- und Personalwechsel das Vertrauen dieser in den Bürgenstock hoch hielt. Ihre Zurückhaltung ging so weit, dass sie nicht an die Feier der dreissig Jahre von Armin Amrein und die zwanzig Jahre für Antonello Contu kommen wollte. Nur Margots Insistenz brachte sie dazu trotzdem zu kommen, wo wir sie dann entsprechend überraschten:

Nachdem ich die Sterne gewürdigt hatte, für welche die beiden Herren standen, fragte ich die anwesenden Club-Members und Gäste: "Wir freuen uns am Leuchten der Sterne, wenn wir sie am Himmelszelt betrachten. Haben Sie sich schon einmal gefragt, welch eine Kraft es ist, die die Sterne dort oben hält?"

"Wir im Bürgenstock schon. Wir haben uns nicht nur die Frage gestellt. Wir haben sie auch beantwortet, welche Kraft die Sterne des Bürgenstocks oben und zusammenhält: Es ist Johanna Hussauf, die sich seit ebenfalls zwanzig Jahren dafür einsetzt, dass sie nicht nur oben bleiben, sie bringt sie zum Strahlen! Mit Fachwissen, mit Klugheit und respektvoller Zuwendung für alle, seien es Gäste, Club-Members oder Mitarbeiter in jedwelcher Position im Bürgenstock. Welch glücklicher Direktor ich doch bin, enge Mitarbeiter dieses Formats zu haben! Wir stiessen alle zusammen an, zum Dank für ihre Mitarbeit und auf weitere solch glückliche, erfolgreiche Jahre.

Barbara Stiemerling, die Sales- & Marketing Direktorin, mochte ich als Person gut. Beruflich aber hatten wir das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Wir kamen nicht zusammen. Während ich in meiner Search of Excellence durch die Einzigartigkeit des Bürgenstocks zu überzeugen versuchte, litt sie unter dem zugegebenermassen nicht mehr up-to-daten Zustand der Kongressanlagen. Diese Haltung hatte durchaus ihre Berechtigung. So verabschiedete sich mein Tschuggen Gast, Dr. Baur, bei seiner Erkundung für eine mögliche erneute Durchführung der Bilderberg meetings sehr diskret, nachdem er den Stillstand der räumlichen Entwicklung wahrgenommen hatte. Barbara sah deshalb das Hauptargument für ihr Handeln im Zugestehen von Sonderpreisen. Mich nervte das, liess sie das spüren, hin und wieder in einer Art, die ich später bereute. Sorry, Barbara!

Eine Sonderstellung nahm der technische Dienst ein, der gleichzeitig die voll ausgebildete Feuerwehr für den Bürgenstocks war. Es waren Fachleute, die sich der frühere Besitzer Fritz Frey herangezogen hatte. Ihm und dem Resort blieben sie auch nach dem Konkurs und der Übernahme durch die Richmond-Gruppe treu ergeben. Wer meine bisherigen Ausführungen gelesen hat, erinnert sich, dass ich um Bau- und Unterhaltsfragen gerne einen Bogen gemacht hatte. Hier aber waren diese Aspekte von einer dermassen grossen Bedeutung, dass ich an den wöchentlichen Sitzungen des technischen Dienstes frühmorgens um sieben Uhr teilnahm und eine Menge dazu lernen konnte. Dabei entdeckte ich die Innerschweizer: woher sie alle stammten, sie bildeten eine verschworene Einheit, die sich aber äusseren Einflüssen wie meine nun einmal waren, durchaus zugänglich zeigten.

Um mich im Housekeeping zu entlasten, überzeugte ich Bärbel Rolke. Ich hatte sie damals für „meine“ Gräfin engagiert, kennen und schätzen gelernt. Marco an der Bar, Pasquale im Restaurant sowie der junge deutsche Küchenchef Peter Müller, den ich fürs Parkhotel engagiert und unter die Fittiche von Armin Amrein gestellt hatte, bildeten dort eine ebenso sympathische wie effiziente Mannschaft.

Der F&B Manager Philipp Moser, letzter in einer langen Reihe, machte sich für den Solidaritätslauf der Stadt Luzern stark. Chefärzte aus dem Kantonsspital, die Brauerei Eichhof, die frühere Kantons- und spätere Ständerätin Helen Leumann und weitere Honoratioren des Kantons sassen nicht nur im Organisationskomitee, sondern legten selbst Hand an. Im 2003 schwebte ihnen ein Picknick auf dem Bürgenstock vor, an dem etwa tausend Leute teilnehmen sollten.

Wir empfingen deren Abgesandte, wie man das eben macht, schon einmal zu Kaffee und Gipfeli am gedeckten Konferenztisch. Sie erläuterten das Vorhaben, dessen Gewinn vollumfänglich einer sozialen Institution zu Gute kommt. Dieser Idealismus überzeugte uns, wir entwickelten mit ihnen zusammen das Projekt: Die Teilnehmer sollten per Schiff in Kehrsiten ankommen, per Bürgenstock-Bahn hochfahren. Auf dem Felsenweg und hauptsächlich auf dem Hammetschwand wollten sie Grill- und weitere Imbiss-Stände einrichten, die von ihnen persönlich gehalten würden. Phlipp zeigte ein Engagement, das die Organisatoren geradezu verdutzte: Sie hätten kaum gewagt, bei uns anzuklopfen und nun würden sie nicht nur sehr nett empfangen, sondern auch noch so kooperativ unterstützt! Offenbar war das unter den früheren Besitzern des Bürgenstocks nicht so. Trotz höchst durchschnittlichem Wetter wurde der Lauf ein voller Erfolg.

Zu verdienen gab es für uns nichts. Die Folgen waren dagegen unmittelbar und ausserordentlich positiv. Der Anlass rückte den Bürgenstock, der den Luzernern nie eigentlicher Hausberg gewesen war, wie man der Lokalgeschichte entnehmen kann, in ein positives Licht. Sämtliche Anlagen sahen wieder mehr Luzerner als Kunden und Gäste. Frau Ständerätin Leumann organisierte zum Dank den sechzigsten Geburtstag ihres Gatten bei uns, zu dem alle geladen waren, die in Stadt und Region Rang und Namen hatten. Das wiederum überzeugte die Offiziersgesellschaft, ihr Jahrestreffen bei uns durchzuführen. Alles PR Aktionen, die überzeugten, nichts kosteten und sich als einträglich erwiesen.

Nach dem Wegzug von Philipp Moser strukturierte ich das F&B um. Wenn die Grösse der Restauration durchaus eine solche Position rechtfertigte, hatten seine zahlreichen Vorgänger nicht immer den Ansprüchen genügt. Vor allem hatten diese ihrer Fantasie in der Ausgestaltung der Weinkarte freien Lauf gelassen und die Bestände ihrer Vorgänger einfach liegen lassen. Die Unübersichtlichkeit hatte das Verlustrisiko erhöht und beachtliches Kapital gebunden. Darüber hinaus war ich zur Überzeugung gekommen, dass bei Spitzen-Oberkellnern, wie wir sie glücklicherweise hatten und einem Küchenchef wie Armin Amrein, nicht ein neuer F&B Manager, sondern eine Dienstleistungsstelle in Form von Chef-Einkäufer notwendig war. Im Team sollen sie das kulinarische Programm festlegen und die Einkäufe darauf ausrichten. Armin Amrein, mittlerweile mit 17 Punkten im Gault & Millau, war nicht nur ein hervorragender Koch, sondern auch ein gewiefter Organisator, hatte Führungspersönlichkeit und war in in lebensmittelhygienischen Belangen von pingeliger Gründlichkeit. Ihn ernannte ich zum Küchendirektor, zum „culinary art director“ mit entsprechendem Salär. So würde ein eventuelles Abwerben für Konkurrenten teuer werden. Je bekannter Mitarbeiter werden, umso stärker ist ein Betrieb diesem Risiko ausgesetzt.

Als Einkäufer meldete sich Corsin Gartmann, ein etwa 25jähriger Mann. Schnurstracks inventarisierte dieser Keller und Warenlager, organisierte einen „Weinmarkt“ in den einzelnen Restaurants, welcher unsere Restposten für alle Gäste und insbesondere für die Servicebrigade sichtbar machte und sich dank dem im Nu verkauften. Mit einem Kollegen, den er mitbrachte, aktualisierte er das ganze Inventurprogramm. Alle beteiligten Stellen hatten nun direkt Einsicht in aktualisierte Lagerbestände. Damit gelang es ihnen, Verkäufe und Einkäufe in allen Sparten entsprechend effizient zu steuern.

Die Jahre 2002-2005 fielen mit Restriktionen bei unseren Kongressveranstaltern zusammen. Das führte zu rückläufigen Einnahmen in unserem einträglichsten Sektor. Vreni Eisele und Françoise Schnidrig in der Buchhaltung zeigten mit ihren Zahlen Einsparungsmöglichkeiten auf. Das jederzeit informierte und mittlerweile zusammengeschweiste Team nahm diese auf und kompensierten damit grossteils die Umsatzverluste.

Immer wieder erfeuten mich Besuche von Gästen aus dem Tschuggen wie auch aus dem Kronenhof. Dann meldete sich Dr. Falk, der Hauptkunde aus dem Kronenhof: Er organisierte einen Ärztekongress, der nicht nur den Bürgenstock ganz in Beschlag nahm, sondern auch einen guten Teil der gehobenen Luzerner Hotellerie, inklusive dem KKL als Plenarsaal. Schlussendlich meldete sich ebenfalls das EDA, das Eidgenössische Departement des Äussern, welches im März 2004 die Zypern-Konferenz für die UNO unter Schirmherrschaft seines unvergesslichen Generalsekretärs Kofi Anans bei uns organisierte.

Bei einem solchen Meeting reduziert sich die Rolle des Hoteliers weg vom Gastgeber ganz auf jene des Dienstleisters. Es war das EDA, welches organisatorisch verantwortlich war. Ein junger, sehr kluger Diplomat verfügte, dass der gesamte Bürgenstock ausschliesslich den Konferenzteilnehmern reserviert blieb. Die akkreditierten Journalisten logierte er in Fürigen, Stansstad und Luzern. Er begründete diesen Schritt mit der Verhandlungsfreiheit für die Teilnehmer, welche durch Anwesenheit von Medien sofort auf ihre lokale Interessen eingeschränkt würden und nicht lösungsorientiert arbeiten könnten. Der Erfolg der Konferenz gab ihm recht.

Eine wichtige Rolle spielte die Kantonspolizei. Über einhundert Leute waren mit der Sicherheit betraut. Sie hatte mithilfe der Armee alle Zugänge zum Resort abgeriegelt. Während der Dauer der Vorbereitungen und der Konferenz selbst herrschte ein Flugverbot in der Gegend. Darüber hinaus zirkulierten viele Sicherheitsleute in Zivil auf dem Resort.

Jedermann, der im Bürgenstock wohnte oder arbeitete, wurde nur mit seinem persönlichen Badge zugelassen, den man gut sichtbar tragen musste. Hotelgäste und Clubmitglieder erhielten aufgrund ihrer Gästekarten unpersönliche, jedoch nummerierte passe-partouts, welche bei jedem Besuch registriert wurden. Ich erinnere mich gerne an Herrn Schnellmann, langjähriges und emsiges Clubmitglied, dem man aufgrund der momentanen Verfügbarkeit einen passe-partout in den türkischen Farben ausgehändigt hatte. In der Halle des Parkhotels herrschte reger Betrieb, den er sich nicht entgehen lassen wollte. Überall, in jeder Salonecke, auf jeder Gesprächsinsel sassen und diskutierten Delegationsmitglieder untereinander. Er setzte sich einer der Inseln zu, wo lediglich vier Herren miteinander plauderten. Kaum hatten die vier Griechen seinen türkischen Badge bemerkt, sprangen sie auf und wechselten den Tisch.

Eine griechisch- und eine türkisch-zypriotische Delegation sollten sich im Ristorante Tintoretto, das dafür vorbereitet worden war, zu Vorgesprächen treffen, und zwar auf einen genau vorbestimmten Zeitpunkt, die eine durch den Haupt-, die andere durch den Eingang vom Korridor aus. Die einen waren einige wenige Augenblicke früher da. Sie wurden wieder rausgeschickt, denn es war protokollarisch unumgänglich, dass beide zum genau gleichen Zeitpunkt durch ihre Türe eintrafen.

Herr Güll, damaliger türkischer Aussenminister, reiste an einem trüben Tag an. Ich begleitete ihn zu seiner Suite im Palace. Er schritt schnurstracks zum Fenster, riss den Vorhang auf, blickte auf den Nebel und sagte streng: “Mir steht eine Suite mit Blick auf den See zu.“

„Haben Sie ein paar Stunden Geduld, Exzellenz, lächelte ich ihm zu „dann wird der Nebel verschwunden sein und der schönste aller Schweizer Seen wird zu Ihren Füssen liegen.“ Vor der Abreise überreichte er mir ein schmuckes Stück türkischer Kunsthandarbeit. Rezep Tayeb Erdogan, damals Premierminister, schenkte mir ein signiertes Buch über die Türkei.

Soweit ich mich erinnere, bezahlte jeder Teilnehmer die Rechnung für Zimmer und persönliche Auslagen selbst. Transport- und Sicherheitskosten gingen zu Lasten der Eidgenossenschaft. Offizielle Dîners wurden von offiziellen Stellen und einzelnen Botschaften gesponsert.

Für uns alle vom Bürgenstock, die daran mitgewirkt hatten, war es ein denkwürdiger Einsatz. Stellvertretend für alle sei der Kellner José erwähnt, der ausschliesslich Kofi Anan zugeteilt wurde. Die Zusammenarbeit mit den örtlich Zuständigen, der Kantonspolizei, Vertretern des Regierungsrates machten mir Nidwalden und die Innerschweiz noch sympathischer, noch lieber als sie mir ohnehin schon war. Sie rückte den Bürgenstock auch wieder mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung, die lokale Kundschaft nahm zu unserer Freude weiter zu und es entstanden daraus auch nette persönliche Beziehungen. Namentlich der Club lebte wieder auf. Beatrice Amstutz kannte viele der Mitglieder aus ihrem Hotel Orselina. Ihr Charme, ihre Tüchtigkeit, gepaart mit detaillierten Kenntnissen der Gäste, vereint mit Armin Amreins Küche und den Aufmerksamkeiten von Maître Antonello Contu machten den Bürgenstock Club nicht nur wieder zu jenem mondänen Treffpunkt, der er früher gewesen war, sondern auch zu einem sympathischen, gesellschaftlichen Zentrum der Innerschweiz.

Auch international hatte die Konferenz einen tollen Werbeeffekt: während der ganzen Dauer figurierte die Gesamtansicht unseres Resorts auf der Titelseite von Bloomberg. Die Hundertschaft nationaler und vor allem internationaler Journalisten, die zur Hauptsache in Fürigen untergebracht waren und vom erwähnten Diplomaten dort vom Fortgang der Konferenz laufend unterrichtet wurden, trugen unseren Namen in alle Welt.

Das alles machte mein letztes Jahr als Hotelier zum glücklichsten meiner ganzen, abwechslungsreichen und erfreulichen Karriere. Das Team hatte sich gut zusammengefunden und arbeitete im positiven Sinne routiniert. Dazu hatten auch die Weiterbildungsseminare für Kader mitgeholfen. Georges Beutler, mittlerweile zum Personalchef avanciert, öffnete regelmässig den Spycher für die Mitarbeiter und jährlich organisierte er ein tolles, fröhliches Personalfest. So hielt er die Truppe bei Laune. Der frühere Lido, Badestrand neben der Talstation der Bürgenstock-Bahn war für die Mitarbeiter offen, einige spielten Tennis, wenn die Plätze frei waren. Armin Amrein sagte mir sogar, dass er in den dreissig Jahren seiner Tätigkeit auf dem Bürgenstock niemals eine solche Zusammenarbeit wie jetzt erlebt habe. Ich stelle mir vor und hoffe, dass viele der damaligen Teammitglieder ebenso gerne wie ich an diese Zeit zurück denken.

Die Tatsache, dass von mir keine Weiterentwicklung erwartet, ja nicht einmal erwünscht war, wie ich auf den einen oder anderen Vorschlag bemerken musste, gab mir grosse Gelassenheit. Ich stand täglich um sechs Uhr auf, joggte zwei bis viermal die Woche von meiner Villa Daniel den Felsenweg hinauf zum Hammetschwand-Lift, machte meine Morgentoilette, las mit Vorliebe etwas Schönes, Spirituelles oder übte Alphorn, das ich mir dort erworben hatte. Wenn ich dann zwischen acht und halb neun, nach meinem Frühstück, zur Arbeit ging, hatte ich das Beste vom Tag schon für mich genossen. Welch eine Entspanntheit mir das schenkte!

Sechs Monate vor dem Verkauf der ganzen Anlage an die Qatari wechselte Victor Armleder seine eigenen Berater, die nun direkter auf den Betrieb Einfluss nehmen wollten. Damit war das Ende meines Einsatzes auf dem Bürgenstock besiegelt. 

Eigentlich hatte ich vorgesehen, bis siebzig zu arbeiten. Meine Kontakte zu Profile Paris, welches auf Hotelleitung international spezialisiert war, hätte mir mit Sicherheit eine Position irgendwo im Ausland gefunden. Doch auch das wäre nur noch für gut fünf Jahre gewesen. Die grosse Anstrengung kam mir in den Sinn, welche das Zusammenschweissen des Teams hier erfordert hatte. Es muss mein Schutzengel gewesen sein, der mir damals ins Gewissen geredet hatte: „Wo hast du eigentlich den Garantieschein, dass alles so wie bis jetzt bis neunzig weitergehen wird? Wann willst du eigentlich beginnen, dich an dein Zuhause mit Margot zu gewöhnen? Du kannst dir die Pensionierung doch leisten! Noch bist du fit genug, jetzt deine altruistischen Gedanken in Tat umzusetzen, die du damals im Cap d'Antibes gesponnen hattest..."

 

Ende 2005 -schon Rentner?
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35.  Ende 2005 -schon Rentner?

Alle frisch Pensionierten beeilen sich darauf hinzuweisen, dass sie noch immer dieses tun, in jenem VR oder in der anderen Vereinigung tätig sind, nach wie vor der bisherigen Arbeitsstätte zur Verfügung stehen, um die jungen Nachfolger von ihrer Erfahrung profitieren zu lassen. Mich liessen solche Aussagen etwas ratlos. Ja was gilt jetzt? Weiter das Gleiche, oder die Freiheit, die sich uns auftut, nach eigener Lust und Laune zu gestalten?

Margots Bedenken, ob ich ohne mein Publikum, also Gäste, Mitarbeiter, die offiziellen Kontakte überhaupt auszuhalten wäre, waren nicht ganz unverständlich. Dazu verunsicherte, dass es über zwei Jahre dauerte, bis die Höhe unserer Rente und Besteuerung feststand, die sich aus diversen Einkünften aus der Schweiz und aus Frankreich zusammensetzt.

Der Hotelier ist ein hochspezialisierter Generalist. Sachlich gesehen, hält er Hof: Er ist der Major Domus besorgt um Sicherheit von Gästen und Mitarbeiter. Dass alle Einrichtungen reibungslos funktionieren. Dass nicht nur alles vorausschauend einwandfrei unterhalten wird, sondern alles auch tadellos sauber und mit gutem Geschmack präsentiert, die Berufskleidung des Teams, ebenso wie die Blumenarrangements. Erst danach kommt das F&B, das leibliche Wohl und zwar ebenso für Mitarbeiter wie Gäste. Markting, PR, der monatliche, konzentrierte Rapport über Zahlen und Geschehnisse, vergangene und zukünftige an die vorgesetzten Stellen sind weitere seiner Obliegenheiten. Dann, last, not leastkommen die Menschen: Viel mehr als einen Beruf auszuüben, zelebriert der Hotelier eine Lebensart, un art de vivre, wie die Franzosen treffend formulieren. Sie beruht auf Gastfreundschaft. Um jene gewinnende Stimmung zu schaffen, die Gastfreundschaft auszeichnet, gehört Identifizierung mit möglichst jedem einzelnen Gast, das sorgfältige Festhalten ihrer Namen, Vorlieben und Abneigungen. Eine, zumeist aber zwei Wochen Aufenthaltsdauer und mehr der Gäste verpflichten einen Hotelier und seine Mannschaft zu dieser Haltung. Die Mitarbeiter erleichtern den Zugang zum Gast aber nur, wenn sie sich zum Team zugehörig empfinden. Auch das erreicht man mit persönlicher Aufmerksamkeit. Möglichst für jeden von ihnen, mit klarer Zielsetzung, Begleitung, Anleitung, Lob, Dank. In Ferienhotels, wo die Gäste länger bleiben, ist es nicht das schnelle „du,“ beim Klang der Champagnergläser an der Directors Cocktailparty, an glänzenden Empfängen der Mode-, Uhren- und Schmuckbranche oft im Verbund mit befreundeten Spitzenhotels, das dem Gast Gewissheit vermittelt, als Gast be – und erkannt, als Freund des Hauses willkommen zu sein. Es ist die achtsame Präsenz des Hoteliers und seiner Leute. Glanz und Glitter darum herum ist nur der Rahmen, in dem solche Verbindungen entstehen. Daraus abzutreten, ist in der Tat nicht ganz einfach.

Meiner Frau Margot war klar, mit der Funktion gibt man einen ganz wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit ab. Mir scheint, dass Frauen besser Berufliches von Privatem unterscheiden können als wir Männer. Margot auf jeden Fall vermochte das in den Jahren unserer Zusammenarbeit souverän. Bei ihrem ganzen, bemerkenswerten Pflichtbewusstsein hatte sie ihr Wesen nie mit ihrer Funktion verknüpft.

Die fünf Jahre Selbstständigkeit zwischen Kronenhof und Bürgenstock während denen ich von zu Hause aus arbeitete, im Homeoffice, wie man heute sagen würde, hatten mich auf meine definitive Heimkehr vorbereitet. Dank dieser Vorbereitung wirkten die täglich langen Stunden, die das Hotel bis anhin von mir abverlangt hatte, nicht bedrohend wie ein grosses Loch, ein Grab gar. Wie die meisten frisch Pensionierten unternahmen Margot und ich viele Ausflüge und Reisen zu unser beider Vergnügen. Doch das genügte nicht.

Die paar Anfragen für Mitarbeiter für grossbürgerliche Haushalte waren deshalb willkommen, ebenso wie jene zur Unterstützung eines jungen Direktors. Vor allem aber die Einsätze für Swisscontact ermöglichten mir die Balance zu finden. Sie entsprachen meinen früheren sozialen Ambitionen zwar nicht ganz: Die Leitung einer Hotelfachschule in Südamerika übernimmt man für mehrere Jahre. Man führt junge Menschen zur beruflichen Reife. Begleitet die Entwicklung, stellt das Resultat fest. Einsätze für Swisscontact dauern in der Regel einen Monat. Senior Experts geben Gesuchstellern in jenen Ländern, welche von der Schweiz unterstützt werden, einen Blick von aussen auf deren Probleme. Sie zeichnen Lösungsansätze auf, helfen mit, diese in Tat umzusetzen. Das schlussendliche Resultat stellt man allerdings nur bedingt fest, wenn überhaupt.

Bewusst suchte ich nach Aufgabenstellungen und Problemen wie ich sie bisher nicht gekannt hatte: Mit Menschen von fremder Mentalität, in anders sprachlichen Ländern, in einem mir unbekannten ökonomischen Umfeld. Kurzum, es sollte es eine Herausforderung sein.

Ich schrieb mich für Südamerika und russischsprachige Gebiete ein. Erstere, um mein Spanisch aufzufrischen, letztere um mein langes, schwieriges Lernen des Russischen an Ort und Stelle einzusetzen.

Swisscontact bezahlt Flug und Versicherungen und einen unbeutenden Spesensatz. Die Gesuchsteller kommen für den gesamten Aufenthalt der Experten auf. Zielsetzung und Aufwand sind vertraglich genau festgelegt und das Umfeld des Einsatzes ist klar umschrieben.

Die Vorbereitung eines Mandats beschäftigte mich jeweils einen guten Monat. Das betraf das Familiarisieren mit Land und Leuten, heute einfacher dank Internet und Websites. Wo vorhanden, studierte ich die Websites der Betriebe, Vereinigungen und Institutionen, wo und mit denen ich zu tun haben würde. Ich versuchte auch mit den Auftraggebern im Voraus per E-Mail Kontakt aufzunehmen. Die Nachbehandlung konnte ebenfalls ein paar Wochen bis zu zwei Monaten dauern.

Wer näheres Interesse für solche Mandate aufbringt, wirft vielleicht einen Blick in die Tagebücher im Anhang, die ausschnittsweise meine Erfahrungen wiedergeben.

Nach einem Einsatz in Bulgarien, zwei in Ecuador, war die Lecture über Tourismus- und Hotelmanagement an der Uni von Jalta mein siebter und an jener von Zhytomir mein neunter Einsatz in der Ukraine. Diese gefielen mir besonders gut. Die Umstände in Zhytomir brachten mich allerdings an meine Grenzen, wo ich aufgrund mangelnder technischer Einrichtungen viel improvisieren musste, hauptsächlich in Englisch und wenig auf Russisch, während drei bis fünf Lektionen täglich, von denen jede 90 Minuten dauerte. Ein Fingerzeig für mich, mit fünfundsiebzig Jahren nun definitiv Schluss zu machen.

Ich bedaure das ganz ausserordentlich. Die hoffnungslose Stimmung in Kiew aufgrund des andauernden Krieges im Osten des Landes und die eingeschränkten Perspektiven machen Mandate, welche den Horizont öffnen und Mut zusprechen, doppelt nötig. Schade, dass ich nicht mehr vermag solche Aufgaben zu übernehmen. Zum Unglück des Landes hat sich Swisscontact auch aus der Ukraine zurück gezogen.

Man hat vielleicht festgestellt, dass ich bis jetzt unter dem Titel Pensionierung vor allem neue Aufgaben abgehandelt habe. Sie werden sich fragen, wie denn Pensionierte ihren normalen Alltag verleben, was sie sich im Paar zu sagen haben, welchen Hobbies sie nachgehen, ob gar die Muse sie küsst. Die unterschiedlichen Tätigkeiten von meiner Frau und mir, auch der getrennte Haushalt über viele Jahre, hat unsere Vorstellungen vom dritten Lebensabschnitt ungleich geformt. So strebt meine Frau nach einem Leben ganz für uns, in dem hauptsächlich Familie und Jugendfreunde ihren Platz haben, Einladungen sind auf möglichst wenige Menschen zu beschränken, dafür aber umso intensiver: „Endlich wir sein! Im Paar! In der Familie! Ein Leben lang zogen wir andere Menschen, die Kindermädchen, Gäste, Beziehungen in unser Privatleben mit ein; öffneten, erweiterten wir es, wie du zu sagen pflegtest. Jetzt reicht's doch, oder?“

Ich hingegen erfreue mich einer recht ausgedehnten Korrespondenz. Mit möglichst allen fernen Freunden, mit Mitarbeitern, mit denen wir seit Jahren verbunden sind, zu denen auch der eine oder andere Kontakt aus meinen Einsätzen für Swisscontact zählt. Gerne hätte ich an unserem Tisch möglichst oft acht Personen. Eine Zahl, die dank ihrer Grösse mehrere Meinungen erlaubt und doch klein genug ist, damit das Gespräch nicht auseinander fällt.

