Zurzeit sind 552 Biographien in Arbeit und davon 313 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 191




Erika die einzige, mir noch gebliebene Schwester von meinen insgesamt vier Geschwistern teilte mir mit belegter und weinerlicher Stimme den Tod von unserer Tante Gorgette mit. Traurig, oder gar den Tränen nahe war ich nach diesem Telefongespräch nicht. Tante Gorgette sah ich ein einziges Mal. Damals war ich ca. 10 Jahre alt. Warum dieser Kontakt wieder abgebrochen ist weiss ich nicht genau aber meine Mutter zeigte kein Interesse an ihr und mein Vater war bei diesem Treffen auf Arbeit und hatte sie gar nicht gesehen. Leider war es ihnen vergönnt gemeinsam aufzuwachsen. Beide wurden verdingt. Der Lebensweg meiner Tante ist mir bis dato unbekannt, dagegen ist mir Vaters unheilvolle Leidensgeschichte immer wieder zugänglich, er hatte diese mit seiner tiefen rauchigen und warmen und trotz seiner schweren Krankheit, festen Stimme auf einer Kassette festgehalten. Er schenkte mir das Tonband, kurz bevor er 1984 verstarb. Das Band mit seiner Stimme ist bei mir etwas in Vergessenheit geraten aber nach diesem Telefonat wurde mein Interesse wieder neu geweckt und darum stöpselte ich den Kopfhörer von meinem alten Walkman in meine Ohren und drückte die Starttaste.

Meine Grossmutter ist gestorben als mein Vater ca. 6 Jahre alt war. Sein alleinerziehender Vater konnte für ihn und seine ältere Schwester nicht sorgen und verfiel der Alkoholsucht. Die zuständige Vormundschaftsbehörde auserwählte ein gottesfürchtiges Ehepaar als seine zukünftigen Pflegeeltern. Das Ehepaar Pfäffli musste mit Herrn und Frau Pfäffli angeredet werden und für sie war mein Vater einfach der Bueb. Sie lebten allein auf einem kleinen Hof. Arme Leute waren das zur damaligen Zeit sicherlich nicht. Was ihn dort erwartete war alles andere als Geborgenheit und Nestwärme. In einer Gerümpelkammer für Blumentöpfe, Weidenkörbe, Wäschezuber, Velos, Werkzeuge, Hühnerfutter und eine verrostete Sense befand sich sein Nachtlager. Es bestand aus etwa zehn Jutesäcken, sechs davon als Liege und die restlichen zum zudecken. Nie, hätte er es für möglich gehalten dass man darauf schlafen kann. Am Sonntag trafen sich seine gottesfürchtigen Pflegeeltern mit Gleichgesinnten. Auch auf ihrem Hof wurden solche Treffen abgehalten. Jeden Morgen und jeden Abend nach dem Melken transportierte mein Vater mit dem Hundekarren die Milch in die Käserei wie auch ein anderer Junge aus der Nachbarschaft. Und so kam es einmal dazu, dass sich die beiden Hunde gegenseitig beschnüffelten. Während die Jungs in ihrem eigenen Spiel vertieft waren gerieten die Vierbeiner vom Weg ab und die Anhänger kippten. Ganz langsam versickerte die Milch im Boden. Ohne Molke musste er den Heimweg antreten denn ohne die Milchlieferung bekam man diese nicht. Potz Donner, von wegen, er kann nichts dafür, der Befehl lautete: Hosen runter, ungläubig, und nicht gleich gehorchend sah er wie der Herr Pfäffli, einen Lederriemen in der Hand hatte. Donnerwetter, rasch hatte er ihm die Hosen runter gezogen und schon lag er auf seinem Knie, unmöglich weg zu kommen. Ach, wie kann man so etwas aushalten! Er hat ihn windelweich verprügelt, wegen diesen geschissenen 10-12 Liter Milch. Und sofort verbannte man ihn ohne Essen in die überstellte Gerümpelkammer. Auf diesem harten, elenden unbeschreiblichen stinkenden Sackhaufen konnte er kaum liegen. Schmerzen und nochmals Schmerzen, auf dem Bauch lag er und weinte jämmerlich bis der Schlaf ihn erlöste. In seinen ersten Schulferien war Frau Pfäffli der Meinung, dass sie ihm das „Vater Unser“ beibringen müsste. Das wollte nicht so recht klappen, sie sagte vor, anschließend sollte er wiederholen, allmählich hatte sie genug von seinen ungeschickten Bemühungen und sagte: „So, ich sage es dir noch einmal vor, danach musst du alleine üben und bevor du dieses Gebet nicht fehlerlos auswendig kannst, gibt es nichts zu Essen! Jesus war letzte Nacht bei mir und verlangt das von mir!“ Du verreckter "Cheib", größer wurden seine Hirnzellen nicht, absolut nicht, aber auch nicht kleiner. Er übte ohne den Sinn zu verstehen:
Unser Vater der du bist im Himmel
Geheiligt werde dein Name
Dein Reich komme
Dein Wille geschehe
Wie im Himmel so auf Erden..
...immer wieder musste er Frau Pfäffli um Hilfe bitten. Sie korrigierte ohne murren seine Fehler. Kein Mittagessen, kein Brot nach der Käserei, nein tatsächlich, es besteht kein Zweifel sie machte ihre Drohung war. Hungrig und traurig übte er in Säcke eingewickelt, weiter bis der Schlaf seinen Hunger in Vergessenheit hüllte. Am nächsten Morgen versuchte er erneut Zeile für Zeile auswendig aufzusagen und hoffte auf ein Stück Brot. Seine Verzweiflung war unermesslich als sie mit seinem Vortrag nicht zufrieden war. Nüchtern und ausgehungert machte er sich an seine tägliche Arbeit und übte weiter.
Unser tägliches Brot gib uns heute
Und vergib uns unsere Schuld
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Und führe uns nicht in Versuchung
Sondern erlöse uns von dem Bösen
Denn dein ist das Reich und die Kraft
Und die Herrlichkeit in Ewigkeit
Amen.
Endlich! Das „Vater Unser“ betete er von nun an während Frau Pfäffli sein spärliches Essen auf den ihm zugewiesenen einsamen Platz in der Küche hinstellte. Der Hunger war an diesem Ort sein steter Begleiter. Nein, verhungert ist er nicht! Die Katzen und der Hund kriegten auch zu Fressen - ja doch, es war so, er klaute aus dem Katzenteller und dem Hundegeschirr! In diesen Schüsseln hatte es in Milch eingeweichte Brotbrocken.
An einem Sonntagmorgen als die frommen Eheleute ihn zur Eile antrieben musste er wieder einmal auf das ohnehin karge Frühstück verzichten, statt dessen sagte sein Gebieter: „So Bub, wir müssen „d‘s Predigt“ du kannst nicht mitkommen, hast keinen Platz auf unserem Fahrrad und damit du mir nicht wegläufst - komm mit!“ Ängstlich folgte er Herrn Pfäffli die Treppe hinunter und mit einem Schubs wurde er in den Keller befördert. „Du wartest hier, bis wir wieder kommen!“ Die Türe ging zu, der Schlüssel wurde gedreht und allein war er. Eine Mischung aus Furcht, Angst, Bestürzung und Hunger ließen ihn erneut ungehört weinen, schluchzen und winseln. Es war ein langer, langer Sonntag in der totalen Dunkelheit. Die Sonne hatte er nicht gesehen. Am Abend ja erst am Abend waren sie zurückgekommen. Der Katzenteller sowie der Hundenapf waren leer! Die Tiere hatten auch nichts zu fressen. Nach seinen abendlichen Pflichten durfte er beten und sein Abendbrot essen. Jetzt noch den Abwasch erledigen und dann wäre dieser schreckliche Sonntag vorbei. Aha, in der Stube wo Herr und Frau Pfäffli tafelten, gab es Butter und Konfitüre! Unbeobachtet schleckte er mit seiner Zunge hastig das schmutzige Geschirr ab. Sein Essen bestand aus einem kleinem Stück Brot und einer gekochten Kartoffel und dazu eine Tasse Milch verdünnt mit wässrigem Kaffee. Es kam wie es kommen musste, ein Teller fiel zu Boden und das klirren war unüberhörbar und so gleich stand Herr Pfäffli hinter ihm. Er war außer sich vor Wut und verpasste ihm einen derart kräftigen Tritt in den Hintern dass er wie ein Ball an die Wand flog! sein Heulen erzürnte ihn noch zusätzlich. „Willst du jetzt schweigen oder du kriegst noch ein paar...!“ Schluchzend in seinem Sacklager hatte er sich vorgenommen von nun an das Heulen zu unterdrücken um nicht noch weitere Schläge einkassieren zu müssen. Es sollte nicht lange dauern um zu erfahren, wie schwer sein Vorhaben war. Schon in der folgenden Woche war es wieder soweit: Frau Pfäffli befahl ihm Kartoffeln aus dem Keller zu holen. „Was ist das?“ fragte sie, und zeigte ihm zwei angefressene Kartoffeln. „Das ist nicht von Mäusen oder Ratten, hast du am letzten Sonntag?“ Bevor er auch nur mit einem „Ei ja-“ antworten konnte, rieb sie ihm diese auch schon ins Gesicht und danach gab es selbstverständlich noch Schläge! Nein, nicht heulen, nur nicht heulen, mit seiner ganzen Kraft versuchte er diese Folter zu ertragen ohne einen Laut zu geben. Diese Schluchzer, das Würgen und die Tränen konnte er lange zurück halten, aber plötzlich kam all das in einem Schwall aus ihm. Nicht ganz hatte er erreicht was er wollte aber er wusste es würde ihm in Zukunft gelingen! Für einige Tage war die Welt wieder in Ordnung. Man hatte sich auch mit ihm unterhalten, sicher doch, das möchte er nicht unterschlagen. Die Tiernahrung war keine Kindgerechte Ernährung und auch nicht gesund. Davon bekam er oft Durchfall. Er trug nur kurze Hosen, Holzschuhe und ein Hemd! Wahrscheinlich lief ihm die Scheiße über die Waden und der „Herr“ hat es gesehen. An den Ohren packte er ihn und schon landete er im Brunnen. Jawohl, an beiden Ohren hatte er ihn hochgehoben! „Du verdammter Sauhund, du Hosenscheißer, du gehörst in den Saustall du verfluchter dies und einer...“ Er möchte diese Wörter nicht alle wieder geben, es fehlten bestimmt keine Beleidigungen, alle musste er während seinem „Bad“ über sich ergehen lassen. Herr Pfäffli schaute ihm bei seinem Geschwader zu.„So du Drecksau, ziehe deine Hosen aus und wasche sie!“„Jeses“ er hatte sicher nicht absichtlich die Hosen voll. Er gab ihm eine Bürste, aber nicht ohne vorher ihm damit auf den Kopf zu schlagen! Nackt musste er den Brunnen schruppen. „Die Kühe wollen keinen Dreck von dir du Scheißkerl, du stinkender Hurensohn du elender.... “Als der Brunnen wieder sauber war, durfte er die Hosen und das Hemd wieder anziehen. Richtig! Tropfnass! „Das kann an dir auch trocknen du...“ Nun denn, es wurde Abend und er legte seine Kleider über einen Zaun. Die Nacht war zu kurz um seine bescheidenen Klamotten zu trocknen, anziehen musste er sie trotzdem.
Während der Erntezeit wurde er wieder einmal bestraft, dieses Mal für seine Dummheit. Mit nackten Füßen musste er auf den Stoppelfeldern die liegengebliebenen Ähren einsammeln. Für jeden Korb Ähren wurden ihm ein Stück Brot versprochen. Nach einiger Zeit war der Korb schön gefüllt und er bekam seinen wohlverdienten Lohn. Beim leeren kam ihm die verhängnisvolle Idee die Hälfte doch gleich wieder mitzunehmen. Es klappte wunderbar! Und schon hatte er ein weiteres Stück Brot. Das läuft ja wie geschmiert! Begeistert von seiner Idee und frech geworden nahm er fast alle Ähren wieder mit. An den Zeitablauf, nein daran hatte er nicht gedacht! Kaum war er weg, war er auch schon wieder zurück. Zum dritten Mal einen vollen Korb aber auf der Einfahrt ein kleines mickeriges Häufchen! Du liebe Zeit! Gepackt hatte ihn die Frau Pfäffli und mit einem Dreschflegel schlug sie auf ihn ein wie eine Besessene. Auch dieses Mal musste er weinen, die Züchtigungen waren unerträglich. Noch heute glaubt er, dass sie ihm damals eine Rippe gebrochen hatte. Husten konnte er nur unter Qualen. Wieder hatte er etwas dazu gelernt. Nicht in der Schule, dort konnten sie ihm nichts beibringen was ihm sein Leben erträglicher gemacht hätte. Wie sagt man doch so schön: „Durch Erfahrung wird man klug!“ Inzwischen ist es Herbst geworden, es gab genügend Obst und davon durfte er reichlich essen. Doch bald fiel der erste Schnee, jetzt musste er nicht nur hungern sondern auch noch mit der Kälte fertig werden! Das war nicht einfach, hatte er doch fast nichts zum anziehen und vor allem kein warmes Bett! Er sah keinen anderen Ausweg als weg! Er musste weglaufen, es musste für ihn noch eine andere Möglichkeit geben als bei diesen Himmelsanbetern zu bleiben! Nun, einmal nach der Schule war es soweit, statt wie gewohnt zu den Pfäfflis flüchtete er zum Nachbarn und verkroch sich im Stall unter dem Stroh! In der Stallwärme ist er traurig und hungernd eingeschlafen. Plötzlich schreckte er hoch, ein Knecht hat ihn mit einer Gabel am Fuß erwischt! Ach halb so schlimm, er war nur fürchterlich erschrocken. „Was machst du denn hier? Komm mit.“ In der guten Stube kümmerte sich die Bäuerin um ihn und sie gaben ihm zu essen. Rösti, ein großes Stück Brot und dazu eine Tasse Mich. Das war gut! Danach durfte er in einem richtigen Bett schlafen. Die Frage nach Bettnässen konnte er getrost verneinen. Diese Nachbarin wusste Bescheid, sie versuchte mit ihm zu reden und fragte ihn:„Früher hörte ich dich oft schreien, was war da los?“ Er hatte längst kein Vertrauen mehr in die Menschen und erzählte nichts. Am nächsten Morgen musste er wieder zur Schule und anschließend zurück zu Pfäfflis! Die Prügel konnte er ertragen, die es für dieses Vergehen abgesetzt hatte. Geweint hatte er nicht mehr, das war vorbei! Es gab keine zusätzlichen Hiebe nur weil er das Weinen nicht lassen konnte! Er bezweifle und ich glaube zu Recht, dass er dadurch weniger einstecken musste! So zwei oder drei Tage wartete er, aber keine Woche war vergangen bis zu seiner nächsten Flucht. Sein Versteck war ein Rennschlitten, der bei einem Bauernhof stand. Darauf lagen Wolldecken, mit denen er sich vor der Kälte schützen konnte. Auch hier wurde er entdeckt und anschließend kümmerten sie sich um ihn. Während er sich stehend über das Essen her machte beobachtete ihn die Bäuerin und fragte ihn: „Warum sitzt du nicht?“ Nach seinen unbeholfenen Begründungen wollte sie seinen Hintern sehen. Entsetzt über den Anblick von seinem geschundenen Gesäß fragte sie ihn, was passiert sei. Er hatte sich auch hier kaum geäußert. Was hätte er auch sagen sollen? Jedenfalls durfte er auch die damalige Nacht in einem Bett schlafen. Am nächsten Morgen brachte man ihn mit dem Rennschlitten zur Schule und verlangte seine Rückkehr zu Pfäfflis! Der „Pflegebeauftragte“ begrüßte ihn mit folgenden Worten: „So, so, guten Tag, willst du jetzt immer weglaufen? Ich war heute bei der Vormundschaftsbehörde und erkundigte mich nach geeigneten Erziehungsmaßnahmen für dich und deren Rat war: Züchtigen und verprügeln sei die einzige wirksame Methode und Jesus hat mir deine Teufelbesessenheit auch bestätigt!“ Erneut lautete sein, der ihm längst bekannte Befehl: „Hosen ausziehen!“ Die Türe war zu, Frau Pfäffli stand davor, sie ahnten vermutlich, dass er versuchen würde abzuhauen und ließen ihm keinen Fluchtweg offen. Er hatte ihn am Nacken gepackt und stellte ein Hocker vor ihn hin.„Geh und hole zwei Garbenschnüre!“ Sagte er während er ihn fest hielt. Die "Alte" gehorchte und brachte das verlangte. Jetzt wurde auch sie aktiv und hielt ihn fest, damit er seine Hände unter der Sitzfläche des vierbeinigen Hockers zusammen binden konnte, ebenso seine Füße! Der Lederriemen war griffbereit! Er weiß nicht wie lange es gedauert hatte bis er ohnmächtig wurde. Er war weg, nicht in Italien und auch nicht in Jugoslawien, wahrscheinlich vor der Himmelstüre, nein, es musste die Hölle gewesen sein. Nun, in seinem Drecklager kam er wieder auf diese Welt zurück. Und wie er zurück kam... Er hatte unbeschreibliche qualvolle Schmerzen! Auf dem Bauch lag er und konnte sich nicht mehr bewegen. Er sah seine Verletzungen nicht, aber er spürte sie. In dieser Nacht erlöste ihn der Schlaf auch nicht mehr von seinen Leiden. Ein Kopfkissen wurde nicht nass von seinen Tränen, er hatte ja keines! Egal was passiert, der nächste Morgen kommt bestimmt. Das war nach dieser qualvollen Nacht genau so. In die Käserei, aber wie, tatsächlich, sogar seine Füße schmerzten! Es ist einfach nicht zu beschreiben in welch elendem Zustand er sich befand! Frühstück gab es keines! Also los, ohne Essen zur Schule der Hunger war das kleinste seiner Probleme. „Kannst du auch sitzen“ und schon packte ihn die Lehrerin von hinten und wollte ihn gewaltsam auf die Bank setzen. Von seinem Schmerz erfüllten Schrei erschreckt, wollte die Lehrerin jetzt mehr wissen. Er musste vor der ganzen Klasse seinen Arsch zeigen! Ein Gemurmel erfüllte das Klassenzimmer. Jetzt war sogar die Lehrerin überfordert und holte den Lehrer der wiederum holte den Arzt, es interessierten sich noch andere für sein Hinterteil. Er hatte keine Ahnung wer diese Leute waren und es war ihm auch egal, reden wollte er nicht mehr! Das Resultat diesem erniedrigendem Verfahren war: Das Versprechen diesen Ort, bald, verlassen zu können, aber eben, nur bald! Man brachte ihn erneut zu Pfäfflis. Jawohl, ihm fehlen auch heute als alter kranker Mann die Worte! Also zurück! In der Zeit danach durfte er wieder wie gewohnt alleine in der Küche beten und essen und alle anderen vertrauten Dinge tun. Einige Tage nach diesem Vorfall musste er den Vorplatz kehren, dabei beobachtete er einen Mann der auf das Haus zukam. Der Mann blieb stehen, urinierte bei einem Baum, stopfte seine Tabakspfeife, danach schritt er weiter den Pfad hinunter und kam ihm immer näher. Er spürte sofort, dieser Mann kam seinetwillen. Nun stand er vor ihm. „Wo ist der Pfäffli?“ fragte er ihn. Er beantwortete seine Frage und schon hörte er Frau Pfäffli sagen: „Aha, du willst diesen Lümmel abholen!“„Was?“ entgegnete der Fremde, „so einen struppigen, magern Bengel. Das ist nicht dein ernst. Einen Hund in diesem Zustand würde ich nicht mitnehmen und du willst mir diesen Jungen in dieser elenden Verfassung übergeben.“ Das Streitgespräch dauerte noch eine Weile und er hatte Angst, dass sich an seiner traurigen Lage nichts ändern würde. Dann war es klar, sie drückte ihm eine kurze Hose, ein paar Strümpfe und ein Hemd mit einer Schnur zu einem kleinen Bündel gebunden unter die Arme und verpasste ihm noch eine Ohrfeige. „Das ist für die Kleider die du kaputt gemacht hast!“ Das war der Abschied von Frau Pfäffli, der Herr Pfäffli lies sich nicht blicken. In seiner neuen Umgebung beim Böhneli Köbu wurde er als 7-jähriger kleiner, schlauer und unbeugsamer glatzköpfiger Junge aufgenommen. Nicht nur die Kinder, sondern alle nannten ihn wegen seinen fehlenden Haaren Grandpère, dieser Übernahme störte ihn nicht, nein im Gegenteil...
(1)
In Wynigen beim Bahnhof auf der Suche nach den Spuren von Vaters Vergangenheit fragte ich einen etwa 45jährigen Mann nach dem Ort Ruedisbach. Lächelnd sagte er mir: „Das liegt an der Hauptstrasse.“ Etwas erstaunt und ungläubig schaute ich ihn an, ich hatte doch auf der Karte gesehen, dass dieser Weiler abgelegen und weit weg von der Hauptstrasse sein musste. Jetzt lachte er und erklärte mir den richtigen Weg. Weil er diesen Schalk mit mir machte und ein Bauer aus der Region war, fragte ich ihn weiter: „Wissen sie etwas über einen Böhneli Köbu? Jetzt schaute er ungläubig: „Ja klar, aber der lebte nicht in Ruedisbach.“ So einfach hatte ich mir die Nachforschungen nicht vorgestellt. Auch ein alter Mann reagierte ähnlich bei meiner Frage nach dem Köbu. „Ja, ja Böhneli Köbu, den kannte ich schon, er war ein Dorforiginal“. Mein Vater hatte von Jakob Fuhrer (Böhneli Köbu) vom Heimetli Böhneli in Wynigen doch etwas gelernt auch er war ein Original!
Im ländlichen Rüedisbach musste ich mich erneut durchfragen. Ein Briefträger erklärte mir den Weg: „Gehen sie beim großen Bauernhaus die so genannte Glungge welche in der Verfilmung Ueli der Knecht als Kulisse diente vorbei und folgen sie dem morastigen Feldweg“. Der Regen hatte nachgelassen. Meine Stimmung ist unglaublich angespannt und ich hatte Angst als würde mich etwas Böses erwarten. Das allein stehende Haus ist bewohnt. Ich hatte nicht den Mut zu klopfen um ihnen mein Erschein zu erklären. Ich wurde durch das Fenster beobachtet, trotzdem versuchte ich so viele Einzelheiten wie möglich aufzunehmen. Die Kellertreppe, der Brunnen, die Stille, kein Nachbarn in Sichtweite.. vor dem Haus führt ein Fußweg den Hügel hinauf. Der wird heute nicht mehr benutzt aber er ist noch deutlich zu erkennen. In Gedanken sehe ich ein kleiner Junge diesen Vorplatz kehren und dabei konnte er auf diesem Pfad Böhneli Köbu beobachten. Wie er stehen blieb, an einen Baum urinierte und anschließend seine Pfeife stopfte, danach mit gemächlichem Schritte sich dem Haus näherte um ihn, den Bueb, mein Vater von diesen Pfäfflis zu befreien. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein Vater etwas von seiner Seele zurück gelassen hatte.