Eigentlich hatte ich gehofft, im „Ruhestand“ mindestens drei Mal im Jahr je einen Monat in einer Stadt zu verbringen. In Paris, Rom, London, Hamburg. Aber auch in weniger bedeutenden wie Toulouse - la cité rose, Palermo, die Heimat unseres Alberto, Salamanca und viele andere. Eine Wohnung zu mieten, das Leben der dortigen Bürger zu beobachten, zu teilen und Teil zu haben, wo immer möglich! Unsere Sprachkenntnisse lebendig zu erhalten! Dazwischen zurück für zwei, drei Monate in unser schönes Tessin.

Margot braucht Wurzeln, seit jeher. Sie bevorzugt kürzere Reisen. Und ich finde diese auch schön. Wir hoffen selbstverständlich, dass unsere Gesundheit das weiterhin erlauben wird. Diese für mich eingeschränkte Reisetätigkeit fasse ich auf als Zeichen zu grösserer Konzentration. Gleich einem Lichtstrahl, der umso stärker leuchtet, je mehr er sich bündelt.

Wir lesen beide gerne. Eine lang vergessene Gewohnheit haben wir wieder aufgenommen: einander vorzulesen. So teilen wir uns ein Buch recht intensiv. Doch vorlesen strengt an. Wir kommen jeweils nicht sehr weit. Dafür besprechen wir das Gelesene jedesmal und sofort miteinander. Das ergibt schöne Nähe.

Es ist uns sogar gelungen, ein besonders gefährliches Minenfeld zu entschärfen: die Küche. Meine Frau wusste zu Beginn meiner Pensionierung „meine kulinarische Unterstützung“ gar nicht zu schätzen, die hauptsächlich in Fragen bestand, wie und ob sie gesalzen habe, nicht dieses anstelle ihres üblichen Gewürzes verwenden wolle usw. Zudem steht bei gegenseitiger Hilfe in der Küche das andere immer am falschen Ort und im Wege. Frägt dauernd, reich mir dies, gib mir das, könntest du schnell... Das kitzelt an Empfindlichkeiten, die ihren Ursprung in meinem Erstberuf als Koch haben. Pragmatisch näherten uns an, in dem sie eher für Fleisch, ich für Fisch zuständig bin. Ich bei Einladungen, sie für den Alltag. Während ich stolz meine klassischen Rezepte der damaligen nouvelle cuisine zelebriere, mussten wir bei Einladungen sowohl bei Sohn wie Tochter feststellen, wie die beiden uns mit zeitgemässer Küche immer mehr um die Ohren kochen. Obschon wir solch höchst willkommene Einladungen nicht als Angriff empfinden, schmieden diese uns zusammen. Wir dürfen nicht ohne Stolz sagen, dass sich unser gemeinsamer Küchendienst nicht nur zu einem friedlichem, sondern zuweilen zu einem geradezu erfreulichen und zumeist amüsanten gewandelt hat. Auf jeden Fall habe ich dabei begriffen, dass sich das Heim zum Hof halten, wie oben beschrieben, nicht eignet.

Während wir den ganzen Sommer über fast täglich in unserem Pool schwimmen, wechseln wir gegen Ende September zum Lido Locarno: Meine Frau zur Unterwassergym und ich zum freien Schwimmen. Die Notwendigkeit für Bewegung macht sich immer dringender bemerkbar, in diesen reifen Jahren...

Die Settimane musicali di Ascona ab September sind reizvoll, die Konzerte des OSI, Orchestra della Svizzera Italiana bereichern Herbst und Winter. Ab Oktober besuchen wir mit grossem Interesse Vorträge der ATTE Associazione Ticinese Terza Età, die uns verschiedenste Wissensgebiete aus Kunst, Literatur, Religionen, Musik und vielem mehr nahebringen. Tolle Lektoren, zumeist emeritierte Professoren umliegender Universitäten und Lehrer unserer Gymnasien, stellen sich hierfür in verdankenswerter Weise zur Verfügung. Im Winterhalbjahr bildet das Abonnement im Teatro di Locarno seit vielen Jahren unser basso continuo. Beste italienische Schauspieler und Truppen beehren den Ticino. Ein bis zwei Besuche mit der Biblioteca popolare di Ascona in der Mailänder Scala geben den Wintermonaten weitere kulturelle Höhepunkte. Es ist sogar so, dass die Vielzahl an Angeboten uns von den durchaus bemerkenswerten Kleintheatern fern hält.

Last, not least, schreibe ich gerne und regelmässig. Wie jetzt, für meet-my-life. Mir will scheinen als befinde ich mich wieder am Setzkasten, wie damals, in der ersten Klasse der Primarschule. Glücklich wie damals, Buchstaben an Buchstaben, Wort an Wort zu reihen, Sätze zu bilden, die mit etwas Glück zu Geschichten werden. Stoff liegt dazu ja im Übermass da. Der Rückblick macht mich zufrieden. Versöhnt mich da und dort, lässt mich schmunzeln, erzeugt Dankbarkeit...

Anhang: Ecuadorianisches Tagebuch - Journal équatorien
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36.  Anhang: Ecuadorianisches Tagebuch - Journal équatorien

Journal équatorien 7 mai au 14 juin 2009

 

Dimanche, 10 mai 2009

Me voici déjà depuis 3 jours à Machala, sur ma mission à l’hôtel Oro. C’est la fête des mères et il y a exactement deux mois que je suis fait opérer.

Il est grand temps que je confie à mon journal mes impressions intimes de ce voyage. Aussi veux-je retenir ici, en ce début de mission, à ce que je me suis attendu et les buts que je poursuis :

Les raisons de mon départ sont bien sûr, la recherche du défi par le côtoiement du nouveau, de la mentalité si différente, de la langue espagnole et de confronter tout cela avec mes conceptions de jusqu’alors. Ce n’est pas du tout comme Margot voudrait toujours me suggérer une peur de vieillir, pas du tout. Ma réaction au diagnostic du cancer de la prostate est preuve que cela n’est pas une de mes préoccupations. C’est que je considère un devoir d’aller de temps en temps à mes limites, tout en tenant compte de mes ressources.

Une des raisons est aussi de m’éloigner de Margot, de ma famille et de mon entourage habituel. Pas comme on pourrait croire pour courir le guilledoux ou aventures. Je me sens libéré de toutes ces contraintes et m’en félicite. Non, c’est plutôt pour contempler mon propre bonheur actuel sous d’autres angles. Pour mieux apprécier encore l’harmonie, le bien-être dont nous jouissons depuis quelques années. Mais aussi pour voir si je ne peux pas transmettre un tant soit peu de ce que j’ai reçu à d’autres.

Mon but est donc d’aider à mettre en pratique les résultats de l’analyse, plutôt sombres, pour l’Orohotel de Machala. De travailler de façon déterminée, en respectant les délais que nous nous imposerons, Jorge et moi. J’entrevois une possibilité d’établir un cours de formation, voir apprentissage pour les jeunes qui travaillent ici. Une fois établi la stratégie, de les faire passer 6 mois dans chaque département. Si cela réussissait, je le considérerais un vrai succès.

Dans la file d’attente à l’aéroport de Milan je me suis surpris de ne pas avoir d’attente en quelque sorte que ce soit. Je sentais de vouloir laisser venir les choses à moi. Une attitude qui me faisait peur toute ma vie, craignant de me laisser aller dès que l’on ne se pose plus de buts. Alors que c’est tout le contraire : un flottement doux. Une ouverture attentive sur l’instant et sur ce qui nous alentoure. Je le savais depuis longtemps, le pratiquait aussi de temps à autre mais là, je le ressentais pleinement et entièrement.

Le voyage de 16 heures et demie,  Milan – Amsterdam - Guayaquil, suivi par près de trois heures en voiture jusqu’à Machala m’éprouvait. L’arrivée ici, dans le centre poussiéreux et miteux de cette ville de port, le petit hôtel qui a vu ses beaux jours, la chambre qui serait la mienne pour 4 semaines me demandaient toutes mes énergies pour pouvoir laisser venir.

Le charme sud-américain, même d’employés inconnus, m’apaisait. Le repas simple du soir était exquis. Je laisserai voir venir.

Ponctuellement le lendemain à huit heures, Jorge Alex Serrano, ingénieur, fils de la famille propriétaire, bananiers fortunés, m’attendait à la réception. Homme d’une quarantaine, de très bonne présentation, cultivé, sportif et d’une énergie contagieuse. Il suggérait aussitôt un tour de la ville pour que je puisse me faire une idée. Il se révéla entrepreneur éclairé, socialement ouvert aux besoins de ses employés dont certains travaillent depuis l’ouverture il y a 27 ans, dans l’hôtel. Outre à ses fonctions de directeur commercial dans l’OBSA, l’affaire de famille, il est président de la chambre de commerce de Machala, s’engage politiquement de façon progressive. Il paye ses impôts et soutient le maire qui fait beaucoup pour la ville, depuis qu’il a pu évincer la clique corrupte qui régnait jusqu’il y a 4 ans.

Curieux, en compagnie de sa mère, son énergie semble s’évaporer. Elle, sud-américaine au charisme impressionnant et aux beaux restes, semble savoir ce qu’elle veut. Et ce qu’elle ne veut pas. Elle s’occupe de l’administration mais aujourd’hui, elle saluait les clients, aidait à l’office, était omniprésente et infatigable. A première vue, je lui ai donné 10-15 ans de moins que moi. De plus près voisine-t-elle peut-être mon âge.

Tous les jours, je vais 1-3 x sur la place Juan Montalvo, la principale et typique pour les villes équatoriennes avec son centre arboré, fleuri et aux multiples jeux d’eau. C’est agréable de m’assoir sur un banc, regarder les gens qui flânent, les enfants qui courent, les pigeons qui volent, les marchands ambulants qui vendent et les attrayantes surveillantes qui surveillent…Il fait entre 30-35°, mais à l’ombre c’est supportable. Le soir la température tombe aux alentours de 27º. Il n’y a pas de café ou de glacerie avec terrasse, rien. Ni sur cette place ni ailleurs. Il n’y a rien à faire dans cette ville que de flâner à travers les stands de marché de bas de gamme, ou de venir ici. Aujourd’hui j’ai connu Lenin. Un jeune d’une vingtaine d’année, cloué dans une chaise roulante par une ms avancée mais je crois que c’est plutôt une sla, sclérose latérale amyotrophe, ce qui est nettement pire. Il faisait la manche et j’ai essayé de bavarder un peu avec lui. Il s’exprime difficilement. Il ne faut pas être médecin pour deviner que dans peu de temps, il ne sera plus à même d’actionner sa chaise roulante.

Hier par contre je suis allé hier à Jambeli, l’île qui longe la côte et où Machala va nager. On y accoste par une lance dans une demi-heure. Ce que c’est pauvre, et entretenue en conséquence ! Je me suis changé dans l’endroit le moins en déconfiture mais pour sûre, Margot ne serait entrée dans ces cabines. Etait-ce cette impression qui frappa mes parents, en arrivant au Brésil dans ce village, dont je ne me rappelle plus le nom ? Ça les devait avoir drôlement secoué, du moins du prime abord…

J’ai tout de même longé toute la plage et, tout à la fin, je me suis jeté dans le pacifique avec l’entrain que provoque son teint sombre par le sable presque noir. Sorti, je m’aperçois d’un « hospedaje los Iguanos » un petit jardin ombragé de palmiers d’un aspect très privé. Je suis quand même entré pour demander aux deux petites filles si je pouvais y rester pour la journée. «Il faut que je demande à ma grand-mère. » Mais je vous connais, vous êtes le Suisse qui travaille à l’Orohotel ! » Avec fierté la grand-mère m’amena dans les arrières, me faisant voir sa charmante auberge, très simple mais proprette et aux jolis coins de jardin entre les bungalows. « Ah si vous me louez une chambre, je reste volontiers pour la nuit. Mais il vous faudra que vous préveniez l’Orohotel où l’on ne sait pas que je ne retourne pas le soir. »

« No se preocupe! » disait elle et alla me trancher des papayas du jardin. J’ai passé tout l’après-midi au jardin à observer un Léguan, de toutes petites tourterelles se chamailler, à lire. Le soir, tout seul, j’ai observé un magnifique coucher de soleil. La nuit tomba d’un coup, peu après 18 heures. A 19 heures je dormais, bercé par le bruit des vagues. La température tomba à environs 23°, nul besoin d’air conditionné. Reposé je me levais à 6 heures pour reprendre la lance car je voulais observer « la grosse bourre » de la fête des mères.

« No se preocupe » a un semblable effet comme en Italie : Aucun. « Je me suis fait du souci » m’acceuillait la réceptionniste et le jeune valet d’étage me questionna  d‘un air gêné: « vous n’avez donc pas dormi ici ?» Quel doux rappel du pensionat de Neuchâtel ! Et moi j’avais bien récupéré des fatigues du voyage.

Mardi, 12 mai 2009

Récit d’hier :

C’est un pays incroyablement jeune. Assis au Parco Juan Montalvo j’ai tout le loisir d’observer. La ribambelle d’enfants qui y court et s’y amuse ! A 20 ans, les femmes ont au moins leur premier enfant. Elles sont grand-mères quand les filles de nos latitudes font leur premier bébé. Bien sûr, car elles ne cachent pas leurs charmes ! Ravissantes et délicates jusqu’à 16-18 ans, elles s’épanouissent rapidement et avec le plus grand naturel. C’est peut-être le soleil généreux et éternel ici qui veut ça.

Leur comportement n’a pas cette agressivité érotique que je retrouve dans nos revues et dans nos rues, tout en restant très sensuel.

« Ah, vous êtes consultant ? De la Suisse ? Peut être pourriez-vous m’aider, car je suis actif dans une fondation. Nous sommes 18 membres… » Me demandait un type qui s’était installé sur mon banc au Parc.

« Et en quoi pensez-vous que je pourrais vous être utile ? »
« Dans le fundrasising. Dans la recherche de fonds. »
« Ce n’est pas du tout mon domaine, je suis d ans le tourisme. »
« Ah. » dît il et un long (et bienvenu) silence s’en suivit.
« Vous cherchez peut-être des femmes ? Hein ? cherchez vous des femmes ? »
« Non. »
« Mais vous savez, elles sont très chaudes ici…. »
« Merci, non »
« Comment non ? Mais vous avez des problèmes peut-être » ajouta-t-il en
   illustrant sa pensée avec son index.
« Oui. Je sors d’une opération et cela ne m’intéresse pas. »

J’espérais le faire vendre ses propos ailleurs. Mais comme c’était le seul banc ombragé du parc où l’on pouvait s’asseoir en évitant jeunes couples et mères seules, il n’avait pas plus envie que moi de céder la place.

« Alors cela doit être la prostate. C’est embêtant la prostate. Ça fait mal ? » « Hein, ça fait très mal ? » Insista-t-il sur mon silence.
« Il y a plus agréable, mais il y a surtout pire. »
« C’est intéressant, car voyez-vous, moi j’ai toujours mal ici. Croyez-vous
   que ce soit la prostate ? Non, mais regardez, c’est ici, juste en dessous
   de la rate ! »
« Je ne suis pas médecin, mais la prostate ne fait pas mal. Ça vous
   empêche de pisser, c’est tout. »

Il me forçait à le regarder, le petit homme grassouillet de la soixantaine, mal rasé, à la chemise rayée, fraîche de trois jours.

« Je suis aussi masseur. Je masse le coup, les bras les jambes. Surtout les
   jambes. C’est merveilleux contre le stress. »
« Et vous avez beaucoup de clients dans votre cabinet ? »
« Pas vraiment. A vrai dire, je n’en ai qu’un seul. »
« Alors je vous souhaite d’en trouver beaucoup d’autres » lui disais-je « il
   faut que je retourne à mon travail. Bonne chance. »

C’était deux heures et demie. L’après midi je le passais dans ma chambre à préparer la réunion du lendemain. Cette chambre disparate en bleu ciel, en compagnie de mon ordinateur et comme seul bruit de fond le ronronnement de l’air conditionné. C’est une chambre à grand lit plus un autre. Cela fait beaucoup pour moi tout seul. Collé au mur que le grand lit longe, il y a une coiffeuse longue et étroite, style nordique, qui me sert de bureau. Ce décor sobre, égayé uniquement par une prise de courant, de deux interrupteurs et de celui de la porte d’entrée, permet une concentration maximale…

J’espère bien sûr que les lecteurs de ces lignes me confirmeront le résultat de cette concentration. De surcroît, je cherche à l’intensifier par un régime se basant sur les succulents fruits tropicaux, salades et soupes. Cela fera du bien à mon cholestérol mais c’est un tort : On fait une cuisine originelle ici, rustique et très goûteuse. Maria, la gouvernante qui m’avait accueilli sur l’île de Jambeli, excelle en desserts et pâtisseries.

Les soupes sont très variées : de la simple soupe aux légumes décrite plus haut en passant par une aux favouilles, une de poissons, de crevettes, de langoustes même jusqu’à la « Bullavese » , probablement une lointaine cousine de la française! Aujourd’hui à midi on servait une soupe à base de mais frais, une sorte blanche, provenant des Andes, de pommes de terre et un peu d’agneau. A part du persil, ils aiment ici la coriandre fraîche dans les soupes et sauces.

Cela s’emploi aussi pour l’ajillo, une sorte de marinade de poivrons piquants, de « tomates de arbol » délicieuses, poussant sur les arbres, d’ail frais peu de vinaigre et huile d’olive. Cela se sert dès que l’on est assis à table, ici avec un pain blanc, huilé aux herbes fraîches et toasté, à Abraspungo où j’étais en 2007, avec de délicieuses brioches.

Jeudi, 14 mai 2009

Hier, nos sommes allé à l’hôtel Oro Verde, le meilleur dans la ville. Il avait été fondé toute une chaine de ce nom  en Amérique du Sud par Caspar E. Manz, du St. Gotthard de Zurich. Mais aujourd’hui c’est géré par d’autres personnes. Le but de notre visite fut peu noble, c'est-à-dire, de débaucher la sous directrice. Jorge Alex est depuis quelques mois en contact avec elle. Maintenant, il souhaite faire avancer les choses.

Nous, c’était Jorge Alex, Socrate, le directeur de leur entreprise de limonade, « un pezzo d’uomo » de 40 ans, lucide et sympathique et moi. « Et comment vous vous arrangez avec votre famille, de partir comme ça et précisément en Amérique du Sud ? Qu'en dit votre épouse? »  Voulait-il savoir.

« Ma récente opération à la prostate la tranquillise beaucoup. » Un gros et chaleureux rire le secoua.

Le déjeuner, très animé me reportait dans l’ambiance de « mes » hôtels. La candidate parait sévère, mais très capable.

Ce matin j’ai fait beaucoup de préparatifs pour les réunions à venir. Ensuite je suis allé au Parc. Sur mon chemin, j’ai retrouvé le type fil de fer qui se dit propriétaire d’une mine d’or. Je l’avais rencontré au coin Internet il y a quelques jours, lorsque je n’allais pas encore chez les bananiers pour expédier mes mails. Il voudrait bien me vendre une partie de sa mine. « Donnez-moi l’or et gardez les pierres »

Je crois qu’il n’a pas apprécié. Mais que ne dirait pas ma famille, avoir une mine d’or dans son héritage ?

La réunion F&B s’est de nouveau passée merveilleusement bien. Les gens voudrait travailler, voudrait faire mieux, mais la personne actuellement à la tête n’est pas de l’hôtellerie et fait office de frein. J’espère vraiment que le choix de Jorge soit le bon, ses employés le mériteraient.

Vendredi, le 15 mai 2009

Voilà, la première semaine s’est achevée. Le temps change. Le soir il fait agréable, autour des 24°.

Je passe en révision ce que j’ai fait. Le plus précieux à mon avis, c’était de mettre cuisiniers et salle ensemble, chose que l’on me décrivait impossible. Au contraire : ils regorgeaient de très bonnes idées ! Ils me faisaient entendre entre les mots que personne ne les écouteraient jamais.

Les propositions que nous avons formulées ensemble devraient faire repartir le restaurant et je veillerai à ce que l’on accorde les crédits nécessaires pour faire une présentation de carte et menus convenables, pour réaliser le service chauffeur tous les jours et aussi le soir. Une question primordiale pour un hôtel/Restaurant en plein centre sans parking et, de nuit, dans un quartier peu sûr. Qu’une publicité élégante soit imprimée à poser sur toutes les tables. Que l’affreuse illumination soit modifiée afin de créer une atmosphère différente le soir. Que nous rendrons l’offre et le service du soir plus de fête. Et que l’on ramone immédiatement les aérations crasseuses de la cuisine qui représentent un véritable danger d’incendie !

Cela semble peu. Mais j’ai déjà abordé les conclusions, tenant compte des (in)décision de la ville pour le quartier, proposé comment réaliser un boutique-hôtel à moindres frais (à l’instar du Zig-Zag Rockhotel de Zurich), analysé leur archaïque système de caisse et sur ces bases, demandé renseignements approfondis et devis à une firme équatorienne qui me semble être à la hauteur de la tâche. C’est peut-être pas beaucoup, mais important, essentiel même. Mais ce soir, je suis un peu mélancolique. Peut-être la conséquence de mon régime que j’ai suivi avec trop de rigueur. Je lâcherai un peu ce soir.

Dimanche, 17 mai 2009

J’avais dîné d’une belle brochette de langoustines et de volaille, arrosé d’une bière locale le vendredi soir. Cela a aidé. En plus, la température nocturne, tombée à 24°, permet de faire à moins du bruyant air conditionné.

Samedi excursion à la forêt pétrifiée de Poyango, à une centaine de km de route, dont la moitié en piteux état. Nasly m’avait organisé un chauffeur, Mauricio, qui se présentait ponctuellement à 8 heures avec sa mère Ruth. Myrna, une collègue de l’institut de tourisme où Nasly enseigne par son second job, faisait office guide. Mauricio est ingénieur foréstier, responsable pour la conformité écologique du département de L’Oro, homme intéressant à l’esprit ouvert. Myrna charmante et bien ferré sur son sujet, même avec des connaissances sur la Suisse ! Ruth une femme de la cinquantaine bien présentant et charmante.

Les arbres pétrifiés se trouvent dans une forêt bien vivante, avec une riche faune et flore. C’est ce qui la différencie des trois autres dont deux aux USA, qui se trouvent toutes les trois dans un désert. J’ai vu de magnifiques papillons, mariposas en espagnol, et pris des photos d’iguanes, d’une sauterelle de grande dimension et bien sûr, d’arbres pétrifiés. Impressionnant d’avoir un pied dans le présent, l’autre dans un passé vieux de plus de cent millions d’années !

Au retour, nous avons fait un détour par le port de Huatalca. C’est le dernier bout de l’Ecuador à la frontière péruvienne. Les rivalités centenaires se sont calmées ces derniers temps. Néanmoins l’annonce d’un fiancé péruvien provoquerait des infarctus dans la famille de Myrna, me réponda-t-elle sur ma question précise.

Huatalca est un petit port de pêcheurs qui est en train de se moderniser, au bord d’une forêt de mangroves. Misérable et d'un charme fou ! J’espère beaucoup que les modernisations ne seront pas la fin de ce charme.

On y pêche des araignées de mer, los cangrejos, très populaires ici. La culture de la crevette est un des importants articles d’exportation, en forte croissance. J’ignore si le cangrejo en fait également partie. Le restaurant en terrasse, au bord de la mangrove et au dessus des canaux, est typique, et offre en spectacle la vue sur une grande variété d’oiseaux qui picorent les favouilles dans les canaux en marée basse.

La sopa de cangrejos était délicieuse, agrémentée encore par du poulpe, de marsupions, de poisson et de clams. C’est un des repas les plus sensuels que l’on peut s’imaginer, aussi par la simplicité du service : tables couvertes de verre, de toutes petites serviettes en papier. Chacun reçoit une petite planche et un marteau en bois pour casser les araignées : Alors ça tape, ça gicle, ça suce goulûment, les mains qui collent la bière qui coule. Non seulement à torse, mais tout nu il faudrait faire ces repas là !

Il était intéressant d’entendre des efforts écologiques que l’Ecuador entreprend : Machala vient de subir une amande de $ 60'000 et infligé un délai de 6 mois pour présenter un plan concret de mise en conformité de sa décharge publique. Selon Mauricio, le suivi de ces actions est garanti. Ce genre d’efforts sont d’autant plus louables que le pays est pauvre et la discipline dans l’accomplissement de ses obligations fiscales encore nouvelle et loin d’être généralisée.

Aujourd’hui je me suis levé tard, à 7.30 heures. Eh oui, ici on commence à travailler à 8 heures et se lever à 7.30 heures est tard. Demain, le retournerai sur l’île de Jambeli pour la journée. Mais avant de partir, je tiens à rédiger ce petit rapport pour les miens et pour mes souvenirs de plus tard.

En sortant à 10 heures de l’hôtel il faisait du crachin. Cela n’a aucune importance, car il fait quand-même environs 25°. La lance, un hors-bord pour 40 personnes était plein. Les trois dames devant moi, dans la quarantaine, voulait savoir d’où je venais et ce que je faisais à Machala. « Prends garde à toi, on vole ici », se congédièrent-elles. La grand-mère du petit Henrique avec qui j’avais bavardé, mère d’un abogado, regrettait que je ne veuille partager leur table et me fila sa carte de visite, pour que je téléphone si mon temps à Quito me le permettait. En arrivant aux dos iguanas, Doña Nancy, propriétaire de L’Orohotel, la mère de Jorge Alex, était là avec deux amies clientes, plus un couple me convia à leur table. Je préférais nager et me promener tant qu’il était encore serein et les rejoignis ensuite.

On est immédiatement intégré, chez les équatoriens, la bise est obligatoire, aussi pour les inconnus, grippe ou pas grippe. Je ne puis encore le juger, mais j’ai l’impression que cet accueil, pour aussi sympa qu’il soit, tienne plus de l’informalité américaine que d’un réel intérêt au prochain.

On papotait, mangeait, papotait. C’était visiblement de la bonne société qui se connait bien. Autrement les dames n’aurait pas porté tous les bijoux dont elles s'arboraient.

L’après midi se présenta sous de mauvaises auspices, puisque j’avais porté le fascinant livre « l’uomo verso l’assoluto » dans l’espoir de le terminer. Mais en me changeant, mes lunettes tombèrent et une des lentes avait sauté de la monture. Voilà qui promet bien, après que mon aide auriculaire droit est déjà tombé en panne peu après mon arrivée au pays !

J’en parlais à Mari, gouvernante et pâtissière de l’hôtel et à son mari Julio de l’intérêt de ce livre, qui traite aussi les religions des Mayas et des Incas, raison de l’avoir emmené avec moi. Julio me posa en passant quelques questions sur mes intérêts en la matière et commença ensuite à me brosser un merveilleux tableau de l’histoire de la religion des Aztèques, l’influence subi par les espagnols et combien les anciens mythes étaient encore vivants chez les indigenos. Jamais ils n'en parleraient aux blancs ou aux mistecas. Nous convenions que c’était justement cette défiance qui tenait vivants leurs rites. J’en aurai à lire pour des mois et des années.

Mari et Julio partaient à 16 heures. « Restes, mais soit gentil de bien fermer la porte. Hasta luego, George », comme ils m’appellent ici et m’abandonnèrent leur auberge, vide à cette heure ci. Je me retrempais pour une belle nage, et marchais longuement pour me sécher sur l’immense plage libre. Peu de jeunes me croisaient, saluant tous aimablement. C’est le bonheur, m’avouais-je. Cette liberté de faire ce qui me plaît. Cet accueil, et puis tomber sur des gens comme Julio, qui m’oriente dans ce qui m’intéresse depuis bien longtemps et à quoi je me suis si peu donné, l’histoire et la psychologie de la religion.