Die Kindheit meiner Mutter war nicht ganz so tragisch wie die meines Vaters, aber problemlos war auch die ihre nicht. Bei einem alkoholkranken Vater und einer schwer kranken Mutter hatte auch sie einige schreckliche Erinnerungen. An den Monatsenden musste sie ihren Vater bei der Fabrik abholen damit er seinen Lohn nicht in die Beiz sondern nach Hause brachte. In ihren Erzählungen berichtete sie von der Hilflosigkeit ihrer Mutter. Gelähmt in einem Stuhl verbrachte diese ihre Tage und später war sie sogar bettlägerig. Als zehnjähriges Mädchen war meine Mutter für den Haushalt und für ihre jüngere Schwester verantwortlich. Einmal putzte sie die Treppe und ihr besoffener Vater schleuderte eine Pfanne mit kochendem Wasser nach ihr. Vor dem alkoholisierten und randalierenden Familienoberhaupt flüchtete sie nachts öfters zu einer Bekannten Familie, deren Türe für sie nie abgeschlossen wurde. Als sie wieder einmal die Treppe schruppte wurde sie von einem fremden Mann angesprochen. Er fragte sie ob sie ihn begleiten möchte. Sie sagte ja und verliess ihr Elternhaus für immer, ohne Abschied und ohne zu zögern. In einer ordentlichen und verständnisvollen Pflegefamilie beendete sie ihre Schulzeit. Als sie als Schulmädchen mit dem unbekannten Mann das Elternhaus verlassen hatte wollte sie ihren Vater nie mehr sehen. Ihre Pflegeeltern respektierten ihren Wunsch und verhinderten erfolgreich ein Treffen mit ihm.
Den Gedanken und die Sehnsucht nach ihm und nach ihrer Schwester wurde später bei meiner Mutter immer intensiver. Sie vermisste ihre Familie und deshalb suchte sie nach ihnen. Ich habe keine Ahnung wie schwierig die Nachforschung war aber sie hatte erst einmal ihren Vater und später auch ihre Schwester gefunden. Ihr Vater lebte in Basel. Zu ihrem ersten Wiedersehen nahm sie mich mit. Ich war sechs oder sieben Jahre alt als wir zusammen mit der Bahn nach Basel reisten. Nach Mutters Erzählungen war für mich klar, dass mein Grossvater ein gewalttätiger Säufer sein musste. Alkoholisierte Menschen ängstigten mich. Bei der ersten bewussten Begegnung mit einem besoffenen Mann hatte ich eine Heidenangst. Damals war ich für eine Besorgung allein unterwegs als ein Hund mit seinem Anhänger, der normalerweise für den Milchtransport vorgesehen war, die Strasse versperrte. Vor diesem Hund der unserem Nachbar gehörte hatte ich schon immer Angst aber jetzt hatte ich Panik denn der Nachbar lag handlungsunfähig auf dem Gefährt. Vermutlich sass er auf dem Hundkarren bevor er stürzte. Der Oberkörper lag halb verdreht auf der Strasse und die Beine verhedderten sich am Käsereiwagen. Als ich versuchte an dem Gespann vorbei zu kommen zog der Hund seine Last in meine Richtung. Wahrscheinlich wollte er von mir nur gerettet werden aber ich ängstigte mich vor diesem rissigen Tier. Er schaffte es nicht den Karren und seinem auf der Strasse liegenden halb bewußtlosen und stockbesoffenen Herrchen hinter sich herzuziehen. Das war meine Rettung! Ganz zögerlich und in sicherer Entfernung ging ich an ihnen vorbei. In Gedanken sah ich den sturzbetrunkenen Nachbar als meine Mutter vor einer Wohnungstür auf den Klingelknopf drückte. Ich spürte auch ihre Unsicherheit denn sie drücke meine Hand ganz fest. Die Tür öffnete sich und vor uns stand ein kleiner alter Mann. Er sagte kein Wort und legte nur unbeholfen seinen Arm auf meine Schultern und zog mich am Kopf gegen meinen Willen in die Wohnung. Seine Frau erkannte meine Angst und forderte ihn auf mich loszulassen. Tränen kullerten bei ihm genauso wie bei meiner Mutter. Von der Unterhaltung hatte ich nicht wirklich etwas mitbekommen. Seine Frau servierte Kaffee und Kuchen aber die Atmosphäre blieb angespannt. Ich war erleichtert als wir nach einiger Zeit das Mehrfamilienhaus verlassen konnten.
Meine Mutter hatte ihm vergeben und genoss sichtlich seine regelmässigen Besuche. Er kam stets allein und blieb einige Wochen und freute sich über die Familienzusammenführung aber die Vergangenheit wurde nie aufgearbeitet und so blieben viele Fragen unbeantwortet. Was war mit seiner ersten Frau, meiner Grossmutter? Gerne hätte ich schon damals einiges darüber erfahren aber mein Grossvater blieb mir fremd. Für mich war er nie ein Grossvater und ich glaube ich habe ihn auch nie so genannt. Ich wollte ihm auch nicht nahe sein obschon er keinen Alkohol mehr konsumierte.
Mein Vater reiste einmal mit ihm nach Rimini. Ich sehe meinen Vater noch vor mir wie er seinen Hut aufsetzte und einen kleinen Koffer, den er irgendwo ausgeliehen hatte, in die Hand nahm. Meine Mutter begleitet ihn zur Bahnstation und ich durfte bei diesem denkwürdigen Ereignis auch dabei sein. Ich war ganz aufgeregt und stolz. Mein Vater fährt nach Italien! Ich konnte es fast nicht glauben. Ich fragte und löcherte ihn über das Land das auf der Landeskarte wie ein Stiefel aussieht und umgeben ist vom Meer. Am liebsten wären wir mit ihm gefahren! Mutter versicherte ihm wie sehr sie sich für ihn freut und äusserte aber auch ihren eigenen Wunsch nach Ferien. Sein absolut nicht lieb gemeinter Ratschlag war: “Geh arbeiten dann kannst du auch reisen“. Ich werde diesen Satz nie vergessen und ich habe ihm diesen auch nie verziehen obschon ich mein Vater über alles liebte. Ausserdem war ich damals schon der Meinung, dass der Grossvater eigentlich mit meiner Mutter hätte fahren müssen!
(1) ich mit meinem Vater (links) und Grossvater
Vor meiner Geburt besitzen meine Eltern nichts ausser die wunderbare grosse Liebe für einander. Ich lauschte gerne ihren Erzählungen von damals. Meine Mutter arbeitete wann immer es möglich war als Putzfrau. Ihre Schilderungen über den beschwerlichen Arbeitsweg nach Bern den sie auf sich nahm um bei gut betuchten Familien zu putzen halten in meinen Ohren nach. Meine Mutter besass damals ein einziges paar Schuhe. Diese wurden immer wieder vom Vater mit viel Fantasie geflickt und damit ging sie putzen und genau das machte sie immer noch. Während meinen Sommerferien begleitete ich sie manchmal in die eindrucksvollen Villen. Später fand sie eine Anstellung in der nahe gelegen Mineralwasserfabrik. Diese Anstellung war Fluch und Segen zugleich. In den Sechzigerjahren ging es meinen Eltern finanziell immer besser aber die Liebe wurde immer weniger.
Mutters Schwester Helen war nur ein oder zwei Mal bei uns zu besuch danach ist der Kontakt für lange, lange Zeit wieder abgebrochen. Erst kurz vor ihrem achtzigsten Geburtstag gab es ein Wiedersehen.
Ihre Schwester hatte meine Mutter mit Hilfe ihrer Familie gesucht und gefunden. Daraufhin besuchte sie meine Mutter. Bei Kaffee und Kuchen begegneten sich diese in der Zwischenzeit alt gewordenen Schwestern ein letztes Mal. Wenige Minuten nachdem die Schwester mit ihrer Familie weggefahren war starb meine Mutter. Sie räumte das Geschirr von der Kaffeetafel ab und dabei stürzte sie. Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch ihren tot feststellen. Ihr damaliger Lebensgefährte berichtete mir telefonisch von Mutters plötzlichem Tod und von dem kurz zuvor empfangenen Besuch. Durch ihn bekam ich die Adresse von meiner Tante die ich umgehend kontaktierte. Sie war noch nicht zu Hause angekommen als ich ihr die Todesnachricht ausrichtete.
An ihrem achtzigsten Geburtstag wurde meine Mutter beerdigt ihm bei sein ihrer Schwester. Durch den Pfarrer erfuhr meine Tante bei der Abdankung von den traurigen Schicksalen der Familie Rytz und ausserdem sagte er, dass auf dieser Familie ein Fluch lastet!
(2)

Mein erstes Zuhause war eine alte undichte Tätschhütte. Um das elterliche Bett vor Regen und Schnee zu schützen spannte mein Vater eine Plane an die Decke.
In dieser alten Hütte und in sehr bescheidenen Verhältnissen brachte mich meine Mutter am 16. Oktober 1952 als fünftes Kind zur Welt. Es war eine komplizierte Geburt und sie war danach einige Wochen krank. Dieses Ereignis belastete die Familie sehr. Mein Bruder Hans war gerade Mal ein und meine drei anderen Geschwister acht, sieben und fünf Jahre alt. Meine zwei großen Schwestern mussten schon mächtig im Haushalt mithelfen. Besonders Erika die älteste, beschwerte sich später noch oft bei mir, weil sie meine Windeln waschen musste. Das war damals eine beschwerliche Arbeit. In einem ca. hundert Meter entfernten Dorfbrunnen wurde die Wäsche von Hand gewaschen und das Wasser fürs kochen und für den Haushalt geholt. Schwester Irene Jahrgang 1945 behauptete später dieses Wasserschleppen wäre der Grund für ihre krummen Beine. Ich war und blieb die Jüngste und wurde Bäbi oder Glögglifrösch genannt und wie es sich gehört verwöhnt. Während dieser Zeit in Steinenbrünnen bei Lanzenhäusern erlitt mein über alles geliebter Vater einen Arbeitsunfall. Meine Mutter borgte von einer Nachbarin ein Fahrad und mit mir auf dem Gepäckträger fuhr sie ins Inselspital nach Bern. Es war ein warmer sonniger Tag. Das Bett von meinem Vater sowie ein paar andere standen in reih und Glied auf einer Terrasse. Er strahlte und freute sich riesig über den Besuch. Er war ganz stolz auf seine Frau und mich, sein Bäbi und über den im Gepäck mitgebrachten selbst gebackenen Kuchen. Bald wird auch er wieder zu Hause sein. glücklich und beschwingt radelten wir zurück. Er war ein wunderbarer, liebevoller Vater. Nie wurde er müde mit mir, und meinen beiden Schwestern Erika, Irene sowie meinen zwei Brüdern Hugo und Hans zu spielen. Auch alle Nachbarskinder freuten sich auf die Sonntage und auf meinen spielfreudigen, unterhaltenden und spassigen Vater. Er war einfach immer lustig. Wir hatten kein Geld, keine Bücher und auch noch kein Radio aber dieses fehlte uns nicht weil unser Vater die schönsten Geschichten erzählen konnte. Alle auch meine Mutter versammelten sich um ihn und lauschten gespannt seinen bisweilen komischen oder tragischen und gefühlvollen Erzählungen. Manchmal waren seine Ausführen zum totlachen und Mutter schaffte es gerade noch rechtzeitig aufs Klo bevor sie die Kontrolle über ihre Blasenschwäche verlor.
Bei schlechtem Wetter lernte er uns das Karten spielen, jassen konnte ich lange vor meinem ersten Schultag. Auch mein Bruder Hans beherrschte den Jass obschon er in der Schule die allergrösste Mühe hatte. In bester Erinnerung sind mir auch die vielen Waldspaziergänge. Tiere beobachten und je nach Saison Pilze, Erdbeeren, Himbeeren oder Heidelbeeren sammeln für ein köstliches Nachtessen. Ich sehe die riesengrosse Schüssel gefüllt mit Birchermüesli aus Waldbeeren Haferflocken und Milch heute noch vor mir. Dieser süsse fruchtige Duft ist einfach unvergesslich! Unsere wichtigste Mahlzeit war das Abendessen weil Vater den ganzen Tag auf der Arbeit war. Er verliess stets sehr früh das Haus und kam erst abends zurück.
Wir brauchten eine neue Unterkunft. Die Täschhütte war einsturzgefährdet und nicht mehr geeignet für uns. Die Suche nach einem geeigneten Heim war schwierig. Eine Frau in Schwarzenburg zeigte erbarmen und vermietete uns eine kleine Wohnung. In dieser Bleibe waren wir nur kurze Zeit und bald wechselten wir unseren Wohnort nach Elisried bei Schwarzenburg. Ein Bruder und seine Schwester lebten gemeinsam in einem Bauernhaus und vermieten meinen Eltern die obere Wohnung. Zur Wohnung gehörte ein Schuppen und in diesem züchte mein Vater Kaninchen. Einmal kaufte Mutter eine kleine Babyflasche gefüllt mit farbigen Zuckerperlen. Die Zuckerperlen durfte ich geniessen und danach wurde die Flasche mit einer Flüssigkeit gefüllt und damit fütterten wir nackte kleine Häschen. Leider blieb der erhoffte Nebenverdienst von der Kaninchenzucht aus. Die Trommelsucht zwang meinen Vater alle Kaninchen zu töten und sie zu entsorgen. Wir waren alle sehr traurig und konnten es nicht verstehen. Es waren mehr als 50 Tiere! Der leere Schuppen wollte niemand mehr sehen es war einfach zu traurig. Kurz nach diesem tragischen Ereignis hatte ich grosse Schmerzen am Daumen. Er war entzündet und ganz eitrig. Ich befürchtete ebenfalls an einer unheilbaren Krankheit zu leiden und hatte fürchterliche Angst. Aber die ganze Familie kümmerte sich liebevoll um mich und mein Vater erzählte mir jeden Abend eine Geschichte um mich zu trösten. Ich hatte einen Umlauf. Mit einem grossen Stofftaschentuch umwickelte man mir meine kleine Hand. Ab und zu drückten wir an diesem Daumen um das Eiter loszuwerden was höllisch weh tat aber siehe da auch ohne Antibiotika wurde ich geheilt! Geld war nach wie vor nicht im Überfluss vorhanden und für Versicherungen Krankenkassen oder Arztrechnungen reichte es hinten und vorne nicht. Glücklicherweise hatten wir alle ein gute Gesundheit und waren hart im nehmen! Bis auf meine Schwester Irene. Jeden Winter verteilte die Schule an alle Schulkinder Skis. Irene war eine begeistere Schülerin und freute sich auch auf die Skis obschon sie vom Skifahren keine Ahnung hatte. Und so kam es wie es kommen musste sie stürzte und erlitt einen Beinbruch. Sie musste ins Spital und wurde danach mit einem Gips nach Hause gebracht. Jetzt wurde sie verwöhnt. Für den Schulweg packte man sie auf einen Schlitten und die Schulkameraden aus unserer Umgebung zogen sie zur Schule und anschliessend wieder zurück. Der Unfall passierte während der Schulzeit und war deshalb auch versichert.
Meine Eltern suchten immer noch eine bessere Unterkunft und sie wurden endlich fündig. Sagirain war ein kleines bäuerliches Anwesend. Das Haus hatte Strom und Wasser letzteres floss kühl und sauber im Überfluss in einen Brunnentrog hinter dem Haus.Das Haus stand mitten auf einer Waldlichtung. Die Strasse war ein guter Feldweg und endete am Waldrand. Ein kleiner Fussweg führte zum Haus und weiter über ein Feld danach einen steilen Abhang hinunter zum Schwarzwasser. Diese wunderbare Gegend ist heute ein Naturschutzgebiet. Ein Bauer mit seinem Pferd und Wagen und einige Männer halfen meinem Vater und meinen Geschwister beim Umzug. Mit meiner Mutter als 5-jährigs Mädchen, zu Fuss vom Schwarzwasser her kommend sah ich unser zukünftiges idyllisches Heim zum ersten Mal. Dieses Haus gehörte damals noch einer Erbgemeinschaft das aber meine Eltern später kaufen konnten. Der Stall sowie die Scheune und das Land wurden an einen Bauer verpachtet. Das Weideland war eingezäunt für die Rinderzucht. Der Landwirt kam nur morgens und abends vorbei für die Stallarbeit und die Versorgung der Tiere. Meine Eltern liebten diese Haus und die Umgebung. Für mich war es nur langweilig. Mein gleichaltriger Freund, Ruedi unser ehemaliger Nachbar fehlte mir. Hier gab es keine Nachbarn in unmittelbarer Nähe. Nur Wald! Mein um ein Jahr älterer Bruder Hans musste jetzt in die Schule sowie alle meine Geschwister. Einen Kindergarten gab es nicht und besucht hat uns auch keiner. Es war einfach nur langweilig!