J’avais pris le dernier bateau à 18 heures, à la main un platano asado une de ses bananes vertes grillées, délicieuses, qui me fera de dîner. C’est incroyable avec combien peu on peut se nourrir dans les régions tropicales !

Ici, la nuit tombe tôt, vers19 heures. Les derniers rayons de soleil nous caressaient le dos. Pour moi, c’est la plus harmonieuse heure de la journée et en effet, cette harmonie gagna le bateau. Le bruit régulier du hors-bord, les vagues légères tranquillisaient les enfants. Les tout petits pendaient au biberon ou aux seins de leurs jeunes mamans. Les plus grands perdaient leur regard dans le loin. Le bonheur familial régnait chez les parents. Les jeunes couples, apaisés de leurs passions durant la journée, se blottirent doucement l’un contre l'autre, heureux de leur union. Et moi, passager non concerné, me laissa doucement gagner par cette harmonie générale dans laquelle nous nous dirigions vers la terre ferme.

Mardi, 19 mai 2009

Une journée ordinaire

Je me cassai le nez à la porte de la poste, où j’allais pour poster une carte d’anniversaire pour Heinz. Cela prend deux semaines par courrier ordinaire, comme j’ai appris en envoyant une de ces horribles cartes d’ici à Rudi Blaschke, pour ses 75 ans. L’express c’est $ 40.00.

C’est à 8.30 que l’on ouvre me faisait comprendre le costaud gardien de l’intérieur. Tous les employés étaient en place, masquée contre la grippe, la TV allumée. J’avais beau lui montrer les 9.35 heures sur mon chronomètre suisse à travers la porte vitrée et d’autres autour de moi la même chose sur des modèles peut-être moins précieux, l’homme montrait stoïquement sur la vieille horloge qui indiquait 8.20 heures.

Bien que cela ne soit pas un privilège dans ce pays, je profitais de ce petit quart d’heure à prendre le soleil matinal. Les deux équatoriens devant moi commençaient à s’impatienter lorsque la porte s’ouvrit. Le jeune, type entrepreneur, avait des cds dans une enveloppe feutrée que la (très jolie) postière le fit ouvrir, le gratifia d’une pile de formulaires à remplir et le renvoya. La dame devant moi subit un sort similaire parce qu’elle avait écrit l’adresse du destinataire de manière à ne plus pouvoir apposer l’expéditeur sur le devant de l’enveloppe. « Mais elle sur le recto ! » protesta-t-elle. Le règlement étant le règlement et les équatoriens n’ayant pas la même chance comme nous helvètes qui, sauf la pizza et le café crème, peuvent tout acheter à la poste, s’en alla chez elle pour écrire correctement son enveloppe.

« correo ordinario por favor » disais-je aux grands yeux noirs leur tendant mon enveloppe. Le reste du joli visage dont je me rappelais de ma dernière visite étant, presqu’à l’instar d’un tchador, dissimulé sous la « mascherina » antigrippe.

Elle s’installa devant son ordinateur et commença à taper lentement expéditeur et destinataire dans un masque qui me rappela les complications des premiers modèles du Fidelio.

Su numero de pasaporte, por favor”
« Mais vous l’avez de la dernière fois »

Elle me lança un regard tellement implorant que je lui fis tendrement « F2083367 ! »
« Je veux le voir »
« Mais ce n’est pas une lettre enregistrée » Me rappelant du sort de mes prédécesseurs, je m’empressais à sortir rapidement la copie couleur que je garde toujours sur moi car dans un pays comme l’Equateur, il n’est pas conseillable de porter l’original sur soi. Heureusement, ma mémoire ne m’avait pas fait défaut, le numéro était juste.

« C’est la peur de la grippe qui règne », lui fis-je.
« Ah si ! »
« Alors pas de besito, selon la jolie coutume équatorienne, quand vous
  saluez vos amis ? »
« Ah no » 

« Alors pensez au danger qui règne en Suisse ! Non seulement que l’on ne porte pas de mascherina, mais on donne deux besitos »
« Ah si ? »
« Ah si, et à celles qui m’en donnent deux d’ailleurs je leur raconte qu’en Suisse on en donne trois… »

La TV marche partout et toujours et bien sûr, aussi à la Cafeteria las Tejas, comme s’appelle le restaurant de l’Orohotel. Mangeant toujours seul et ne la regardant jamais sur le petit écran de ma chambre, j’apprécie assez. D’abord, les nouvelles de 12.30 me rappellent celles radiophoniques de mon enfance quand Maman, mon frère et moi on devait manger en silence. La courte durée de ce silence imposé, une bonne dizaine de minutes, était supportable. Deuxièmement, les informations révèlent beaucoup sur le pays et les gens que je visite.

Les nouvelles internationales ici sont encore bien plus brèves que celles de mon enfance. On les frôle à peine et les place en troisième ou quatrième position. En premier lieu, beaucoup est consacrée à la santé : le traitement de l’obésité, l’implantation de cheveux, le traitement de l’incontinence avec images à l’appui et même la transplantation d’organes avec grand angle sur le cœur ou la hanche ouverte. Sujets relativement peu appétissants à l’heure du déjeuner.

Dans un premier temps je soupçonnais le gouvernement d’une lutte subversive contre les trop grosses portions, dont on voit les fâcheuses conséquences à chaque pas. Il n’en est rien. Tout au contraire : c’est le prélude logique à ce que les Equatoriens aiment le plus, le crime et les accidents. La semaine a été gratifiante en la matière. De grosses saisies de drogues, Coca par tonnes, héroïne par centaines de kilos, arrestation de quelques violeurs et chose particulièrement succulente, le lynchage à quelque part de plusieurs personnes avec un bûcher en apothéose. Ce climax fût encore dépassé grâce à la chute d’un bus touristique dans un ravin, profond d’une bonne centaine de mètres. Les prises de vue de l’ascension hasardeuse des brancards, avec le râle et les gémissements des pauvres secourus, devaient satisfaire les plus exigeants en la matière.

Jeudi, 21 mai 2009

« Si je vous invitais à  prendre une glace avec moi, serait-ce de la corruption de fonctionnaire publique ? »

« Bien sûr, mais je viens quand même. Allez-y je vous rejoindrai ! »

Je le demandai à la jolie agent de garde du parc Juan Montalvo qui, au début de mon séjour ici, m’avait rappelé qu’il n’était pas permis de s’appuyer aux balustrades autour de la fontaine.

Marilène, 31 ans, 3 enfants de 12, 9 et 2 ans, le mari parti en Espagne. « Quand reviendra-t-il ? » Je ne pense pas qu’il revienne, il y a tellement longtemps que je n’ai de ses nouvelles ». Sa mère garde les deux petits, sa grand-mère paternelle la grande quand elle est au travail.

Fille simple, sans formation. L’organisme chargé de la garde du parc est privé. La formation que leur donne leur employeur ? Aucune. Il faut bien présenter, savoir parler aux gens. Elles sont toutes belles, en effet et vêtues d’uniformes parfaitement moulants.

Elles sont au parc, font leur ronde, la papote avec les visiteurs réguliers. Quelle idée de formation pourrait leur venir en tête ? Machala n’a pas de potentiel touristique, encore qu’on pourrait le développer jusqu’à un certain niveau. Jamais personne ne leur parle dans une autre langue que l’Espagnol, le castillan, comme on l’appelle ici. Les bonnes places de travail sont rares et il me semble, réservées à ceux qui sortent d’université, au moins pour ce qui en est de celles dans les firmes importantes.

« Lénin ? Oh le pauvre ! C’est vrai, on ne le voit plus depuis quelques jours. En général des membres de sa famille viennent le placer ici dans sa chaise roulante et le laisse jusqu’au lendemain. Alors il dort au parc. Je ne sais même pas comme il fait pour manger, pour aller à la toilette. Il ne peut pas se lever de sa chaise roulante ; c’est terrible. »

Elle est gentille mais j’ai eu tort de l’inviter à cette glace. Mon anonymat est rompu. Elle vient vers moi dès qu’elle m’aperçoit et m’empêche de regarder tranquillement ce qui se passe autour de moi.

Certes, un étranger ici, quelque soit son âge, a son attirance, est quelque chose d’exclusif. Je l’ai vu hier en tenant une conférence sur « el servicio al cliente en la información y comercialisación turistica » au Collegio fiscal Simon Bolivar.Ce terme pompeux désignait une conversation avec une quarantaine de jeunes de 16,17 ans, pour deux tiers des filles, sur ce qui est important dans la vie, la formation professionnelle, ma carrière et sur ce qui me plaisait en Ecuador et quoi moins. La photo de groupe que les enseignants voulaient prendre ensuite développa dans un shooting, où en petit groupes ou en individuelle, chacune voulait sa photo souvenir. Pour aussi flatteur que cela ait été pour moi, leur manque évident de contacts internationaux, la pauvreté de leur moyens d’enseignement me donnait à penser. Je donnerai l’adresse de Swisscontact Quito à Nasly, pour qu’elle puisse prendre contact avec le responsable, Heinz Allemann. Qu’il l’avise quand un autre senior expert se présentera dans la province pour qu’ils puissent répéter l’expérience de hier au collège Simon Bolivar.

S’en suivit un agréable déjeuner simple au Porto Bolivar avec Nasly, Myrna « la douce » et Marí « la svelte » à l’agressivité européenne. Après ces 4 heures en conversation espagnole j’étais à bout et méritait bien un petit somme.

Samedi, 23 mai 2009

La réunion n’avait pas lieu hier au soir. Elle devait avoir pour objet mes conclusions, recommandant une nouvelle conception de l’entreprise, d’importants investissements immobiliers, le renouvellement de leurs installations électroniques pour permettre un système de caisse et de comptabilité efficace. L’excursion du lendemain à Zaruma en compagnie de Jorge Alex, sa femme Paola et leurs trois enfants annulée. En fin de compte ils se faisaient remplacer par un ami, un de leurs anciens employés. Je prenais cela pour un mauvais présage, leur ayant transmis mes conclusions à lire deux jours avant.

Washington, Ex Mineur, ex Bananier, ex collaborateur de Jorge A. converti en fabricant d’articles de publicité se présenta à 8 heures pile. D’où vient donc cette fausse réputation que les américains du sud ne connaissent pas l’heure ? Serait-ce Swatch qui, les ayant inondés de ses produits, à avoir changé par là totalement les coutumes locales ?

La route, bien asphaltée, menait dans l’arrière-pays sur les montagnes à la forêt en bonne partie encore vierge. Quelle variété d’arbres, d’arbustes, de palmiers, de fougères géantes, cocotiers, bananiers, arbres de café et de cacao, de cannes à sucre ! Le tout, pêle-mêle et impénétrable, fondait dans une abondance d’un vert intense et vif. Ce que l’air devenait agréable en gagnant de la hauteur, bienfaisant même.

A 800 m d’altitude environs, nous nous arrêtâmes à une réserve de colibris. Ils sont beaux à voir, ces oiseaux minuscules, colorés aux yeux et bec immenses! Quelle rapidité dans leurs battements d’aile, se tenant fixe en l’air, semblable aux libellules.

Au village de Piñas, nous avons pris le beau-père de Washington pour qu’il nous fasse de guide. Il n’en savait pas plus que moi, mais ici, il y a toujours quelqu’un qui se rajoute. Tant à Piñas qu’à Zaruma on est fier du bon climat et aussi, que ce sont des villages presque exclusivement de blancs. Ce n’est pas que l’on soit raciste par ici, mais à la TV, les présentateurs et animatrices sont pour la très grande majorité des blancs. Washington, lui-même métissé, m’a expliqué qu’il en était pareil à l’administration publique, à la police et bien sûr, dans les bons postes des grandes entreprises.

A Zaruma, nous recevait l’érudit directeur de l’office de tourisme, Tito. Il nous expliquait que la ville était de souche juive. Leurs ancêtres avaient fui la catholique Espagne en 1536 avec ses conquistadores. Ils n’avaient pourtant pas le droit de pratiquer leur religion. L’inquisition les suivait et encore aujourd’hui, malgré leur race juive pure, on ne trouve pas de Synagogue ici.

L’Espagne pratiquait la charité à sa façon. Dans les trois siècles de leur présence ici, ses conquistadores avaient exporté 2700 tonnes d’or vers leur pays natal qui en avait grandement besoin pour payer la dette extérieure contractée par Philippe II. Que l’on se l’imagine, deux mille sept cents tonnes, avec les moyens et les bateaux d’alors ! Les espagnols avaient asservi la population indigène, les faisant travailler dans des conditions horribles, avant de les massacrer et extirper la race entière. En cela ils étaient inspirés et aidés par l’église catholique et sa sainte inquisition. Dans leur souci constant d’assurer le salut des âmes de ces pauvres sauvages, elle le leur assurait par voie directe. Et au retour ces flibustiers et criminels se virent anoblis pour services à la patrie rendus et vénérés par le monde entier. Néanmoins, le pape, aux alentours de 1850 déclara dans une de ces bulles qu’aussi les indigènes avaient une âme et seraient à considérer comme des êtres humains à part entière…

Pardonnez-moi cette excursion si subjective dans l’histoire du pays qui m’accueille.

Zaruma est une jolie petite ville, style coloniale, dans son centre historique construit pour beaucoup en bois de teck. Comme à Piñas, on ne connait pas de criminalité ici. C’est l’avantage de petites villes, où chacun connait tout le monde et tout le monde chacun. La grande violence est commise par des gens de nulle part, sans famille ni culture, qui n’ont rien à perdre.

Zaruma dort sur l’or. Littéralement. Les mines, découvertes des centaines d’années avant que les Espagnols arrivent, rendent toujours et se trouvent en dessous du village. La plus grande, la « Sexmo », est exploitée par une importante firme internationale. Le nom provient des anciennes taxes que les Espagnols prélevaient, le quinto, un joli 20% et rien en échange ! Cette mine fût fortunée de ne payer que le 6e.

Une seule galerie de la sexmo se visite, ce que bien sûr, nous avons fait. Encore aujourd’hui, faire le mineur, c’est un travail infernal et qui s’y voue, aura fait bien plus que le purgatoire sur terre. Washington m’expliquait que les véritables galeries ne sont pas de cette confortable hauteur de près de 2m comme nous les avons vues, mais d’un à un mètre vingt environs. On travaille donc en position courbée, accroupie, à genoux et ceci 8-10 heures par jour! Il avait fait cela durant deux ans parce que cela l’intéressait de connaître ce travail et comme jeune pris par l’odeur d’aventure. Aujourd’hui il est partenaire d’une mine, mais elle ne produit pas encore. Là aussi, on vit de l’espoir.

Sur notre chemin vers Portovelo, lieu originel de la course vers l’or des Incas autour de 1300, j’ai pris des photos d’une mine moyenne et de l’entrée d’une petite, où ils travaillent à 8 personnes seulement. La plus part de ces mines sont artisanales n’employant que très peu d’ouvriers. Tous travaillent 24/24 heures. Il n’y a aucune propriété foncière et c’est au plus rapide qui gagne. Une veine une fois découverte on la suit n’importe où qu’elle porte et cela peut très bien se croiser avec celle du voisin.

On y observe encore les ruines de la « South American Development Company », active entre 1896 et 1950. Bien qu’originaire de l’Amérique du Nord, ils semblaient inspirés par les espagnols en ce qui concerne le traitement des indigènes : ils finissaient par imprimer leur propre monnaie qui n’avait cours à nulle part ailleurs pour payer leurs ouvriers. Ils abandonnèrent le terrain après émeutes et déboires avec le gouvernement équatorien.

Nous avons fait un assez long détour sur une ancienne route provinciale sur le retour. Ces routes se comparent aux anciennes routes militaires au sud de la France. La pluie avait rendue le vert de la forêt encore plus vif. On s’éloignait dangereusement de la civilisation, la route devint boueuse, tout comme mon état d’âme. Seul le passé aventureux de Washington et son corps musclé réconfortait ma confiance. Nous parcourions la dernière centaine de mètres à pied pour arriver à un taudis immonde, enfouis dans le bois.

C’était pourtant là, le but de notre voyage, une espèce de ferme, où l’on brûlait dela tragua de caña de l’eau de vie de canne à sucre. Dans une construction en planches brutes où nous ne mettrions pas les chèvres vivait une petite famille! La pluie avait rendu les alentours gras. En contrebas, tout près du four et de l’alambique, 4 cochons diffusaient leur odeur typique, se mélangeant à celle de la lie refroidie. Trois chiens mi-sauvage rôdait autour et une demie douzaine de volailles, que le maître des lieux nourrissait au maïs pur. Oui, au maïs pur. Même pas les volailles de Bresse sont nourries si exclusivement. Cela couterait bien trop cher, m’avait fait le calcul Monsieur Olive il y a bien des années, un client de l’Hôtel du Cap d’Antibes.

Si cette première surprise découlait d’une certaine logique, vu que le maïs aussi pousse comme il veut dans ce coin, la deuxième l’était beaucoup moins. Le paysan portait un T-shirt troué, certes, mais parfaitement propre. De même se présentait sa femme et sa petite fille. Ils avaient tous les trois les cheveux parfaitement en ordre et nous recevaient avec un esprit ouvert, une cordialité comme si nous nous connaissions depuis toujours Comment font-ils donc ? Mais c’est ça, les Equatoriens !

Le gars me montra avec fierté sa presse de canne au diesel, laquelle remplace depuis peu celle qu’avait tourné sa mule, pour lui, son père et son grand-père. Habitué bon gré, mal gré à la fétide odeur, les choses devenaient plus intéressant pour moi: Rien ne se perd.

Le jus de canne se divise : une partie pour en faire du sucre, l’autre pour l’eau de vie et cette partie est dirigée dans des bacs en plastic à fermenter. Ensuite elle vient au four, constitué par deux vieux tonneaux reposant en horizontale sur des briques, passe par l’alambique et se recueille dans d’anciens récipients en plastic crasseux pour huile à moteur. La grande partie servira aux moulins d’or comme combustible, payé un peu plus cher que l’essence. Seule une petite part est diluée aux alentours de 40° pour buts alimentaires. Les feuilles et les cannes à sucre essorées sont séchées et serviront de combustible pour le four. Les cendres à la fin, sont utilisées comme fertilisant.

Tandis que le père de Washington se laissait entrainer à la dégustation – son fils ne boit rien quand il conduit – mon vieux et pieux mensonge d’une récente jaunisse m’épargna de devoir en faire de même. J’observais les fleurs partout, les arbres de mangues, les mandariniers. Même du cacao et du café poussait là et le patron se mit à cueillir quelques grains pour moi, nous offrit de ses fruits, au père son Schnapps et nous tous trois son large sourire.

Réconciliés avec l’aspect pauvre, nous étions forcés d’admettre qu’il ne manquait plus que le fatal pommier pour se croire réellement au paradis ! Une fois de plus, la leçon était forte : Combien, et surtout jusqu’à quand encore, te laisseras-tu influencer par l’aspects extérieur des choses ? Quand seras tu enfin capable de ce regard clinique, qui ne s’intéresse qu’à l’essentiel ? Bien sûr, ce n’est pas une vertu d’hôteliers.



Dienstag, 3. Juni 2009

« Sind die Serranos und ihre OBSA ausschliesslich Exporteure oder auch sind sie auch Bananenpoduzenten ?» fragte ich Washington auf unserem Weg nach Zaruma.

Nein, sie sind auch Produzenten auf einigen eigenen Hektaren.“
Sind einige Hektaren in Ecuador 3, 10 oder 20?“
Oh, gut tausend dürften es schon sein.“

Wiederum pünktlich wie ein Schweizer Chronometer holte mich Wiliam um 7 Uhr ab. Wir fuhren nach El Guabo, einem der vielen Orte Ecuadors, wo Bananen produziert werden. Rund 3000 Bananeros bepflanzen in Ecuador etwa 200'000 ha. Das Land ist der bedeutendste Bananenexporteur der Welt, daher nennt sich Machala stolz „capital bananera mundial.“ Zwar rangiert Ecuador in der Produktion erst auf dem dritten Platz, hinter Indien, Brasilien und Indonesien. „Die fressen ihre Früchte selber“ meinte Jorge Alex, als er mir die Rangliste erklärte.

Wir fuhren eine gute halbe Stunde entlang der Strasse nach Quito, die von nichts anderem gesäumt ist als von Plantagen. Nichts als Bananenbäume, links und rechts. Hin und wieder eine Strecke lang blumige Büsche am Rand, Wahrzeichen von Don Servios Besitz. Dann bogen wir ein in die Plantage „La Mina“, den Weg entlang bis zum privaten Flugfeld. Erstaunlich, die fast penible Kontrolle am Eingangstor zur Plantage, nachdem die Felder selbst ungesäumt sind und man diese ohne Hindernis durchqueren kann, allerdings nur zu Fuss. Lust dazu überkommt wohl niemanden, denn man könnte sich in den Weiten verlaufen. Alles ist sehr eintönig: Unter einem grünen Dach der riesigen Blätter hängt an jedem Baum ein einziger racimo,verpackt in blauen Plastik der ihn vor Ungeziefer schützt. Jener verdeckt wiederum die Kunststoffblätter welche jede „Hand“ säuberlich von der nächsten trennen, damit sich diese nicht gegenseitig verletzen, Narben auf den Früchten hinterlassen, was sie für den Export unbrauchbar machen würde. Am Boden verfaulen Blätter und alte Bäume, die bei jeder Ernte abgeschlagen werden. Sie bestehen zu 80% aus Wasser. Das befeuchtet den Boden gibt wieder ihre Nährsalze ab.

Auf dem Flugfeld rollte eine erste Maschine ab, ein polnisches Fabrikat, aufgetankt mit Fungiziden, die über die einzelnen Felder ganz exakt versprüht werden müssen. Eine weitere rückte heran welche unbetankt entferntere Plantagen anflog und auf deren Flugpiste dort die Chemikalien auftanken wird. Alles ist hier sauber, alle Vorsichtsmassnahmen präzise, für jeden sichtbar und verständlich aufgelistet. Diese militärische Nüchternheit kontrastiert mit den Blumenbeeten, die lieblich den kleinen Bürotrakt umsäumen.

Capitan Jorge ist ein ehemaliger Hilton Réceptionist. Er wechselte aufgrund der zahlreichen Gays einer südamerikanischen Fluglinie dorthin als Stewart und bildete sich später zum Piloten weiter. Er hob seine einmotorige Skyhawk mit uns ab. Durch einen immensen grünen Teppich, dessen eintöniges Muster von einigen Kakaoplantagen aufgelockert wurde, krümmten sich Flüsse wie Wasserschlangen. Riesige Crevettenbassins säumten den entfernten Horizont.

Weder der Kakao noch die Crevetten haben etwas mit der ORO BANANAS SA zu tun und doch hat man von hier oben den Eindruck, Don Servios Besitz sei grenzenlos. Der umsichtige, kluge Geschäftsmann, der heute über achtzig itt, hatte seine Unternehmung am 12. Januar 1970 gegründet. Nach und nach baute und baut er sie aus, nicht nur durch ständige Plantagenzukäufe, wie jene 1000 ha. die zu den Seinen im vergangenen September dazukamen. Offensichtlich strebt er eine vollständige Autonomie an.

Die APACSA ist die kleine Fluggesellschaft, die mit 6 Apparaten die Felder präzise besprüht, ihn und seine Familie dorthin bringt, wohin sie ihre Geschäfte rufen. Die NEMALAB sind die eigenen Laboratorien, 1998 gegründet, nach den holländischen Wageningen Evaluation Programmes for Analytical Laboratories ausgerichtet. CABANA SA ist die Lastwagenflotte, die jeden Punkt in Ecuador erreicht, gefüllte Bananenschachteln abholt und vom Puerto Simon Bolivar in Machala in die ganze Welt verschickt. PICKUEL fabriziert den besonderen Plastic zum Schutz der Bananenbüschel, und zur Verpackung. „Aber eine Kartonage besitzt er nicht auch noch, mit denen er seine eigenen Bananen verpackt. Mit 100’000 Schachteln pro Woche à 42lbs, etwa 20kg, zu denen nochmals so viele von seinen Zulieferern kommen, doch auch ein ganz netter Markt?“ fragte ich mit leicht ironischem Unterton. „Nein nein, selbstverständlich nicht. Davon ist er Teilhaber“

Die zahlreichen Arbeitsgänge die sorgfältigst ausgeführt werden müssen, bis wir eine schöne, makellose Banane beissen dürfen haben mir die Leute auf der Finca von Jorge Alex geduldig erklärt und demonstriert. Jede Banane, die billigste aller Früchte bei uns, wird mir in Zukunft dankbare Erinnerungen an all die Angestellten der Bananeros wecken:

Das Umhüllen des jungen, ca. 80cm langen Triebs, das delikate Schützen aller „Hände“, das ständige Beobachten der Blätter indem man die Plantagen Meilen weit, kreuz und quer durchläuft, ob nicht Pilze oder Ungeziefer sie befallen, das Veranlassen geeigneter Gegenmaßnahmen, sei es Besprühen aus der Luft, oder durch Pflanzen und Wespen als natürliches Gegengift, das Inspizieren jedes einzelnen Baumes, von dem nur der beste der weiteren Triebe belassen und die übrigen abgeschlagen werden. Wenn dann nach 9 Monaten der neue Baum seine Frucht gut entwickelt hat, ist die Ernte eine mühsame, noch nicht durch Maschinen rationalisiert wie es heute in den Weinbergen möglich ist.

Die Baumkrone wird leicht gekrümmt, und der ca. 30 kg schwere Bananenbüschel langsam und sorgfältig mit dem scharfen Messer an einem ca. 2m langen Speer abgetrennt, damit er ohne Schaden auf der Schulter der Pflücker landet, welche diese mit einem Luftkissen abgefedert haben. Der Schnitter schlägt die Baumkrone ab, der Pflücker trägt den racimozum nächsten Geleise des Hängelifts, welcher die Plantage alle 50 m durchläuft. Sobald er dort hängt, rollt er langsam zur Verpackung, welche Kilometer weit entfernt sein kann. Schnitter und Pflücker gehen zum nächsten Baum…1 Angestellter pro 2 ha. Auf jeder wachsen 1400-1450 Pflanzen.

Die kleine Finca von Jorge Alex ist „nur“ 30 ha gross. Dank der Übersichtlichkeit werden die Früchte besonders gepflegt und sind entsprechend schön und makellos. Daneben hat er dort noch Melonen, Limetten, Guanabanas, Mangos, Passions- und weitere Früchte die alle mehrmals pro Jahr reifen. Bienen und eine Hühnerzucht erlauben eine paradiesische Selbstversorgung umso mehr, als die Eltern auch noch eine Rinderzucht und Pferde halten.

Und wer ist der wortkarge Don Servio der mit seiner Doña Nancy, der „Reina del Orohotel“ zu den angesehensten Unternehmern der Provinz, wenn nicht gar des Landes zählt? Einer, der im Ruf steht, von den Ersten im Lande zu sein, der all seinen Mitarbeitern die Seguros, die Krankenversicherung bezahlt, was auch heute noch lange nicht überall der Fall ist? Einer, der vom Rotary, und allen Handelskammern geehrt wurde als weitsichtiger Unternehmer, wie man auf den Auszeichnungen im Warteraum vor und in seinem Büro sehen kann? Ist er ein besonderer Günstling des Schicksals? Ist er ein Nabab, der alles in Gold verwandelt, das er berührt?

Schon als wir mit Capitan Jorge auf Quote waren, fühlte ich mich in dieser flachen, eintönigen Weite verloren. Gut, winkte gegen Osten die Sierra aus nicht allzu ferner Distanz. Ob ich hier in diesem Reichtum leben, mein Schicksal mit jenem der Familie tauschen möchte?