Die Schule brachte mir die gewünschte Abwechslung in dem sonst so langweiligen Alltag.
Unser Schulweg war fast schon eine kleine Wanderung. Es ging bergauf und runter durch Wald und Felder. Wie mehrere Rinnsale sich zu einem Fluss zusammen finden wurden auch wir Kinder aus allen Richtungen kommend langsam zu einer fröhlichen Kinderschar die zur Schule strömte. Ein Stück des Weges verläuft parallel zu einem bewaldeten abschüssigen Hang. Auf der einen Straßenseite die steile Böschung mit wild wuchernden Hasel- und Weidenstöcke gegenüber dem ebenso unbegehbaren mit Buchen, Gestrüpp und Steinen besetzten Abhang.
Ein Mann kommt des Weges - kein Fremder – auch kein Bekannter - seit einigen Tagen begegnet er uns Kinder auf diesem einsamen Wanderweg. Heute bin ich allein - bin verspätet und deshalb sehr in Eile. Er kommt immer näher, lächelt mich an. Irgendwie sah ich sofort, dass dieser kleine untersetzte Herr sich anders verhielt als die Tage zuvor und ahnte nichts Gutes. Nur noch ein paar Schritte trennen uns. Ich werde immer schneller, bin höflich und will ganz schnell an ihm vorbei! Rechts – geht nicht – er lacht – ich lächle gequält zurück – will an ihm vorbei – geht nicht – er breitet seine Arme aus! Ich will nicht spielen! Ich will zur Schule bin spät und deshalb sehr in Eile! Hastig versuche ich an ihm vorbei zu kommen. Es gelingt mir nicht! Er packt mich und lächelt immer noch. Starr vor Schreck musste ich seinen heftigen Griff erdulden. Er hebt mich hoch - zieht an meinen Unterhosen – ich will nicht - kann mich nicht wehren. Ich wollte etwas sagen, doch meine Stimme gehorchte mir nicht. Er quasselt von Höschen - Turnunterricht - und außerdem möchte er doch nur schön spielen! Ich will sein keuchen und röcheln nicht hören – sein Atem stinkt – es schmerzt und trotzdem kann ich nicht weinen. Endlich es ist vorbei, er sagt: „ Das ist und bleibt unser Geheimnis“ und schenkt mir eine Tafel Schokolade und fügt hinzu, „jetzt darfst du gehen!“ Zitternd, mit der Schokolade in der Hand stehe ich vor der geschlossenen Schulzimmertüre, der Unterricht hatte längst begonnen.
Leider erlebte eine Schulfreundin einige Tage zuvor das gleiche „Spiel“ und ihre Eltern entschieden sich für das Schweigen. Mein Vater reagierte glücklicherweise anders. Er befragte mich und wollte alle Details erfahren. Ich erzählte ihm alles, nicht ohne Scham aber froh das Geheimnis loszuwerden. Er wollte auch dafür sorgen, dass dieser Mann nie wieder auf unserem Schulweg während seiner Mittagspause kleine Mädchen belästigt. Er informierte die Verantwortlichen der Fabrik in der meine Mutter arbeitete denn auch dieser Herr wurde dort vorübergehend als Monteur beschäftigt. Es folgte seine sofortige Entlassung und er durfte seines Weges ziehen und anderswo die Schulwege erkunden.
(1) endlich durfte ich in die Schule...
Leider wurde ich auch später immer wieder mit sexuellen Übergriffen konfrontiert. Die Gegend in der ich aufwachsen durfte war wirklich sehr idyllisch aber sie schütze uns Kinder nicht vor Kinderschänder und Pädophilien. Da war dieser Tabak kauende stinkende Bauer der mir in seinem Auto die Mitfahrt anbot und stets die Gangschaltung zwischen meinen Beinen suchte. Käse einkaufen war auch so ein Problem. Den Käser mussten wir kleine Schulmädchen in den Keller begleiten damit er uns ungeniert begrapschen konnte. Meistens zwickte er mich in die noch nicht vorhandenen Brüste. Bei der dritten oder vierten Aufforderung weigerte ich mich ihn zu begleiten. Die Käserei war für mich ein beliebter Treffpunkt. Dort hoffte ich Neuigkeiten zu erfahren oder einfach nur zu tratschen und über jeden Mist zu kichern. Jeden Abend holte ich dort direkt von den Bauern unsere Milch. Ein Nachbar, der Ruedi brachte seine Milch mit einem Hundegefährt zur Annahmestelle. Ruedi war etwa dreissig Jahre alte und bewirtschaftete den kleinen Bauernhof seiner Eltern. Auf ihn wartete ich immer um meinen vollen Eimer in seine geleerte Milchkanne zu stellen und gemütlich trotteten wir neben dem Hundekarren heimwärts. Ihm erzählte ich oft meine Sorgen und Ängste. Sicherlich langweilte ich ihn damit aber er hörte ruhig und aufmerksam zu und so manches Ärgernis verlor danach an Bedeutung. Auf die Auseinandersetzungen und Ehekrisen meiner Eltern hatte er aber leider keinen Einfluss.
Erwartete mich nach der Rückkehr ein gedeckter Tisch und ein frisch zubereitetes Nachtessen dann hatte ich stets gleich ein beklemmendes Unbehagen. Ich wusste nur zu gut, dass die nächsten Tage sehr, sehr ruhig sein werden. Unsere Mutter versteckte sich irgendwo - sie war einfach weg – abwesend - nicht sichtbar – unauffindbar! Mit meinem Bruder Hans und unserem Vater setzten wir uns an den Tisch und stillschweigend verzehrten wir diese Köstlichkeiten ohne jeden Genuss. Die anderen Geschwister waren schon flügge geworden. Während unser Vater seine Aufmerksamkeit der Tageszeitung widmete erledigte ich mit Hans wortlos den Abwasch und danach gingen wir ohne murren freiwillig zu Bett. Am nächsten Morgen frühstückten wir allein wie jeden Morgen mit unserer Mutter. Der Vater hatte einen langen Arbeitsweg und verliess immer in den frühen Morgenstunden das Haus während wir alle noch schlafend in den Federn lagen. Beim Aufstehen änderte sich deshalb nicht viel aber abends gab es über mehrer Tage kein gemeinsames Nachtessen mehr. Meine Eltern sprachen nicht mehr miteinander. An den normalen Wochentagen war diese Stille noch zumutbar an den Wochenenden dagegen unerträglich! Ja, dieser Zustand dauerte durchaus manchmal Wochen. Die Eltern behandelten sich wie Luft. Sie waren nicht laut, nicht gewalttätig sie waren nur verstummt! Auf sehnlichste wünschte ich mir das Ende dieser Stille!
Ach, wie ich mich damals nach dem üblichen Durcheinander gesehnt hatte kann ich kaum beschreiben. Den normalerweise war der grosse Tisch in der Küche sowie fast alle horizontalen Flächen immer belegt mit Zeitungen, Plastiktüten, Schüsseln mit übriggeblieben Essensresten und angebrochene Biskuitpackungen gehörten genauso zum Sortiment wie Schreib- und Werkzeug allerart. Einzelne, aus Holz gefertigte Wäscheklammern waren stets auch unter all dem Durcheinander. Die Einkaufstasche, der Milchkessel und das Marmeladenglas warteten auch auf ihren täglichen Einsatz. Die Gleichgültigkeit mich auf einen Stuhl zu setzen, auf dem Schürzen, Handtücher, Putzlappen, Socken, Mützen und unnötigerweise auch noch ein Stuhlkissen lagen, konnte ich mir nie zu legen! Die unzähligen an der Stuhllehne baumelnden hautfarbenen transparenten Strumpfhosen, mit Baumwollspickel, verstärkter Ferse und mit unübersehbaren Laufmaschen hatte ich fast vergessen!
Beide hatten dann doch immer wieder ein Einsehen und versöhnten sich. Endlich erwartete mich meine Mutter wieder mit ihren unzähligen Anordnungen: Salat holen und waschen! Sauce zubereiten! Wäsche aufhängen! Tisch decken, denn man natürlich zuerst abräumen musste! Endlich waren sie wieder da die schönsten Stunden des Tages! Ein gemeinsames Nachtessen in unserer kleinen beengten Küche mit dem Feuer im Holzherd das die erforderliche Wärme spendete für ein gemütliches Beisammen sein.
Mein ordnungsliebender Vater machte mit diesem Sammelsurium oft kurzen Prozess. Ohne zu sortieren stopfte er einfach die brennbaren Sachen in den Ofen. Einmal war er gerade dabei das Streichholz anzuzünden als meine Mutter sein tun bemerkte und in letzter Sekunde alles was man noch brauchen könnte rettete. Glücklicherweise auch ihre Lohntüte mit Inhalt!
(2) Vater am Holzherd
Meine Schwestern beaufsichtigten je nach Verfügbarkeit ab und zu mich und meinen Bruder Hans während unsere Eltern sich über ihre wohlverdienten Ferien zu zweit erfreuten. Erika war ein resoluter Putzteufel. Hygiene und Sauberkeit war für sie das Wichtigste auf der Welt, dass wir kein Badezimmer hatten war noch lange kein Grund um nicht zu baden und schon gar nicht wenn man einen großen Brunnen mit sehr kaltem Quellwasser sein eigen nennen kann. An einem kühlen, nebligen Septembertag standen wir vor Kälte zitternd im betonierten Trog und wurden von Erika eingeseift mit dem Waschlappen geschruppt und mit eisigem Brunnenwasser abgespült. Kann sein, dass sie aus uns überzeugte Neujahrsschwimmer machen wollte! Die Betreuung durch Irene hatte eine ganz andere Qualität. Sie kümmerte sich um nichts, ließ alles liegen und stehen und widmete sich ausschließlich dem lesen – ihrer Lieblingsbeschäftigung. Einmal kam es zu einem fatalen Missverständnis. Irene erwartete die Rückkehr unserer Eltern am Sonntag und plante die Aufräumaktion für den Samstagnachmittag. Am besagten Mittag - Irene - wie immer um diese Zeit noch im Bett - schlafen war ihr zweitliebstes Vergnügen - öffnete sich die Eingangstüre und unser Familienoberhaupt und seine Begleitung standen wie angewurzelt in der mit schmutzigem Geschirr völlig überstellten Küche. Sprachlos stellte unser Vater seinen Koffer ab - zog seine Jacke aus und krempelte die Ärmel hoch. Sofort ergriff er die Küchenabfälle für unsere Kaninchen - auch die warteten noch auf ihre Salatblätter – während dessen begangen wir niedergeschlagen und gedemütigt in der Küche aufzuräumen – erledigten ohne die üblichen Streitigkeiten und Gezänke den Abwasch - schrubbten schuldbewusst den Fußboden und gemeinsam mit den Eltern reinigten wir das ganze Haus. Es war eine nie da gewesene Putzaktion.

Als neun oder zehn jähriges Mädchen verbrachte ich meine Sommerferien in Grellingen, im Bezirk Laufen. Meine Gastgeberin nannte ich Gotte obschon sie eigentlich die Patentante von meiner Mutter war und ihrem Mann sagte ich Onkel obwohl er kein Verwandter von unserer Familie war! Warum müssen Kinder Männer als ihre Onkels bezeichnen obwohl sie gar keine sind? Dass ich dafür bis heute kein Verständnis habe erklärt vielleicht diese Geschichte. Meine Mutter besuchte diese Leute während meiner Schulzeit mindestens einmal im Jahr. Meistens nahm sie mich mit und manchmal blieb ich für einige Tage bei diesem kinderlosen Ehepaar. Die Gotte war eine kleine zierliche Frau mit einer sehr seltsamen Haarpracht. Sie trug bestimmt eine der billigsten Perücken die es überhaupt gab und darüber spannte sie ein feines Haarnetz. Einem heutigen Fahrradhelm nicht unähnlich denn in der Haarpracht hatte es auch immer Löcher und Schlitze über deren Zweck ich keine Ahnung hatte. Das Ehepaar lebte in einer Einliergerwohnung mitten im Dorf und die Gotte ging mit mir zu meiner Freude täglich einkaufen. Sie beschäftigte sich oft mit mir und lernte mich unter anderem stricken. Einmal strickte ich während den Ferien für mich einen Pulli aus roter Wolle.
Die Gotte war eine praktizierende Katholikin und schleppte mich mit zur Beichte. Ich wartete einfach im Kirchengestühl während sie im Beichtkabäuschen verschwand.
Manchmal hörte man ab und an ein kleines Glöcklein läuten, das Totenglöcklein wie die Gotte mir erklärte dann bettete sie eine Ewigkeit mit dem Rosenkranz in der Hand. Sie drehte und zählte dabei ständig an den kleinen Perlen. Das war alles sehr fremd für mich. Sie war auch unglaublich sparsam. Das Licht wurde nur bei absoluter Dunkelheit angemacht und der Radio nur für die Mittagsnachrichten. Ihr Mann hatte in der Nähe einen Schuppen als Werkstatt eingerichtet und schraubte oder bastelte dort von früh morgens bis spät abends. In der Dämmerung sass ich meistens still und ohne Beschäftigung in der Stube auf der Couch die zugleich als Gästebett diente. Auch der Baslerdialekt war neu und interessant und sie belächelten mein urchiges Berndeutsch. Bei meinem dritten und letzten Ferienaufenthalt gab es einen Zwischenfall der mich zu einem gewagten Entschluss zwang. Glücklicherweise wurde er noch rechtzeitig verhindert. Ich wollte unbedingt nach Hause und da ich mir ohne Geld keine Fahrkarte kaufen konnte beschloss ich die Heimreise auf Schusters Rappen anzutreten. Ich wollte meine Eltern mit einer Postkarte über mein Vorhaben informieren damit keine unnötigen Sorgen entstehen. Diese Postkarte hatte die Gotte gesehen und gelesen bevor ich sie in einen Briefkasten werfen konnte und sie organisierte umgehend meine Rückreise. Meine Geschwister fanden mein Unterfangen mutig aber sie hänselt mich auch deswegen. Der wahre Grund für meinen kühnen Plan wusste ja niemand.
Viel später wanderte ich diese Strecke in der umgekehrten Richtung. Mein heutiger Ehemann begleitete mich auf diesen vier Etappen. Bei Nieselregen und trüber Sicht aber gut gelaunt sind wir mit dem Rucksack los marschiert. Der Start war alles andere als gemütlich. Der Wind frischte auf, der Regen wurde immer stärker und die längst bekannte Landschaft von unserem Wohnort und deren Umgebung brachte auch keine Abwechslung. Trotzdem ich ließ mich nicht mehr von meinem geplanten Vorhaben abbringen. Gemeinsam durchwanderten wir endloses flaches Kulturland. Gemüse in Reih und Glied gepflanzt, säumten unseren Weg und der Duft von Sellerieknollen begleitete uns über längere Zeit. Am Jurasüdfuß änderte sich die Landschaft die große Ebene lag hinter uns und vor uns ging es kontinuierlich aufwärts. Nebelhexen spielen mit der Sonne und zaubern eine mystische Stimmung. Am dritten Tag starteten wir am oberen Hauenstein. Der Wanderweg führte uns auf den Helfenberg Richtung Wasserfallen. Ich fühlte mich überhaupt nicht fit und fragte mich, war das noch eine Reaktion auf meine Vergangenheit? Die ganze Nacht hatte mein Magen rebelliert und mich schikaniert. Ich entschied mich gegen Medikamente und hoffte auf Besserung. Einen sehr mühsamen und steilen Anfang, wenn das nur gut geht. Nein, bloß keine Schwäche zeigen. Langsam setzte ich einen Fuss vor den anderen und hoffte auf einen gleichmässigen, ruhigen und ausdauernden Schritt. Schon nach kurzer Zeit hatte ich keine Beschwerden mehr und fand auch wieder meinen Rhythmus. Postkartenwetter versöhnte uns nach dem mühsamen Aufstieg und gewährte uns einen Blick auf ein Nebelmeer. Alles um uns herum ist in weiße flauschige undurchsichtige Watte gebackt nur in der Ferne, am Horizont ragten ein paar schroffe Gipfel aus dem Wolkenmeer. Wir waren fasziniert und verspürten ein unglaubliches majestätisches Gefühl auf dieser Jurahöhe. Ich nahm dieses Erlebnis als gutes Omen und packte meine Vergangenheit in ein flaumiges federleichtes Vergessen. Singend und in fast schon übertriebener Hochstimmung näherten wir uns Seeven, ein Dorf im Kanton Solothurn. Vor lauter Übermut hatten wir irgendwann im Wald den markierten Wanderweg unbemerkt verlassen und sind statt dessen einem Wildweg gefolgt. Danach irrten wir lange Zeit völlig orientierungslos durch den Wald bis uns endlich ein Waldarbeiter aus der Patsche half. Unsere Hochstimmung war längst einem Tief gewichen und die Müdigkeit gab uns den Rest deshalb beendeten wir diese Etappe in Seeven, kurz vor unserem Endziel.
Am vierten Tag erreichten wir mit einem gemütlichen Spaziergang Grellingen. Ich stand vor meinem ehemaligen Feriendomizil und erinnerte mich noch einmal an die Nacht zwischen der Gotte und ihrem Mann. Ich musste aus Platzmangel bei ihnen im Schlafzimmer schlafen weil das Gästebett anderweitig gebraucht wurde. Onkel Max legte sich neben mich und stellte fest: „Du hast kalte Hände „Meitli“ die muss man wärmen.“ Er packte meine Hände und führte sie an einen warmen Körperteil. Ich musste sein steifes Glied anfassen und er hielt meine Hände mit den seinen fest. Seine Frau lag mit einer textilen Kopfbedeckung daneben und rührte sich nicht. Am darauffolgenden Tag übernachtete ich im Gästebett und er kam mit einem Stock an mein Bett und wollte mich massregeln. Er schlug mit dem Stock auf die Bettdecke und drohte mit Schlägen falls ich nicht artig sei! Ich konnte lange nicht schlafen und weinte bitterlich. Ich wollte nach Hause! Egal wie!
Die Patentante schenkte meiner Mutter immer wieder grössere Geldbeträge, das hinderte mich meinen Eltern das Vorgefallene zu erzählen und ausserdem schämte ich mich...

Bäbi nannte mich mein Vater. Ich liebte den Geruch nach Tabak und seine starken rauen dunklen Hände die mich stets liebevoll getragen, getröstet und gestreichelt hatten. Als kleines Mädchen konnte ich mir keinen besseren Vater vorstellen. Er hatte eine ganz eigene Art uns zu erziehen. Unter Geschwistern gab es ab und an Streitereien. Ein heftiger Streit mit meinem Bruder Hans beendete mein Vater indem er uns nach draussen zitierte und jedem einen massiven Zaunpfahl in die Hand drückte mit der Aufforderung uns doch gegenseitig richtig zu bekriegen. Der Pfahl war mindesten einen Köpf grösser als wir und mit einer Hand konnten wir ihn auch nicht richtig fassen. Mit grossen Augen und dem riesigen Ding in der Hand standen wir neben dem lächelnden Vater. Wir waren dermassen überrumpelt von seiner Aktion, dass wir den Grund für die zuvor geführte Auseinandersetzung schlicht vergessen hatten. Er wurde nie laut und handgreiflich schon gar nicht!
Einmal kam er müde von der Arbeit nach Hause und wollte wie immer hinter der Tür seine Jacke, Hut und sein Rucksack aufhängen. Dabei hatte er bereits mühe die Tür überhaupt zu öffnen denn dahinter lag alles Mögliche das dort eigentlich nicht hingehörte. Er drückte die Tür soweit es ging auf und jeder einzelne Platz versperrender Gegenstand, der dort nichts zu suchen hatte flog ihm hohen Bogen nach draussen. Danach entledigte er sich seelenruhig seiner Kleider und hängte sie an den dafür vorgesehen Hacken, zog seine Hausschuhe an und setzte sich gut gelaunt an den Küchentisch. Schuldbewusst suchte jeder seine Schulbücher, Schuhe, Taschen oder sonstigen Habseligkeiten die alle verstreut unter dem Lindenbaum lagen.
Ich war irgendwie immer ein bisschen schusselig. Wenn ich Milch in eine Tasse giessen wollte verschüttete ich meistens etwas Flüssigkeit daneben. Meine Mutter ärgerte sich darüber und tadelte mich deswegen oft. Einmal war ich infolgedessen sehr traurig. Ich wollte mithelfen und hatte mich bemüht aber trotzdem verfehlten einige Tropfen ihr Ziel. Während Mutters Zurechtweisung legte mein Vater liebevoll seinen Arm um mich und nahm seinerseits den Milchkrug um einzuschenken dabei verfehlte er absichtlich die Tasse. Meine Mutter schaute ungläubig auf die kleine weisse Pfütze die immer etwas grösser wurde bis Vater den Krug zurück auf den Tisch stellte. Gemeinsam warteten wir auf Mutters Strafpredigt aber der Mutter hatte diese Aktion schlicht die Sprache verschlagen!
Lehrer Müller war ein sadistischer gewalttätiger kleiner untersetzter Glatzkopf. Wenn er zornig war machte man sich am besten unsichtbar. Mehrmals mussten wir miterleben wie er Kinder demütigte und auch vor Gewaltanwendung schreckte er nicht zurück. Er packte die Schüler zum Beispiel an den Haaren und schüttelte sie minutenlang. Sein eigener hochroter Kopf drohte dabei zu platzen vor Anstrengung. Die Erklärung für sein tun war; auf medizinischen Tinkturen steht auch vor Gebrauch tüchtig schütteln. Einmal zerrte er einen zutiefst verängstigten zehn jährigen Jungen an den Haaren durch das Klassenzimmer danach querte er den Korridor und schleuderte ihn mit voller Wucht in das Schulzimmer der Erstklässer. Die Gewaltanwendung war das eine aber ohne Demütigung ging absolut nichts! Weinend und zitternd vor Angst musste nun der Gequälte die Erstklässer um Hilfe bitten für eine Rechenaufgabe. Die Unterschullehrerin war die Frau von diesem Teufel und deshalb konnte er schalten und walten wie es im beliebte. Mädchen hat er nie angefasst jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Mein Bruder Hans konnte sich diesem Sadisten nicht entziehen auch er wurde gedemütigt und erniedrigt. Das erste Schuljahr musste er wiederholen und deshalb wurde ich mit ihm zusammen eingeschult. Aus meiner heutigen Sicht war mein Bruder lernbehindert. Natürlich versuchte ich ihm zu helfen und sagte ihm stets die Lösungen vor wann immer es möglich war. So kam es, dass ich deswegen von eben diesem Lehrer Müller eine stupide Strafe kassierte. Ich sollte mit dem immer gleichen Satz ein ganzes Schreibheft füllen und dafür bekam ich eine Woche Zeit. Hans wurde von unseren Mitschülern stets gemoppt aber ich wurde akzeptiert und setzte mich wann immer möglich in Szene. Ich war nicht bereit auch nur ein einziges Wort in dieses Heft zu kritzeln. Nach einer Woche legte ich mit Herzklopfen aber mutig das leere Heft vor dem Schulbeginn auf das Lehrerpult. Nein, ganz leer war das Heft nicht. Mein Vater erfüllte mir meinen Wunsch und setzte seine geschwungene und einzigartige Unterschrift auf die letzte Seite. Ich hatte mir mögliche Reaktionen vorgestellt und versucht mich darauf vorzubereiten. Aufgeregt und nervös wartete ich auf die Auseinandersetzung. Ich hatte bewusst provoziert und wollte ihn herausfordern. Das ist mir nicht gelungen. Meine ganze Anspannung war überflüssig, meine Revolte wurde einfach ignoriert. Starke Kinder wurden von ihm verschont aber alle die sowieso unten waren quälte er bis aufs Blut! Erst kürzlich besuchte ich eine Ausstellung über Verdingkinder im Schwarzenburgerland. Ein sehr trauriges Kapitel das leider auch mein Vater hautnah erleben musste. Auch in unserer Schule gab es Verdingkinder. Wenn ich dieses Wort nur schon höre erinnere ich mich an einige Ungerechtigkeiten denen diese Jungs ausgeliefert waren. Tatsächlich waren es in dieser Gegend fast ausschliesslich Buben die an Bauern vermittelt wurden! Diese Knaben wurden auch von einem anderen Lehrer oft ungerecht behandelt wenn auch nicht so brutal und Menschenverachtend wie das der Herr Müller tat. Zum Beispiel musste ein Verdingbub sein vergessenes Lehrbuch zu Hause holen während der Junge aus angesehener Familie natürlich bei seinem Sitznachbarn mitschauen durfte. Bei diesem Lehrer musste auch ich immer wieder unter einem nicht nachvollziehbaren Vorwand die Schule verlassen aber dazu später mehr. Lehrer Müller hatte mich mit drei weitern Klassenkameraden für die Sekundarschule vorgeschlagen. Damit wir die bevorstehende Prüfung bestehen konnten wurden wir von ihm intensiv darauf vorbereitet. Während dieser Zeit dauerte der Unterricht für uns, die Auserwählten etwas länger. Mit Peter machte ich mich stets nach den zusätzlichen Lektionen auf den gemeinsamen Heimweg. Auf einem Schotterweg spazierten wir gemächlich über einen Hügel in den nahen Wald. Dort trennten sich unsere Wege. Bei der Weggabelung stand eine stattliche Tanne und bevor wir uns voneinander verabschiedeten setzten wir uns erst einmal hin. Beobachteten wir die Vögel oder quatschten wir über die Aufgaben? Ich habe leider daran keine Erinnerung aber das glückliche Gefühl ist bis heute in meinem Herzen gespeichert. Ich war damals das erste Mal verliebt! Da uns zu Hause niemand zu einer bestimmten Zeit erwartete blieb viel Zeit zum trödeln. Dieser Weg wurde fast nur von Schülern benutzt und deshalb waren wir immer ungestört weil alle längst zu Hause waren. Ach Mensch war das schön! Lieber Peter ich hoffe du hast diese schöne und völlig unschuldigen Stunden in genauso guter Erinnerung wie ich. Leider konnte ich dich nie danach fragen. Wir sind uns nach der Schulzeit nie mehr begegnet. Du durftest die Schule wechseln und ich nicht weil mein Vater Bildung für Mädchen nicht für notwendig erachtete. Er wollte mir einfach nur eine schöne Kindheit ermöglichen die er selber so schmerzlich vermisste. Was dachte meine Mutter? Ich glaube sie konnte sich gut damit abfinden. Sie hat sich jedenfalls nicht für mich eingesetzt. Der Lehrer Müller führte deswegen ein Gespräch mit meinem damals minderjährigen und noch schulpflichtigen Bruder Hugo statt mit meinen Eltern. Hugo kümmerte das nicht. Es war auch nicht seine Aufgabe! Er widmete seine Aufmerksamkeit sowieso allem möglichen aber nicht der Schule. Er war ganz selten Pünktlich. Meistens verpasste er die erste Lektion gänzlich aber irgendwie schaffte er es trotzdem auf der Skala der meist geliebten Schüler ganz nach oben. Er hatte sich damals bei Bauern etwas Geld verdient und kaufte ein Motorrad. Es war defekt aber das war egal denn er vertraute seinen Fähigkeiten. Tagelang lagen die Schrauben, das Motorenöl und sonstige Teile verstreut auf der Terrasse. Vater stand ab und zu Kopf schütteln und mit einem Lächeln neben ihm. Nach einigen Misserfolgen hustete und spukte das reparierte Motorrad bis es ganz allmählich laut aber konstant dröhnte. Unsere Eltern waren nicht ohne Grund besorgt aber auch sichtlich und erkennbar mächtig stolz auf ihn. Nie hätten sie ihm das zugetraut. Dieses Vehikel hatte er nicht nur zum anschauen repariert das war uns allen klar. Auf unserem Land liessen in die Eltern gewähren aber er wollte verständlicherweise mehr. Im Schutz der Dunkelheit schoben wir gemeinsam mit grosser Kraftanstrengung das schwere Motorrad die Böschung hoch. Erst jetzt konnte er ohne das Wissen meiner Eltern starten und die Nacht erkunden. Sicherlich waren diese Ausflüge der Grund seiner Unpünktlichkeit in der Schule. Na ja, immer und überall konnte er nicht brillieren. Die Polizei hatte absolut kein Verständnis für seine Fahrkünste und informierte meine Eltern. Ich werde die Rüge meiner Mutter nie vergessen. Das Mittagessen stand auf dem Tisch und jeder bediente sich bereits aus den Töpfen und Schüsseln als sich meine Mutter mit einem Stock bewaffnet zu uns gesellte. Was passiert jetzt? Ungläubig schaute ich meine Mutter an. In unsere Familie gab es nie Prügelstrafen. Das hätte mein Vater nie erlaubt aber er war ja nicht da. Die Mutter stellte sich drohend an den Tisch und erklärte zuerst sachlich, den Grund für ihr benehmen und fing übergangslos an zu schimpfen. Mein Bruder spielte den Einsichtigen und legte seinen Arm schützend über den Kopf und bettelte um Gnade mit seinem treuen Hundeblick und schmunzelte dabei. Diese Szene war alles andere als Furcht einflössend. Wir versuchten das Lachen zu unterdrückten aber plötzlich prusteten wir Kinder los und dem konnte sich auch meine Mutter nicht mehr entziehen. Geändert hatte er sich nicht er wurde nur vorsichtiger. Später als er selber ein Polizeibeamter war musste er oft schmunzeln wenn er Jugendliche belehrte.

Ein Arztbesuch verlief nicht wie gewünscht. Er wollte oder konnte mir das erhoffte Wundermittel gegen meine lästigen und hässlichen Pubertätspickel nicht verordnen und deswegen machte ich mich ziemlich frustriert auf meinen Heimweg. Meine dauernde Angst mich zu verspäten zwang mich an diesem Tag auch zur Eile und ich erreichte an diesem kalten Wintertag die Bahnstation viel zu früh! Im geheizten Wartesaal suchte ich Schutz vor der Kälte und dem Schneegestöber. Ich setzte mich auf die lange nackte Holzbank. Da war schon jemand, ein Mann hockte breitbeinig da und glotzte mich an. Ich fühlte mich sofort unwohl, ein unbeschreibliches Unbehagen erfasste meinen ganzen Körper. Ich drehte meinen Kopf, schaute aus dem Fenster und dennoch spürte ich seinen gierigen Blick! Trotz heftigem Schneefall flüchtete ich nach draußen, auf den Bahnsteig. Von einem Fuß auf den andern tretend versuchte ich der Kälte zu trotzen. Endlich, die Eisenbahn ist im Sackbahnhof eingefahren. Ein Bekannter stieg aus, grüsste und erkundigte sich nach dem Befinden meiner Eltern, danach erklomm ich die drei Stufen um ins innere des Wagons zu kommen, setzte mich in ein freies Abteil und freute mich auf die bevorstehende Fahrt. Der glotzende mit einem weiß gestrickten Rollkragenpullover vom Aufenthaltsraum hatte ich bereits vergessen und war fürchterlich erschrocken als dieses Mannsbild sich just vis-a-vis von mir hinsetzte. Instinktiv ahnte ich die Gefahr der ich ausgesetzt war und deshalb flüchtete ich mich in ein anderes Abteil. Kaum hatte ich einen neuen Platz eingenommen stand der widerliche Mensch erneut vor mir. Ich schüttelte angewidert den Kopf, erhob mich leise stöhnend, ohne zu zögern packte ich meine Sachen und suchte erneut das Weite. Im nächsten Wagon gesellte ich mich zu einer älteren Frau. Endlich kapierte er, dass sine endlose Verfolgung sinnlos war. Aus den Augen aus dem Sinn, das war bei mir nicht anders. Bis zu meinem Zielort dauerte die Fahrt nur einige Minuten. Die Haltestelle war schon in Sicht und ich machte mich bereit zum aussteigen. Es schneite heftig, ich wickelte meinen Schal um den Hals, spannte meinen Schirm und machte mich auf den bevorstehenden drei kilometerlangen Fußmarsch. Das Schneetreiben wurde immer stürmischer, weit und breit war kein Schneepflug in Sicht und es wurde deutlich, das jetzt Niemand mit dem Auto unterwegs war, der nicht unbedingt musste. Meine Chance auf eine Mitfahrtgelegenheit und somit auf einen verkürzten Heimweg war sehr gering. Bald war die Bahnstation und die wenigen Häuser hinter mir und eine unberührte Landschaft mit tief verscheiten Wiesen und Wäldern vor mir. Ich liebte diese mir so vertraute stille Winterlandschaft. In dieser Stille ohne Lebenszeichen setzte ich ganz mechanisch einen Fuß vor den anderen und träumte meine geliebten Mädchenträume. Inzwischen bin ich schon bei der Rechtskurve, bei dem jetzt tief verschneiten Kirschbaum angekommen. Plötzlich, hörte ich ein heftiges keuchen hinter mir, ich drehte mich um, Angst, nichts als nackte Angst lässt mich erschauern. Es war nicht die Furcht, die sich manchmal bemerkbar macht wenn man alleine in der Dunkelheit unterwegs ist, nein, diesmal hatte sie ein Gesicht das ganz rot vor Anstrengung war. Der gestrickte weiße Pullover verstärkte seine untersetzte Statur und das unnatürliche rote Gesicht noch zusätzlich. Das Ekel gibt sich keine Mühe höflich zu sein. Keuchend und sabbernd sagt er: „Ich brauche etwas zum vögeln!“ „Was?“ Verdammt! „Nein, bitte nicht“ - bettelte ich! Nein, ganz sicher werde ich es ihm nicht leicht machen, ich werde kämpfen, egal was kommt. Ich schlug mit dem Schirm um mich, versuchte weg zukommen, rutschte aus, stolperte, konnte mich aber gerade noch fangen und so ein fatales Hinfallen verhindern. Nach einigem Gerangel und Gezerre gelang mir die Flucht und ich lief so schnell ich konnte. Sein Verfolgungsversuch scheiterte glücklicherweise kläglich schon nach kurzer Zeit fehlte ihm die Kondition und ich sah ihn in Richtung Wald davon eilen. Ich hatte keine Lust mehr auf meinen einsamen Fußmarsch und hetzte zurück in die Bahnhofgaststätte. Im Restaurant war man erstaunt über mein kommen denn heute hatte ich keinen Küchendienst. Ich erzählte den Wirtsleuten von dem schrecklichen Erlebnis und sie alarmierten die Polizei. Sie befragten mich über das Vorgefallene und forderten eine Beschreibung des Mannes. Ich erwähnte seine auffallend vorstehenden Zähne, den gestrickten Pullover und dann schilderte einer der Beamten mir die weitern Details und ich konnte diese nur noch bejahen. Dieser Typ war ihnen bekannt sie verdächtigten ihn bereits des sexuellen Missbrauch von minderjährigen Mädchen hatten aber keine Beweise. Sein auffälliges Verhalten in der nähe einer Schule veranlassten sie zu dieser Annahme und deshalb kauften sie ihm eine Fahrkarte am Bahnschalter. Der Bahnhofvorstand sollte sicherstellen, dass der Verdächtige mit dem nächsten Zug den Ort verlässt und bis dahin musste er im Wartesaal aushaaren. Während ich, das 14-jährige Mädchen, diesen Warteraum betrat verliessen zwei Polizeibeamte gerade diesen Warteraum und ich sollte diese beiden Ordnungshüter schon ganz bald wiedersehen im Bahnhofrestaurant Lanzenhäusern! Das Vergehen von diesem Kerl an mir, war laut einem Ordnungshüter und seinem Rapport eine Beleidigung.

Kleider hatten mich zu meiner Schulzeit oft unglücklich gemacht. Kinderkleider waren einfach Mangelware. Ich hatte schon sehr früh einen ordentlich bezahlten Job. Im Bahnhofrestaurant durfte ich Gemüse putzen Kartoffeln schälen und mich um die Eismaschine kümmern. Das selbst verdiente Geld linderte etwas meine Kleidersorgen. Niemand ging mit mir einkaufen und deshalb bestellte ich aus dem Jelmolikatalog unter anderem eine tolle Jeans. Und damit gab es Probleme und wie! Ich wurde nie gehänselt ganz im Gegenteil ich war ein Rädelsführer und in der Schule und ausserhalb beliebt. Aber mein Lehrer hatte ein Problem mit mir und ich mit ihm. Ich war im Besitz einer selbst verdienten und gekauften Jeans und er untersagte mir diese während der Schulzeit zu tragen! Eigentlich war diese Jeans nur der Anfang und ein Vorwand um mich zu demütigen und zu schikanieren.
Pünktlich wie immer stand ich in der Schulbank wie alle meine Schulkameraden wenn der Lehrer das Zimmer betrat. Er stellte sich vor die Klasse, grüsste und warte auf die Grusserwiderung und forderte mich danach umgehend auf nach Haus zu gehen und mich umzuziehen. Der Schulweg war schon etwas länger als nur so um die Ecke und deshalb dauerte es gut und gerne eine ganze Stunde bis zu meiner Rückkehr. Diese Schikanen wurden zur Routine. Er bemängelte alles Mögliche die Frisur den Rock die Hosen er fand einfach immer etwas. Nach einer für mich nicht nachvollziehbaren Rückweisung stellte ich ihm die Frage: Könnte es sein, dass der Standort des Misthaufens ausschlaggebend ist ob man einen Rock tragen kann oder nicht? Eine Bauerntochter trug am selben Tag zur gleichen Zeit den exakt gleichen Jupe! Meine Auswahl war ja sehr beschränkt aber ich gab mir keine Mühe mehr. Wieso auch es gab offensichtlich einen anderen Grund für sein tun. Einmal wollte ich wissen wieso er sich nicht bei meinem Vater über mein Aussehen beschwert. Er war der Meinung mein Vater müsste sich bei ihm melden. Daraufhin erklärte ich ihm, dass er stets etwas zu bemängeln hätte und ausserdem würde mein Vater arbeiten. Er erklärte mir mit einem hochroten Gesicht, dass er auch arbeiteten würde. Jetzt war ich nicht mehr zu bremsen und bestätigte ihm, dass man sein tun durchaus so nennen könnte.
Nachsitzen oder zusätzliche Hausaufgaben erledigen musste ich nie. In der Schule tat sich während meiner Abwesenheit offensichtlich nichts Besonderes.
Die Situation wurde immer skurriler aber langsam erhärtete sich mein Verdacht, dass diese Zurechtweisungen nichts mit meinem Aussehen zu tun hatte. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen forderte eben dieser Lehrer mich und meine Banknachbarin zum Nachsitzen auf. Was kommt jetzt, fragten wir uns. Ein Fragebogen mit unglaublich dämlichen Fragen erwartete uns. Wir hatten stets drei mögliche Antworten zur Auswahl. Zum Beispiel stand liest du Schundliteratur oder Liebesromane oder Bücher von Hans Ernst wenn ja wo, im Bett auf dem Schulweg oder auf der Toilette. Wir hatten beide bloss ein Plumpsklo zu Hause und was Schundliteratur war wurde uns nicht erklärt. Von Hans Ernst lag tatsächlich ein Buch zu Hause und das musste ich danach unbedingt lesen. Was für eine Enttäuschung. Ich hoffte auf etwas Verbotenes oder Anrüchiges aber sicher nicht nur eine einfache Liebesgeschichte wie sie der Jodlerklub besingt. Da ist bei meinen Geschwistern mehr zu sehen und zu hören. Dieser Lehrer hat nun wirklich keine Ahnung.
Eigentlich liebte ich die Schule aber so konnte es nicht mehr weiter gehen. Ich wollte weg. An einen anderen Ort. In eine andere Schule. Meine Mutter war hilflos müde und der Erziehung überdrüssig. Sie warte nur noch darauf, dass ihr jüngstes Kind selbständig wird.
Der Schulweg führte an der Mineralquelle Riedstern vorbei. Der Abwart wohnte mit seiner Frau in einem kleinen Haus auf dem Firmengelände. Ihm war mein ständiges hin und her aufgefallen und weil meine Mutter in der selbigen Fabrik arbeitete erkundigte er sich bei ihr nach den Gründen. Sie erzählte ihm meine leidige Geschichte und er erkannte sofort, dass ich Hilfe brauchte. Meine Mutter erlaubte ihm sich meiner anzunehmen. Er kontaktierte meinen Lehrer und endlich wurde ich nicht mehr belästigt und schikaniert. Ich beendete das Schuljahr mit guten Noten und ohne Absenzen.

Ich glaubte oder besser gesagt ich wollte den Glauben an einen Weihnachtsmann nicht aufgeben! Eigentlich hatte ich den Ruedi, ein Nachbar, bei der vergangenen Weihnachtsfeier an der Stimme erkannt aber ich weigerte mich standhaft diese Tatsache zu akzeptieren. Die Existenz vom Samiclaus wollte ich einfach nicht anzweifeln obschon mein geliebter grosser Bruder Hugo mit durchaus weiteren plausiblen Argumenten versuchte mich vom Gegenteil zu überzeugen. Die Unterhaltung mit meinem Bruder erheiterte die ganz Familie alle hörten uns aufmerksam zu. Einige Familienmitglieder unterstützen meine altklugen Weisheiten. Die Erinnerung an diese fröhliche Unterhaltung in mitten meiner Familie zaubert noch heute ein schmunzeln auf mein Gesicht. In der Vorweihnachtszeit fällte unser Vater aus unserem eigenen Wald einen kleinen Tannenbaum. So glaubte ich zumindest bis er uns diese Geschichte mit einem lächeln erzählte. Er war wie so oft an den Wochenenden im Wald unterwegs als er von weitem ein Nachbar mit einem Fuchsschwanz in der Hand auf ihn zu kommen sah. Neugierig und bereits ahnend was passieren würde versteckte er sich hinter einem Gebüsch und wartete geduldig bis der Mann sein Vorhaben in die Tat umsetzte. Wie von meinem Vater erwartet bückte sich der Eindringling bei einer kleinen Tanne und sägte sie gekonnt ab! Als dieser das Tännchen zum transportieren herrichtete verlies mein Vater sein Versteck. Der zu Tode erschrockene Mann steckte die kleine Rottanne in den Schnee und stotterte eine unverständliche Entschuldigung. Zornig und mit verärgerter Stimme erklärte mein Vater ihm, dass abgesägte Tannen nicht in den Himmel wachsen und befahl ihm den gestohlenen Weihnachtsbaum einzupacken und nach Hause zu gehen! Schmunzelnd machte sich danach auch mein Vater auf den Heimweg und freute sich diebisch über den bereits schön geschmückten Baum in unserer Wohnstube, der unlängst im Wald des ertappten Sünders stand!
Wir lebten in einem Holzhaus und die Dielen waren sehr niedrig und wegen der Brandgefahr hatten wir nur einen kleinen Baum. Den stellten wir in die Stube und schmückten ihn mit aparten Kugeln und Kerzen. Beim dekorieren war ich natürlich dabei. Weihnachten war immer ein schönes Fest. Mutter zauberte ein tolles Essen und wir Kinder kümmerten uns hinterher um das Geschirr und danach setzten wir uns alle zusammen um den Baum.