Der Geschäftssitz der OBSA ist für hiesige Verhältnisse repräsentativ, mehr gegen innen als nach Aussen, wo Wächter während 24 Stunden alle Eingänge bewachen. Keine Gorillas, sympathische Leute. Überhaupt, ich möchte jetzt endlich einmal einen unsympathischen Ecuadorianer kennen lernen! Alle sind freundlich zu mir in der Firma. Und auch untereinander scheint ein sehr guter, netter Ton zu herrschen. Das jedenfalls glaube ich während meinen Besuchen jeden Tag feststellen zu können.

Don Servios Büro ist rund 100qm gross, wenn man den angrenzenden Konferenzraum mit einberechnet. Kostbar und eher schwer möbliert. Eine grosse, gedrechselte Bibliothek dominiert den Raum, bestückt (und hinter verschlossenem Glas) mit den schönsten Werken von Otard, Marie-Brizard, Rémy-Martin und weiteren, feinsten Likören und Schnäpsen aus der grossen weiten Welt (Ausser aus der Schweiz). Mein aktives Studium und anerkennenden Worte heiterten seine Mine auf, die ich anfänglich als abweisend empfunden hatte. Zum Schluss brachte ich ihn doch noch zum Lachen als ich ihm empfahl, gleich mit dem Austrinken zu beginnen, da es sonst seine Erben tun würden.

Das Büro von Jorge Alex ist halb so gross, sachlich modern, relativ stillos eingerichtet. Auch hier, kein Buch. Kein Zeichen von Kunst, ausser zwei schönen alten Fotos vom Hafen aus den 30er Jahren. Und die zeigen wie Bananen von Hand auf die Schiffe gebracht werden.

Mein Fahrer von heute morgen führte mich am einfachen Haus in El Guabo vorbei, wo der Sohn mit seiner Familie wohnt. „Ach, ich dachte sie wohnten auf der Finca?“ „Das ist hier nicht üblich.“

In der Tat war ich überrascht als wir auf der Finca Tendales herumliefen. Eine solche hat nichts mit den stolzen spanischen Gütern und amerikanischen Ranches zu tun, auf welchen man la douceur de vivre zu pflegen bemüht ist. Das hier ist einfachste, sachlichste Arbeits-Einrichtung. Der einzige Schmuck sind die blühenden Pflanzen, die hier gezogen werden und auch das hat den Anschein einer Grossgärtnerei. Nichts, was der Freundlichkeit der Menschen hier entsprechen würde, nichts Liebevolles, wie ich doch Jorge Alex und seine Frau Paola empfinde. Unverwandt mit der strahlenden Nancy.

Die Stadt hat hier kein Theater. 6 Kinosääle in einem Shoppingmall, das schon. Keine Konzerte. Die Stadt eröffnet demnächst una casa de cultura. Ein Bau von scheusslicher Architektur, eine Imitation, und erst noch eine misslungene, von Kolonialstil.

Doña Nancy und Don Servio haben den grossen Erfolg gekannt und sind gleichzeitig von bittersten Schicksalsschlägen heimgesucht worden, wie ich diese Tage erfuhr: Der älteste Bruder von Jorge Alex ist krank. Eine Magenbandage ist geplatzt. Er ist sympathisch. Er wirkt ungesund und ist fett. Ich verstehe ihn nicht gut. Deshalb vermag ich auch nichts Genaueres über seinen geistig-psychischen Zustand zu sagen, der mir sonderbar scheint. Aber Servio Agusto ist gar nicht der Älteste. Der Erstgeborene kam in der Blüte seiner Jugend ums Leben, als er mit ein paar Jungen Russisch Roulette spielte. Ihn hatte es getroffen. Wie wenn die Familie damit nicht schon genug geschlagen wäre, starb vor 6 Jahren auch die Tochter an Krebs, innerhalb ganz weniger Monate, man spricht von zweien, und hinterliess drei minderjährige Kinder.

Wie trösten sich solche Menschen? Wie bringen sie ihre Fröhlichkeit und Herzlichkeit zu Stande? Jorge Alex hat seine Schwester ein einziges Mal erwähnt und hatte Tränen in den Augen. Ich bin nach dem heutigen Tag, der mir die Dürftigkeit lebendiger Kultur offenbarte, bedrückt. Obschon ich persönlich zeitgenössische Kultur moderat geniesse und oft Mühe mit dem Kulturteil der verschiedenen Zeitungen habe.

Ich versuche, diesen Menschen nach zu spüren, mit ihnen zu fühlen. Entweder hat eine solche Schicksals Bewältigung einen Mangel an Tiefgang an sich, was ich persönlich nicht glaube, dann aber etwas wirklich Heroisches!

Nacht

Die riesigen Hallen, an denen die 40t Trucks anlegen um ihre Last auszuspucken

Hoch oben gleissende weisse Lampen die die Halle in ein unwirlickliches Licht…

Die Schachteln, die im Sekundentakt aus den tiefen Längen der Wagen auf Rollbändern schiessen.

Die dunklen Männer, die sie unermüdlich, immer zwei gegenüber, wie Automaten abfangen und auf die nahen Paletten beigen

Die Wagen leer, die Männer im nakten Oberkörper, glänzend vor Schweiss, den Blick erschöpft und trotzdem stolz, es wieder geschafft haben. Sie treten aus dem Halbschatten, ihre sehnigen, nassen Körper glänzen in diesem Licht , es sind schöne Männer, die in diesem Moment der Erschöpfung an ihre Frauen denken, ein eigenartiger Moment der Lust, jener vergleichbar mit der ermatteten Ekstase.

Freitag, 5. Juni 2009 22.40 Uhr

Koffern gepackt, letzte PC files auf den PC Réception übertragen. Ich fühle mich etwas ausgelaugt. Auch irgendwie unerfüllt, jetzt, wo alles vorüber ist. Ein bisschen wie nach der Lehrabschlussprüfung, als sich trotz gutem Resultat Leere anstatt Freude einstellte. Die Mitarbeiter waren alle sehr, sehr nett und haben eine Riesentorte nach der letzten Mitarbeitersitzung auffahren lassen. Es war ein richtig schönes Vertrauensverhältnis. Die Leute hörten interessiert zu und machten so gut mit, wie sie können.

Auch die Besitzer waren ja nett. Doña Nancy setzte sich etwa zu mir im Restaurant und liess sich von der Machalener Gentry hoffieren. Auch als sie auf Jambeli mit ihren Freundinnen war, lud sie mich gleich an ihren Tisch. Sie erinnert mich an Mutter Amstutz im Hotel Orselina. Wie strahlte sie, wenn alles in Ordnung war und die Gäste an ihrem Tisch wie eine Prozession vor dem Allerheiligsten vorbei zogen. Aber es musste alles in Ordnung sein! Nancy übersieht grosszügig Dreck und Nachlässigkeit.

Jorge Alex steckt bis über die Ohren in wichtigeren und sicher auch einträglicheren Arbeiten. Er hat mir jedes Mal sehr nette Mitarbeiter auf die Ausflüge mitgegeben, sei es nach Zaruma, wohin er nicht kommen konnte, sei es auf die Plantage. Auf die Plantage sogar den Supervisor, und zwei Piloten überflogen mit uns in mehr als einer Stunde Besitz und Gebiet. Bei seinen Blitzbesuchen haben wir auch etwa einen Früchteteller zusammen gegessen, nachdem ich auch einen verlangt hatte.

Nach mehrmaligen Aufforderungen und halben Einladungen habe ich heute Doña Nancy zugesagt, um 18 Uhr zu ihr in ihr Haus nach el Guabo zu kommen. Voller Stolz hat sie mir das ganze bemerkenswert grosse Anwesen gezeigt, mit den vielen Pflanzen und Blumen und vor allem ihre zahlreichen und sehr schönen Orchideen. Eigenartig. Das ganze Areal ist sicher über eine ha. gross und von einer 2.4 m hohen Mauer umgeben. Unmittelbar daran und gleich neben ihrer Villa über dem kleinen Rosengarten, erheben sich jene armseligen Häuser mit direkter Sicht in den Garten! Tja, das sind halt los vecinos, die Nachbarn meinte sie Achsel zuckend. Ein grosses Haus von schwer verständlicher, verwinkelter Architektur, mit kostbaren, schweren Möbeln überfrachtet.

Man sass ein bisschen im Salon, sie hat mir die Herkunft der zahllosen Vasen und Nippes erklärt und freute sich, dass ich die chinesische Schwarzlakierung erkannte, das Herend Porzellan, das Kristall aus Böhmen, die Eier von Fabergé (vemutlich falsche) usw. Die Gespräche waren jene Belanglosigkeiten einer Cocktailparty, ohne irgendeinen Bezug auf die Familie oder aufs Hotel. Vielleicht streifte man einmal das oder jenes, um danach schnell ein anderes, unverwandtes Thema anzuschneiden. Danach sass man in das Frühstückszimmer neben der Küche. Sie offerierte mir ein Glas Sojamilch. Am TV lief eine der Serien, die auch hier um 18 Uhr laufen, das Telefon läutete genau acht mal, sie schenkte mir zwei peruanische Figuren die ich vermutlich in Guayaquil zurücklassen werde und dann ging ich wieder.

Nie waren Paola, die nette Frau von Jorge Alex, mit ihren Kindern auf Jambeli. Möglicherweise ein Zufall. Jorge Alex sagt es auf jeden Fall so. Mir hinterlässt das einen etwas schalen Geschmack. Nie war man einmal einfach zusammen, trank ein Glas und spasste. Die Treffen mit Jorge Alex hatten immer einen geschäftlichen Hintergrund.

Bin ich zu anspruchsvoll? Erwarte ich zuviel? Ich habe ja eigentlich einen Monat gratis für die gearbeitet. Dass man mich immer und überall fragt, wann kommst du wieder, das reicht mir nicht. Im Gegensatz dazu waren die Kontakte mit den Mitarbeitern anders, erfüllender obschon auch diese ausschliesslich beruflich waren. Ist diese Gesellschaftsschicht einfach so, mit dieser ständigen Befürchtung, es könnte persönlich werden? Jorge Alex wird mich morgen mit seinem persönlichen Bodyguard in seinem Auto nach Guayaquil chauffieren lassen. Ich denke, das ist hier einfach so. Man macht das einfach nicht anders.

Eines glaube ich nicht, dass ich verletzt bin weil man mir die Ehre nicht angetan hätte. Diesbezüglich war ich lange Jahre empfindlich. Das habe ich nun doch Jahre hinter mir und dafür habe ich mich in der Arbeit selber einfach zu wohl gefühlt und mich amüsiert dabei. Offenbar bin ich noch immer ein Hôtelier unserer Generation, die von einer gewissen Harmoniesucht geprägt ist.

Samstag, 6. Juni 2009

Gepackt hatte ich schon am Vorabend, nachdem ich mir ein Filet Mignon gegönnt hatte, das hier an die 300 gr. wiegt. Nach der ausgiebigen Früchte Kur war ich schon nach weniger als der Hälfte satt.

Ich erwachte um sieben, schüttelte noch die letzten Hände. Es war rührend. Wer mir dankte, für alles was ich ihnen beigebracht hatte. Du musst wiederkommen! Und die liebe ältere ama de llaves, die Gouvernante, hatte fast etwas Tränen in den Augen. Sie reagierten deshalb so, weil endlich einmal jemand sie begleitete, anhörte, ihre Anliegen formulierte, weiterleitete und verschiedene Lösungen vorschlagen konnte.

Um 8.30 Uhr kam Young, Jorge A’s Bodyguard, brachte mich ins Büro, wo sein sich Chef und Socrates, der fröhliche, blitzgescheite Direktor der Getränkefabrik zum Abschlussgespräch einfanden. „Nachdem deine Eltern das Hotel auf keinen Fall schliessen wollen, seid Ihr zu investieren verdammt. Oder willst du, dass es heisst, das schmuddeligste Haus am Platze sei jenes der Serranos? Oder was Gott verhüten möge, bei einem Brandfall Leute drinn verbrennen nur weil die Serranos keine Feuerausgänge und Löschstränge installiert haben?“ Herzliches gegenseitiges Verdanken, ein letztes Foto der beiden für welche Socrates schnell seinen prominenten Bauch einzog. „Socrates, meine Kamera ist plötzlich so schwer! Wenn ich wegen dieser Aufnahme beim Rückflug Übergewicht bezahlen muss, schicke ich dir die Rechnung!“ Lachen, Umarmen, Abreise.

Wir kommen jetzt in Guayaquil an. Die Stadt ist ziemlich gefährlich“ meinte Young und legte seine entsicherte Pistole in Griffnähe. Ich weiss das aus den Nachrichten am TV. Täglich sah ich sie mir an, den ich ass immer alleine. Unglücksfälle und Verbrechen, das absolute Lieblingsthema der Ecuadorianosund zu 90% aus dieser Stadt, flimmern täglich in aller Deutlichkeit über die Tische der Cafetería las Tejas“, wie das Restaurant im Orohotel heisst. Guayaquil ist etwa so wie New York in den 50er und 60er Jahren, lange vor Rudi Giulianis Einzug als Mayor der Stadt.

Im Zentrum vergisst man das schnell: „Willkommen zurück in der Zivilisation!“ sagte ich mir beim Anblick der Bäume und Blumen, die hier die Strassenseiten trennen, beim Anblick von schönen Schaufenstern, vom Rathaus, dessen Galerie an jene von Vittorio Emanuele in Mailand erinnert und von Eiffel entworfen wurde. Das Hotel Continental, Hilton artig, wo alles stimmt aber ohne übertriebenen Luxus, mit einem angenehmen Arbeitsplatz im Zimmer an welchem ich diese Zeilen jetzt eintippe, Guest amenities von internationalem Flair, einfach herrlich!

Ein schneller Lunch und ab auf den Malecon, die schicke Promenade entlang der Küste. Wenn man von dort auf die weite Bucht hinaussieht, verspürt man sofort die Weltoffenheit dieser Stadt. Hier landeten die Spaniervor 500 Jahren . Seeräuber und Korsaren fielen hier ein, finanziert von Spaniens Gegenmächten, die sich damit ebenfalls ein Stück vom fabelhaften Goldschatz und vom Kakao holen wollten. Dieses historische Bewusstsein verdrängen auch die modernen Hochhäuser nicht. Weltläufigkeit vermitteln einem die vor gelagerten Inseln. Malerisch versperren sie den Blick aufs offene Meer und regen damit die Sehnsucht nach der weiten Welt erst recht an. Mir will scheinen, als wären diese langgezogenen Inseln Guayaquils Bikini…

Sonntag, 7. Juni 2009

Die Heimreise, die näher rückt macht es, dass ich wieder ins Deutsche zurückfalle. So sehr mich Guayaquil begeistert und ich den Besuch hier keinesfalls missen möchte, ich freue mich nun sehr, wieder zu Hause zu sein.

Über Mittag war ich im Parco historico, einer Art städtischen Ballenberg Museums, eingebettet in die Botanik Ecuadors. Eine geschickte PR Aktion des Banco Central del Ecuador, der sich die Unterstützung sämtlicher Museen und die eigene Entwicklung einiger eigenen zur Aufgabe gemacht hat. Die 34° machten mich nicht sonderlich unternehmungslustig. So genoss ich hauptsächlich den Tropenwald, in welchem zahlreiche Tierarten, die alle mehr oder weniger bedroht sind, in einer Art Zoo gehalten werden. Grossbürgerliche Häuser, die früher am Malecon standen und durch Hochhäuser ersetzt wurden, sind dort wieder aufgebaut worden wie jenes des Dr. Coronel, dem Begründer der medizinischen Fakultät von Guayaquil. Ebenso das Hospicio welches, man höre und staune, im Zuge des frühen Kapitalismus soziale Aufgaben erfüllte.

Zwei Stunden in der Hitze reichten mir. Mein Taxi fuhr mich ins Hotel zurück, wo ich eine Stunde tief schlief und danach den Expreso de Guayaquil las. Für den Abend hatte ich mir den Cerro St. Anna und La Peña vorgenommen, ein Hügel am Ende des Malecons, an dem farbige Häuser kleben und wo sich viele sehr einfache touristische Restaurants befinden.

Auf der obersten der der nummerierten Treppenstufen angelangt, genau an der 437. begann ich mit meiner Minikamera zu fotografieren sobald ich mich an die überwältigende Aussicht gewöhnt hatte. Plötzlich fand ich mich von vier Gassenjungen umrahmt. Ich erinnerte mich der Erzählung von Nancys Freundin, welcher ein solcher Junge die Ohrringe abgerissen hatte, als sie am Rotlicht wartete um die Strasse überqueren zu können.

Nun, wir werden schon sehen wie das ausgeht“ sagte ich mir und zeigte ihnen geduldig die Aufnahmen, beantwortete die Fragen zur Kamera, woher ich sei und wo denn die Schweiz überhaupt sei usw. Sie begleiteten mich bis ganz hinauf zum Faro.Mit wachsender Begeisterung erklärten sie mir die verschiedenen Stadtteile. Staunten, wie man auf der Aufnahme den Mond zu sehen bekam, der fürs Auge noch von Wolken verdeckt war. Kevin,der Gescheiteste und mit 14 Jahren auch der Älteste von allen, zeigte sich aufgeweckt und von sehr guten Manieren. Er liess mir immer den Vortritt, erzählte, dass seine Mutter in Spanien arbeite und er bei seiner abuela,der Grossmutter aufwachse. So nett und unschuldig es war, mir wird bei derartigen Gelegenheiten immer mulmig zu Mute, als Pädophiler verdächtigt zu werden. „Habt Ihr Lust auf ein Eis? Ich möchte nun langsam zurück.“ Ich kaufte vier an einem Kiosk, verabschiedete mich indem ich ihnen empfahl, unbedingt Englisch zu lernen. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass natürliche Freundlichkeiten nicht möglich sein sollen, nur weil einige Verkorkste und krank Veranlagte Missbrauch betrieben.

Sie würden auch nach Hause gehen und mich noch ein Stück weit begleiten meinten sie und so war mein erster Versuch gescheitert, mich von ihnen zu befreien. Sie waren zu freundlich und zu neugierig, um sie einfach weg zu schicken. Vor dem IMAX meinte Kevin treuherzig, dass sie noch nie in einem Kino gewesen wären.

Im Geiste hörte ich schon Margots warnende Stimme, wie lange ich mich wohl noch ausnehmen lassen wolle und überhaupt, dass ich mich nur zu solch übertriebenen Gesten hinreissen lasse weil ich zu schwach sei, nein zu sagen und es offenbar noch immer nötig habe, mich als Gutmenschen wenn nicht gar als Benefactor feiern zu lassen.

Warum soll ich ihnen den Eintritt nicht bezahlen? Antwortete ich ihr im Geiste, als ich die Billete löste.“ Die insgesamt $14 entsprechen doch gerade Mal dem, was ein anständiger Christ bei der Sonntagsmesse in den Opferstock gibt, oder? Im Übrigen: sähe die Welt nicht besser aus, wenn alle, die es sich leisten können, denjenigen denen es weniger gut geht etwas entgegen kommen würden?“ Margots Geist verstummte und die vier dankten es mir mit einem herzlichen Händedruck. „Cuidadote! Pass gut auf dich auf, verlass den Malecon nicht. Hier hat’s überall Polizei und so kann dir nichts passieren!“

Zu Mittag hatte ich nur einen platano asado, eine gegrillte grüne Banane gegessen und in Glas Maracuya dazu getrunken. Ich verspürte Lust auf ein schönes Dîner. Der Yacht Club war geschlossen. Im Grillroom des Hotels hatte es sechs Gäste. Die drei Gänge mit zwei Gläsern Chardonnay kosteten $ 63. 25% mehr als der Wochenlohn eines Arbeiters auf den Bananenplantagen. Ich habe es genossen.

Montag, 15. Juni 2009

Je suis bien rentré, après un vol agréable, malgré la durée exagérée du voyage: Parti de l’hôtel Quito à 6h du matin, rentrée à Minusio à 10 h du lendemain. Déduction faite du fuseau horaire, cela fait exactement 21 heures…

Quelle sont les conséquences que j’en tire, avant même d’être remis du jet lag ?

Tout d’abord, que l’absence de distractions de tout genre m’a fait du bien. C’est ce qui m’a permis de me concentrer sur ce qui se passe effectivement et sur ce qui ne se passe pas. De décrire ce que je ressentais, dans mon alcôve isolée. De châtier mon écriture. Vus les échos des nombreux amis « qui j’ai fait bénéficier de ces effusions » cela semble m’avoir réussi. Je ne me suis point ennuyé et, j’ajouterais non sans surprise, étais surpris de la bonne compagnie que je tenais à moi-même. Surpris aussi de l’exigence envers les femmes. Un joli visage et le corps bien moulé ne me suffisaient plus. La tête, ce qu’il y a dedans, voilà ce qui me faisait du bien. Combien me semble loin le temps où mes aspirations allèrent surtout vers un confort sentimental !

Être défié dans tous les sens par ma mission fût une cure de jouvence. La problématique fût aussi complète que complexe, dans une langue que je ne maitrise pas comme le français ou l’italien, et d’une mentalité et de niveaux d’instruction souvent différents. Avec tout ceci venir à bout dans ces quatre semaines. Je pense avoir bien réussi et en suis content.

Ce qui m’a manqué ? Peut-être le temps pour mettre en pratique ce que nous avions élaboré tous ensemble. Il est bien naturel que la confiance s’était établi dans l’esprit et le cœur des employés seulement après trois semaines. C’est là qu’ils on commencé à s’ouvrir, à se confier. Il m’aurait fallu deux autres semaines pour mieux entrainer les standards, accompagner chacun, du moins les cadres, les encourager encore plus à réaliser leurs nombreuses bonnes initiatives et de prendre les responsabilités qui en découleront. De faire les efforts nécessaires de la capacitación, d’apprendre l’anglais ! Jorge Alex, le fils de propriétaires, est maintenant mûr et préparé pour les changements qui s’imposent et, me parait-il, disposé à honorer ceux qui se mettent en avant.

En ce qui me concerne, je suis heureux et reconnaissant pour ce défi. Physiquement je me sens en très bonne forme. Je suis de nouveau en dessous des 75kgs fatidiques, ma pensée est plus rapide, décisive qu’avant mon départ. C’était bien. Merci, sort, ange gardien ou qui  m’a guidé vers l’Ecuador : tu as bien fait les choses !

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Tagebuch Ukraine
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36.1.  Anhang: Ecuadorianisches Tagebuch - Journal équatorien – Tagebuch Ukraine.

5. Reise 2012: Kiew, Kahrkov, Lvov. 16. November – 1. Dezember 2012

 

Samstag, 17.11. 6 Uhr

 

Eigentlich ist es ja schon 7 Uhr. Man geht eine Stunde vor hier. Gut hatte ich geschlafen, döste aber bereits eine gute Stunde vor mich hin. Jene Unruhe erfasst mich wie jedes Mal vor etwas Unbekanntem. Jenes Unbekannte, wofür ich diese Mandate ja immer wieder antrete.

 

Dabei bin ich hier noch nicht auf terre inconnue. Eveline, die Sekretärin der belgischen Botschaft hat mich und Oksana in ihrer Wohnung willkommen geheissen, wie immer, wenn ich in die Ukraine komme und in Kiew bin. Oksana ist nun eine Assistentin der Swisscontact Verantwortlichen für das Land. Bei ihrer Familie wohnte ich bei meinem ersten Mandat, 2006, in Bar, Vinnitsa. Wir sind immer im Kontakt geblieben und einmal hatte ich die beiden für eine Woche ins Tessin eingeladen, 2008 war es, glaube ich.

Sie haben mich gestern am Flughafen abgeholt, Borscht, Pielmeni und eine Apfeltorte zum köstlichen Abendessen zubereitet wofür sie lange in der Küche gestanden sind, die Lieben. Wir haben einige Fotos angesehen, von Oksanas neuem Haus, das sie 2009 mit ihrer Familie, unweit von Bar bezogen hat und seither daran herum werkelt. Jenes von Evelines, das sie für ihren Ruhestand in 7 Jahren ausbaut und renoviert. Beide wohnen in der tiefsten Provinz, Eveline etwa 150km von Kiew entfernt. Der nächstgrössere Ort ist 7km von Evelines Haus entfernt. Es soll eine gute Klinik dort geben und alles, was man halt so braucht.

Neuntausend Euros hat Eveline dafür bezahlt und investiert nochmals etwa fünfundzwanzig Tausend bis sie es ihren Wünschen entsprechen wird. Ihre Absicht ist es, den Sommer über hier und im Winter in Belgien zu leben. So komme sie mit ihrer Rente, die klein sein würde, besser zu Recht. Ihr Beruf der Botschaftssekretärin wurde vom Staat Belgien aufgehoben, wie in allen Nationen. Diese Funktionen werden nun von Einheimischen zu günstigeren Konditionen ausgeführt. Wohin das führt, haben wir in der Schweiz vor einigen Jahren erlebt mit den Visas, die nun eben korrupt gehandelt werden. Doch das ist eine andere Geschichte.

Eveline hat die letzten 2 Jahre in der belgischen Botschaft von Moskau gearbeitet, ist seit Juli zurück und richtet ihre einfache Wohnung mit Geschmack ein. Frisch, welterfahren und etwas studentisches hat das Ambiente. Eveline ist alleinstehend. Nie hatte sie die Absicht gehabt zu heiraten. Als Kind der dritten Generation wohlhabender Fabrikanten musste sie miterleben, wie ihre Eltern ihr Vermögen verprasst und eine miserable Ehe geführt hatten, wo Alkohol, Spiel und Prügel den basso continuo bildeten. Ob sie deshalb so wenig auf ihr Äusseres legt und gelegt hat, seit ich sie kenne? Sie hat etwas alternatives an sich, modefeindliches. Dabei könnte sie sich sehr gut präsentieren, wollte sie das.

Oksana hingegen ist mit einem schönen und liebenswürdigen Faulpelz verheiratet. Ihre Familie habe ich schon früher beschrieben. Die Kinder sind wohl geraten, Vannja studiert Forstingénieur und hat noch immer das Kochen zum Hobby, Vassilina arbeitet als Fremdenführerin in Tschernobyl.

Es ist grau und neblig draussen. Margot hatte möglicherweise doch recht, mich nicht zu begleiten. Es ist nicht die gute Jahreszeit. Die Wohnung liegt im dritten Stock und gibt auf die Baumkronen einer grossen Grünfläche hin, einziges Vis-à-vis ein Hochhaus etwa 500 m entfernt, die anderen Wohnhäuser sind niedrig und rahmen diesen Park rechteckig ein.

Wir sind am Abend mit gemischten Erwartungen in die Oper gegangen. Ein modernes Ballett, vom Komponisten dirigiert. „Wenn's uns nicht gefällt, gehen wir nach der Pause“ meinte Eveline. In der Tat hat es uns nicht gefallen; wir waren hingerissen! Der 75 jährige Miroslav Skorek war schon in sowjetischer Zeit ein anerkannter Komponist, mit zahlreichen Auszeichnungen. Sicher gehört seine Musik nicht zu der progressivsten, doch welch schöne Harmonien gehen in zeitgemässe Tongebilde über und zurück, in seinem Stück „Carrefours“, Wegkreuzungen. Das Bühnenbild wurde projiziert, mechanische Drucke von Schnüren aus dem 19 Jh, schlicht und grossartig, dessen Wirkung von den Tänzern noch überboten wurde. Wie sich herausstellen sollte, ist Miroslav Skorek der Cousin von Olgas Vater Jaroslav.

Dem Wetter zufolge verspürten wir wenig Lust, nach einem Restaurant oder Kaffee Ausschau zu halten, soupierten gemütlich und einträchtig zu Hause. Sonntags kurzer Besuch in einem Kloster, wo die innbrünstig Gläubigen eine Ikone aus Moskau verehrten, die hier für einen Monat ausgestellt wird, Mittagessen in einem russischen kleinen Restaurant und ab nach Kharkov.

Donnerstag, 22. November 2012: Willkommen in Kharkov!

Ob die schon 25 ist?“ fragte ich mich, als sich am Samstag, 17. November, ein blondes, luchsartiges Geschöpf im riesigen, leeren Flughafen auf mich zu bewegte, wo gerade mal sechs Flugzeuge standen. Bei ihrem Anblick dankte ich sofort meinem Schutzengel für all die Jahre die er mir gegeben hatte. Ich wagte mir nicht nicht vorzustellen, was passierte, wäre ich nur halb so alt wie jetzt gewesen.

Anna Viktorovna Larina. Ich heisse Sie, Gospodin Jürg Thommen, in der Ukraine herzlich willkommen“. Nach Austausch recht formeller Begrüssungsfreundlichkeiten wies sie auf ein grösseres, Schuppenartiges Gebäude hin: So sei es vorher gewesen, erklärte sie. Den Flughafen habe man speziell für die Fussball Europameisterschaften gebaut.

Sie fuhr mich in ihrem Range Rover in die Stadt, die die zu Sowjet Zeiten das Rüstungszentrum der UDSSR war. Ich erwartete eine Industriebrache, die ihre Bestimmung sucht. Was für eine Überraschung: breite Avenues wie in Paris, die stalinistischen Prachtbauten kommen in der grossen Weite toll zur Geltung. 30 (dreissig!) Universitäten gibt es hier, 80 Bibliotheken, 7 Theater und zahlreiche Museen. Die Stadt ist voller junger Menschen, welche über riesige Plätze schlendern, von denen jener der Freiheit der grösste auf dem europäischen Kontinent sein soll.

Anna Victorovna Larina ist einunddreissig und führt ihr Geschäft, Elite Time, selbständig seit 2006: Vermietung von nunmehr ca. 80 möblierten Wohnungen, Übersetzungsdienste und ein Reisebüro im Aufbau. Ja, die Organisations-probleme im Betrieb seien gross, meinte sie auf meine Frage nach der geschäftlichen Entwicklung seit unseren ersten Mail Kontakten. Dabei ging es um das Buchungssystem: Jede Assistentin betreut „ihre“ Kunden, die dann auch rund um die Uhr anrufen, während 7 Tagen die Woche. Der Bonus einer jeden ist abhängig von der Anzahl der Reservierungen, was eine Vertretung untereinander verunmöglicht. Zum andern sind Organisation und Kontrolle der Reinigungsfrauen der Wohnungen zu verbessern, welche verstreut über die riesige Stadt liegen.

Im Vergleich zu dem was aber jetzt anstehe, seien jene Probleme zu ihren liebsten geworden. Wären die Ereignisse nicht so kurz vor meiner Anreise passiert, hätte sie meinen Besuch abgesagt: Man wolle ihr ihr Geschäft wegnehmen! Ein früherer Geschäftspartner, der ihr damals drei Wohnungen zur Vermietung überlassen hatte, war zur Ansicht gekommen, dass dies nicht ein Geschäft für eine Frau sei und er die Aktien übernehmen würde. Im Oktober hatte sie das Ansinnen abgewiesen und die Beziehung abgebrochen, die, wie ich später hören sollte, eben nicht nur geschäftlich war. Wie viel er denn dafür geboten habe? „Ach, ich dachte, Sie kennen die Ukraine, Gospodin Thommen? Hier bezahlt man nicht. Hier nimmt man“.

Vor zwei Wochen seien plötzlich Polizeibeamte in ihren Büros aufgetaucht und hätten wegen Steuerhinterziehung grosses Aufheben gemacht. Die ersten „Besuche“ konnte sie mit 1000 US$ beilegen. Einige Tage später kamen andere und dann noch andere, die sie ebenfalls mit Geld abzuspeisen vermochte. Die letzten aber hätten sie und drei ihrer Assistentinnen an Handschellen während Stunden im Konferenzzimmer eingesperrt, das Büro komplett durchsucht und durchwühlt.

Haben Sie in der Stadtverwaltung nachgefragt was da los sei oder wenigstens einen Advokaten beigezogen?“

So einfach ist das nicht. In der Stadt weiss man nie, wer mit wem verbandelt ist. Gott sei Dank habe ich in Kiew Beziehungen. Man wird dort im Zentralregister nachforschen, ob effektiv was da dran ist.

Anna Victorovna war all die Tage sehr angespannt. Am Mittwoch dann eine erste Erleichterung. In den Straf- und Suchregistern habe man nichts ist gegen die Elite Time gefunden. Doch solle man den schriftlichen Bericht abwarten.

Ich bin heute Freitag, 23. November gegen 10 Uhr ins Büro gekommen, nachdem ich zu Hause das Motivations-meeting für Anna und ihre sechs Assistentinnen in groben Zügen für den Nachmittag vorbereitet hatte.

Auf Annas Büro lag die definitive Bestätigung, dass die Steuerbehörden keinerlei Untersuchung veranlasst hätten. Die Damen konnten aufatmen und waren leicht fürs Geschäftliche zu motivieren! Die vergangene Woche war ja so was von anstrengend; der Verursacher der Aufregung war offensichtlich ihr ehemaliger Partner, die Durchsuchung der Büros sein „coup monté“.

Kein Gericht wird wegen Steuerhinterziehung klagen, denn wir hinterziehen alle. Wollte man dieses Vergehen ahnden, müsste man alle Ukrainer einsperren!“ meinte Anna. Nun sind alle beruhigt. Für dieses Mal. Nie ist es eine Garantie auf immer. Zu viele sind es, welche die Rechtsunsicherheit zu ihren Gunsten ausnützen wollen.

Anna wird am Montag Nachmittag für die Woche nach Dnjepropetrowsk fahren, wo sie einen Managementkurs absolviert. Sie meinte, meine Präsenz sei während ihrer Abwesenheit besonders wichtig. Ich würde Ruhe bringen, bei gleichzeitiger Erarbeitung der Verbesserungsvorschläge.

Nettes Abendessen mit der zuckersüssen Nastassja, ihrer 6 jährigen Tochter Annas, nach einem kurzen Besuch im Skrovorni Kloster. Auf den Besuch im Park verzichtete ich, nicht zuletzt weil ich nicht einsah, was es wohl in dunkler Nacht in einem Park zu sehen gäbe.

Am Montag 18.11. 2012 vormittag

hatte sie mich ihrer Ex-Schwiegermutter, Dozentin für Architektur für eine Stadtführung anvertraut. Interessanter Morgen, obschon ich kaum die Hälfte verstanden hatte, da Tatjana nur Russisch spricht. Business lunch und Hotelbesichtigung im Kharkiv Palace, extra für die Fussball Europameisterschaft gebaut. Elegant, standardisierter, durchgezogener Luxus in Mahagoni-braun. Zimmer 160 – 300 €, die Suiten bis 500. Ein drittel unserer Zimmerpreise in der Schweiz, die sich bei der gegenwärtigen Belegung sicher noch diskutieren lassen würden. Am Nachmittag Besichtigung einiger weiterer Wohnungen von Elite Time. Ich war aufs erste mit meiner Unterkunft nicht allzu glücklich hier. Die anderen Logis sind zwar schöner, befinden sich aber in Häusern mit noch schäbigeren Treppenhäusern und vom Büro zu weit entfernt. Hier muss ich nur über die Strasse.

Abends übergab mich Anna Viktoria, der Assistentin für den Aufbau ihres Reisebüros, die sich auf netteste Art ihrer Aufgabe entledigte: Der Gorki Park ist eine Art Tivoli mit einer Chilbi, die einen guten Teil derjenigen unseres Knabenschiessens ausmacht. Sogar mit einer elektrischen Schmalspurbahn, die Wagen in etwa halber Grösse jener der Rhätischen Bahn! Wir blieben nicht sehr lange. Die Kälte entmutigte die Kharkiver es uns gleich zu tun.

Dienstags 19.11.2012

Sitzung am Vormittag mit dem Zuständigen für den Unterhalt und Besuch weiterer Wohnungen um einen Eindruck des Angebots von Elite Time zu haben. Abends Sitzung mit dem Programmierer der neuen Website, welcher offensichtlich sachverständig ist. Dank dem Studium von Martin Küttels Leitfaden und cd ist mir klar, was es für eine touristische Website braucht.

Die Besprechungen werden laufend unterbrochen durch Handy Anrufe. Die Kunden sind alle auf „ihre“ Assistentin fixiert, deren Bonus von der Anzahl der Reservierungen abhängt, sodass man es sich nicht erlauben kann, nicht zu antworten. 7 auf 7 Tage. 24 auf 24 Stunden. Trotzdem verlieren die Frauen den Faden der Sitzung nie. Wer schnell rausgeht, springt danach sofort wieder auf den fahrenden Zug. Alle 6 Frauen haben einen Master Universitätsabschluss, sind rasch im denken und handeln. Sie sind in den zwanzigern und kommen alle von der gleichen Uni, die Anna durchlaufen hat. Unkompliziert, charmant, klug, hübsch. Kokett sind nur Olga, Jana, Natalja. Natascha und Nadeshda sind es nicht. Und Nina Alexandrovna die Hauptbuchhalterin ist gut über fünfzig. Sie schon gar nicht. Alle begegnen ihr mit Respekt, was sich schon darin äussert, dass sie mit ihrem Patronym Alexandrovna angesprochen wird, dem Vornamen ihres Vaters. Wäre ich von hier, würde man mich mit Jürg Ernestovitsch anreden Patrick mit Patrick Jürgovitsch und Claudine mit Jürgovna.(Oder Jürgovitschova?)

Was den anderen Damen an Koketterie abgeht, kompensiert Anna Victorovna allemal: Langgliedrig, Luchsartig, mit schön geschwungenen Lippen, herrlich gewölbtem Busen kleidet sie sich sehr modisch und sorgfältig. Hätte ich die Hälfte meines Alters wäre ich dieser blitzgescheiten Schönheit möglicherweise total verfallen. Mein heutiges aber erlaubt mir einen zweiten Blick. Dieser zweite Blick offenbart, dass da nicht alles von der Natur geschenkt wurde und meine Bewunderung für all die Schönheit zur Hälfte dem Chirurgen für sein ausserordentlich hohes Können zusteht. Ob mir es gefallen hätte, dass sich Margot nachhelfen liesse? Wohl kaum. Aber ich schmunzle ob der täglichen Modeschau.

Alle diese Frauen haben ihr Schicksal: Tatjanas Mann verliess seine Frau und Kind, zahlte keine Alimente, klaute ihr Auto und brannte durch. Er wurde geschnappt und sass ein. Beim Rauskommen bat er seine Frau, die Klage zurück zu ziehen, er würde die Alimente bezahlen. Was sie tat und er nicht. Die Hälfte ihres Salärs von 1000€, was für die Ukraine sehr hoch ist, braucht sie für die Miete. Mit dem Rest muss sie sich und das Kind durchbringen.

Jana wurde von ihrem Freund sitzen gelassen als sie schwanger war. Natalja hat auch ihr Kreuz, doch erinnere ich mich nicht mehr genau daran. Annas Eltern waren beide Musiklehrer und verdienten zusammen 400 €. Davon gingen immer 100 auf die Seite um Sohn und Tochter das Studium zu erlauben. Ihr Bruder ist Elektroingenieur, glücklich verheiratet mit zwei Kindern. Sie beide haben es geschafft.

Maxim, Annas Ex, ist Architekt. Als sie heirateten, war er arbeitslos und als er nach einem Jahr etwas fand, hatte er keine Lust zu arbeiten. Er begann, wenn auch moderat, langsam zu trinken. Als nach drei Jahren die Tochter geboren wurde fand er die Umtriebe zu anstrengend für ihn und zog zu Mamma zurück. Nach acht Jahren reichte Anna die Scheidung ein und erst als Maxim alleine war, begann er wieder Sport zu treiben, hörte auf zu trinken und ist heute erfolgreich. Sie sind wieder gut befreundet, Maxim hilft Anna wann immer nötig, aber die Liebe sei gestorben, meint sie.

Bis jetzt entwickle ich meine Verbesserungsvorschläge weitgehend alleine, informiere zwischen zwei Türen und hole mir die Bestätigung, auf dem rechten Weg zu sein. Alles ist immer im Fluss, zwischen zwei Türen, Besuchen oder unterbrochenen Besprechungen. Und trotzdem, die machen's gut! Vermutlich werde ich mir eine Gouvernante aus der Schweiz holen müssen um die femmes de ménage einzufuchsen. Wir werden sehen.

Samstag, 24. november 2012

Es ist 17.30 Uhr, ich bin etwas erschöpft. Nicht müde, das ist etwas anderes, körperliches. Ich bin es geistig. Dabei bin ich ja ganz allein, ohne jeden Druck. Und trotzdem. Ich brauche erstaunlicherweise etwas Ruhe.

Ich bin heute gegen 10 Uhr ins Büro gegangen, nachdem ich zu Hause das meeting in groben Zügen vorbereitet hatte, um Anna und vor allem ihre Damen wieder etwas zu motivieren. Anna wird am Montag Nachmittag für die Woche nach Dnjepropetrowsk fahren, wo sie einen Managementkurs absolviert. Die Woche war ja recht anstrengend, erst gestern traf die definitive Bestätigung ein, dass mit den Steuerbehörden wirklich nichts sei und die Damen aufatmen konnten. Für dieses Mal. Nie ist es eine Garantie auf immer. Zu Viele sind es, welche die Rechtsunsicherheit zu ihren Gunsten ausnützen wollen.

Es gab auch hin und wieder Geschrei in den Büros. Die Oktoberlöhne sind auch noch nicht bezahlt. Die Ukrainerinnen sind schön, aber ziemlich schnell giftig. Das legt sich dann wieder sehr schnell und man macht weiter, ein Herz und eine Seele. Man sagt ja, die Ukrainer wären die Italiener des Ostens. Etwas scheint schon dran zu sein.

Na ja. Vor der gewünschten Sitzung hatte ich von Anna verlangt bekannt zu geben, wann ihre Mitarbeiterinnen ihr Geld sehen werden. Sonst ist die Motivation schwierig. „Senza soldi, l'amore non si fa.“ Hat internationale Gültigkeit.

Russisch mache ich überhaupt keine Fortschritte: Anna und Olga reden nur französisch mit mir, denn jetzt haben sie ja endlich wieder die Möglichkeit, es mit jemandem zu praktizieren. Nächste Woche wird's dann in sprachlicher Hinsicht besser. Ich bedaure, dass ich Anna nicht mehr sehen werde. Sie ist intelligent und lustig. Wir essen täglich miteinander zu Mittag im Restaurant, dass sich im Parterre des Bürohauses befindet. Würde ich mit ihr in einem Schweizer Restaurant auftauchen, würden alle verstohlen nach uns blicken, aha, der Alte hat aber ein attraktives Häschen. Hier kümmert das niemanden.

Sie hat mich zum Mittagessen zu sich nach Hause eingeladen, für 14 Uhr, und mich gebührend vor ihren Kochaversionen gewarnt. Kurz vor zwei verschob sie dann nochmals um eine Stunde. Das erlaubte mir, den Rapport fertig zu stellen, der eigentlich für Ende nächster Woche vorgesehen ist. Sie liest ihn jetzt bis morgen, und wird mir dann sagen, wo sie Vertiefung wünschst.

Es war lustig. Viktor, ihr Vater war da. Siebenundsechzig. Ein verbrauchter, alter Mann, der seit Annas Scheidung zu der Tochter Nastassja sieht. Maxim, ihr Ex, verbringt jedes Wochenende mit seiner kleinen Tochter. Die Kleine war furchtbar schüchtern. Als sie aber die zwei Tafeln Schokolade sah, war alle Schüchternheit weggeblasen, sie sang und tanzte zu Grossvaters Klavierspiel. Nach anderthalb Stunden ging Anna ins Fitness, Maxim und Nastassja blieben noch ein wenig, gingen dann spazieren. Viktor spielte für mich. Beethoven, Jazz und Chopin. Musiklehrer war er und spielt auch heute noch gut. Viktor hinkt, scheint an Ischias zu leiden, sodass er mich nicht wie vorgesehen zurück begleiten konnte. Doch Anna kam bereits nach einer halben Stunde wieder und fuhr mich nach Hause. Ich bedankte mich für ihr Angebot, etwas für mich heute Abend zu arrangieren. Ich bin ganz gerne alleine. Es war schön, in eine ukrainische Familie eingeladen worden zu sein. Sie wohnen auf 50m2 ca., im Hochparterre eines Blocks, der mit drei anderen gleichartigen Gebäuden eine Grünfläche von ca. 50 x 50 m mit Bäumen, einen grossen Kinderspielplatz und wenige Parkplätze einschliesst.

Anna wirkt unruhig. Dieses Kommen und Gehen. Sie will es beruflich unbedingt schaffen und schaffen heisst für sie, in der schönen Welt Einzug halten. Jene der Journale. Lifestyle. Hin und wieder redet sie mit dem französischen, gutturalen R. Warum das alles? Warum hat sie sich bloss unters Messer eines Schönheits-Chirurgen gelegt? Ich vergesse immer, dass sie erst einunddreissig ist. In diesem Alter sind auch die Frauen noch nicht gefestigt. Wenn ich an meine einunddreissig Jahre denke! An den Sprung in die schöne Welt des Cap d'Antibes-Eden Roc...

Ich wärme mir zu Hause meinen potage bonne femme, Lauch und Kartoffeln, esse etwas Wurst und Käse, trinke ein Bier. Vielleicht etwas TV. Wenn mir die lokalen Sender nicht zusagen, kann ich alle Sender der Welt auf dem Laptop abrufen. Etwas frisch ist es hier. Achtzehn Grad vielleicht, trotz warmen Heizkörpern. Werde mir noch ein paar Turnschuhe kaufen und morgen im Laufe des Tages ins Fitness gehen, welches sich im Bürohaus geradezu anbietet.

Sonntag, 25. November 2012

Anna kam mit Nastassja gegen halb elf ins Büro. Heute Brunette, mit mêches. Sie installierte die Tochter in ihrem Büro, wo sich die Kleine einige Trickfilme ansah und sich still hielt. Sie gab mir Karten fürs Ballett, die sie besorgt hatte und wohin mich ihre Schwiegermamma begleiten wird. Schon als sie das vorschlug hatte ich bestimmt, die Billette zu bezahlen. „Nichts da, Sie sind unser Gast.“ Nach Dank und den Höflichkeitsbezeugungen für gestern begannen wir zu arbeiten.

Sie hatte meinen Rapport gelesen. In vielem sind wir uns einig. Die Oktober Saläre seien bezahlt und auch das Fixum von November. Das wird die Sitzungen mit den Damen erleichtern.

Danach gingen wir zum Mittagessen. Das heisst, warten Sie schnell....So. Jetzt gehen wir, komm, Nastassjunka die sich schon länger langweilt und noch immer ruhig ist. Was meinen Sie, Viktoria? Entschuldigen Sie mich einen Augenblick Jürg...

Ich hatte der Kleinen ihre Jacke angezogen und wir warteten zu zweit. „Aaaaannaaaaa, rief ich fröhlich und laut durch die Büros. Aaaaannaaaa, wiederholte ich klagend. Schlussendlich holte ich sie weg von ihren Gesprächspartnerinnen und wir zogen los. Wiederum in jenes traditionelle Lokal, wo wir zum ersten Mal waren. Die Küche ist dort ausgezeichnet. Auf dem viertelstündigen Weg dorthin klingelte das Telefon zwei Mal und zweimal musste sie dringend und nur ganz schnell anrufen. Nastassia sass ruhig im Fond und guckte umher. „Ich reise ja morgen und möchte heute Abend noch meine Manicure besorgen. Meine Manicure ist leider unerreichbar.“ Ich wusste nicht, dass man nur frisch maniküriert einem Managementkurs teilnehmen konnte, ignorierte das und scherzte mit Nastassja ein wenig.

Wann und wieviel Zeit verbringen Sie denn mit Nastassja?“
Oh fast jeden Abend.“
Und was spielt Ihr denn so?“
Spielen? Die Aufgaben machen wir zusammen. Ich kann nicht spielen. Lese Ihr ein Geschichtchen bevor ich sie ins Bett bringe. Und dann eben am Sonntag, Sie sehen ja“

Ich dachte, die Wochenende wäre Maxims Tage.“
Wir wechseln uns ab. Ergänzen uns, sozusagen.“

Im Restaurant war niemand als wir gegen 14.15 Uhr eintrafen, man machte ihr den erwartet grossen Bahnhof. Sie war ja einmal Teilhaberin davon gewesen.

Sie sind mein Gast (bin ich schon von Vertrags wegen) und müssen sich meinen Bestellungen fügen. Ich habe ein ukrainisches Menu zusammen gestellt.“

Natürlich Borschts und Pielmeni, jene dicken, Ravioli ähnlichen Teigtaschen, je eine Sorte mit Kartoffeln und Pilzen, Kohl, Fleisch und Frischkäse und die ich seit meiner Ankunft schon drei Mal gegessen hatte. „Ich hätte dasselbe gewählt, ma chère. Sie erraten meine Gedanken! Gerade als ich heute morgen meine Schuhe anzog und mir sagte, dass ich die halbhohen umsonst mitgenommen habe, riefen Sie mich an um mir zu sagen, dass es draussen schneie. Sie sind ja geradezu gefährlich, wie Sie meine Besorgnis des Moments erraten!“

Nastassja war installiert und das Telefon klingelte. Es sollte noch dreimal klingeln während dem Essen. Als sie dann ihr notebook hervorholte um schnell die heutigen Reservationen durch zu sehen, ging Natassjonka gesättigt vom Tisch um nach der Musik zu tanzen, die aus dem Flachbildschirm quoll.

Anna, die Zeit die Sie mit Ihrem Kind verbringen, oder eben nicht verbringen, ist das Einzige im Leben, dass Sie nie mehr nachholen können. Der heutige Morgen ist vergangen, gleich wie die sechs Jahre Ihrer wirklich süssen und lieben Tochter.“

Ja schon. Und das Geschäft? Ich muss doch arbeiten!“

Natürlich müssen Sie das. Wie wir alle. Aber nicht NUR arbeiten. Was ich am Meisten bereue in meinem Leben ist die Zeit, die nicht oder unaufmerksam mit meinen Kindern verbracht habe. Es ist Gott sei Dank trotzdem noch gut gekommen. Wenn wir im Geschäft zurück sind, zeichne ich Ihnen den Lebenskreis. Er ist in 6 Teile aufgeteilt, die sich ausgleichen müssen: Arbeit – Familie (und Ihr ich) – Gesundheit – Finanzen – Öffentlichkeit – Spiritualität & Ethik. Sie können wohl zeitweise den einen oder andern Aspekt mehr betonen, danach aber müssen Sie wieder einmal ausgleichen sonst rächt sich das.“

Ein anderes Telephon ersparte ihr das Eingehen auf meine Argumente. Spontan kam mir Diego Glaus in den Sinn, der sich von seiner Frau unter anderem deswegen scheiden liess, weil sie dauernd am Telephon hing und Handyrechnungen von bis zu Fr. 600.- hatte.

Sie brachte mich zurück und beschloss, für heute nicht mehr zu arbeiten. Eine Freundin von ihr feiere heute Geburtstag und sie wolle um vier dort kurz vorbei gehen. Maxim würde mich abholen und mit Tatjana zur Oper bringen. Keinesfalls sollte ich vergessen, sie danach anzurufen, damit sie mich zurück bringe. Und noch etwas: Tatjana wird bestimmt versuchen, mich von ihrer Ansicht zu überzeugen, dass ich als Dozentin einer Hochschule besser dastehen würde. „Nun sind Sie gewappnet!“

Vor dem Frühstück hatte ich in Lukas Niederbergers kleiner Betlektüre gelesen. Was Wunder, dass ich auf dem Heimweg ein Stossgebet zum Himmel richtete, für alle (über)reifen Männer, die mit jungen Frauen verbandelt oder verheiratet sind.(Umgekehrt gilt auch)

Ich hatte mich gerade noch für eine Viertelstunde hingelegt, als das Handy klingelte und mir ankündigte, der Wagen warte schon unten auf mich. Tatjana sass im Taxi und wir fuhren dreiviertel Stunden zu früh zum Theater. Von Ferne ein imposanter, aus der Nähe und vor allem innen, ein grässlicher Bau. Eine Art alte Opéra de la Bastille, aber von schwerfälligem Geschmack. In den eiskalten Wandelgängen hunderte von Kiosken, wie auf einem alternativen Markt. Das Ballet war nett, eine moderne Interpretation des Aschenbrödels, auf Musik von Johann Strauss. Sehr gute Tänzer, zeitweilige Schwächen in der Choreographie, alles in allem aber eine charmante Vorstellung. Danach lud ich Tatjana zu einem kleinen Souper ins Kharkov Palace ein, was sie sehr gerne annahm. Solche Einladungen sind für sie selten. Geschieden, immer noch berufstätig, Englischlehrerin, deren Englisch ich aber noch schlechter verstehe als ihr Russisch, verdient sie sich so noch etwas zu ihrer Pension von 400 Franken dazu. Es war ein angenehmes Beisammensein und lehrte mich wieder etwas über die Lebensbedingungen hier. Früher, unter dem Kommunismus hatten sie keine Geldsorgen: Wohnung, medizinische Versorgung waren gratis, reisen innerhalb des kommunistischen Blocks kostete praktisch nichts.Die Läden seien zwar leer gewesen, aber die privaten Kühlschränke voll. Sie seien als Private auch nie Schikanen ausgesetzt gewesen, wobei sie darauf hinwis, die stalinistische Zeit nicht mehr gekannt zu haben. Ihre Pension sei eine eher grosszügige. Sie erzählte von einer betagten Bekannten, die gerade soviel erhält, um ihren Wohnungszins zu bezahlen. Wenn die Kinder nicht helfen würden, wäre es nicht zu machen. Krank zu werden kann sie sich gar nicht leisten. Was machen aber die, die keine Kinder haben?

Die ganze Halle war gut besetzt von jungen, offenbar erfolgreichen Russen und Ukrainern, zum Teil mit ihren Familien, gekleidet wie alt Achtundsechziger, was ich nie mochte und jetzt immer weniger mag. Das Bild dieser stillos Unbesorgten vor mir und Tatjanas Erzählung in den Ohren erzeugte eine bisher unbekannte Spannung in mir. Dabei merkte ich, dass mir dieses Hotel wie eine Insel vorkam, beim Überqueren eines etwas unwirtlichen Flusses. Mir war, als unterbräche ich Exerzitien. Oder einen Hungerstreik. Als bräche ich ein Gelübde, nämlich das Leben jener zu teilen, die zu unterstützen ich für zwei Wochen ausgezogen war. Nur zwei Wochen! Natürlich gehört meine Mandantin Anna nicht zu den Benachteiligten, wenigstens lebt sie so, als hätte sie nichts damit zu tun. Ihre Ankunft bestätigte das, doch lehnte sie meine Einladung ab, mit uns etwas zu essen. Ich dankte ihr, mir vor der Abreise ihre Maniküre vorgeführt zu haben. „ Sie nehmen die Details wahr, Jürg!“ „Bei schönen Frauen alle, angenehmen Abend und bis morgen, Anna. Danke, dass Sie noch vorbei gekommen sind“. Diese masslose Übertreibung, diese glatte Lüge liess mich noch etwas tiefer im Morast meiner Erkenntnis versinken. Wenigstens war mir wohl mit Tatjana, die das zweite Glas ukrainischen Roten langsam träge machte.Sie redete gar nicht über Anna. Als ich das gestrige Treffen bei Anna mit Maxim, ihrem Sohn erwähnte, meinte sie nur kurz, dass Annas Wohnung die ihre sei.