Niemand war unhöflich zu mir aber auch nicht besonders nett.
Die Kleidermisere begleite mich auch ins Welschland. Die Arztfamilie hatte eine Nichte und ich musste mit ihr das Zimmer teilen. Sie erwarte mich gespannt und wollte mir beim einräumen behilflich sein. Es gibt Momente wo man wirklich keine Hilfe braucht und das war so einer. Mädchen lieben schöne Kleider und das war bei der Nichte genau so. Sie wollte die Kleider sehen und anprobieren. Angezogen hatte sie dann doch nichts. Bedrückt und traurig schaute ich aus dem Dachfenster und konnte gerade noch meinen Bruder Hugo im weißen Mercedes-Cabriolet mit roten Ledersitzen aus der langen Einfahrt wegfahren sehn.
Ich wurde von einer Angestellten in meine zukünftigen Arbeiten eingewiesen und verrichtete diese von Montag bis Samstag, danach musste ich mein Zimmer und das Anwesen verlassen. Die Reisespesen vertilgten mein ganzes Gehalt. Ich verstand die französische Sprache schon ganz ordentlich und darum wollte ich an einem Abend mit den Kindern fernsehen. Madame war einverstanden und ich machte es mir vor der Kiste gemütlich. Kaum hatte ich meinen Platz eingenommen erschien die Hausherrin mit der Nähschachtel und den durchlöcherten Wollsocken und forderte mich auf diese während der Sendung zu stopfen. Das war mein letzter Versuch den mir vertraglich zugesicherte Familienanschluss einzunehmen, da meine Arbeitstage mit putzen, bügeln, kochen, abwaschen und sonstigen Haushaltsarbeiten mindesten zehn Stunden dauerten verzichtete ich auf diesen Anschluss freiwillig. Immerhin ermöglichte mir Monsieur, der Landarzt, den abgemachten Sprachunterricht, dafür besuchte ich jeden Donnerstag für zwei Stunden eine Nonne. Der private Unterricht war die einzige Abwechslung während der ganzen Woche. Ich war in einem kleinen Nest gelandet eigentlich wollte ich doch unbedingt in eine Stadt. Ich hoffte endlich diese„Arschgrabscher“ los zu sein aber da hatte ich mich getäuscht, dieses Mal waren es ganz saubere und gepflegte Hände, die mich plötzlich von hinten beim Schuhe putzen sexuell belästigten. Hört denn das nie auf? Einzig meiner Zimmerkollegin, der Nichte des Übeltäters erzählte ich das Vorgefallene und somit den Grund meiner Kündigung. Ich tauschte meinen Arbeitsplatz in der Villa gegen eine beengte Wohnung in Lausanne. Madame betrieb einen Milchladen, ihr Ehemann war Monteur oder sonst ein Arbeiter, so genau wusste ich es nicht. Ich bekam ihn kaum zu Gesicht außer an den Samstagen, da war im Geschäft ordentlich was los und Madam brauchte seine und meine Unterstützung. Die restlichen Tage, betreute ich die drei schulpflichtigen Kinder und kümmerte mich um dessen Mahlzeiten. Nach all dem Stress in der Villa hatte ich jetzt ein einfaches und ruhiges Dasein. Ich lieh mir Bücher aus der Bibliothek und verbrachte viel Zeit mit lesen. Eigentlich war alles ganz easy, nur ein eigenes Zimmer hatte ich nicht. Ich teilte es mit der 13-jährigen Tochter des Hauses. Manchmal besuchte ich meine Familie aber nicht mehr wie zuvor jedes Wochenende. Nach so einem Besuch zu Hause war ich wieder einmal auf der Rückreise und hatte wie so oft einen kurzen Aufenthalt in Bern. Ich schlenderte durch den Bahnhof, der war damals eine Grossbaustelle überall waren provisorische Trennwände die als Plakatwände dienten. In so einem behelfsmäßigen Durchgang erfüllte sich für ganz, ganz kurze Zeit mein Mädchentraum! Ein Mann sprach mich an und sagte: „Darf ich dich kurz was fragen?“ Darf er – natürlich! „Ich bin Fotograf und du siehst sehr gut aus, bist fotogen und ich kann dir schon jetzt eine tolle Modellkarriere prophezeien.“ Mir wurde ganz schwindlig von den vielen Komplimenten. Für die erforderlichen Formalitäten sollte ich ihn jetzt nur noch kurz begeleiten. Klar mache ich, obwohl sämtliche Alarmglocken läuteten begleitete ich ihn. Auf einem Parkplatz stieg ich zu ihm ins Auto und er notierte sich meine Adresse und auch alle anderen wichtigen Daten. Ich ahnte Unheil - verdammt noch mal - ich wusste es doch aber dennoch falle ich auf einen so miesen Trick rein! Er sagte: Er müsste mich jetzt Testen und fasste mir zwischen die Beine - oh Gott nein - nicht schon wieder - ich erklärte meinen Zeitdruck, denn die vorgesehene Abfahrt der Bahn nach Lausanne musste ich dringend erreichen! Meinen Vorschlag diesen „Test“ später nachzuholen akzeptierte er widerwillig und ließ von mir ab! Tatsächlich kontaktierte er mich zwei Tage danach telefonisch. Meine Mutter
hatte mich schon immer vor Mädchenhändlern gewarnt und ich hatte große Angst, dass
dieser Typ einer sein könnte und darum drohte ich mit der Polizei sollte er mich noch weiter
belästigen. Einige Jahre danach erfuhr ich aus der Presse weitere Details über ihn und seine
„Fähigkeiten.“

Ich wollte diese Familie verlassen und mir ein eigenes Zimmer leisten. Dafür brauchte ich einen Job mit einem besser bezahlten Gehalt. In einem Lebensmittelgeschäft wurde ich fündig und umgehend informierte ich die ganze Familie über mein vorhaben. An meinem letzten Arbeitstag hatte Madame von meinen Plänen plötzlich keine Kenntnis und von der einvernehmlich abgemachten mündlichen Kündigung auch nicht! Sie behauptete ich hätte nicht gekündigt und deshalb werde sie mir auch kein Gehalt auszahlen. Ich war mehr als enttäuscht und behielt den Wohnungsschlüssel als Pfand für die mir zustehenden läppischen zweihundert Franken. Das war keine gute Idee. Der Monsieur verfolgte mich bis vor die Haustüre und wurde aggressiv und bedrohte mich. Deshalb übergab ich schlussendlich den Schlüssel und verliess wütend und ohne Geld diese Familie. Ich war auf mich allein gestellt. Meine Eltern sowie meine Geschwister kümmerten sich nicht um mich und ich tat es ihnen gleich. Natürlich hätte ich jederzeit meine Eltern besuchen können aber mehr war nicht zu erwarten.
Meine neue Chefin war eine übergewichtige aber herzliche Frau und sie organisierte für mich ein Zimmer bei einer älteren Dame. Diese vermietete in ihrer eigenen Stadtwohnung zwei Räume und einer davon war meiner. Das Zimmer hätte längst einen neuen Anstrich gebraucht. Die Farbe der Wände war undefinierbar. Die Einrichtung alt dunkel und abgewohnt. Das Fenster in einer Ecke zu einem stinkigen Innenhof gab den Blick frei auf die ca. ein Meter entfernte nächste Hauswand. Das Badezimmer hatte den gleichen Charme. Eine Waschmaschine oder eine Kochgelegenheit gab es nicht. Ich wusch alles von Hand und die gewaschenen Kleider legte ich über die Heizung. Um einer Überschwemmung vorzubeugen legte ich ein Handtuch auf den Boden. An die Deckenleuchte kann ich mich nicht mehr erinnern aber sie konnte die trostlose Atmosphäre auch nicht erhellen. Ein ödes Zuhause. Nein, ein Zuhause war das nicht. Es war eine eigene Unterkunft mehr aber nicht. Auf der Arbeit fühlte ich mich gut. Ich war eine begeisterte Verkäuferin und daran sollte sich auch später nichts ändern! Ich war verliebt und trug eine rosafarbene Brille und das änderte meine Sichtweise auf die äusserlichen Umstände. Peter war sein Name. Er lebte in der nähe von Bern. Wir hatten uns beim tanzen kennen gelernt und dabei Adressen ausgetauscht. Wie versprochen schrieben wir uns. In der Mittagspause eilte ich stets mit der Hoffnung auf einen Brief von ihm in meine Dunkelkammer. Die Vermieterin verteilte die Post und nur sie hatte den Schlüssel zum Briefkasten. Lag kein Brief auf meinem Tisch überprüfte ich voller Hoffnung den Blechkasten im Eingangsbereich. Hatte der Postbote ein mir bekanntes Couvert eingeworfen befreite ich dasjenige schon mal mit einer Stricknadel. Nach dem lesen schrieb ich sofort zurück und wartete ungeduldig auf die nächsten Zeilen bevor mein Umschlag überhaupt die Reise nach Gasel angetreten hatte. Einmal verabredeten wir uns zu viert. Ich brachte meine alleinerziehende Schwester Irene mit und er seinen Freund und gemeinsam besuchten wir die Schönaubar am Thunersee. Das war mein erstes Ausgehen mit Irene später folgten noch einige aber ich hatte nie mehr einen so tollen Begleiter wie damals! Irene war sehr skeptisch und sicherlich auch neugierig was ihre kleine Schwester für Typen mitbringt. Sie war mehr als überrascht. Ich glaube sie war sogar ein bisschen neidisch. Ich war so stolz und glücklich. Irene war damals wie später der Mittelpunkt jeder Tanzveranstaltung. Sie war attraktiv und tanzte leidenschaftlich gerne und gut. Ich war noch so jung und bei weitem nicht so eine auffallende Persönlichkeit aber der interessante Peter war mein Begleiter! Er war sehr höfflich und nett zu ihr aber er hatte nur Augen für mich. In jener Nacht begleitete er mich in einer Tanzpause an die frische Luft. Es war eine laue Sommernacht und ja, auch der Mond schien hell und erleuchtete unseren Spazierweg. Während ich diese Zeilen schreibe kann ich immer noch nicht verstehen, dass ich diese Liebe, die wunderbar zart und eigentlich erst im entstehen war so dumm fies und in schwachen zehn Minuten zerstören konnte.
Wie konnte ich nur Peters Freund, der auch in Lausanne arbeitete, auf unserem gemeinsamen Heimweg seine Avancen erwidern. Gerne würde ich, auch heute noch, ihm die Schuld geben, denn es blieb bei diesem einen Kuss. Ich konnte mir mein Verhalten nicht verzeihen. Die rosafarbene Brille hatte ich verloren und ohne Peters Briefe Lausanne seinen Charme.
Ich wollte nicht mehr das jeune fille sein und deshalb suchte ich weiter nach einer vernünftigen Zukunft. Auf dieser Suche verschlug es mich nach Zürich in ein Hotel Mit einer Arbeitskollegin freundete ich mich an. Es war keine wirkliche Freundschaft. Monique war eine junge hübsche Frau und ich noch ein Teenager aber sie vertraute mir ihre Sorgen an. Sie wurde ungewollt schwanger von ihrem langjährigen Freud. Er war ein Playboy und protzte mit dem Geld seiner Eltern. Diese Schwangerschaft öffneten ihr endlich die Augen. Natürlich wollte er kein Kind und schon gar nicht mit ihr. Er bezahlte die Abtreibung damit war die Beziehung beendet. Sie reiste nach Genf für diesen Eingriff und kam nach einem Tag geschwächt und heftig blutend zurück zur Arbeit. Ich stand ihr bei und ich fühlte mich sehr erwachsen und aufgeklärt. Damals reiste ich ab und an für ein Wochenende zu meiner Schwester Irene nach Thun und natürlich berichtete ich ihr von Monique. Wütend bezichtigte sie diese siebenundzwanzig jährige Frau als oberflächlich und verantwortungslos. Später änderte sie ihre Meinung und riet mir zu einer Abtreibung.
Ich suchte immer noch nach einem Gefährten und freute mich als ein Schulkamerad grinsend und völlig unerwartet plötzlich vor mir stand. Sofort entstand eine Vertrautheit zwischen uns. Arm in arm bummelt wir quatschend und lachend in die nächste Beiz. Als Kind bewunderte ich ihn wie er, egal wie warm oder kalt der Fluss war im knietiefen Wasser stand. Mit einer Hand hob er sachte einen Stein an und mit der anderen packte er blitzschnell zu und präsentierte mir stolz seinen Fang. Meistens war es eine Bachforelle. Er säuberte den Fisch und spießte ihn kopfüber auf einen Ast während ich Schwemmholz stapelte und ein Feuer entfachte. Als zehn jähriger grillte er diese Fische als hätte er nie was anderes gemacht. Diese selbstgefangenen Fische ersetzten ihm oft das Mittagessen. Ein einziges Jahr lebte er im Schwarzwassergraben mit seinen Eltern danach verloren wir uns aus den Augen und in Zürich trafen wir uns wieder.
Die gemeinsamen Erinnerungen brachten uns näher. Er war enthusiastisch und verliebte sich sofort in mich. Ich genoss seine Naturverbundenheit und unsere Vertrautheit. Ich fühlte mich von ihm umsorgt. Er schmiedete Pläne für unsere gemeinsame Zukunft und ich träumte mit ihm, seine Träume. Seine Eltern waren begeistert von unserer Beziehung. Ich hatte bekommen was ich mir so sehr gewünscht hatte aber mit der Zeit empfand ich mich eingeengt und ich musste mir eingestehen, dass ich ihn nicht liebte. Ich hatte ihn benutzt um meine Traurigkeit und die Einsamkeit zu überwinden. In Ermangelung einer Alternative spielte ich die Verliebte um die Sehnsucht nach meiner selbst zerstörten Liebe zu lindern. Ich musste das ganze beenden. Aber wie? In einem klärenden Gespräch? Was hätte ich ihm erklären können? Dass ich mich anfänglich selbst belogen hatte? Nein! Schon wieder verhielt ich mich fies! Er kam kurz an meinem Arbeitsplatz vorbei und ich verhielt mich sehr abweisend und unmissverständlich zurück. Am darauffolgenden Tag kontaktierte mich sein besorgter Vater und fragte was vorgefallen sei. Nichts, alles in Ordnung war meine dämliche Antwort.
Später erfuhr ich von einer Bekannten, dass er sich das Leben genommen hatte! Ich war ahnungslos aber nicht überrascht oder erstaunt. Ich antworte ganz unbeteiligt ich hätte davon gehört und wechselte das Thema. Ich wollte keine Details erfahren!
In unmittelbarer Nachbarschaft meiner Eltern, in diesen idyllischen gelegenen Weilern nahe, des Naturschutzgebiets begingen während meiner Schulzeit drei Männer Selbstmord! Später sollten zwei weitere Suizide aus meiner Familie einschneidende Veränderungen in mein Leben bringen. Wieso wollten diese Menschen nicht mehr Leben? Natürlich sucht man immer irgendwelche nachvollziehbare Gründe um, ihr tun zu erklären. Diese Menschen sind alle im Umkreis von wenigen hundert Metern aufgewachsen. Ist diese Häufigkeit von Suiziden nur Zufall?