Es gibt da so viele Ungereimtheiten. Ich bin aber Consultant, weder Beicht- noch Gross- oder irgendwelcher Vater hier. Da halte ich mich schön raus. Noch vor nicht allzu vielen Jahren hätte ich mich berufen gefühlt, darauf anzusprechen. Mit der Zeit lernt man alles. Was sage ich immer? Weisheit ist ein Geschenk, das uns dargebracht wird, wenn es nichts mehr nützt...*

Ich wollte Sonja mein Tagebuch schicken, wie ich es immer tue, wenn ich auf meinen Mandatsreisen bin und habe nach einem Briefumschlag verlangt.

Was bitte?“
Na ein Couvert, um diesen Brief zu versenden.“
Tut mir leid. Haben wir nicht. Müssen Sie auf der Post verlangen.“
Und wo ist die Post, bitte“
Gehe nie dorthin, tut mir leid, weiss es nicht.“

Dann sind wir also bei der Gesellschaft angelangt, die nicht nur ein Papierloses Büro, sondern auch eine Brieffreie Existenz führt. Ob dieser Fortschritt zum Glück beiträgt, wage ich nicht zu beurteilen.

Dienstag, 27. November 2012

Gestern war ich um 9 Uhr im Büro, es war ein Hin und ein Her, ein Sitzen und ein Telephonieren, alles, was noch vor Abreise des Bosses Anna aufgetragen und gemacht werden musste, ein Kommen und ein Gehen von Gästen, Reinigungsfrauen, der Rapport wurde nochmals zusammen durchgegangen, abgeändert wo notwendig und erklärt, Mittagessen um 15 Uhr, dazwischen Piroschki eine trockene Sorte einer Art von Panetone, um 18 Uhr ging ich.

Unter dem feinen Schneefall bekam ich Lust etwas umher zu schlendern. Bei der Franzuskaja Bulotschnaja (boulangerie française) stoppte ich für einen Espresso und eine schmale Tranche Kirschenstrudel. Den riesigen Lenin Prospekt geht jedermann schnellen Schrittes. Die Geschäfte werden zumindest nicht bei dieser Witterung von den Passanten gemustert. Man läuft, Hände in den Taschen und die Mütze über die Ohren in die Stirne gezogen. Über den Freiheitsplatz gelangte ich zur Sumskaja, der Einkaufsstrasse. Schöne Geschäfte hat es dort, mit einer Überzahl an Schuhgeschäften. Schon in Ushgorod, vergangenen Mai fiel mir auf, dass die koketten Ukrainerinnen verrückt nach Schuhen sind. Sie haben Chic!

Ich stoppte in einer Buchhandlung für das Hörbuch von Bulgakovs Meister und Margherita, was leider nicht vorhanden war. Dafür eine Kurzgeschichte von Gogol, die ich erstand. Es gab auch eine zauberhafte Ausgabe von Rilkes Gedichten. Leider aber D/U und nicht D/R. Es war acht Uhr geworden und ich ging zurück. Eigentlich in der Absicht, die heutige Sitzung noch vorzubereiten. Aber rien n'allait plus. Ich wärmte mir den Rest der Kartoffel-Lauchsuppe und machte mir von Tatjanas Äpfeln, die sie mir als Gegengeschenk für die Tafel Schokolade gebracht hatte Apfelschnitze. Welch ein intensiver Geschmack, diese kleinen Dinger voller Flecken! Danach ab ins Bett. Ohne Musik. Noch zwei Seiten lesen.

Die Vorbereitungen besorgte ich um sieben Uhr früh. Die Google Übersetzung entpuppte sich als ungenügend. Olga hatte simultan zu übersetzen. Ziemlich mühselig, aber produktiv. Die Damen sind von meinen Vorschlägen entzückt, die sie von ihrem Handy ausser Geschäftszeit entbinden, Pikett-Dienst vorbehalten.

Der grosse Brocken steht aber noch vor uns: die Systematisierung von Wohnungspflege und -kontrolle, das Marketing und der Telephondienst. Ob wir das alles schaffen?

Über Mittag hat mich Irina Kovtun, die Vertreterin von Swisscontact abgeholt um eine Hotelfachschule zu besuchen. Sie kam mit Victor, dem Besitzer eines Bauernhofes, der Green Tourisme betreibt, um mit ihm anlässlich einer Projektpräsentation zu den Schülern zu sprechen. Welch eine Disziplin in dieser Schule, und trotzdem, welch eine natürliche Freundlichkeit. Wie gut sie ihre Projekte präsentierten und was für kluge Fragen sie stellten! Für mich hatte es den angenehmen Nebeneffekt, dass ich wieder einmal Russisch verstanden habe. Morgen Vormittag fahren wir auf seine Farm, er hat dort ebenfalls Projekte und am Nachmittag fahre ich mit meinen Damen im Büro weiter.

Jetzt sind natürlich alle weg oder beschäftigt und ich stehe mit abgesägten Hosen da. Nun, ich will schon die Fragen und Probleme behandeln, die heute morgen angeschnitten wurden.

Donnerstag, 29. November 2012

Heute ist der letzte ganze Tag hier, und wir haben das Housekeeping noch immer nicht im Detail durchgenommen! Ich will das im Flugzeug nach Kiew gründlich erforschen. Weshalb diese magere Ausbeute? Sind es die Umstände? Braucht es tatsächlich so lange, bis man die Situation erfasst? Rückschauend klar, ist alles einfach. Oder habe ich nun jene Limite erreicht, nach welcher Produktivität nur noch in kleinen, zögernden Schritten erreicht wird? Dann wäre es ja Zeit aufzuhören. Vielleicht nur noch bestehende Mandate upzudaten, sofern das überhaupt gewünscht wird. Gerne käme ich doch noch 3-4 x in die Ukraine. Dann wäre ich 75. Damit hätte ich möglicherweise auch die Limite an Glaubwürdigkeit erreicht. Natürlich arbeitet Dr. Hans Vontobel mit 93 noch. Die Umstände sind doch sehr verschieden.

Freitag, 30. Dezember 2012

Alles Quatsch! Wie jedesmal hat es auch diesmal geklappt. Ich brauche auch dieses Gefühl, wieder einmal an meine Grenzen zu kommen. Auch wenn diese Grenzen möglicherweise immer enger gezogen sind. Ich sitze jetzt auf dem Flughafen und warte auch das boarding.

Irina hat mich gestern zum Ballett in die Oper eingeladen, nachdem wir gestern miteinander Victors Bauernhof besucht hatten. Was für eine lustige Geschichte: Er wohnt in Kharkov, besitzt eine Reiseagentur und, wenn ich recht verstanden habe, sitzt in irgendeinem Tourismus Ministerium. Er suchte altes Holz für sein Haus und wurde auch zu einem interessanten Preis fündig. Als er 80 km aus der Stadt fuhr um es abzuholen wartete er neben einem kleinen Blockhaus. Ja, wo denn jetzt das Holz sei? Wollte er wissen. Das sei es ja, dieses Blockhaus. Tja, dann suche er Holz anderswo und nehme dies als seine Datscha.

Er möchte hier etwas grünen Tourismus betreiben, was denn hier zu investieren wäre, meinte er zu Hans Leu, den ehemaligen Boss von Schweiz Tourismus, ebenfalls ein SC Senior Expert. Gar nichts, meinte dieser. Fangen Sie einfach an. Sie sehen ja dann, ob und was für welche Leute kommen. Mittlerweile hat er noch einige erbärmliche Hütten zugekauft, die er dort als Mehrbettunterkünfte vermietet. 200Gr löst er gerade Mal für jenes Haus, das noch am ehesten diese Benennung verdienen würde, mit einem zerfallenden Holzfeuerherd, zwei Zimmern und eine jener hübschen Veranden, so typisch für Landhäuser dieser Gegend. Der Flecken wurde zu einer billigen Ferienunterkunft für einfache Menschen. Die gehen in den Wald, suchen Pilze und lassen die Kinder in freiem Feld spielen. Dreimal pro Jahr organisiert er volkstümliche Treffen für welche behelfsmässig Tische gezimmert wurden, darüber Latten als Dächer. Babuschkas aus der Umgebung kochen in ihren Häusern bei diesen Anlässen und bringen Borscht und Pielmeni her.

Ostro- und Visigoten hätten dort gewohnt, die Skipetaren, vor hunderten und tausenden von Jahren. Unter der Leitung des archäologischen Institutes der Uni Kharkov werden vereinzelte Ausgrabungen dort gemacht, unweit seiner Behausung. Ein Sommercamp von Freiwilligen, immer unter der Leitung eines Professors bauten dort zwei Typen eines Lehmhauses jener Zeit, entsprechend den Angaben die man davon hat. Nun plant er einen Teich anzulegen und darum herum Lehmhäuser zu erstellen. Ich hoffe, solche wie ich sie in den Karpaten und nicht jene archäologisch nachempfundenen. Letztere machen keinen sehr soliden Eindruck. Früchteplantagen hat er vorgesehen und dann die Möglichkeit, auf seinem Land Datschas zu erstellen. Und dies, und das, und jenes, was ich nicht alles verstanden habe. Wenn meine Gesprächspartner nicht deutlich artikulieren und Viktor tut das nicht, verstehe ich, wenn überhaupt etwas, nur schlecht.

Warum ich das so ausführlich beschreiben? Weil mich diese langsame Entwicklung, Schritt um Schritt, fasziniert. Dieses langsame und beständige Betrachten der Möglichkeiten und ihr Ausprobieren. Die Sonnenalp, dieser Vorzeigebetrieb in Sonnthofen hatte so begonnen. „Denk an mich“, diese heute potente Fundraising Organisation zu Gunsten von Behindertenferien ebenfalls. Hatten bünzlig angefangen, sich mit Kleinstspenden begnügt. Dank dem Radio Fenster und Beharrlichkeit sind sie zu einer der beliebtesten Spendenorganisation der Schweiz geworden. Oder Hiestand, mit dem Besten aller Gipfel, der sich erst nach Jahren weiteren, süssen Frischbackwaren verschrieb. Nur hatte der in meinen Augen den unverzeihlichen Fehler begangen, nochmals das Gleiche zu starten, nachdem er sein mittlerweile Grossunternehmen zu einem dreistelligen Millionenbetrag verkauft hatte.

Doch schweife ich ab: Das Ballett war viel besser als jenes, zu dem mich Anna und Tatjana eingeladen hatten, der anschliessende Imbiss im Kharkiv Palace anregend: „Vergiss das, mit deinem Alter“ meinte Irina, als ich ihr meine Bedenken für weitere Mandate anvertraute. „Du kannst dich zu den Junior Experts zählen, denn das Durchschnittsalter beträgt 75 Jahre.“

Freitag, 30. November 2012

8.15 Uhr. Bereits habe ich eingecheckt. Über eine Stunde bleibt mir noch bis zum boarding; wie herrlich, über eine Stunde reine Musse. Eine Stunde während welcher ich mich in der blitzsauberen, geräumigen Abflughalle in Kharkov dem Betrachten der Passagiere, der vorbeieilenden Stewardessen und dem Aufsichtspersonal hingeben kann. Wie herrlich, und wie banal. Warum aber sollte das Banale, das Alltägliche, Unspektakuläre und Unwichtige kein Glück enthalten? Dieser Moment des zwecklosen Seins liess mich die Zeit vollkommen vergessen, rief Margot an, um mit ihr den Moment zu teilen, mein Restguthaben auf meinem ukrainischen Chip verbratend. Ich hatte es bereits bei Ankunft am Flughafen, eine Stunde zuvor versucht, jedoch ohne Erfolg. Ich vermutete sie unter der Dusche, dass sie gleich mir den letzten Moment des Alleinseins geniessen würde.

Weisst du, wie früh es ist?“ hiess sie mich am Telephon willkommen. „Es ist jetzt 7.15 Uhr, zwei Stunden früher als bei dir in Kharkov. Zuvor hattest du aufgehängt, als ich gerade das Telephon erreichte“ holte sie mich auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Wir freuen uns beide aufs Wiedersehen. Sie stellt den Wodka kalt, besorgt crème fraîche und schiebt auf meinen Anruf aus Zürich hin die Kartoffeln in den Ofen, damit wir unser Wiedersehen bei Pommes Tsarineentsprechend meinem jetzigen Aufenthalt feiern können. 

6. Reise: Krim, Jalta und retour nach Kharkov. 7.-24.4.2013

Ich sitze im Zug zum Flughafen für Jalta und freue mich aufs Ungewisse“. So schreibe ich auf die Verdankung der letzten Geburtstagswünsche, die per sms oder mail eingegangen sind. Wir rauschen durch die Leventina, vorbei an den kleinen Orten, die sich an den Berg drücken. Noch Steindächer auf Bauernhäuser, arte povera, aber arte gewiss, prominente Villen, Kleinpaläste erfolgreicher Emigranten die zurück gekehrt waren um zu zeigen, was sie erreicht hatten in der Fremde. Oft als Wohltäter ihrer armseligen Gemeinde. Die schlanken, eleganten Kirchtürme an Gotteshäusern, welche die Seele schon bei deren Anblick erheben. Jedes Mal rühren mich diese Ortsbilder.

Was wollen sie mir sagen? Der Baustil von damals bezeugt Mut, Zuversicht, Ergebenheit und nicht nur Glaube, sondern Gewissheit, als Mensch und Gemeinschaft Teil von etwas Grösserem, Absolutem zu sein. Mut und Zuversicht brauchte es wohl, um dem unwirtlichen Boden um diese Krachen herum das Notwendige fürs Überleben abzuringen. Die knappen Mittel und die Kinderschar erzeugten Hoffnung, dass es später weitergehe, dass der Sohn, zumindest der älteste, das Haus einmal bewohnen würde, das man deshalb mit umso grösserer Hingabe und Opfersinn baute. Sicherheit gab es keine, der ROI, war noch nicht erfunden, der Ertrag aus der Investition und damit der Begriff der Amortisation. Es galt ,die Münder zu stopfen, und das Haus für alle Zeiten zu erbauen. Wie kamen die Menschen von damals nur auf diese Formensprache, die damals so schön war, dass sie uns heute noch berührt und, wenn die Häuser erhalten bleiben, es auch immer tun werden! Woher hatten diese einfachen Menschen, die oft ihr Dorf nie verlassen hatten, bloss den Sinn für diese schlanken, zum Himmels strebenden Kirchtürme, aufgelockert durch Zwei- und Einbogen Fenster ? Eindrückliche Zeugen längst versunkener Zeiten.

Vielerorts sind diese Ortsbilder ausgefranst durch Bauten aus den fünfziger- bis achtziger Jahre. Diese sind vor allem eines: billig und zumeist hässlich. Ob wenigstens der ROI dort stimmte, vermag ich nicht zu sagen. Eines aber ist sicher, das Verschwinden solcher Bauten wird, wenn überhaupt, eher als wohltätig empfunden werden.

Von Zürich flogen wir mit einer Stunde Verspätung ab. Der siebenundzwanzig jährige Sohn meiner Sitznachbarin, Larissa aus Kiev, studierte zwei Jahre in Lugano, wo es ihm nicht so gut gefiel wie jetzt in Bern, wo er seit vier Jahren bei einer grossen Firma angestellt ist. Das Paradies sei das, und er bemühe sich nun darum, Schweizer zu werden. Austausch der Visitenkarten, der Sohn soll mich einmal anrufen, wenn er wieder im Tessin sei. Ja gerne und da seien ihre Angaben, bei meinem nächsten Besuch sei ich als ihr Gast willkommen. Das sagte sie mir in perfektem Spanisch. Gelernt hatte sie es als Mitarbeiterin einer Organisation, welche bedürftigen Kindern Ferien in Spanien besorgt.

Der vorgesehene Zwischenstopp in Kiev von drei Stunden erlaubte mir trotz der verspäteten Ankunft gemütlich auf den Flug nach Simferopol zu gelangen. Ich stiess beim Umsteigen auf einen Schweizer, welcher der Liebe wegen in die Ukraine kam. So nannte er die dritte Internet Bekanntschaft, auf die er jetzt all seine Hoffnungen setzt. Sie sei zwar etwas jünger als er, sagte er mir, als er stolz das Bild einer hübschen Brunette zeigte. Fünfundzwanzig, und er erst dreiundvierzig. Üblicherweise schätze man ihn zehn Jahre jünger ein. Nach drei gescheiterten Versuchen, wovon einer ganz klar krimineller Natur, denn die Telefonnummer über welche sie anrief, war aus Kiev während dem sie Ufa in Russland als ihre Wohnadresse angab, setze er nun all seine Hoffnungen in diese junge Frau. Dreimal hätte er sie schon besucht. „Was meinen Sie davon, und was denken Sie von den Ukrainerinnen?“ „Nun, für mich als alter Mann präsentiert sich die Situation anders. Die Ukrainerinnen, mit denen ich es durch meine Mandate zu tun hatte, machten mir allesamt den Eindruck von starken, klugen Frauen, die wissen, was sie wollen. Dazu haben sie auch allen Grund, denn auf die Männer hier ist in selten Verlass. Vielleicht sollten Sie Ihre Auserwählte für drei Monate in die Schweiz kommen lassen, bevor Ihr beide euch ernsthaften Gedanken hingebt. Im Osten leben oft drei Generationen zusammen. Die Familienbande scheinen mir enger zu sein als bei uns. In der Schweiz sind wir darüber hinaus ziemlich eng in Regeln eingebunden. Diesen kulturellen Unterschieden sollten Sie Rechnung tragen. Viel Glück wünsche ich Ihnen.“

In Simferopol ging es ziemlich lange, bis wir das Gepäck hatten, auf das wir in einem offenen, zügigen Durchgang warten mussten. Drei bis fünf Grad waren es vielleicht. Drei bis fünf Grad, und das soll das Cannes des Ostens sein? Marina und ihr Mann, ein Anästhesist und (Rhenologe??) warteten auf mich. Ein gut aussehendes Paar um die fünfzig, die bereits zwei Enkel haben, Pavel „Pasch“ und Anton „ Antosch“ Deren Eltern, Xenia und Ivan, wohnen im obersten Stock der dreistöckigen Villa. Sie hatten sich an der Uni beim Studium für Journalismus in Moskau kennen gelernt. Die jüngere Schwester von Xenia studiert Management irgendwo auswärts, weshalb ich ihre Wohnung im ersten Stock zur Verfügung habe. Das Bad/Toilette teile ich mit der jungen Familie. Das Haus, an der Ulizza Bolschevitskaia 23, etwas ausserhalb des Zentrums gelegen, bietet eine schöne Sicht, durch Bäume, bebaute Hügel mit kleinem Meerblick. Die Babuschka, Sergeis Mutter, hat ebenfalls eine kleine Wohnung, zum Garteneingang gelegen. Es war ursprünglich Marinas Grosselternhaus, das sie ausgebaut haben. Die Zimmer sind von grosszügiger, wohltuender Proportion. Bewacht wird das Anwesen von „Nord“ einem deutschen Schäfer dem die Sanftheit aus den Augen trieft. Das Haus hat nichts von westlicher Bauqualität. Trotz der nicht alltäglichen Position, welche Marina und Sergei besetzen, wirken vor allem die Fenster dürftig und die kleine Elektroheizung schwach. Heute Montag war es zwischen 4-6 Grad, ohne den angekündigten Regen, Gott sei Dank. Der Garten ist noch nicht sommerlich bestellt. Ich hatte es angenehmer erwartet, in Erinnerung an meinen Aufenthalt vor einem Jahr in den Karpaten.

Die beiden Buben, knapp drei und 18 Monate konnten es kaum erwarten, mich zu begrüssen. Sie schickten den Vater zu mir in die Küche, ich möge doch das Frühstück bei ihnen oben einnehmen und auch seine Frau Xenia kennen lernen. Es ist ein Haus der Harmonie. Die Kleinen sind natürlich und überhaupt nicht aufdringlich. Und doch, glaube ich einen Schleier der Traurigkeit, Bedrücktheit zu empfinden. Ob Marina und Sergei Schwierigkeiten miteinander haben, finanzielle Probleme oder war Marina einfach müde? Es lastet so viel auf ihr.

Montag, 8. April 2013

Marina hat mich in ihr Institut mitgenommen doch zuvor gingen wir ans Meer, besichtigten das älteste Hotel, das Orenda. Es gehört einem Russen, der es offenbar recht gut restauriert. Man hat einen modernen Zimmerflügel geplant und gleichzeitig die Verwandlung des Rotonden artigen Restaurantdaches in einen Garten. Geführt hat uns die etwa vierzig jährige Viktoria Timchenko, Deputy General Manager S&M. Effizient, klug, witzig.

Jalta wird gerne mit Cannes verglichen. Mir scheint das alte Nizza besser zu zutreffen, vom alten Markt über den alten Hafen. Luxuriöse Schiffe sieht man allerdings kaum. Vielleicht ist es im Sommer besser. Überall hat es noch Villen aus der vorrevolutionären Zeit. Die meisten harren aber noch der Restauration. Natürlich ragen auch hier bereits zahlreiche Hochhäuser in den Himmel, wie es ja auch an der Côte ist.

Das Institut „Republican higher educational institution Crimean University for the humanities, Yalta, Institute of Economics & Management“ ist voller Leben, aber wohl kaum die Sorbonne. Überall hat's zwar Lap- und desktops, doch habe ich den Eindruck, dass der Einsatz des Lehrkörpers bessere Bedingungen verdiente. Es hat so einen Geruch von 1970, schlecht unterhalten. Wir haben schlussendlich die Präsentation für den ersten Tag hingekriegt. Es macht den Anschein, dass es den Studenten im Englischen an Praxis gebricht. Und die Übersetzerin macht Russisch Deutsch. Unnütz. Meine Vorträge sind alle auf Englisch. Wir werden ja sehen, morgen.

Zu Mittag nahmen wir im Institut einen Tee mit einigen Biscuits. Zu Hause um 15 Uhr gab es eine gute Gelberbs-suppe, danach eine Art von Champignonrisotto mit einer ukrainischen Ratatouille, eigentlich die französische, mit Karotten ergänzt. Dazu trinkt man „Kompott“ den Sirup eines Früchtekompott. Es ist jetzt Fastenzeit. Fleisch ässen sie fast nie. Fisch an hohen Feiertagen. Mir soll das Recht sein. Ich will ja das Leben meiner Gastgeber teilen.

Mir ist kalt. Ich habe eine Stunde geschlafen. Das Tagebuch bringt mich immer wieder aufs Gleis. Ausgehen will ich heute Abend allerdings nicht mehr. Arbeiten mag ich auch nicht mehr. Gestern auf der Reise von 8 – 24 Uhr, heute die vielen neuen Eindrücke. Ich schlottere. Lieber ein heisses Bad oder eine heisse Dusche und unter die Decke. Vielleicht noch mit einem Dafalgan.

Dienstag, 9. April 2013 

Ich habe von halb neun bis um halb sieben tief geschlafen und bin wunderbar erholt. Gott sei Dank keine Erkältung, wie sich den Tag über bestätigen wird. Vormittags bin ich in aller Ruhe den Stoff durchgegangen. Nachdem mich die Vorbereitungen auf diese Vortragsreihe zuweilen in unwürdige Zustände und Raserei gebracht hatte – was ich nicht nur bedaure sondern mich deren schäme – erstaunt mich meine heutige Gelassenheit. Mit dem Bonus des Fremden, des Westlers, die ja alle wissen wie man es macht, wird es schon gehen. Keine Spur von Lampenfieber. Heute habe ich ja auch nur eine Lektion (90 min) zu bestreiten.

Wie jung die alle sind, 20, 22 vielleicht? Ob sie wohl denken, wie alt der da vorne ist? Das beschäftigt mich nicht. Der Stick für die Präsentation funktioniert endlich. Ich stehe vor den knapp 20 Studenten. Erwartungsvoll und mit leuchtenden Augen blicken mich die meisten an. Auf den hintersten Bänken sitzen, oder liegen fast die „cancres“, deren ich mich sofort annehmen werde.

Doch bevor wir darüber reden, was Sie eh aus dem Internet herunterladen können, erzählen Sie mir doch einmal, was für Sie das Wichtigste im Leben ist,“ fragte ich Sie, während ich durch die Bänke lief und ihnen in die Augen sah.

Die Gesundheit! Die Familie! Gut vorwärtskommen in Studium und Beruf! Die Freunde! Die Liebe?,“ fragte eine Stimme zaghaft.

Das hat man nicht immer, Familie, Erfolg in Beruf. Auf auf Freunde ist nicht immer Verlass. Und die Liebe... Was ist dann das Wichtigste im Leben, in Ihrem Leben?“

Langsam kamen sie darauf, dass es darum geht, sich am Hier und Jetzt zu erfreuen, an dem, was das Hier und Jetzt hergibt, wenn es auch einmal nicht so erfreulich ist, wie wir uns das vorgestellt haben. Alle lachten mich aus, als ich sie fragte, ob die Freude am Leben bedeute, jeden Tag sich zu amüsieren, Champagner zu trinken und auf jeden Fall, immer verliebt zu sein. Sie kamen überein, dass es die Entwicklung unserer Anlagen und Fähigkeiten ist, und diesen Ausdruck zu geben, was uns Lebensfreude schenkt. Dass wir uns daran begeistern sollen, was immer die Lage hergibt. Das dass nicht immer funktioniere, sei ja klar. Aber zu 80% sollte es das schon. Und wer sich jetzt gerade in den anderen 20% befinde und es ihm/ihr lieber wäre, dürfe die Lektion ohne weiteres verlassen. Niemand ging. Die „cancres“ erwachten.

Meine Vorstellung fesselt sie, die Ausführungen über den Tourismus von den Anfängen bis zur Moderne scheint ihnen noch nicht geläufig zu sein. Selbst bei der Projektion der organizational Hotelchart, dem Organigramm folgen sie interessiert. Wie Claudine empfohlen hatte, lasse ich Zeit für deren Betrachtung, gebe Gelegenheit für Fragen. Anekdoten aus meinem Werdegang interessieren offenbar am meisten. Genauso hatte es mir Alberto, unser Schwiegersohn vorausgesagt und empfohlen. Mir schmeichelt es, gut anzukommen und ihr Klatschen am Ende der Stunde ermutigt mich für die kommenden Tage.

Zum Abendessen zu Hause bin ich alleine mit Marina. Zusätzlich zum Gestrigen, einige Salate, die wir beim „Gastronom“eingekauft haben und ziehe mich früh zurück. Schlafe tief.

Mittwoch, 10. April 2013

Heute ist die erste Doppelstunde, d.h 2 x 90 min plus 10 min Pause. Ich benutze den Morgen, um den Stoff einzuteilen und die Dokumente zu drucken, die sich für die Projektion nicht eignen. Nachdem wir gestern die verschiedenen Abteilungen eines Hotels angesehen haben, erkläre ich aus meiner Sicht, was in jeder zu tun ist, welches seine wirkliche Funktion ist. Wie Recht hatte doch Alberto, als er mir nahe legte, nicht aus Büchern und Internet, sondern aus der eigenen Praxis zu schöpfen! Unglaublich wie das ankommt. Die Aufzeichnung ihrer zukünftigen Karriere liess ich in fünf Gruppen à 4 aufteilen und sie anschliessend vortragen. Wie dankbar nahmen sie die Empfehlungen wahr zur Position des Redners, des direkten Augenkontakts mit den Zuhörern vor der eigenen Vorstellung, wie auch Hinweise zur Gestik. Wir brauchten allerdings länger als vorgesehen. Fast enttäuscht nahmen wir mitten in den Ausführungen über die Aufgaben des GM war, dass die Zeit abgelaufen war. „Also, lest das zu Hause durch, stellt morgen bitte Fragen, wenn Ihr welche haben solltet. So sparen wir Zeit.

Marina ging mit mir durch kleine Gässchen, um mir eher versteckte, sehenswerte Orte und Häuser zu zeigen. Wie herunter gekommen diese Stadt doch ist, die eine wirkliche Perle sein könnte! Margot würde es hier nicht gefallen.

Nach dem Abendessen, auch mit Sergei, Xenia und den beiden Buben, kredenzten sie einen roten Muskateller. Er würde jeden Porto überrunden! Blumig, nervig schmeichelnd, 16 Grad und 15% Restsüsse. Die Buben sind entzückend. Pasch ist zugänglich, ohne jede Zudringlichkeit oder Übertreibung. Als seine Grossmutter ein Pack Schokoladenkekse öffnete, gab er zuerst ihr eins, bevor er ins seine biss. Wenn er vom Mezzanin aus die Papierflieger über die Küche losschickt, die ihm sein Grossvater fortwährend bastelt, ist er ganz lebendig und bleibt doch im Rahmen! Mit vielleicht der Ausnahme von Ferdi & Ursis Damian, habe ich so etwas noch nie gesehen. Nun bin ich müde. Nicht einmal mehr lesen mag ich.

Donnerstag, 11. April 2013

Marina ist mit mir durch verschlungene Gassen den Hügel entlang zum Institut gegangen. Vorbei an alten Villen, versunkenen Gärten und Hütten, Baracken. Obschon sie zu meinen Lieblingsbäumen gehören, stimmen mich die vielen Zypressen heute wehmütig. Der lang vermisste Sonnenschein, die Bäume, die noch nicht einmal zaghaft ausschlagen, die kargen Blumen bringen die Lieblosigkeit, die Resignation aus kommunistischer Zeit, welche für mich die Stadt prägen, erst recht hervor. Lausig die Wege, ungepflegt die Häuser, verkommene Verzierungen aus vergessenen Tagen zeugen nicht nur von Geldmangel, sondern auch von Mutlosigkeit. Von Desinteresse. Von völligem Mangel an Sinn für die Gemeinschaft, welche über die eigene Familie hinausgeht. Nie würde ich es wagen, einen Vorwurf zu formulieren oder gar zu erheben! Es zeigt mir, wohin eine verfehlte politische Ausrichtung führen kann. Ich bin durchaus nicht sicher, ob solch ein Zerfall von Sitte und Kultur nicht auch bei uns möglich wäre. Tatsache ist, dass Menschen wie Marina und Sergei unter diesen Zuständen leiden. Hilflos leiden. „Was willst du? Die Politiker interessieren sich nicht darum und bei uns herrscht die Korruption“, sagte sie, auf grässliche und zweifelsohne auch gefährlich gebaute Monster von Hochhäusern zeigend. Jalta erschien mir heute morgen wie eine alte Kurtisane nach anstrengender Nacht, bevor sie sich schminken konnte.

Ob ich nicht etwas an der heutigen „praktisch-wissenschaftlichen Konferenz über internationale Wirtschaft, Management & Logistik“ für den Lehrkörper und die Studenten etwas aus der Schweiz erzählen möchte? Zwar war ich unvorbereitet. Es gelang mir aber gut, nach der Überwindung der Wechselkurs bedingten Schwierigkeiten unseres Tourismus die Gründe für den Erfolg des 4.wichtigsten Wirtschaftszweiges anzuschneiden. Anderthalb Jahrhunderte ohne Kriege, haben zweifelsohne viel dazu beigetragen. Ich kam auf unser föderalistisches Staatswesen zu sprechen, welches ich als aus der Not und Armut geboren empfinde. Man war erstaunt zu hören, dass die Schweizer Jahrhunderte lang Reisläufer gewesen waren, und noch bis zum 2. Weltkrieg noch zahlreich emigrierten, bis zum 1. Weltkrieg auch nach Russland. Wir hätten auf unserer kargen Scholle begriffen, dass wir nur in Gemeinschaft den Schwierigkeiten trotzen und unser Leben bestreiten konnten. Gleichzeitig zwang die schwierige Geographie zu einer föderalistischen Organisation für die ich unsere Flurgemeinschaften als Beispiel nahm. So kam ich auf die Tourismusstruktur zu sprechen mit den diversen Vereinen, Verbänden, welche in unserem Sinne lobieren würden. Eine gute Werbung seien doch die Euro championships gewesen, welche die Ukraine im Westen ins Bewusstsein rückte. Jetzt wünsche ich der Ukraine im Allgemeinen und der autonomen Republik Krim im Besonderen, auf dieser Welle die anstehenden Probleme gemeinsam anzupacken.

Marina zwinkerte mir zu, mit erhobenem Daumen. Der Leiter der Innovationsabteilung will mich am kommenden Mittwoch sprechen und der junge Chef der Abteilung internationale Beziehungen hofft ein gemeinsames Bier oder Essen.

Die Studenten zeigten sich am Nachmittag selbst bei den trockenen Materien der Klassifikation und den Kennzahlen aufmerksam und partizipativ. Aufgeblüht sind sie bei der Gruppenarbeit - wie immer – über die Gründe, welche Menschen zum Arbeiten bringen und das Ende der zwei Lektionen (3 Std zusammen!) war für uns alle zu schnell da.

Was hatte ich mir nicht für Sorgen gemacht während den vergangenen zweieinhalb Monaten, mich mit diesem Mandat übernommen zu haben!

Versandt am 11.4. an Familie, Madeleine & Liz

Samstag, 13. April

Im Glauben den Umschlag beim Durchgang der Sicherheitskontrolle im Flughafens Kiev verloren zu haben, hoffte ich eigentlich nur noch, dass das Geld jemandem in die Hände gefallen sei, der es wirklich nötig hat. Von denen gibt es hier viele. In meinem Portemonnaie steckte etwa ein Durchschnittslohn für ein Trimester. Beiläufig hatte ich meine Vermutungen einmal Marina anvertraut. „Nein, wir haben es gefunden und aufs Kästchen gelegt. Haben Sie es nicht gesehen?“

Meine Gastfamilie hatte das Couvert mit meinen € und CHF in ihrem Wagen gefunden und wortlos auf das Kästchen am Eingang gelegt, wo all unsere Schuhe lagern, jene von Xenias Familie und meine und dann darauf ein paar Gegenstände, die bei jedem Hauseingang mehr oder weniger ordentlich aufbewahrt werden.

Natürlich freute mich das und hatte alsogleich vorgeschlagen, Sie und die Familie zu einem tollen Essen in einem schönen Restaurant ihrer Wahl einzuladen. Vielleicht am Besten in ein italienisches, das ihren vegetarischen Wünschen mit Pasta und Fisch doch gut entgegen käme. Auch auf mehrmaliges Nachfragen haben sie nicht reagiert. Verständlich, dass ich Marina und ihre Kollegin Dr. Olga Köppl ins Theaterkaffee nach der Eröffnungsfeier des Jaltaer Frühlingsfestival eingeladen und beide zu Blintschiki mit Lachs, smetana und einem Glas Sauvignon gedrängt hatte. Beide haben es genossen und mir hat der Moment Freude bereitet. Aber ich frage mich doch, was es denn ist, was mich hindert, einfach nur Gesellschafter zu sein. Anzunehmen, was man mir schenkt, ohne es noch anreichern oder gar grosszügig überbieten zu wollen. Das kann ich (noch immer) nicht.

Samstag, 13. April 2013

Gestern war die erste Woche zu Ende. Wir führten die Gedanken weiter was die Menschen zum Arbeiten bringt. Alle Studierenden hatten gestern nach klarer Information verlangt. Wie man in der Praxis informiert, wussten sie nicht. Wir haben deshalb eine Geschäftspolitik (Tschuggen) durchgenommen, die sämtlichen „Stakeholders“ bekannt sein soll, die direkt Beteiligten diesem Credo nachleben sollen und alle sich gegenseitig dafür belangen können. Anhand des Arbeitsbeschrieb des Empfangschefs des Royal Hotels in Devin, Bulgarien, legte ich dar, wie die Verantwortlichkeiten entsprechend dem (flach)hierarchischen Niveau schriftlich dargestellt werden. Ihr Schweigen im Raum schien mir geradezu aufdringlich, umso mehr als dass nur etwa zwei Drittel der Klasse anwesend war. Freitag halt. Kaum begannen wir die Gruppenübung in der die einen ihre Erwartungen an ihren Arbeitgeber formulierten und die Andern es umgekehrt machten, kam Leben in den Raum. In einem Rollenspiel stellten wir die Haltungen einander gegenüber und sie suchten engagiert, die Erwartungen in Übereinstimmung zu bringen.

Natürlich freute mich das Aufleben der Klasse. Es überraschte mich, dass ich auch die Stille ohne innere Rührung aushalten konnte. So ist es jetzt eben heute, sagte ich mir. Ein echter persönlicher Fortschritt. Unvorbereitet ging ich das nächste Thema an: Marketing & Promotion einer Unternehmung: im Hause – lokal – national – international. Ganz einfach schilderte ich meine Überzeugung, die auf der Gewissheit der äusserst knappen Mittel eines Hotels beruhen die dazu zwingen, dass die Gästegewinnung deren „Fidelisierung“ eben anders angegangen werden müssen: Persönlicher, durch informierten Empfang, Erkundigung, ob alles zufriedenstellend ist, Geburtstags- und vor allem Jubiläumswünsche, Verhalten bei Krankheit, Verabschiedung, Kontakt von einem Besuch auf den Andern über die langweiligen Verkaufselemente hinaus, Abwechslung der Gastronomie in Angebot und Service, Grosszügigkeit bei Stammgästen, spontan dargebracht, aber genau geplant.

Gewinnung neuer Gäste über joint ventures mit Modehäusern und Juwelieren, Clubs, bekannten Hotels leicht über unser eigenem Niveau, in Städten und entgegengesetzten Kurorten usw. usw. Und immer wieder: der Mut, den es braucht, etwas Neues anzupacken und durchzuziehen. Immer, immer wieder. Und die Schilderung meiner eigenen Unsicherheit und Nervosität beim ersten Cocktail, bei Kontaktaufnahmen, beim Telefonmarketing! Das zog.

Auch hier ging die Zeit zu schnell vorbei. Nein, so etwas hätten sie jetzt noch nie gehört, meinte auch die verantwortliche Dr. Marina Ryndach. Für sie beinhalte Marketing im Wesentlichen Reklame.

Danach besuchten wir mit Dr. Olga Köppel und einem halben Dutzend Studenten die Villa Elena, das Prestigehotel an Ort, welches ab kommendem Jahr auch den Leading Hotels of the World angehören soll. Wie hölzern das eben fertig gestelltes Haus wirkt. Der absolute Wille alles perfekt zu machen, versteift die ganze Atmosphäre. Ich lud die Professorin zum Aperitif dort ein. Danach wusste sie einen kleinen „Traktir“, eine ukrainische Trattoria, wo es eine herrliche Fischsuppe zum halben Preis eines Aperitifs in der Villa Elena gab, eine Yxa, Uchá: Karpfe, Salm, Pangasius fangfrisch in einer Lauch/Zwiebel/Kartoffelbrühe, Pfeffer, Dill wenig Lorbeer. Dazu wurde wurden Pirogi gereicht, ein mit Reis, Champignons, und Zwiebeln gefülltes Hefegebäck, ähnlich dem Teig für den Kulibiak, die russische Salmpastete, die ich hier noch niemals gesehen hatte. Köstlich, smatchno, wie man hier sagen würde.

Olga ist eine „28 jährige Mitvierzigerin“. 28 wenn man sie anguckt, 45 wenn man ihr zuhört, in ihrem perfekten Hochdeutsch von schwäbischer Weichheit. In Wahrheit ist sie 37, hat eine Tochter von 13 und ein Söhnchen von 3 Jahren. Ihren Mann, Prof. Köppl hatte sie im Studium in Deutschland kennen gelernt, wo er auch noch weiterhin lehrt und gleichzeitig in Unternehmungen für Sonnenpanele arbeitet und forscht. Sie führen die gleiche Ehe wie Margot und ich zwischen Arosa und Minusio, nur halt weiter entfernt. Interessante Begegnung.

Heute Samstag bin ich erst um halb neun aufgestanden. Kaum von der Dusche zurück, lud mich Marina zum Frühstück mit ihnen ein. Oh Soleil! endlich ein Sonnenhimmel, auch wenn noch etwas überzogen! Serghei und Marina hatten mich zur Eröffnungsfeier des Jaltaer Frühlingsfestivals für 13 Uhr eingeladen. Am Vormittag wollten wir der Küste entlang fahren, die kleine Kirche auf dem Felsvorsprung von Sofor besuchen, von wo aus man eine prächtige Aussicht geniesst, den Alupka Palast besichtigen, dessen Erbauer, Graf Vorontsov reicher als der Russische Imperator gewesen sein soll. Die Sonne hatte die feuchte Luft erwärmt, sodass sie die Kirche über Sofor in einen Neben eingehüllt war, um welchen La Turbie sie beneidet hätte. Graf Vorontsov hatte im 19.Jh sein Geld als Diplomat in England verdient und hier an schönster Stelle einen prachtvollen Palast im Tudor Stil hingebaut, umgeben von einem grossen Park, welcher ein englischer Landschaftsarchitekt entworfen hatte. Das Anwesen ist heute ein staatliches Museum, gut unterhalten. Wenn man Jalta hört, denkt man genau an einen solchen Garten oder zumindest an die reichhaltige Vegetation, die dort gedeiht.

Der Jaltaer Frühlingsfestival, der eigentlich den Auftakt eines Musik Wettbewerbs ist, findet im Tschechow Theater statt. Es dürfte etwa 5-600 Plätze haben. Hier wurde Tschechows Möve uraufgeführt, 1900. Von erfrischender Spontanität, etwas provinziell, etwas gymnasiastisch aber mit Super Darbietungen. Prokofiews Klavierkonzert, gespielt von einem jungen Pianisten war packend. Muss ich haben!

Danach Tee mit Marina und Olga, Spaziergang und nach Hause. Gemütlicher Ausklang des Tages beim Abendessen mit Serghei und Marina.

Sonntag,14. April

Die ersten warmen Sonnenstrahlen seit meiner Ankunft in Jalta laden mich schon um sechs Uhr fünfzehn ein, aufzustehen. Herrlich, wenn auch nur von kurzer Dauer. Nach dem Frühstück unten bei meinen Gastgebern steige ich nochmals in meine Wohnung um meine leichten schwarzen Hosen doch gegen einen warmen Flanell zu tauschen. Wir holen Marinas Studienfreundin Oxana ab, um mit ihr nach Livadia zu fahren. Dort fand 1945 die Jalta Konferenz statt, anlässlich welcher Churchill, Roosevelt und Gastgeber Stalin Deutschland kochten und unter sich aufteilten.

Im Umschwung der dortigen Sommerresidenz des Zaren Nikolaus II steht eine kleine Kirche, dessen weit herum anerkannter Chor von einer Kollegin Marinas geleitet wird. Ein orthodoxer Gottesdienst dauert drei Stunden. Serghei, der einen frommen Eindruck macht, hatte nach etwa einer dreiviertel Stunde dem etwas eintönigen Singsang orthodoxer Fastenzeit genügend gelauscht. Wir gingen zusammen zu einem Bänklein mit schöner Aussicht gegen Jalta, wo Tschechow gerne an seinen Werken schuf. Unter uns, in einem 28ha grossen Park, die Sommervilla der russischen Präsidentschaft.

Anatoli Fiodorovitsch, der fünfundsiebzig jährige ehemalige ärztliche Leiter des „Pensionats“ wie Kurhäuser hier genannt werden, kam gemächlich auf seinen jüngeren Kollegen Serghei zu . Er hatte sich sehr für die Restauration des kleinen Kirchleins eingesetzt, das 1894 im georgischen Stil erbaut wurde. Aufgrund seiner Position konnte er sich erfolgreich dafür einsetzen. „Viele der Präsidenten habe ich behandelt. Chruschtschow, Andropov, Breschniew, Jelzin und Tchernomyrdin. Einfach sei keiner gewesen“ meinte er auf meine Frage, welcher der Schwierigste, wer der Umgänglichste gewesen wäre. Während des Kommunismus verkam die Kirche zum Lagerschuppen. Mosaiken, die mich an jene byzantinischer Kirchen und türkischer Moscheen erinnern, tragen Spuren von dieser Misshandlung.

Jaja, in der Schweiz sei er auch gewesen. Was für eine angenehme Stadt Zürich doch sei. Und Lugano sei klimatisch Jalta ja sehr ähnlich. Genf hingegen wäre weniger sein Fall. Ein schönes Land, die Schweiz.“

Serghei, stolz auf die Beziehung seiner Frau zu einem „Spezialisten im Tourismus“ hatte meine Vorlesung an ihrem Institut angetönt. „Jalta hat viele Partnerschaften: Nizza, Acapulco, Santa Barbara in Kalifornien, Baden-Baden, und noch viele, und Arosa.“

Wie bitte?“
Arosa. In der Schweiz.“
Das kenn ich allerdings sehr gut, dort habe ich neun Jahre ein Hotel geleitet, das Tschuggen Grand Hotel. Aber weder der Ober- noch der Untersee haben mit dem schwarzen Meer viel gemeinsam.“
Mit einer Delegation bin ich dort gewesen. Man hatte uns eingeladen. Oben, ganz oben steht dieses Hotel“

Die Erinnerung an die Initiative von Florenz Schaffner, dem damaligen Kurdirektor tauchte auf. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion und der Hoffnungen auf diesen gewaltigen Markt, hielt er eine solche Partnerschaft für angebracht. Sie stiess auf wenig Begeisterung in der Bevölkerung. Auch bei uns Hoteliers. Vage erinnerte ich mich an ein oder zwei Empfänge, damals. Unsere heutige Wiederbegegnung überraschte uns beide, auch wenn wir uns an die Details nicht mehr erinnern.

Beim Spaziergang durch die Gärten des Livadia Palace kühlte sich das Wetter ab. Ein leichter Regen setzte ein. Ich lud Marina, Oxana und Serghei zum Mittagessen in das repräsentative Restaurant dort ein. Ein Fischgrat blieb in Marinas Hals stecken. Souverän nahm Serghei zwei Gabeln, entfernte sich mit Marina und erlöste sie in kurzer Zeit. Während ihrer Abwesenheit klärte mich Oxana auf, dass ich Sergheis Tätigkeit nicht verstanden hätte. Er sei wohl Anästhesist und bekannter Manipulator, als welcher er sich um Muskelschmerzen aus falscher Haltung, kümmere. Als solcher hat er den russischen Astronauten behandelt, der als erster sechs Monate im All verbrachte und dessen Muskeln nach Rückkehr völlig abgebaut waren. Darüber hinaus ist er spezialisiert in Reanimation. Besonders sei er am Übergang vom Leben zum Tod, am eigentlichen Sterbemoment interessiert. Er habe überdies die Fähigkeit, die Aura der Menschen wahr zu nehmen.

Am Nachmittag fuhren wir nach dem Weingut Massandra. Zar Alexander hatte es gegründet und Golitzin, der in der Nähe herrliche Weine produzierte, als Betriebsleiter bestellt. Dieser machte seine Arbeit so erfolgreich, das der Zar ihn zum Grafen adelte. Die Grafen Golitzin sind auch heute noch Besitzer dieses Guts. Einer der ihren lebte Ende der neunziger Jahre in Nizza und tut es hoffentlich heute noch. Wenn ich vom Vista Palace, dessen Übernahme durch Althoff ich 1997 begleitete, zur orthodoxen Kirche ging, war es als hielte die Messe an, wenn der zwei Meter grosse Graf die Kirche betrat, wirkungsvoll seine Kreuzzeichen schlug und und sich rituell bis zum Boden verneigte.

Die Weine, zum allergrössten Teil herrliche Dessertweine und „Portwein“, der den originalen stolz den Rang zu halten vermag, sind alle vorzüglich. Preislisten liegen nur in provisorischem, geschmacklosem Druck auf. Die Internetseite gibt's nur auf Russisch und Preise sind dort keine ersichtlich. Auch da klärte mich Oxana auf: Um das Gut tobe ein Übernahmekampf. Die Gegner seien keine feinen Leute. Um die Golitzins in die Knie zu zwingen, schrecken diese vor gar nichts zurück, bauen sogar Häuser in die Rebberge, welche das Gut zugemietet hat.

Das ist also das grosse Geld, von dem ich mich so beeindrucken liess, sobald es alt genug war, am Besten einige Generationen und Brandys gleich, bis sie den beissenden Alkohol verloren hatte. Darüber hatte doch Aldous Huxley in seinem „Point counter Point“ schon gespottet. Aber ich wollte es für meine Zeit nicht wahrhaben, schrieb solche Machenschaften längst vergangenen Zeiten zu.

Zum Abendessen war auch Sacha da, die jüngere Tochter mit ihrem Freund Serghei, den ich den II. nannte. Und Xenia mit Ivan, und den Schätzchen Pasch und Antoscha, die am Boden rumkrochen und spielten. So sei es jeden Sonntagabend, und hin und wieder auch unter der Woche.

Danach bereitete ich noch die morgige Lektion vor. Bis halb zwei. Und genoss es, wieder einmal vom arbeiten und vielen Eindrücken tot müde ins Bett zu sinken.

Mittwoch, 17. Apri 2013

Was war nur montags? Was gestern? Die Tage verlaufen so gedrängt, mein Leben ist so intensiv, diese Tage. Heute war vielleicht der erfolgreichste, obschon es gar nicht danach aussah. Ich hatte aufgetragen, Träume nieder zu schreiben, wo sie sich in 5 und als wen oder als was sie sich in zehn Jahren sehen. Darauf würde ich meinen heutigen Unterricht aufbauen.

Um 9.30 Uhr holte uns der Chauffeur des Hotels Orenda ab um uns zum F&B Mgr. Zu bringen. Er hätte zwar keine Möglichkeit, meine Dienste zu nutzen aber es würde ihn sehr freuen, mich kennen zu lernen. Etwas erstaunt war ich schon, denn ich hatte meine Dienste weder ihm noch sonst jemandem angeboten, aber für ein Nachtessen an einem einladenden Ort bin ich immer zu haben. Das wird morgen der Fall sein.

Danach besuchten wir Tschechows Haus. Eine „junge Frau von 95 Jahren“ führte uns umher. Ja, Ihr lest richtig: eine junge Frau von 95. Vermutlich war sie damals die Hausangestellte. Heute gibt sie sich als die Freundin von Tschechows Frau aus. In der Tat, sind Freundschaften zwischen Herrschaften und Bediensteten gar nicht so selten. Ich habe das bei unseren Gästen beobachten können. Wir allerdings betrachteten uns nie als Herrschaft, damals in Frankreich. Vielleicht sind wir gerade deshalb mit einem unserer Kindermädchen, Catherine, vertraut geworden und befreundet geblieben. Alla Vasilieva auf jeden Fall sprühte vor Erinnerungen, die sie geschickt und elegant mit der heutigen Zeit zu verbinden wusste und erzählte Bemerkenswertes und Amüsantes aus Tschechows Lebensgewohnheiten. Wir mussten uns beeilen, um rechtzeitig zur Lektion zurück zu sein.

Da wurde es schwieriger: Wer die Aufgaben wegen mangelnden Englisch Kenntnissen nicht machen konnte, wer kein Internet zu Hause hat und wer freimütig bekannte, es schlicht und einfach vergessen zu haben. „Na ja, was machen wir jetzt? Ich habe darauf meine heutige Lektion aufgebaut. Eure Träume habt Ihr wohl aufgeschrieben, oder?“

Der Besuch bei Tschechow hatte mich wohl etwas dramatisch gestimmt. Jedenfalls gelang es mir, sie von der Wichtigkeit des Traumes zu überzeugen, ihnen die Hemmungen davor zu nehmen. „Jeder Traum verwirklicht sich. Wenn Ihr, die Ihr mit eurem Studium gute Voraussetzungen mitbringt, euch auf Reisen seht und in zehn Jahren in einer beruflichen und persönlichen Situation, die euch Genugtuung und Freude bringt, habt Ihr recht. Zweifelt Ihr aber an euren Gaben und seht die Zukunft düster, mit einem Mann der trinkt und einer Frau, die nicht nur euch treu ist, habt ihr auch recht. Seid euch der Macht eurer Gedanken bewusst, pflegt sie, konzentriert euch auf das Gute. Ihr denkt, man könne auch nicht oder nichts träumen? Auch dann habt Ihr recht. Ihr werdet warten, bis etwas geschieht, hoffen, dass das Schicksal euch eine glückliche Fügung vorbehält und warten. Derweil ziehen die Jahre ins Land, Ihr habt vielleicht eine Familie, eine gute sogar, doch die Jahre ziehen an euch vorbei. Unmerklich werdet Ihr alt, eure Familie löst sich auf weil eure Kinder ihrerseits heiraten. Ihr betrachtet euch eines morgens im Spiegel und stellt fest, euer Leben nicht selbst gestaltet, eure Bestimmung nicht gesucht habt. So ist sie an euch vorbei gezogen... Ich begann diese Sätze inmitten der Bänke, laut, verständlich, lief langsam, schrittweise rückwärts, die Tonlage in stetem decrescendo. Die Wirkung war verblüffend.

Also, seid mutig. Ich gebe euch eine Viertelstunde. Notiert eure Wünsche, euern Traum. Jeder für sich. Danach werden wir sehen, wie man den Traum notiert, ihn in einen Plan umsetzt, diesen terminiert, Alternativen für Schwierigkeiten sucht und schlussendlich, Schritt um Schritt, seinem Zeil näher kommt. Los also!

Man hörte nicht einmal Fliegen summen und so nahmen wir es an die Hand. Danach analysierten wir die Websites von Clubmed als Zeitgemässe Ferienformel, Accor-Novotel als grösste Kreuzfahrt-Reederei der Welt, Disney-World war leider nicht runter zu laden, noch Mövenpick, deren Geschichte schön illustriert, wie man ein Grossunternehmen mit Wertschätzung der Mitstreiter aufbaut, ohne jemals die Grösse angestrebt zu haben, die Ueli Prager damit erreichte. Wir gingen zusammen in die Job & Karriereseite der Unternehmungen: Da seht Ihr, 160'000 Mitarbeiter bei Novotel, 50'000 bei Carnival, ebenso viel bei Clubmed. Warum solltet nicht Ihr einer von jenen sein? Nur Mut, die suchen euch!

Ausser den Wenigen, die bereits neben dem Studium in einem Hotel tätig sind, sind alle furchtbar Praxisfremd. Haben keine Ahnung, was die Welt ausserhalb von Jalta noch bietet.

Gestern begleiteten mich Ena, Svieta und Katya 2 nach der Lektion in den Nikitinsky botanischen Garten, zudem eine eher schmale Strasse der Küste entlang führt, durch Gärten, Reben und Olivenhaine. Montags Tamara Nikolaeva, Katya 2 und Nadja erneut zum Livadia Palace, der geschlossen war. Doch bekam ich delikate Tschebeurrecks zum Mittagessen, das Tamara arrangiert hatte. Sie sind alle so zuvorkommend, gerade zu lieb zu mir, der ich ihr Grossvater sein könnte! Danke, mein Schicksal! Erst recht, da ich das nie erträumt habe. Es war ein sonniger, aber trotzdem kalter Tag.

Donnerstag, 18.4.2013

Letzter Tag, letzte Lektionen. Eine um elf Uhr, zwei um 1 Uhr, Schluss 16 Uhr.
Alla Vassilieva 2 Schokoladen gebracht. Ausgeruht, fühlte mich geistig etwas ausgelaugt.