Spontan und ohne Vorbereitung reiste ich während den Sommerfreien mit der mir flüchtig bekannten Erika per Autostopp nach Holland. Sie war 21 und ich 17 Jahre jung. Mutig stellten wir uns in der bekannten Pose in Thun beim Berntor an den Straßenrand. Nach wenigen Minuten hatten wir bereist die erste Mitfahrgelegenheit und zügig erreichten wir den Grenzübergang in Basel. Wir verschafften uns vor der deutschen Autobahn noch eine kurze Pause und setzten uns in ein Gartenrestaurant. Viele junge Menschen reisten damals auf diese Weise um die halbe Welt aber von denn unzähligen Trampern an der Autobahnauffahrt waren wir dann doch überrascht. Liegend, sitzend oder stehend mit beschrifteten Pappkartons, Staatsflaggen oder einfach nur mit dem Daumen versuchte jeder auf seine Art ein Auto oder besser gesagt ein Chauffeur auf sich aufmerksam zumachen. Für die Männer war das Weiterkommen besonders schwer. Zwei Studenten bettelten um einen Deal. Wir fühlten uns mit einer männlichen Begleitung sicherer und sie hatten mit uns Frauen die größere Change endlich weg zu kommen und deshalb stimmten wir dem Trennungsvorschlag zu. In der Studentenunterkunft in Strassburg von unserer Schirmherren wollten wir uns wieder treffen. Wir standen noch zu viert am Straßenrand und hatten kaum unsere Abmachungen getroffen als auch schon das erste Auto stoppte. Ich packte meinen spärlichen Rucksack und rannte los im Schlepptau mein neuer Begleiter. Noch bevor wir unseren Zielort angeben konnten wurden wir von den zwei männlichen Insassen unterbrochen. Sie erklärten die Einstiegsmöglichkeit bestünde nur für die Mädchen. Ich hatte diese Typen zuvor im Restaurant gesichtet allerdings beachtete ich sie kaum aber jetzt klingelten sämtliche Alarmglocken. Unsere Abmachung erwies sich mehr als nur eine gute Entscheidung! Die Wartezeit war trotzdem nur kurz und ich wünschte Erika und ihrem Gefährten zum Abschied viel Glück und ein baldiges Weiterkommen. Gemeinsam bildeten wir eine gut funktionierende Zweckgemeinschaft und als Paar kamen wir unserem Ziel stetig näher. Mit einem älteren väterlichen Autofahrer näherten wir uns der französischen Grenze und kurz vor dessen Übergang forderte er uns auf auszusteigen. Der freundliche Mann befürchtete zu Unrecht, wir hätten irgendwelche verbotenen Substanzen (Drogen) im Gepäck. Dieses Misstrauen hatten auch die Zollbeamten und darum mussten wir sämtliche Utensilien auf einem Tisch ausbreiten. Sie kontrollierten und durchsuchten alles! Unterdessen wartete auf der französischen Seite der vorsichtige Fahrer nicht mehr auf uns obschon er dieses vorhatte. Die Change auf eine erneute Mitfahrtgelegenheit, kurz nach Mitternacht an diesem Grenzübergang erschien meinem ortskundigen Begleiter eher gering, aber ich war weiterhin optimistisch und hatte Recht. Der zuvor erwähnte Fahrer beobachtete den Grenzübergang aus sicherer Entfernung und als wir zu Fuß des Weges kamen, machte er sich bemerkbar und überraschte uns. Fröhlich und dankbar machten wir es uns in den Sitzen für den restlichen kurzen Weg gemütlich. Ich spürte sehr wohl, dass ich jetzt für den Studenten überflüssig wenn nicht sogar lästig war, aber dessen ungeachtet übernachtete ich bei ihm. Am nächsten Morgen forderte er mich auf alleine weiter zu ziehen! Nein, unsere Abmachung lautete anders, aber um dieser konkreten Aufforderung nicht folge zu leisten erachtete ich einen Streit als wenig sinnvoll und darum stellte ich mich dumm und hoffte auf ein baldiges eintreffen meiner Kollegin. Um die Mittagszeit fuhr ein überladener VW Käfer vor die Eingangstüre. Insgesamt kraxelten fünf erwachsene Italiener aus diesem kleinen Auto und unter ihnen auch meine längst überfällige Kollegin. Die Erleichterung über ihr erscheinen und damit meinen Abschied aus der Studentenbude war sehr wohltuend! Erika erzählte mir von ihrer abenteuerlichen Fahrt, diese war weit unangenehmer als meine, sie musste mit ihrem angehenden Akademiker an der Autobahn übernachten. Trotz ihren nicht gerade ermunternden Erzählungen suchten wir zu Fuß eine gut frequentierte Strasse und hofften unserm Ziel Holland näher zu kommen. Es war ein heißer Sommertag. Ich war mit einer weißen Hemdbluse und Jeans bewusst eher praktisch und zurückhaltend gekleidet, aber Erika mit ihren schwarzen Kunstlederhosen war ziemlich unpassend gestylt! Die Sonne verwandelte ihr glänzendes, eher für denn Nachtklub gedachtes Beinkleid in eine Sauna. Stöhnend verschaffte sie sich Erleichterung, indem sie kurzerhand mit meinem Schweizersackmesser den Stoff vom Knie abwärts in mehre etwa fünf Zentimeter breite Stoffstreifen schneiderte. Mein Vorschlag diese flatternden Dinger abzutrennen und so die ehemaligen Hosen in Shorts umzuwandeln hielt sie für keine gute Idee! Trotz ihrem exotischem Erscheinungsbild - oder vielleicht gerade deswegen, saßen wir nach kurzer Wartezeit, wieder in einem Auto. Alles klappte wunderbar. Wir wechselten nach einigen kurzen Fahrten in ein Auto zu einem sympathischen jungen Mann. Er anerbot uns die Mitfahrt bis Osnabrück. Happy und voller Freude setzten wir uns zu ihm ins Auto. In vier Stunden würden wir voraussichtlich Osnabrück erreichen und uns dort einen Schlafplatz suchen. Ich machte es mir auf der Rückbank gemütlich und beteiligte mich eher selten am Gespräch. Ich überlies Erika die Konversation zudem flirteten die beiden ganz ungeniert. In der Dunkelheit erreichten wir Osnabrück. Der charmante deutsche Herr wusste uns auch einen geeigneten Schlafplatz und chauffierte uns an eine, soweit ich im Dunkel erkennen konnte idyllische und romantische Umgebung. Ich suchte mir zwischen Bäumen und Hecken ein Versteck für meinen Schlafsack. Die zwei Turteltauben entfernten sich und suchten tatsächlich einen Platz zum knutschen. Ich setzte mich hin. Etwas mulmig war mir schon, denn es war meine erste Nacht in einem Fremden Land unter freiem Himmel. Die sternenklare milde Nacht änderte an meinem beunruhigenden Gefühl nichts. Ich wurde zunehmend unruhiger und meine Begleiterin fehlte immer noch. Ich faste den Entschluss diesen Ort zu verlassen und packte meine wenigen Habseligkeiten wieder ein und begab mich auf die Suche nach meiner Reisebegleiterin. Endlich hatte ich das gesuchte Pärchen gefunden und war erleichtert, dass ich sie nicht bei einem Liebesabenteuer gestört hatte. Plötzlich erkannte ich den wahren Grund für ihr verschwinden. Sie rauchten Gras und ich dumme Kuh dachte sie wären an Sex und einer schnellen Nummer interessiert. Kurz erklärte ich mein Vorhaben und sie zeigten Verständnis und Einsicht bezüglich meiner Bedenken. Dankbar nahmen wir die erneute Hilfsbereitschaft von unserem Chauffeur an. In der Innenstadt verabschiedeten wir uns von unserem Weggefährten. Etwas irritiert war ich schon über den unpersönlichen Abschied von den beiden aber Erika zeigte keine Traurigkeit oder sonstige Reaktion und mir sollte ihre Gleichgültigkeit recht sein! Nun übernahm ich die Führung und bestimmte umgehend eine parkähnliche Hotelanlage als geeigneter Ruheplatz. Wir kletterten im Schutz der Dunkelheit über eine Mauer welche die Strasse von der dahinten liegenden Grünfläche trennte. An dieser Mauer bei zwei dicht aneinander stehenden alten Bäumen kuschelten wir uns leise in den Schlafsack und flüsternd wünschten wir uns eine gute Nacht. Im Schlafsack eingekuschelt schliefen wir tief und fest bis in die frühen Morgenstunden. Steif und gähnend begutachtete ich den Hotelpark und gratulierte mir zum gut ausgewählten Platz. Eine Mauer trennte uns von einer stark befahrenen Strasse und der Berufsverkehr wurde von Minute zu Minute mehr. Jetzt gab es keinen Grund mehr um an diesem Ort zu verweilen. Unsere Effekten waren schnell zusammen gepackt und die Morgentoilette musste erst einmal warten. Wir schulterten dennoch gutgelaunt unsere Habe kraxelten wieder über die Mauer auf die Strasse und machten uns auf die Suche nach einer öffentlichen Toilette. Wir waren viel zu zeitig unterwegs, die Geschäfte und Lokale waren alle noch zu und unser Heißhunger auf Kaffee und Brötchen konnte noch nicht gestielt werden! Bei einem abseits stehenden Dornengebüsch kauerten wir uns kurz hin um wenigsten den Druck auf unseren Blasen zu lindern und alsdann nutzen wir die Rushhour um weiter zu kommen. In Enschede beim Grenzübergang zeigten wir einem besorgten Zollbeamten gehorsam unser gesamtes Bargeld und außerdem bat er Erika mit ihren 21 Jahren fürsorglich auf mich die 17-jährige zu achten. Dass meine Begleiterin eher auf meine Hilfe angewiesen war konnte er nicht erahnen. Die erste Mitfahrgelegenheit in Holland hatten wir in einem Kleinwagen mit ungarischem Kennzeichen. Der Fahrer war ein ca. 35-jähriger Mann der mit seinem Vater auf dem Weg zum Soldatenfriedhof in der Nähe von Arnheim war. Erfreulicherweise durften wir sie begleiten. Auf diese unzähligen identischen und in geordneten Reihen aufgestellten Kreuze war ich nicht vorbereitet. Der zweite Weltkrieg mit den unzähligen Gräueltaten sowie der im Krieg gefallenen Menschen waren das erste Mal bildlich in meinem Bewusstsein angekommen! Angesichts dieser über 30000 Gräbern empfand ich tiefes Mitgefühl für die gefolterten, geschädigten, gefangenen und getöteten Menschen! Trotz der sommerlichen Hitze wurde mir kalt. Ich erinnerte mich an die Kriegserzählungen meines Vaters. Er arbeitete anfangs des zweiten Weltkriegs in der Umgebung von Dresden auf einem Bauerngut. Damals ahnte er Schlimmes und flüchtete gerade noch rechtzeitig zurück in die Schweiz. Ich suchte unter den Bäumen Schutz vor den unerbittlichen Sonnenstrahlen und hing meinen melancholischen Gedanken nach. Erika und der Vater von unserem Chauffeur gesellten sich ebenfalls zu mir. Langsam verlor ich die Gänsehaut und wir unterhielten uns wieder über die Gegenwart. Der ungarische ältere Mann erzählte uns, dass er hellseherische Fähigkeiten hätte. Das war interessant und Erika wollte natürlich sofort alles über ihre Zukunft wissen. Er nahm ihre Hand und betrachtete diese eingehend bis er langsam aber bestimmt einige ihrer gesundheitlichen Beschwerden erwähnte und er traf damit schon voll ins Schwarze. Die Nieren und Blasenbeschwerden waren ihr schon damals mehr als nur lästig. Die weiteren Voraussagen bargen allesamt deutliche negative Hinweise unter anderem sagte er ihr eine instabile und unheilvolle Beziehung voraus und auch über ihre berufliche Zukunft berichtete er nichts Positives. Er machte mir Angst aber dennoch zeigte ich ihm auch meine Hand und war gespannt auf seine Ausführungen. Wie zuvor bei Erika betrachtete er eingehend meine Handflächen. Er beklagte sich über meine Zurückhaltung und erklärte mir, dass ohne mein Vertrauen und mein Einverständnis seine Fähigkeiten begrenzt wären aber dennoch könnte er mir ein beständiges und zielstrebiges Vorankommen sowie ein zufriedenstellendes finanzielles Auskommen diagnostizieren! Meine Kameradin war daraufhin sehr niedergeschlagen und während der Weiterfahrt nach Amsterdam weinte sie. Die beiden Männer unterhielten sich in ihrer Landessprache und trotzdem konnte ich erahnen, dass der Sohn seinem Vater vorwarf an uns seine hellseherischen Kenntnisse ausgeübt zu haben. Ich empfand diese Männer sehr sympathisch und ich war diesem alten Mann dankbar für die an mich gerichteten aufbauenden Vorhersagen. In Amsterdam suchten unsere Gastgeber eine Unterkunft und wir planten einen Besuch am Dam Squar. Später beabsichtigten wir die beiden Ungarn wieder zu treffen. Kaum waren wir am Dam und auf dessen Stufen angekommen wurden wir nach Zigaretten Geld und sonstigen scheinbar dringenden Notwendigkeiten angebettelt. Ich verteilte einige Marlboros und danach hatte ich diese Hippies satt und Erika erging es ähnlich. Wir liessen kurzerhand das Rendezvous mit Vater und Sohn platzen. Amsterdam war nicht unser Endziel. Holland als Ferienziel hatten auch zwei Jungs aus unserer Heimat und vor der Abreise vereinbarten wir ein Treffen im Bahnhofrestaurant Scheveningen. Neugierig und gespannt machten wir uns auf den Weg nach besagter Gaststätte. Ans trampen in der Amsterdamerinnenstadt war nicht zu denken und deswegen wollten wir per Bahn nach Scheveningen. Trotz der guten Deutschkenntnisse verstand die Schalterbeamtin uns nicht und forderte ihre Arbeitskolleginnen und Kollegen zur Mithilfe auf. Endlich verstand uns einer und nannte der Beamtin unser Reiseziel. Unter lautem Gelächter stellte sie uns die Fahrkarten nach Den Haag aus und erklärte welcher städtischen Bus an den Strand von Scheveningen fährt. Keine Bahnstrecke und somit auch kein besagtes Restaurant und wie um alles in der Welt werden wir unsere Kumpels finden? Fröhlich und unbeschwert reisten wir mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an die Nordsee. Am späten Nachmittag genossen wir die Strandatmosphäre badeten ausgelassen im Meer während zwei nette ältere Frauen auf unser Gepäck achteten. Noch machten wir uns keine Sorgen über die herannahende laue Sommernacht. Während wir auf der Kaimauer an unser Gepäck angelehnt am Boden saßen und den Sonnenuntergang genossen überreichten uns zwei Jugendarbeiter einen Adresszettel einer kostenlosen Jugendunterkunft. Von diesem Angebot machten wir gerne gebrauch. Das empfohlene Haus übertraf alle unsere Erwartungen, es war groß, schön, sauber und komfortabel eingerichtet, mit mehreren Schlafräumen, einem gut ausgestatteten Aufenthaltsraum und einem großzügigen Waschraum. Die vielen jungen multikulturellen Menschen wurden von drei Geistlichen beaufsichtigt. Nach der Hausordnung durfte man lediglich drei Nächte bleiben und sie erwarteten eine freiwillige Spende je nach den finanziellen Möglichkeiten. Schon in der ersten Nacht in diesem tollen Haus bekam ich Streit mit meiner Gefährtin. Nein, eigentlich hatten wir keine verbale Auseinandersetzung als Erika nach einer mehrstündigen Absenz in den Schlafraum schwankte. Ich hatte es satt die Dumme und Ahnungslose zu spielen! Ich hoffte auf die längst überfälligen Jungs aus der Heimat und mit ihnen noch auf einige entspannte Urlaubstage. Am vierten Tag genossen wir wie schon zuvor das sommerliche warme Wetter. Am späten Nachmittag als sich der Strand ganz allmählich leerte packten auch wir unsere Sachen. Plötzlich entdeckten wir, zwei schlendernden Gestallten auf der Kaimauer und zwischen ihnen flatterte in der Meeresbrise eine große Schweizerfahne. Jubelnd und schreiend rannten wir durch den Sand zu den Jungs um sie zu begrüssen. Erleichtert fielen wir uns um den Hals. Wir quasselten und plapperten über die vergangen Erlebnisse bis in die späten Abendstunden. Ein Aufenthaltsort für die nächste Nacht wurde uns erneut von Jungendarbeitern angeboten. Zu viert suchten wir diese Unterkunftsmöglichkeit. Leider konnte dieses Haus mit der vorangegangenen luxuriösen Herberge nicht mithalten! Ganz im Gegenteil ein kahler unmöblierter gekachelter Raum diente als Schlafraum und alle Räumlichkeiten waren schmutzig und heruntergekommen. Unschlüssig setzten wir uns in eine Ecke und beobachteten das regsame Treiben der anderen. Ich hatte etliche Bedenken um unser Gepäck und unsere Sicherheit und wollte deshalb lieber auf einem freien Feld übernachten. In der Dunkelheit versteckt hinter einer Hecke nahe an einer Strasse legten wir uns in unsere Schlafsäcke und schliefen ungestört bis zum nächsten Morgen! Wir fanden eine saubere Toilette und zahlten für die Benutzung gerne einen Gulden. Sauber und gepflegt freute ich mich auf eine gemeinsame Entdeckungstour. Leider deckten sich ihre Interessen nicht mit den meinen. Wir saßen stundenlang im selben Restaurant. Ich hatte die Schnauze voll! Ich wurde in meiner kurzen Teenieszeit schon oft gehänselt und verspottet weil ich Alkohol und Drogen strikt ablehnte und meine Begleiter empfanden meine Gegenwart sichtlich als unangenehm. Ich wollte nur noch weg und bat die Jungs Erika in ihrer Mitte aufzunehmen. Sie waren damit einverstanden, wenn gleich eine dreier Konstellation zum trampen höchst ungünstig war. Ich verstaute meine Sachen sorgfältig, verteilte mein Bargeld auf verschiedene Verstecke, schulterte meinen Rucksack und verabschiedete mich von meinen Weggefährten. Wie gehabt stand ich mit Jeans und weißer Bluse am Strassenrand aber allein. Das war dann doch ein gewaltiger Unterschied! Die Worte des ungarischen Wahrsagers im Hinterkopf machten mir Mut und mit dem Daumen stoppte ich das erste Auto auf meiner Heimreise. In einem Firmenwagen war ich Fahrgast, danach in einem PW und in einem weiteren Wagen mit einer Werbeaufschrift kam ich gut voran. Aussteigen – stoppen - einsteigen alles wiederholte sich. In der Zwischenzeit hatte sich die Sonne verabschiedet und die Sterne und der Mond begleiteten mich. Einsam und verlassen suchte ich eine Autobahnauffahrt. Ich irrte durch die Nacht und suchte verzweifelt eine geeignete Einfahrt. Genervt und traurig setzte ich mich an eine Böschung. Ich fühlte mich verloren hilflos und die Angst lähmte mein sonst so zielstrebiges Handeln. Wie ein kleines Häufchen Elend kauerte ich mich an die Böschung und weinte bitterlich! Nach einiger Zeit konnte ich mich wieder beruhigen und ich fasste neuen Mut und stellte mich einfach in gewohnter Art und Weise auf den Pannenstreifen und kümmerte mich nicht mehr um die fehlende Auffahrt. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern wo und wie ich die deutschholländische Grenze überquerte, aber an den Ambulanzfahrer, der mich mitten in der Nacht irgendwo auf einer deutschen Autobahn, eine Mitfahrtgelegenheit anbot erinnere ich mich sehr genau. Er war ein eher kleiner und durchaus netter Mann aber ich war kritisch und argwöhnisch wie immer! Als Autostopperin eine Mitfahrgelegenheit in einer Ambulanz zu ergattern war nun wirklich nichts alltägliches und dementsprechend hegte ich meine Zweifel über den Fahrer und dessen Befugnis mir in diesem Notfallauto einen Platz anzubieten. Ich war unfähig diese Situation einzuschätzen, einerseits war ein Rettungswagen, wie es das Wort schon erklärt Rettung, anderseits nichts für Unbefugte! Neugierig und wachsam saß ich auf dem Beifahrersitz und sagte ihm: „Ich möchte zurück in die Schweiz.“ Seine antwortete lautete: „ Ich fahre in die Schweiz.“ „Nach Basel,“ fragte ich“ Er bejahte. „Mein Ziel ist Bern.“ Erwiderte ich schüchtern. Daraufhin antwortete er: „Ich muss auch nach Bern!“ Jetzt war ich schon mehr als nur beunruhigt und er genoss sichtlich mein Misstrauen und dennoch sagte ich: „Ich muss aber noch weiter bis Thun!“ Vermutlich schaute ich ziemlich dumm aus der Wäsche, als er mir Gwatt, einen Vorort von Thun, als sein Ziel erklärte. Er war unzweifelhaft unterwegs zur Heimstätte in Gwatt am Thunersee wie ich aus dem Schreiben entnehmen konnte, das er mir zur Bestätigung seiner Aussagen ausgehändigt hatte. Endlich konnte ich mich etwas entspannen aber dass wir ein übereinstimmendes Reiseziel hatten war für mich noch lange keine Garantie auch unversehrt dort anzukommen. Nach einigen zurückgelegten Kilometern wollte der Fahrer an der nächst möglichen Autobahnraststätte eine Ruhepause einlegen und in dem dazu geeigneten Krankenwagen ein Nickerchen machen. Er empfahl mir es ihm gleich zu tun. Ich hatte immer noch meine Bedenken und wollte ihm nicht Vertrauen und außerdem taugte eine Raststätte in der Nacht in meinen Augen nicht für eine Ruhepause. Ich beabsichtigte auf dem Rastplatz eine andere Mitfahrgelegenheit zu suchen und teilte diese Absicht ihm mit. Mein Vorhaben stimmte ihn traurig. Er verdrängte seine Müdigkeit und beabsichtigte, zu meiner Freude die Fahrt fort zusetzen. Als Gegenleistung verlangte er von mir anregende, unterhaltende und nach Möglichkeit humorvolle Gespräche. Nach einer kurzen Pinkelpause setzte ich mich endlich entspannt auf den Beifahrersitz und erzählte ihm von meiner abgebrochenen Ferienreise. Vor dem schweizerischen Grenzübergang verneinte ich ihm die damals übliche Frage nach Drogen und er glaubte und vertraute mir nach all meinen Erzählungen sofort. Frühmorgens in einem Notfallwagen mit deutschen Kennzeichen erreichte ich meinen Wohnort. Er chauffierte mich bis vor meine Eingangstür und wünschte mir alles Gute für meine Zukunft. Ich verabschiedete mich mit einem herzlichen Dankeschön und verschwand im Hauseingang. Ich hätte ihm gerne ein Frühstück serviert aber ich bewohnte ein Zimmer bei einer älteren Dame ohne Kochgelegenheit und Männerbesuch war strengstens untersagt.
Ich war heil angekommen und auch meine drei ehemaligen Gefährten erreichten später unversehrt die Schweiz.