19 Uhr Dinner, eingeladen mit Marina von Viktor Dimitrevitsch, Deputy-General Manager des Orenda Hotels

Karamelisierte Birne mit Kreuzanis und Käse blinis, Salat von Rucola, Erdbeeren und Pflaumen an Gorgonzola

Turbot aus dem schwarzen Meer an Knoblauch grilliert, glasierte Schalotten, Cherrytomaten

Châteaubriand aus hiesiger Zucht mit Sce. Bearnaise

Carré d'agneau an cramberry sauce, (ausgezeichnet, trotz etwas langer Bratzeit)

Vareniki mit Kohl und Smetana

Vareniki mit Sauerkirschen und Honig

 

Trockene Weine aus Massandra, nichts Besonderes:

Aligoté, Careviv?? eine georgische Traubensorte.

 

Interessiert an Training: Victor soll mir schildern, wo meine Unterstützung den grössten Nutzen bringen könnte.

Er ist verletzt von Chief security u. anderen, die ihn angeschwärzt hatten. GD hatte bei vollem Hotel ein Diner von 200 Gedecken akzeptiert, das nicht i.O. Serviert werden konnte. Unsicher?

Sein grosses Thema: die Liebe als alles schaffende Kraft.
Geschenk nach Rückkehr: Escoffiers souvenir culinaires auf Englisch, hoffentlich gibt's und finde ich das .

Freitag, 19. April 2013

Wir haben gestern ziemlich viel und auch sehr gut gegessen und uns zu dritt zwei Flaschen genehmigt. Mein Erwachen war entsprechend und gab mir erneut Gelegenheit, der gourmandise abzuschwören und einfach vernünftiger zu geniessen. Etwas weniger halt. Eben vernünftiger.

Ich begrüsste Serghei, als er um acht Uhr das Haus verliess. Die Haustüre war abgeschlossen. Ich freute mich auf einen Vormittag alleine. Zügig hatte ich gepackt, nahm Tee mit etwas Früchte zum Frühstück. Ein Haufen Papier lag umher, den ich abgeräumt haben wollte: Rezepte übertragen, Visitenkarten ins Adressbuch aufgenommen, den File Jalta geordnet, jenen Freunden, die mir zum Geburtstag gratuliert hatten, einen Gruss aus Jalta schicken, sofern ich es noch nicht getan hatte und es waren derer eine ganze Menge. Zwar hatte ich den Rapport für Swisscontact noch nicht verfasst, als Marina mich zum Mittagessen rief. Trotzdem war ich mit dem Erreichten zufrieden und freute mich darauf, zum zweiten Mal schon ohne diesen ganzen Wulst an Paperasse von meiner Mission zurück zu kehren.

Die Studenten waren reizend. Die Fotosession wollte nicht aufhören, sie dankten freudig und immer wieder. Im Lehrerzimmer hatte man einen kleinen Empfang für mich organisiert, ich möge doch bald wieder kommen. Natürlich freut mich dieser Erfolg. Was mir vor allem aber gut getan hat, ist, dass ich wieder einmal richtig gefordert worden bin, dass ich etwas Neues, Unbekanntes angegangen war.

Serghei, Marina und Oksana zeigten mir das 80km entfernte Sebastopol, ehe sie mich nach Simferopol an und in den Zug begleiteten. Welch ein gewinnender Ort, Sebastopol! Nachdem wir ziemlich lange durch gesichtslose Quartiere gefahren waren, erreichten wir jene Bucht, wo der erblindete Fürst Vladimir 980 gestrandet war und gelobt hatte, sich taufen zu lassen und Gott zu dienen, wenn er ihm helfe. So geschah es, und von diesem Ort breitete sich der russisch-orthodoxe Glauben aus. Wie genau das war, vermag ich nicht zu sagen, denn die Sache hängt auch mit einem Schisma zusammen. Item. Sebastopol hat zahlreiche, malerische Buchten. Jene des Fürsten Vladimir, mit einer ausgedehnten griechischen Ruinenstadt, über welcher eine neuere Kirche thront. Die Seefront, wo sich Theater und weitere vorrevolutionäre Bauten befinden, hat etwas Majestätisches, Stolzes. In der Art erinnert es mich an Oslo, das ich 1973 anlässlich eines Relaiskongresses besucht hatte.

Auf der Hinfahrt hatten wir in Balaklava gestoppt. Eine enge Bucht, seit Urzeiten von Seefahrern benutzt und von wo aus im 2. Weltkrieg die russischen Unterseeboote ausliefen. Genuesische Wachttürme überblicken das Ganze, das etwas von Portofino haben könnte, wenn etwas mehr Charme die Bauten bestimmte. An Charme gebricht's hier an manchen Orten. Weshalb bloss? Wenn die Menschen nicht so offen und so Gastfreundlich wären, ich wüsste nicht, weshalb ich nochmals hierher zurück kehren sollte. Hier in Jalta habe ich mit Serghei, Marina, ihren Kindern und Enkeln und ihre Freundin Oksana, wunderbare Menschen kennen gelernt.

Samstag, 20. April

Die Zugsfahrt nach Kharkov, von 20.20. Uhr bis 7.50 hatte den Vorteil, keine Zeit zu verlieren. Durch den langen Aufenthalt in Kiev bis zum Weiterflug nach Kharkov hätte ich einen ganzen Tag gebraucht. Bequem war's nicht: Das Rollmaterial stammt gewiss noch aus den vierziger oder fünfziger Jahren, rüttelte und schüttelte, sodass man weder lesen noch am Labtop arbeiten konnte. Ich teilte das Abteil mit einer jungen Mutter mit ihrem fünfjährigen Söhnchen. Sie hatte nur eine Couchette gebucht, unten, mir gegenüber. Die freundliche Schaffnerin kontrollierte das genau und nahm die überzählige Bettwäsche aus dem Abteil. Ich überliess ihr meine Liege und stieg hinauf. Der Kleine hatte am Morgen ein schwieriges Erwachen. Meine Slideshow über das Ticino versöhnte ihn dann aber rasch mit seinem Schicksal.

Anna erwartete mich am Wagonausgang. Sie hat ihre natürliche, dunkelblonde Haarfarbe. Ihr Lachen wirkt überzeugender. Nachdem sie mich in eine ihrer neuen Wohnungen gebracht hatte, holte sie mich zwei Stunden später ab. Wir besuchten diverse ihrer Mietobjekte. Es scheint gut zu gehen, sie hat mehrere dazu gekauft. Wir sprachen mit den Reinigungsfrauen, die sich offensichtlich meiner erinnern. Das System der geteilten Büros, das administrative in einer „gated community“ um vor Überfällen wie letzten Herbst geschützt zu sein, und die Verkaufsbüros in einer unscheinbaren Parterre-Wohnung, hat sich erwartungsgemäss nicht bewährt. Nun wird sie im Juni wieder alles in neuen Büros zusammen ziehen.

Anna schlug einen Hight Tea im Kharkiv Palace anstelle des Lunch vor. Es war ja auch schon fünfzehn Uhr. Auf der ausladenden Terrasse vor dem Café fotografierten junge Leute Models und alberten herum. Die Models waren sichtlich Amateure, wie der unsichere Gang auf ihren extremen high heels offenbarte. Der Küchenchef, der während einer kurzen Abwesenheit von Anna am Tisch vorbei lief und über das Panorama witzelte, kam nochmals vorbei, warf einen bewundernden Blick auf Anna, die zwischenzeitlich zurück gekehrt war. Er erzählte von der Mutter, welche von ihrem Sohn wünschte, dass seine erste Frau eine Russin sei.

Warum denn, Mamma?“
Russinnen sind starke Frauen. Sie werden dich das Leben lehren. Und deine zweite soll aus der Ukraine stammen.“
Aus der Ukraine?“Ja, aus der Ukraine. Dort leben die schönsten und zärtlichsten aller Frauen. Deine dritte aber soll eine Jüdin sein.“
Ausgerechnet!“
Selbstverständlich eine Jüdin. Keine andere kümmert sich liebevoller um das Grab ihres verstorbenen Gatten.“

Sehen Sie Anna, auch wenn Sie nur Vierteljüdin sind, wie sie mir im Herbst anvertrauten, wären Sie meine perfekte dritte Frau“ brachte ich sie zum Lachen. „Leider geht das nicht. Mir fehlt nämlich die zweite...“

Ich habe heute Annas Mutter kennen gelernt. Sie kränkelt, laut Anna. Eine zierliche, sympathische Frau. Sie kümmert sich gerne um ihr Enkelpärchens vom Sohn, welches sich nun auf ein Schwesterchen freut. Von ihrem Mann Viktor hat sie ein total getrenntes Leben, obschon die beiden verheiratet geblieben sind. Dieser gärtnert und verdient sich so ein Zubrot und sieht nach Anastassja, Annas Tochter.

Ja, im Westen ist man im Alter vielleicht schon fröhlicher gestimmt“ meinte Anna auf meine Bemerkung, dass ich heute alles viel weniger ernst nehme und mich umso mehr freue. Man mache sich in der Jugend zu viele Sorgen. Es war ein Gespräch über Anastassjas Erziehung und Verwöhnen. „Bei uns ist das nicht so. Sehen Sie, meine Mutter hat 48 Jahre am Konservatorium gelehrt und hat nun eine Rente von 150 € monatlich. Davon gehen schon mal an die 50 € für Gas und Elektrisch weg. Mit dem Rest kann man leben, solange man nicht krank wird. Wie das wäre, ohne meine Unterstützung weiss ich auch nicht“.

Sonntag, 21.4.

So langsam wird mir die Zeit lang und ich freue mich auf zu Hause, trotz der anregenden Gesellschaft. Vorgesehen war, dass wir nach 10 Uhr einige Apartments miteinander besichtigen würden und danach an der Website weiter arbeiten.

Am Nachmittag würde ich Anna und Nastjusha in ein Waisenhaus aufs Land begleiten. Anna hat alte Kleider dort abzuliefern und kümmert sich um eines der dortigen Mädchen. Es sind zum Teil echte Waisen, zum Teil eine Art Verdingkinder, welche die Eltern weggeben weil sie schon nicht wissen, wie sie anderen durchfüttern sollen. Wieder andere entstammen Problemfamilien, deren Eltern trinken, im Knast landeten oder sonstwie einfach verdufteten.Wie natürlich diese Kinder sind: Sie guckten verwundert, als wir in den Garten einfuhren, grüssten danach freundlich. Sie nahmen Nastjusha sofort als Spielgefährtin auf, die ebenso natürlich auf sie zuging. Anna ist wichtig, dass ihre Tochter ihr Daheim nicht als selbstverständlich nimmt und auch andere Verhältnisse kennen lernt.

Das Gebäude ist alt, dürftig, aber blitzsauber. Ich hatte noch zwei Tafeln Schokolade, die ich Svetlana, der dortigen Leiterin gab, die uns im zweiten Stock in einem grossen, leeren Raum erwartete. Ein Junge sass dort am Fenster, einen Atlas in der Hand. „Aus der Schweiz sind Sie?“ Sofort schlug er nach und hielt die wesentlichen Angaben fest: „4 Sprachen, (noch) 7 Mio. Einwohner. Hauptstadt Bern. Reiches Land, ja?“ „Bogdan, zehn“ antwortete auf die Frage nach seinem Namen und Alter. „Jürg? Ist das Juri, Georg auf Russisch?“ Ein Mädchen hatte sich unaufdringlich zu uns gesellt. „Kak tebia savut?“ „My name is Jana“ antwortete sie auf Englisch. Es ergab sich eine nette Konversation über Länder und Reisen. „Oh, er wisse genau, wie er nach Amerika komme,“ erklärte Bogdan, „über Ungarn, Österreich, Deutschland und dann an die Atlantikküste Frankreichs.“ Geografie, Geschichte und Mathe seien eben seine Lieblingsfächer. Doch schon unterbrach Anna unsere Plauderei. Sie nahm die dreizehnjährige Oksana mit ins nächste Dorf um ihr dort Kleider zu kaufen. Svetlana kam um sich zu verabschieden, nachdem es Bogdan und Jana getan hatten. „Wenn Sie mich als Kind wollen, komme ich sofort mit“ rief mir Bogdan nach, als Anna und ich bereits unter der Türe standen.

Das gab mir einen Stich ins Herz. Ein so kluger, aufgeweckter und sympathischer Junge: „Wenn Sie mich als Kinde wollen, komme ich sofort mit.“ Obschon ich ihm eine beeindruckende Lebensgestaltung aus eigener Kraft zutraue, schmerzt mich diese Frage. Den Geist im Hause empfinde ich als vorbildlich, die älteren Damen und Svetlana, um die 45, schenken den Kindern sicher alle Zuneigung, die sie vermögen. Wie aber sieht es wohl in einem Kinderherzen aus, das die Nähe von Eltern nie verspürt hat oder wenn, dann in negativer Spiegelung? Anna verriet mir, dass sie mit sechzehn ein Kind, einen Jungen verloren hätte. Unter Tränen und mit stockender Stimme gestand sie, überzeugt zu sein, dass dieses Kind irgendwo lebe. Leider könne man nicht allen helfen, aber das sei der tiefere Grund, weshalb sie dieses Waisenhaus unterstütze. Wenigstens wolle sie sich um die dreizehnjährige Oksana weiter kümmern.

Mir will scheinen, dass ich Moment wichtige Erfahrungen mit einer lebenslangen Verspätung mache. Vielleicht ist es ja so, dass sie sich früher schon präsentierten, ich sie aber erst jetzt zulasse.

Jetzt muss ich aber noch an diese Website. Es ist halb sechs. In einer Stunde gehe ich mit Tatjana, Annas Schwiegermutter ins Konzert.

Montag, 22. 4. 2013

Besichtigung des Hauptbüros
Kritisches Durchgehen der Websites: 2!

Starker Pfnüsel. Abends kurzes Treffen mit Irina Kovtun von Swisscontact.

Sie hat gute Echos von Marina. Ich habe ihr offen gesagt, wie angenehm die Menschen dort sind, doch wie hoffnungslos sich die Situation präsentiert: Das Verkommen der Stadt Jalta, die eine Perle sein könnte, wollte man die architektonische Substanz nur anständig und stilgerecht restaurieren. Aber nichts da: Magaratsch, ein berühmtes Weingut mit hochkompetenten Oenologen wurde geschlossen und Baulöwen geopfert. Unglaubliche Bausünden von reichen Leuten, die nichts anderes als kurzfristiger Profit interessiert, entstellen das Antlitz der Küste. Im Kirov, ein wunderbarer Park siecht eine Gründervilla und ein hässlicher sowjetischer Hotelbau vor sich hin, wie man sie leider durchaus auch bei uns und an der Adria Küste sieht. Dieser Sitz sollte das Wahrzeichen der Stadt und Anziehungspunkt für Gäste wie Bevölkerung sein! Hilflos zuckte der Direktor die Schultern und meinte, sie seien daran, Pläne zu schmieden. Das Hotel Rossija, das im 19.jh als erstes über elektrisches Licht und Lifte verfügte, vom weitgereisten Tschechow als bestes Hotel Europas besungen, wurde zwar schön renoviert, aber vollständig in Wohnungen umfunktioniert. Es ist voraus zu sehen, dass sich die Promotoren aus dem Staub machen werden, sobald das letzte Apartment verkauft sein wird. Privatinteressen, Kompetenz- und Verständnismangel für die heutige Lage wie auch für die Zukunft prägen das Bild. Wovon soll denn Krim leben, wenn nicht von Tourismus und etwas Weinbau? So ist das bei uns, meine Irina Kovtun. Unsere Politiker handeln streng nach dem napoleonischen Grundsatz: „Für meine Freunde alles, für die Andern habe ich das Gesetz.“

Ich ziehe in eine andere Wohnung, ins Zentrum in die Stadt. Danach trafen wir noch Andrey I, der Web-Marketingspezialist von Annas Seite www.kharkov-apartment.com. Warum diese auf den Suchmaschinen so weit hinten ist, und zwar sowohl in englischer wie auch in der russischen Ausgabe, vermag er nicht zu sagen.

Anna ist sehr rücksichtsvoll: sie half mir, mein Gepäck in den 4. Stock zu schleppen und bestand darauf, dass ich sie anrufe, sollte sich mein Zustand verschlechtern.

Dienstag, 23. April 2013

Anna hatte gestern erzählt, wie ergeben Maxim ihr seit der Scheidung ist. Wie er gelitten hatte, als sie kurz danach einen Mann kennen lernte, eine vorübergehende Beziehung einging. Er kümmert sich rührend um die Tochter, macht alles, um Anna angenehm und behilflich zu sein. Er wird es wohl sein, der mich morgen um 5 Uhr früh zum Flughafen bringen wird, denn ihr geschäftlicher Tag beginnt nie vor 10 Uhr. Ich habe ihr Brels „ne me quitte pas“ aus youtube gesandt. Sie hat von Brel noch nie gehört. Wäre schön, wenn sie dies Maxim wieder etwas näher bringen würde.

Wir werden heute Andrey II treffen, der für die zweite Website, für air-bnb zuständig ist. Diese erstellt er kostenlos. Sie ist fliessender in der Handhabung, eleganter im Design entworfen als die erste. Er gibt sich mit allfälligen Kommissionen zufrieden, sollte die site tatsächlich solche produzieren. Das sei eben Teil seiner intensiven Verehrung für sie, meint Anna. Sie wollte mir nicht verraten, welchen Platz Andrey II auf ihrer Warteliste besetze. Das sei zu privat. „Macht nichts“, sagte ich. „Ich werde das auf Google nachsehen“. Sie hat ein ansteckendes Lachen und es gefällt mir, sie zu amüsieren. Danach will sie mit Olga und mir meinen Rapport vom November weiter durchgehen, den wir gestern zu lesen begonnen haben. Durchaus erstaunlich, dass sie Verschiedenes umzusetzen vermochte in einer Zeit, welche durch Umzug und Aufteilung der Büros nicht einfach war.

Zum Businesslunch lädt sie mich und Irina Kovtun ins Kharkov Palace ein. Sie ist gerne grosszügig und sehr elegant, schätzt Zuvorkommenheit, betont aber hin und wieder, dass sie „ihr jüdisches Viertel“ vor Übertreibungen behüte. Binde mir gleich eine Krawatte um! Das Wetter verdüstert sich wieder.

Einen schlechten Morgen habe sie heute, meinte Anna, als sie im Auto angerauscht kam. Sie trug casual chic, den ich eher straschni chic, grässlichen Chic nennen würde, nämlich zerschlissene Jeans, eine hübsche, dunkelblau geblumte Bluse auf grau-braunem Hintergrund und ein braunes, ungefüttertes Manchesterjäckchen mit fein und locker gestrickten Manschetten und Kragen in dunkelbrauner und Kupferfarbener Wolle . Ich war sehr zufrieden mit mir selbst, dass ich mich jeglicher Bemerkung enthalten hatte, mich erinnernd, dass sie zehn Jahre jünger als unsere Tochter ist. Sie legt Wert auf meine Begutachtung, wie sie mehrmals sagte. Hätte sie mich heute danach gefragt, wäre meine Reaktion vermutlich folgende gewesen: „Wünschen Sie, dass ich Ihnen als Freund oder homme de goût antworte?“

Ich wusste, dass sie verabredet war, den Vertrag ihrer neuen Büros zu unterzeichnen. Da sei doch der Wachmann faul auf seinem Stuhl gehockt, hätte in die Röhre gekuckt, ohne sie zu grüssen, geschweige denn, sich zu erheben. Sie wäre mit dem Direktor verabredet, wo sie ihn finden könne. Der sei nicht da, antwortete er, ohne aufzublicken. „Ich bin nicht dafür da, weder um Sie anzublicken und schon gar nicht um mich zu erheben für Sie,“ meinte er auf Annas Hinweis auf sein Benehmen, „ich bin dazu da, das Gebäude zu bewachen.“ Ein Relikt aus sowjetischer Zeit.

Der Vertrag sah dann auch sehr vorteilhaft aus: 200 grivna monatlich für ein Büro mit drei Räumen, was lächerliche 24 Schweizerfranken ausmacht. Sie unterzeichnete, alles wurde ordnungsgemäss registriert. Effektiv bezahlt sie aber monatlich 5000 grivna. In diesem Wirtschaftssystem ist man zu Schwarzgeld gezwungen, wenn man überleben will.

Zur Geschichte vom letzten Herbst:

Der Partner, welcher ihr damals drei Wohnungen zur Vermietung überliess, war gleichzeitig ihr Liebhaber. Er stellte ihr einen Bekannten vor, einen Polizeioffizier aus Kharkov. Dieser gab ihr ebenfalls seine Wohnung zur Vermietung. Einmal richteten Mieter beachtliche Schäden an. Der neue Bekannte wurde wütend, bestand sogleich auf Bezahlung der Schäden in sehr brüsker, unhöflicher Art. Der Polizist wurde ungehalten, bezichtigte sie der Steuerhinterziehung und weiterer Verfehlungen und zettelte Untersuchungen an. Ihr Liebhaber kam etwa zur gleichen Zeit in geschäftliche Schwierigkeiten und verlangte, bei Anna ins Geschäft einzusteigen. Anna lehnte ab. Sie vermische aus Prinzip nichts Privates und Geschäftliches. Nun war er plötzlich nicht mehr ihr Lover. Er unterstützte seinen Bekannten in seinen Forderungen.

Nebst den geschäftlichen Schwierigkeiten war es ihm unerträglich, dass eine Frau so selbständig handelte. Desgleichen war es für den Polizisten, den sie mit einigen Tausend $ ruhig, aber nicht zufrieden stellte. Anna entschuldigte, bedauerte, unterwarf sich. Das sei typisch für die Ukraine. Man lebe hier in einem alles bestimmenden Patriarchat. Als Frau dürfe man einen Mann nie direkt konfrontieren, sondern müsse hingebungsvoll, schmeichelnd und schwach auftreten und alles mit vielen Komplimenten für den Mann überzuckern. Nur so gelinge es, seine Position als Frau zu behaupten.

Einer ihrer Bekannten aus Kiew in hoher Position konnte feststellen, dass nichts Haltbares an den Vorwürfen gegen Anna war und empörte sich über die unverhältnismässige Vorgehensweise der Kharkover Polizei. Er stoppte die Aktion, und zwei der fehlbaren Beamten in Kharkov wurde gekündigt.

Ihr Ex-lover entschuldigte sich später. Für Anna wurde einmal mehr klar, wie unerträglich eine selbständige Frau für die ukrainischen Männer ist. In der Ukraine sind die Frauen in Überzahl. Deshalb brauchen sich die Männer auch gar nicht anzustrengen. Zu einer Frau kommt jeder! Wenn Männer darüber hinaus noch über Geld verfügen, sind sie oft unausstehlich. Beziehungen funktionieren hier halt ebenfalls nach den Gesetzen des Marketings, nach Angebot und Nachrage, meint sie.

Ich denke, dass meine Miteidgenossen, die der Liebe wegen in die Ukraine reisen, vor allem auf den ersten Teil der Komödie reinfallen. Die Ukrainerinnen ihrerseits schätzen den zivilisierteren Auftritt von uns Schweizern, auch wenn das zuweilen etwas eintönig daherkommt.

Rückflug:

Nicht ein einziges Mal habe ich in all dieser Zeit mein Russisch Grammatikbuch geöffnet. Praktiziert habe ich nur, wenn es nicht möglich war, mich in einer anderen Sprachen zu verständigen. Und das nach 15 Jahren! Das Zuhören verlangt von mir eine kaum zu erbringende Konzentration. Auch dann verstehe ich höchstens 40-60%, doch meine Gesprächspartner wissen nicht, was ich schlussendlich mitbekommen habe. Sollte ich im September wieder hingehen, will ich nun endlich täglich lesen, Satzanalysen machen, und regelmässig – was immer das heissen mag – TV, Hörbuch oder Radio hören.

Wenn es dann noch immer nicht klappen sollte, gebe ich auf und konzentriere mich auf die anderen Sprachen, die ebenfalls unterhalten werden wollen. Heute geht es schliesslich nicht mehr um diese Durchhalteübung, die ich fürs Bestehen in meiner Selbständigkeit unbedingt brauchte. ( Kaum habe ich das geschrieben, komme ich mit der Sitznachbarin ins Gespräch. Sie versteht offenbar keine Fremdsprache und wir plauderten Russisch schön fliessend miteinander.... ach!)

Zum Trost gereicht mir der Eindruck, dass ich präziser schreibe. Auf Deutsch. Sogar meine gestrenge Margot meint, dass diese Ausgabe meines ukrainischen Tagebuches das Beste sei, was ich bisher geschrieben hätte. Ich hoffe, dass ihr Urteil nicht nur auf dem Auslassen von Begebenheiten mit Frauen beruht.

Endlich habe ich Carla Porta Musas Buch, „ le stagioni di Chiara“ das diese mir im Kronenhof freundschaftlich gewidmet hatte, gelesen und vor allem genossen. Im letzten Drittel wird die Handlung zwar ziemlich voraussehbar, wirkt dadurch konventionell und etwas süsslich. Es ist ein Buch für Frauen, welches die seelische, geistige Entwicklung einer Frau beschreibt, die sie durch ihre Beziehungen zu Männern erfährt. Eine sehr subtile Schilderung in einem schönen, ungekünstelten Italienisch. Die Aufteilung der Erzählung in kurze, prägnante Episoden bringt mich auf die Idee, mein Tagebuch, auf jeden Fall jene über 400 Seiten seit meiner Selbständigkeit vor 16 Jahren, auf die gleiche Art zu konzentrieren (kompostieren?) auf vielleicht 60-80 Seiten? Sollte genügend lesenswerter Stoff vorhanden sein, und sei es nur die Suche nach mir selbst, kann ich vielleicht das Eine oder Andere aus den beiden dicken Ordnern dazu nehmen, die mein Leben seit 1968 aufzeichnen, wenn auch ziemlich lückenhaft? Dann müsste es in der dritten Person geschrieben sein um nicht zur Nabelschau zu verkommen, was ein TB über weite Teile ja wohl immer ist.

Mit dem Einbeziehen von Familie, Persönlichkeiten denen ich begegnet bin und da und dort einer Hotelbegebenheit, könnte ich das vielleicht auflockern? Es wären da auch noch ein paar Briefe, deren Wiederlesen mich ganz zufrieden macht. Nichts soll für die Veröffentlichung bestimmt sein. Der Marketingmässige Aufwand um Erfolg zu haben, ist dafür viel zu gross (in meinem Alter) und eine Publikation im Eigenverlag, die man dann allen Freunden und Bekannten gratis aufzwingt, ist peinlich. Einfach so, um zu sehen, ob ich nicht doch noch einmal etwa Grösseres auf die Reihe bringe?

Der Rückblick auf frühere Anstrengungen ist dazu nicht ermunternd: wenn ich schon einmal etwas Längeres an die Hand nahm, gebrach es mir oft an Kraft, dieses den Vorstellungen gemäss durchzuziehen. Ich erinnere mich noch gut an Allan Fentons Bemerkung über sein witziges Buch the shadow of the tycoon, welche Anstrengung es ihm abverlangt hatte, täglich konsequent von 9-12 daran zu arbeiten. Und er war damals um die fünfzig! Aber beschäftigen und unterhalten würde mich so ein Projekt allemal. Ich wäre dann, wie die Franzosen sagen würden, ein écrivant, im Unterschied zum publizierenden écrivain.

Wir sind gelandet. Aussteigen! Ah, wie schön, wie gepflegt und wie Vertrauensspendend ist es in unserer Schweiz!

 

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