Meine Schwestern Erika wurde mit 18 Jahren schwanger und wie es zu der Zeit üblich war musste sie heiraten. Sie wurde eine leidenschaftliche Bäuerin. Unsere Beziehung war damals kühl und oberflächlich. Sie interessierte sich nicht für mich und ich fühlte mich in ihrer Familie unwohl und nicht wirklich willkommen. Ihre kleine Familie lebte beengt mit ihren Schwiegereltern, deren Enkelin sowie ein ledig gebliebener Schwager und auch eine alleinstehende Schwägerin besass das Wohnrecht auf ihrem Hof. Und ausserdem lebte da noch ein Junge in meinem alter. Ein Verdingkind, der Peter. Er wurde in der Schule sowie auch mein Bruder Hans gehänselt und gemoppt. Wir waren alle drei in der gleichen Klasse und ich spürte oft die Demütigen die sie in und ausserhalb der Schule ertragen mussten. Viele Verdingkinder besuchten unsere Schule und alle lebten auf landwirtschaftlichen Betrieben. Ein Bett zum schlafen fanden die Bauern immer um Pflegekinder aufzunehmen. Das war seinerzeit offensichtlich immer noch die einzige erforderliche Bedingung die es zu erfüllen gab. In diesem Mehrgenerationenhaus gesellten sich für eine befristete Zeit auch noch drei kleine Kinder aus einer zerrütteten Ehe von einem weitern Schwager meiner Schwester. In der Zwischenzeit hatte sie bereits zwei eigene Kinder. Ich bin sprachlos wenn ich mir die Wohnverhältnisse von damals vorstelle. Bis zum eintreffen der drei oben erwähnten traumatisierten Kleinen waren die vorhandenen Räume jeweils zu zweit belegt inklusive Wohnzimmer! Die vielen Verwandten besuchten oft den einen oder anderen Mitbewohner und ab und zu blieben diese auch zum schlafen. Einmal übernachte ich ebenfalls an diesem unruhigen Ort. Zum Frühstück gab es an Schweineschmalz gebratene Rösti die ich köstlich fand. In meinen Erinnerungen war es ein ständiges kommen und gehen. Die Küche war ein dunkler Raum. Dort wurde gekocht gebacken gegessen und alle erledigten ihre Körperpflege am Abwaschbecken. An dieser Situation änderte sich erst bei der Hofübergabe an die nächste Generation etwas. Heute hätte ich an meinen Vater einige Fragen, wie hatte es sich für ihn angefüllt, dass seine älteste Tochter ein Verdingkind in Pflege hatte. Wie war seine Beziehung zu diesem? Ich befürchte er hatte gar keinen Bezug zu ihm. Ich glaube Peter blieb ihm fremd wie uns allen. Leider lebt Vater nicht mehr und wir haben zu spät gemeinsam und ausführlich über seine Vergangenheit gesprochen. Ich kann mich nicht an ein einziges Spiel mit Peter entsinnen. Während meinen sporadischen Besuchen wurde geerntet gemäht gepflügt und gesät. Nach getaner Feldarbeit warteten auf Peter die Kühe im Stall und ich half in der Küche. Leider ist Peter viel zu früh gestorben und so kommen auch hier meine Fragen zu spät. Alles was ich heute gerne wissen möchte bleibt unbeantwortet.
Nach der Schule hatte er den Kontakt zu diesem Ort abgebrochen. An einem Klassentreffen, das wie immer ohne Peter statt fand erzählte mir ein anderer Junge der auch ein Verdingkind war, dass mein lustiger Vater im ab und zu einen Batzen geschenkt hatte.
(1) Erika ich und meine Mutter

Irene auch du musstest heiraten. Tänzerin wolltest du werden Schneiderin bist du geworden. Modeschöpferin wäre eine Option gewesen stattdessen wurdest du kurz nach deiner Ausbildung schwanger. Während der Ausbildung lebtest du bei uns im Sagiran. Die Beziehung zur Mutter war mehr als nur angespannt. Es gab ständig streit und deswegen wolltest du weg aus dem Elternhaus. Irene du warst mein Vorbild. Ich bewunderte und zugleich beneidete ich dich. Du hattest mich während meiner Pubertät begleitet. Du hattest mir gutes Benehmen und ein sicheres Auftreten eingetrichtert. Du hattest viele Verehrer. Du warst in vielen Dingen begabt. Deine künstlerischen Fähigkeiten bewunderten Lehrer wie Fans gleichermaßen. Bei guter Laune warst du immer singend unterwegs. Während der ersten Monate deiner Schwangerschaft warst du noch im Service tätig um Geld zu verdienen für deine Zukunft für deine Familie. Dein Zukünftiger war gut aussehend und mit ihm teiltest du die Leidenschaft fürs tanzen und für das singen. Du warst eine glückliche, und stolze Mutter eines Sohnes. Während der Taufe war ich Babysitter und kümmerte mich um deinen Wonneproppen derweil die Taufgesellschaft in der Kirche der Predigt beiwohnten. Dafür hattest mich gestylt die Haare toupiert mir einen Mantel und Stöckelschuhe geliehen. Ich war sowas von stolz. Eine perfekte Hausfrau warst du nie. Es folgten Endtäuschungen, Verletzungen und Demütigungen. Ich ging noch zur Schule und erlebte einige Dramen hautnah mit. Viel zu nah! Dein Ehemann begrapschte mich während du geschlafen hattest. Ich hatte ihn doch gern auch er nannte mich Bäbi der Kosename, den mir mein Vater gegeben hatte. Das Scheitern war vorprogrammiert die Scheidung eine reine Formsache. Erst jetzt erzählte ich dir von der vorgefallenen sexuellen Belästigung. Du warst bestürzt aber nicht wirklich überrascht den erschüttern konnte dich längst nichts mehr. Als Berufstätige und allein erziehende beanspruchtest du manchmal meine Hilfe. Natürlich waren wir öfters zusammen in Dancing anzutreffen Niesenbar, Schönaubar und wie sie alle hiessen. Du warst glücklich, geschieden und stolze Mutter eines Sohnes und ich deine Vertraute. Für deinen Sohn Roger war das bestimmt nicht die glücklichste Zeit. Er weinte und quengelte nie stattdessen überraschte er uns ab und zu mit seiner Kreativität. Er warf sein Kopfkissen das Deckbett und seine Plüschtiere aus dem Bettchen, anschließend kletterte er über das Bettgestell und lies sich fallen. Am liebsten war er draussen und deshalb zog er sich die Gummistiefel an und mit dem Pyjama bekleidet trippelte er freudig zum Nachbar in den Kuhstall. Darauf hin hattest du Türen und Fenster abgeriegelt aber Roger kam nicht in Verlegenheit und Langeweile kannte er sowieso nicht. Den Kuchen, den er für uns gebacken hatte, konnten wir leider nicht geniessen. Mehl Salz Zucker Teigwaren Milch Abwaschmittel Pfeffer Obst und Gemüse einfach alles landete im- auf und neben dem Spültrog! Ich putze die Küche und du gingst einkaufen. Du warst für mich immer eine interessante Gastgeberin! Von deiner Attraktivität durfte ich an deiner Seite profitieren. Gemeinsam hatten wir unseren Spaß an deiner neuen Freiheit, neue Bekanntschaften, neue Verehrer, ein neuer Geliebter, der verheiratete Chef! Deine ersehnte, erhoffte und gefundene grosse Liebe? Telefonische Klavierkonzerte, organisierte Zufallstreffen im Skiurlaub heimliche Küsse am Pistenrand! Du zeigtest Größe und Verständnis und er nahm dir die Luft zum Atmen - die Schlinge zog sich zu! Es folgte der Abschied für immer. Du hattest deine Lebenslust verloren und hattest keine Kraft mehr für deinen Sohn. Du hast mir deinen Sohn anvertraut! Er ist heute ein stolzer Familienvater und seine Tochter sieht dir sehr, sehr ähnlich!
(1) Irene

Mein Bruder Hans was würdest du mir heute erzählen wärst du noch unter uns Lebenden? Hast du je einmal gelacht? Gab es glückliche Zeiten? Hast du einmal wirklich geliebt und durftest du auch Liebe empfangen? Bei deiner Beerdigung sprach der Pfarrer von deinem unsteten Leben. Über deine Sorgen und Nöten war ich nicht ahnungslos aber hilflos, wie deine ganz Familie und nicht zu letzt auch du. Deine Hilflosigkeit hast du mir und nicht nur mir sehr oft gezeigt. Du warst nur ein Jahr älter als ich und du musstest das erste Schuljahr wiederholen in der Hoffnung, dass du mit mir die Schule besser meistern kannst. Deine Lernschwäche war unüberwindbar und für dich auch untragbar. Stundenlanges Üben, Pauken und Kartoffeln zählen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Bei mir durftest du alles abschreiben was man so abschreiben konnte aber dein Leid konnte ich nicht mildern. In der Schule wurdest du gehänselt. Wie passend, Hans war ja dein Name. Zaubert dieser Satz nicht ein Lächeln auf dein Gesicht? Nein, es gab für dich nichts zum lachen. Du musstest vieles ertragen und warst oft still und in dich gekehrt. Abwesend und in deinen Gedanken versunken betrachtetes du oft deine Hände. Dumm, faul und ein Träumer wurdest du beschimpft. Warst du das? Dein unendlicher Frust entlud sich irgendwie und irgendwann. Die Stimme unseres glatzköpfigen und gewalttätigen Lehrers sowie die hänselnden Mitschüler konntest du nicht immer ignorieren. Ein frisch gemähtes Weizenfeld erregte einmal auf dem Schulweg deine Aufmerksamkeit. Die satt gebundenen Weizengarben waren in mühsamer Arbeit zum trocknen aufgestellt. Wie Puppen stand das Korn in Reih und Glied auf diesem Stoppelfeld. Wie ein bekloppter bist du los gerannt und schlugst auf diese Puppen ein. Keine hattest du verschont alle fest geschnürten Garben lagen verstreut am Boden als hätte man sie nie zu Puppen aufgestellt. Vater hat sicherlich ein ernstes Wort mit dir gesprochen. Hat er dich bestraft? Ich kann mich nicht entsinnen. Gewalt wurde weder von Mutter und schon gar nicht vom Vater ausgeübt. Vater bezahlte dem geschädigten Bauer 100 Franken und damit war die Sache vom Tisch. Deine Kleider waren stets schmutzig und verschliessen und Mutter schimpfte oft mit dir. Aber was konntest du machen das gehörte einfach zu dir! Ideen hattest du manchmal - Die Schule geschwänzt und stattdessen Lindenblüten gepflückt und diese wolltest du in der Apotheke verkaufen. Die Schulzeit war das Eine aber das erwachsene Dasein brachte dir auch nicht wirklich Glück. Niemand in unserer Familie wusste so genau wo der eine oder andere sich gerade aufhält. Irgendwie ist unsere Familie auseinander gefallen. Jahrelang war ich nur spärlich über deine Tätigkeiten und Aufenthaltsorte informiert und was ich erfuhr war nicht sonderlich erfreulich. Du wolltest zur Rheinschifffahrt zu unserem grossen Bruder Hugo. Er ermöglichte dir diesen Wunsch und organisierte dir den Job. Auch das ging schief. Die Matrosen erlaubten sich einen „Streich“. Sie fesselten dich und strichen deine Genitalien mit schwarzer Schuhcreme ein. Ich kann deine Scham und dieses traumatische Erlebnis für dich nur erahnen. Es tut mir so leid. Ich bin heute genauso schockiert wie damals! Nach diesem sexuellen Übergriff ging deine Reise auf Hochseeschifffahrt weiter und endete in einer Schlägerei. Danach vermittelte Vater dir eine Anstellung. Das ging nicht lange gut. Du warst unpünktlich oder bliebst der Arbeit einfach fern und von nun an warst du stets auf der Suche nach deinem richtigen Ort. Durch Zufall erfuhr ich von einer der vielen bevorstehenden Kündigen und damals kontaktierte ich deinen damaligen Chef und bettelte um eine Chance für dich. Du bekamst die Chance aber nutzen konntest du sie nur kurz und wieder war deine Uzuverlässigkeit nicht mehr tragbar. Von Steuererklärungen, Versicherungen und Krankenkassen hattest du bestimmt keine Ahnung. Irgendwie drehte sich die Spirale in der du warst immer schneller bis zu diesem Abend als du deine Mansarde durch das Dachfenster verlassen hattest. Sportlich warst du nicht wirklich aber stark. Deine Kraft hat dir bestimmt das Leben gerettet! Getrieben von der inneren Stimme ging dein Fluchtweg über das Ziegeldach zur Dachrinne dem Regenwasserablauf entlang auf einen Balkon. Hattest voller Panik an die Balkontür geklopft und deine Nachbarn hatten ängstlich aber sofort geöffnet. Deine Angst vor Laserstrahlen und vor deinen Verfolgern bestimmte dein Tun und Handeln. Du hattest die Notrufzentrale angerufen und um Hilfe gebeten. Ungeduldig, ruhelos, gequält und gehetzt warst du. Endlich war der Streifenwagen vorgefahren. Ohne den Gruss der Beamten zu erwidern hattest du dich ins ins Auto geflüchtet. Zittrig auf der Rückbank sitzend und in Begleitung der Polizei ging diese Fahrt in die Psychiatrische Klinik. Mit Schlaf und Tabletten wurdest du vom Verfolgungswahn befreit. Über deine Einlieferung in die Klinik informierte mich unsere Mutter. Wie immer wenn etwas aus dem Ruder läuft in unserer Familie werde ich informiert! Ich besuchte dich am darauffolgenden Tag. Es ging dir eigentlich schon wieder ganz gut. Für das Wochenende durftest du das Spital verlassen und ich hatte dich eingeladen das Wochenende bei uns zu verbringen. Mein damaliger Mann hatte keine Fragen ganz im Gegenteil alles was meine Familie betraf akzeptierte er mit stoischer Ruhe und mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit. Eine liebevolle Umarmung konntest du von mir nicht erwarten aber die Atmosphäre war ganz entspannt und fröhlich. Ich hoffte sehr, dass du irgendwie die Hilfe bekommst die du brauchst. Bei einem Besuch begleitete mich Hugo unser grosser Bruder aber sonst interessierte dein Befinden niemand. Keine Freunde, keine sonstigen Familienmitgliedern, keine Arbeitskollegen... Wie so oft hattest du nach deiner Genesung den Kontakt zu uns wieder abgebrochen und erst nach einer weiteren Krisensituation wurde meine Hilfe angefordert. Du warst damals bei unserer Mutter auf Besuch. Sie hatte verzweifelt und hilflos mich angerufen. Sie beklagte sich über dein seltsames Benehmen und über ihre Hilflosigkeit aber sie erklärte mir keine weiteren Einzelheiten. Ich glaube sie hatte Angst vor dir nicht um dich. Erika unsere älteste Schwester hatte mir auch einmal von einem angsterfüllten Treffen mit dir erzählt. Ich hatte keine Angst und war sofort losgefahren und fand dich etwas verstört aber kontrolliert im Garten. Du warst ansprechbar, ich fragte dich nach deinem Empfinden und konnte dich von einem dringenden Arztbesuch überzeugen. Nein, ich hatte dich nicht mit dem Auto hingefahren du bist einfach weggegangen. Danach sah ich dich noch ein einziges Mal. Du hattest mich auf meiner Arbeit besucht weil du dich von mir verabschieden wolltest. Ich hatte mich von dir verabschiedet und wusste ich werde dich nie wieder sehen, trotzdem unternahm ich nichts um dich von deinem bevorstehenden Suizid abzuhalten. Einige Tage danach, am 18.01.1983 in deinem 33. Lebensjahr hattest du auf den Bahngeleisen in Lenzburg dein beschwerliches Leben beendet.
Die ohnehin angeschlagene Gesundheit meines Vater verschlechterte sich nach Hans Beerdigung zusehends, ja sogar fast schlagartig. So ein Mann wie mein Vater hatte keine Tränen mehr. Er war hart geworden und war keiner, der seine Gefühle gezeigt hätte. Natürlich war das nur der äußere Eindruck und der täuschte gewaltig. Ich weiß, dass er immer Angst hatte, dass Hans etwas Schlimmes anstellen könnte.
(1) Hans


Bald wird deine Gedenkstätte aufgelöst und ich stehe ein letztes Mal an deinem Grab und versuche mich an dein Gesicht zu erinnern. Viele Jahre sind vergangen und dennoch schmerzt mich die Inschrift auf dem Stein noch sehr. Dein Name macht die vielen Erinnerungen allgegenwärtig. Die an mich adressierten Postkarten aus aller Welt trugen ihn, deinen Namen. Ich war deine kleine Schwester. Eine Narbe auf meiner Stirn erinnert mich an dein ungestümes Wesen. Bäbi, nanntest du mich und wolltest nie mit meinen Puppen spielen. Motorengeräusche waren Musik für dich. Ich verwöhnte dich, mein großer und beliebter Bruder! Ich bügelte deine Hosen, kochte zu jeder Tageszeit dein gewünschtes Lieblingsessen. Ich war dein Hilfsmechaniker, putzte und schmierte von deinem Motorrad die Schrauben und Speichen, polierte auch deinen Mercedes und freute mich auf die mir dafür versprochene Fahrt. Stolz setzte ich mich im Cabrio an deine Seite und genoss den Fahrtwind und die neidischen Blicke. Du warst ein stolzer Kapitän auf der Rheinschifffahrt, ein Frauenheld und Schürzenjäger warst du auch! Ruhelos suchtest du neue berufliche Herausforderungen. Du warst erfolgreich bei der Polizei und auch als Froschmann sehr beliebt. Deine Hilfe und dein Beistand in sehr traurigen Tagen verstärkte unsere Vertrautheit beispiellos. Würdevoll und tapfer hatten wir unsere Schwester Irene und unseren Bruder Hans zu Grabe getragen. Oh, jetzt höre ich deine Stimme. Du singst das Lied von den kleinen Negerlein und endest mit den Worten: „Das nächste werde ich wohl sein!“ Leider wurde es bittere Wahrheit! An einem schönen Oktobertag und ganz privat wolltest du noch einen Tauchgang wagen. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit mit dir ist unermesslich aber eine gemeinsame Zukunft haben wir nicht.
(1) Hugo auf der Rheinschifffahrt

Eigentlich wollte ich meine Schwestern nicht kopieren aber genau wie sie wurde auch ich mit achtzehn Jahren schwanger. Ich war damals ziemlich allein mit dieser Herausforderung. Meine Liebe wollte kein Kind und seine Eltern bezweifelten die Vaterschaft von ihrem Sohn. Von meiner Familie war keine Hilfe zu erwarten und deshalb informierte ich ausser meiner Schwester Irene niemand. Sie sah für meine Zukunft nur eine Abtreibung. Ich kannte ihre Geschichte und ihre damaligen Probleme. Ein kinderloses Ehepaar hütete ihren Sohn während sie auf Arbeit war. Anfänglich war der Kleine nur tagsüber bei diesen Pflegeeltern aber später wurde daraus ein Wochenplatz. Aus Bequemlichkeit hatte Irene damals zugestimmt aber später bereut. Die Pflegeeltern liebten Roger als wäre er ihr eigener Sohn und wollten das Sorgerecht für ihn. Sie behaupteten Irene würde ihn an den Wochenenden vernachlässigen und meldeten jede Kleinigkeit den zuständigen Behörden. Jeder Schnupfen vom Kleinen wurde ein Problem für meine Schwester. Es waren super tolle Pflegeeltern. Er wurde liebevoll umsorgt und gefördert aber Irene wollte das Sorgerecht behalten! All ihre Argumente und Sorgen hinderten mich nicht an meinem Entschluss festzuhalten und mich auf mein Baby vorzubereiten. Ich war fest überzeugt, dass ich das schon irgendwie hinkriege. Anfänglich war alles schwierig. Ich lebte in einer möblierten 2 Zimmerwohnung in Steffisburg und arbeitete im Globus Bern. Natürlich liebte ich den Vater von meinem ungeborenen Kind und er mich auch aber er wollte diese Verantwortung noch nicht.
Es folgten einige Unschönheiten aber ich war optimistisch und der festen Überzeugung am Ende wird alles gut so wie das folgende Ereignis...
Die Einladung bei meinen zukünftigen Schwiegereltern verlief nicht wie erhofft gemütlich und entspannt. An dieser Tatsache waren sie aber nur indirekt verantwortlich, denn in der Zwischenzeit freuten auch sie sich über meine Schwangerschaft. Deshalb war ich damals fast jedes Wochenende bei ihnen eingeladen. Sie lebten in einer drei Zimmerwohnung in Thun. Mein Bauch war nicht mehr zu übersehen und ich genoss die Aufmerksamkeit die mir deswegen entgegen gebraucht wurde. Ein Sitzplatz in überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel war mir stets gewiss und auch sonst kümmerten sich oft völlig fremde Leute um mein Wohlbefinden. Es fühlte sich gut an schwanger zu sein. Ich war glücklich! Die anfänglichen Existenzängste waren weg und unsere kleine Familie hatte eine Zukunft! Es war ein ganz gemütlicher Abend zu viert. Mein zukünftiger Ehemann war ein Einzelkind und wurde von seinen Eltern verwöhnt und seine Mutter war stets auch um sein leibliches Wohl besorgt. Sie kochte für ihn immer seine Lieblingsspeisen. Ein gutes Stück Fleisch fehlte nie und das war auch an diesem Abend so. Als wir alle satt und zufrieden waren setzten wir uns gemütlich plaudernd in die Polstergruppe. Im laufe des Abends ging die Gastgeberin in ihr Schlafzimmer. Wir hatten keine Ahnung was sie vorhatte und ihr entfernen auch nicht weiter beachtet bis sie aufgeregt und um Fassung ringend nach ihrem Ehemann rief! Was war geschehen? Sie vermisste ihr gespartes Geld. Nicht das Portemonnaie, sondern ein sorgsam verstecktes Geldbündel. Das dafür ausgesuchte Versteck war eine Innentasche von einem alten Mantel und jetzt war diese Tasche leer. Sie hatte den alten Herrenmantel auf die Kommode gelegt und wollte an das Geld. Vielleicht wollte sie ihrem Sohn etwas davon schenken was sie auch regelmässig tat. An diesem Abend kam es aber nicht dazu. Nach einigem hin und her war man von einem Einbruch überzeugt und deshalb wurde umgehend die Polizei gerufen. Beim eintreffen der Uniformierten zog ich mich ins Wohnzimmer zurück. Ich hatte keine Ahnung von diesem Geld und von den Gepflogenheiten und war auch sonst keine Hilfe. Mein Schatz gesellte sich nach einer Weile ratlos zu mir und wir harten der Dinge die da kommen. Und sie kamen Knüppel dick!
Plötzlich und völlig unerwartet wurden wir von den zwei Beamten aufgefordert sie auf die Wache zu begleiten. Der Grund für diese forsche Aufforderung war mir nicht klar. Folgsam und ohne Widerrede folgten wir ihnen zum Auto. Wir setzten uns artig und stillschweigend auf die Rückbank des Streifenwagens und einer unserer Begleiter chauffierte uns auf die nahe gelegene Polizeiwache in der Thuner Innenstadt. Die Fahrt dauerte nur einige Minuten. Wir stellten keine Fragen und irgendwie wussten wir nicht so recht wie uns geschah und was jetzt kommt! Im Eingang der Wache befand sich ein geschlossener Schalter ähnlich wie bei der Post. Die Glasscheibe ermöglichte den Blick in einen nur durch das Licht vom Korridor beleuchten Büroraum. Gegenüber an der Wand stand ein einsamer Stuhl und darauf sollte ich mich setzten. Ich tat was mir befohlen und schaute ungläubig meinem Freund und den Beamten hinterher die mich einfach zurück liessen. Ich wusste immer noch nicht wie mir geschah. Ich sass schwanger, frierend im Regenmantel im ungeheizten Vorraum. Dass ich im Februar mit einem Regenmantel den ich nicht mehr schliessen konnte weil der dicke Bauch mich daran hinderte unterwegs war dafür konnten diese Beamten nichts aber dass ich mitten in der Nacht in diesem zügigen Durchgang eine gefühlte Ewigkeit und mehr als eine Stunde in der Kälte warten musste war für mein Empfinden mehr als nur eine Rücksichtslosigkeit! Ich versuchte mit meinem für diese Jahreszeit ungeeigneten braun glänzenden Knautsch-Mantel und mit meinen blossen Händen mich und mein ungeborenes Baby warm zu halten. Ich hoffte die Kälte würde mir und ihm nichts anhaben. Ich sass brav auf diesem nackten hölzernen Stuhl und wusste immer noch nicht wieso, warum und wozu das alles sein sollte. Die Situation auf dieser Polizeiwache war für mich einfach abwegig und absurd! Endlich zeigte sich ein Uniformierter und forderte mich auf ihm zu folgen. Der Raum in den er mich führte war geheizt und mir wurde ein Stuhl bei einem Schreibtisch zugewiesen. Ich war völlig durchgefroren aber das warme Zimmer erzeugte keine wohlige Atmosphäre. Ein Zivilbeamter betrat den Raum. Er setzte sich an den Tisch mir gegenüber und ich sah in ein unbewegtes Gesicht. Schwer zu sagen was er über mich dachte aber ganz offensichtlich hatte er darauf gewartet um es mir zu zeigen. Es bedurfte nur noch ein zwei gezielte Fragen und im Handumdrehen würde ich ihm seine Wahrheit bestätigen. Wo ist mein Freund war meine Frage an ihn. Seine Antwort war präzise und unmissverständlich, er stellt die Fragen! Spätestens jetzt erwachte ich aus meiner Naivität. Das gibt ein Verhör und keine Plauderei! Bei seiner Frage ob ich dieses Geld gestohlen hätte um eine Abtreibung zu finanzieren verlor ich kurz meine Contenance. Ich war im sechsten Monat schwanger! Endlich beendete er die Anhörung aber der Alptraum ging weiter. Er wedelte triumphierend mit einem Hausdurchsuchungsbefehl für meine Wohnung. Ich bekam keine Zeit um dieses Schreiben zu lesen und auch nur annähernd zu begreifen was für Konsequenten jetzt auf mich zu kommen. Das Schreiben wurde mir auch nicht ausgehändigt. Mit einer Handbewegung wurde ich zum aufstehen aufgefordert und es ging den gleichen Weg zurück von wo ich gekommen war. Vor der Eingangstüre wartete der Streifwagen mit Chauffeur und laufenden Motor. Ein Beamter öffnete mir die Autotür und erneut setzte mich auf den zugewiesene Rücksitz. Die Fahrt endete bei meiner Wohnadresse, die befand sich etwas ausserhalb von Steffisburg. Den Wohnungsschlüssel musste ich noch im Verhörraum dem Zivilbeamten aushändigen. Also öffnete er auf der ersten Etage meine einfache aber gemütliche Zweizimmerwohnung. Weit nach Mitternacht durfte ich mich ein weiteres Mal auf einen Stuhl setzen. Dieses Mal in meiner eigenen aber leider auch ungeheizten Wohnung. Mein Etagenofen wurde mit Holz befeuert und ich war den ganzen Sonntag bei meinem Freund, deshalb blieben meine Räume kalt. Den Stuhl konnte ich mir nicht aussuchen, ganz im Gegenteil sie stellten einen mittig in meine Wohnküche. Mir war immer noch Kalt und ohne zu zögern stand ich auf um meine Bettdecke zu holen. Kaum hatte ich mich erhoben traf mich ein strafender Blick und ich wurde aufgefordert mich nicht von der Stelle zu rühren. Meiner Bitte mir das wärmende Duvet zum einkuscheln zu überreichen wurde mir gestattet aber erst nach intensiven tasten und durchsuchen. Ich wickelte mich ein und mittlerweile war ich nur noch gelangweilt und schaute ihnen wortlos bei ihrem emsigen Treiben zu. Der Ofen und die darin befindende kalte Asche wurde durchwühlt ebenso meine Döschen und Täschchen im Badezimmer auch die Schublade mit der Unterwäsche wurde nicht verschont. Jedem noch so unbedeutenden Gegenstand widmeten sie grösst mögliche Aufmerksamkeit. Suchten sie eigentlich Geldscheine? Ich wusste es nicht. Es fehlte nur die Leibesvisitation und warum sie ausgerechnet auf die verzichteten erschloss sich mir ebenso wenig wie alles andere. Meine Wohnung befand sich in einem herrschaftlichen Bauernhaus das der Besitzer in eine Schreinerei und drei Wohnung umgebaut hatte. Das Verhältnis mit dem Hausherr und seiner Familie war sehr gut. Alle waren freundlich und hilfsbereit. Zum Beispiel belieferten sie mich mit Feuerholz aus ihrer Schreinerei für meinen Ofen. Die leere Holzkiste stellte ich ihnen stets vor ihre Eingangstüre und umgehend wurde diese aufgefüllt und vor meine Wohnungstür zurückgestellt. Mit einem Estrich dessen Zugang nur von meiner Küche aus möglich war hatten wir auch eine spezielle Abmachung. Sie durften ihn weiterhin für sich beanspruchen weil ich keinen Bedarf hatte. Und so kam es, dass ich sehr wohl einen Schlüssel für das Dachgeschoss hatte aber keine Ahnung was dort aufbewahrt wurde. Einem zivilen Beamten sollte ich den Lichtschalter zeigen zu eben diesem Dachgeschoss und das konnte ich nicht weil ich von der Existenz eines solchen keine Informationen hatte. Glaubwürdig war ich den ungebetenen Besuchern immer noch nicht und deshalb beschlagnahmten sie kurzerhand diesen alten unhandlich grossen Bartschlüssel. Ich bin in einem alten Holzhaus aufgewachsen und reparierte mit meinem Vater oft Fenster Türen oder was sonst so anfiel und diese alte Holztüre mit dem rustikalen Eisenschloss hätte ich ohne Schlüssel und ohne grossen Aufwand ganz schnell geöffnet! Ausser einem Kopfschütteln hatte ich ihnen in diesem Moment aber nichts entgegenzusetzen. Enttäuscht und ich glaube auch etwas frustriert verliess das unerwünschte Trio in den frühen Morgenstunden mein Zuhause. Endlich war ich allein. Leider hatte ich damals keinen Telefonanschluss und konnte das Erlebte niemanden klagen. Ich fühlte mich gedemütigt, erniedrigt und hilflos. Mit einer wärmenden Bettflasche schaukelte ich mich mit meinem Babybauch für die paar übriggebliebenen Stunden in den Schlaf.
Im laufe des Vormittags überbrachte mir mein Zukünftiger Ehemann den beschlagnahmten Schlüssel. Er verbrachte die ganze Nacht in einer Zelle im Schlossgefängnis. Bei seiner Freilassung erwähnten sie beiläufig, dass das vermeintlich gestohlene Geld hinter der Kommode gefunden wurde. Das Couvert mit dem Geld ist aus der Innentasche gefallen und irgendwie beim hantieren unbemerkt an der Rückseite des Möbels hinuntergerutscht aber auf der Fussleiste stecken geblieben. Deshalb war es unter der Kommode nicht sichtbar und nur dank der intensiven Suche beziehungsweise das wegrücken der Kommode brachten seine Eltern in der Nacht den Umschlag mit Inhalt wieder zum Vorschein.
Die Familiengründung war eine grosse Herausforderung aber wir hatten es geschafft. Das Geld war knapp aber wir waren glücklich und stolz und genossen unser Leben zu dritt. In dieser Zeit kümmerte ich mich ab und an auch um Irenes Sohn denn ihre Traumpflegeeltern hatten sich zwischenzeitlich getrennt. Roger wurde ein Schlüsselkind und Irene war Überfordert mit ihrem Beruf und der Kinderbetreuung. Sie stellte stets hohe Anforderungen an sich und denen konnte sie als alleinerziehende nicht gerecht werden. Als ich einmal Babysitter für den mit einer Kinderkrankheit im Bett liegenden Roger war fragte er mich wieso kannst du nicht mein Mami sein? Nicht ahnend, dass das schon bald die Realität sein würde. Das war eine schwierige Zeit für die beiden. Dazu kam noch eine unglückliche Liebe zu einem verheirateten Mann. Im Sommer 1974 verbrachte Roger einige Ferientage bei uns. Es fällt mir auch heute noch schwer mein damaliges Gefühl zu beschreiben, ich wusste dass etwas nicht stimmte. Leider wohnten wir nicht mehr in ihrer nähe und ich bekam deshalb auch nicht mehr alles mit. Roger erzählte mir später auch von so einer Vorahnung. Drei Tage nach seinem zehnten Geburtstag am 25. November war er mit seinem Fahrrad unterwegs dabei kam er an einem harmlosen Verkehrsunfall vorbei. Er blieb stehen und wartete verzweifelt auf eine Möglichkeit sein ungutes Gefühl einem Polizisten mitzuteilen. Er wusste irgendwas stimmte nicht. Er suchte Hilfe für seine Mami! Niemand von den Anwesenden nahm Notiz von ihm und seiner Bangigkeit. Auch ein Nachbar hatte an besagten Sonntag noch kurz Kontakt mit meiner Schwester. Die Angelegenheit war nichts Erfreuliches. Er hatte an ihrer Wohnungstür geklingelt und behauptete, dass ihr Sohn an seinem Fahrrad herumhantiert hätte. Sie schenkte ihm kein gehör, wie auch? Ihre Verdüsterung beherrschte sie und nichts und niemand konnte daran etwas ändern. Nicht einmal ihr Sohn! Sie war für ihn kaum mehr ansprechbar und funktionierte nur noch begrenzt. Sie hatte ihren Suizid auf den Montagmorgen geplant. Roger ging wie üblich zur Schule und ahnte nicht dass er seine Mami nie mehr sehen würde. Ihre letzte Botschaft an ihren Sohn waren vier Worte – Lieber Roger telefoniere Papi – Den Wisch mit diesen vier Wörter legte sie mit dem Telefon zusammen in den Korridor. Dreizehn Tage vor ihrem 29. Geburtstag erhängte sie sich am Schlafzimmerfenster. Sie hatte mehrere Versuche unternommen um ihr Leben zu beenden. Angefangen hatte sie mit dem aufschneiden der Schlagader an beiden Handgelenken. Das dauerte aber anscheinend zu lange. Das Telefon klingelte dauernd und sie befürchtete, dass man sie noch lebend finden könnte und deshalb nahm sie einen Stoffgurt von einem Kleid und erhängte sich damit. Nein, erlöst war sie noch nicht. Dieser Versuch scheiterte. Der Gurt riss und sie fiel zu Boden. An den Blutspuren war zu erkennen, dass sie in der Küche eine Schnur geholt hatte. Sie knotete mit der linken Hand obschon sie eine Rechtshänderin war einen Strick. Sie stand auf das Nachttischchen und befestigte die Schnur am oberen Hacken des geöffneten Fensters und lies sich fallen. Inzwischen war der besorgte Chef, ihre unglückliche Liebe, zur Schule gefahren und holte sich bei Roger den Hausschlüssel und informierte gleichzeitig die Polizei. Glücklicherweise konnte Roger ihre letzte Anweisung nicht befolgen! Wir wurden am späten Nachmittag über Irenes Tod informiert. Wo ist Roger? Das war meine erste Sorge und man versicherte mir sein Wohlergehen. Seine Ehemalige Pflegemutter wurde ausfindig gemacht und sie kümmerte sich um ihn und er durfte auch bei ihr übernachten. Mit meinem Bruder Hugo begleiteten wir unsere Mutter zu den vereinbarten Treffen mit dem Arbeitgeber und der Polizei. Das Treffen mit Irenes Vorgesetzten war für mich schwierig. Gerne hätte ich ihm einige sehr persönliche Fragen gestellt aber es war nicht der passende Ort. Die Polizei begleitete uns zu der versiegelten Wohnung damit ich für Roger einige Kleider und Spielsachen holen konnte. Meine Mutter wollte unbedingt mit in diese Wohnung aber der Polizist riet ihr davon ab. Er war der Meinung eine Mutter sollte sich das nicht antun. Widerwillig blieb sie im Auto und weinte. Meine Neugierde über das aussehen der Wohnung hielt sich bei mir in Grenzen im Gegenteil zu Hugo. Er war damals ebenfalls Polizeibeamter. Im Kinderzimmer waren keine Auffälligkeiten nur im Korridor sah ich Blutflecken und am Boden stand das Telefon mit besagtem Zettel. Die Schlafzimmertür stand offen und die zwei Berufskollegen diskutieren aber ich wollte nichts sehen und hören und deshalb beeilte ich mich. Die paar Sachen waren schnell gepackt und jetzt wollte ich mit unserem neuen Familienmitglied nur noch nach Hause. Nur einen Tag nach Irenes Tod war ich mit meinen 22 Lenzen die Ersatzmutter von einem zehnjährigen Knaben. Mein dreiundzwanzigjähriger Mann brauchte so wie ich keine Bedenkzeit und unser Sohn freute sich über einen grossen Bruder. Noch vor der Beerdigung brachten Familienangehörige Roger die restlichen Spielsachen. Meine Mutter und meine älteste Schwester räumten und putzten bereits die Wohnung. In den ersten Wochen nach ihrem Suizid war eine Achterbahn der Gefühle über mich hereingebrochen. Entsetzen, Enttäuschung, Schuld, Wut und manchmal auch Angst der Verantwortung nicht gerecht zu werden.
Leider musste ich nicht nur mit der Trauer um meine geliebte Schwester klar kommen sonder auch mit diffusen Anschuldigungen seitens meiner Mutter. Telefonisch belästigte sie mich Nächte lang. Sie beschimpfte mich aufs übelste. Angefangen hatte sie bereits vor der Beerdigung mit diesem Terror. Über ihre Gründe kann ich nur spekulieren. Ich vermute, dass die Wohnungsräumung mit ein Grund für ihren Zorn war. Sie kaufte die ganze Einrichtung völlig überteuert von der Vormundschaft. Roger war der minderjährige Alleinerbe, deshalb verhandelte die Vormundschaft mit meiner Mutter. Dieses unüberlegte und vorschnelle Handeln musste sie noch jahrelang bereut haben denn fast die ganze Einrichtung stand unbenutzt unter dem Dach und wurde später entsorgt. Natürlich war sie wie wir alle in einer Ausnahmesituation. Auf meine schriftliche Aufforderung diese Belästigungen einzustellen antwortete sie mit einem erzürnten kaum lesbaren Brief und danach herrschte Funkstille. Nach mehr als einem Jahr stand sie mit Hugo völlig unerwartet vor meiner Tür und begrüsste mich als hätte es nie einen Streit gegeben. Es gab kein klärendes Gespräch und keine Versöhnung, wir ignorierten die Vergangenheit oder versuchten es zu mindest. Ich konnte anscheinend ihre Erwartungen nicht erfüllen. Aber mit diesem Versagen war ich nicht allein. Erika sowie Irene lebten im Streit mit ihr und versöhnten sich zeitlebens nicht mehr. Der Streit zwischen Erika und ihr war besonders beängstigend und drohte stets zu eskalieren. Hugo war ihr Liebling aber auch er wurde nicht verschont wenn gleich er nur ein einziges Mal betroffen war. Es ist schwer nachzuvollziehen was sie dazu bewegte uns als Diebe und Erbschleicher zu charakterisieren. Sicher auch sie hatte es nicht leicht. Aber ich glaube nicht, dass diese Tatsache es rechtfertigen würde uns Kinder zu verstoßen. Trotz meiner Bemühungen hatte ich wiederkehrend keinen Kontakt zu ihr. Zum Beispiel missachtete sie völlig überraschend eine zuvor zugesagte Einladung und ich stand vor einer verschlossenen Tür obschon sie ganz offensichtlich gesund und munter zu Hause war. Oft bezichtigte sie mich und auch die anderen Geschwister eines Diebstahls. Manchmal behauptete sie auch nur ich hätte ihre Tasche durchwühlt. Sie belastete mich mit ihrer krankhaften Anschuldigungen sehr und es war nicht einfach das zu akzeptieren. Krankheit, ja ich glaube es war eine Krankheit sie wurde nur nie diagnostiziert nur in diesem Glauben konnte ich den On-Off-Kontakt zu ihr ertragen. Einige Behauptungen waren mir schon als Schulmädchen suspekt. Vater schenkte ihren Verdächtigungen keine Aufmerksamkeit und wir taten es ihm gleich. Es war unvorstellbar dass Jemand eingemachte Kirschen oder sonstige Vorräte aus unserm Keller klaut. Aber ich erinnere mich an zwei sonderbare Ereignisse die mich immer wieder zum nachdenken zwingen. Ich war wie so oft mit meinem Bruder allein zu Hause und jätete mit ihm das Unkraut im Garten. Etwas gelangweilt schaute ich auf unser Haus und bemerkte plötzlich Licht im Obergeschoss. In unserer Schlafkammer war die Deckenlampe an und wir bezichtigten uns gegenseitig dieser Nachlässigkeit. Der klügere gibt nach und das war in diesem Fall ich. Ich hüpfte, die an der Hauswand angebrachte Treppe nach oben und betätigte den Lichtschalter. Das Licht war aus und ich gesellte mich wieder zu meinem Bruder nicht ohne ihn erneut zu einem Geständnis zu drängeln. Unerwartet war das Licht plötzlich wieder an! Niemand hätte unbemerkt an uns vorbei gehen können. Wir bekamen Angst. Weit und breit gab es keine Nachbarn. Mein grosser Bruder eilte in die Küche und bewaffnete sich mit einem Küchenmesser. Er stieg todesmutig die Holztreppe mit mir im Schlepptau nach oben. Auf der Laube zögerte er kurz aber dann strecke er sich und kampfbereit öffnete er die Tür und stach gleichzeitig mit dem Messer zu. Trotz unserer Furcht suchten wir überall, im Schrank unter den Betten und in jedem Winkel aber da war niemand. Verwirrt machten wir uns wieder an die Arbeit. Das zweite unerklärliche Erlebnis hatte mein Vater. Er hängte seine Hosen an die Wäscheleine zum trocknen und als er sie holen wollte waren sie weg unauffindbar in Luft aufgelöst oder wo auch immer. Ganz ungläubig und ratlos erzählte er uns davon. Für uns gab es keinen Grund ihm nicht zu glauben...

Nach meiner Hochzeit kümmerte ich mich anfänglich ausschliesslich um unsere kleine Familie. Das Geld war knapp aber uns mangelte es an nichts. Wir waren einfach glücklich. Als unser Sohn etwa zwei Jahre alt war lernte ich eine übergewichtige und herzensliebe Frau kennen. Sie beaufsichtigte ihr Enkelkind damit ihre Tochter arbeiten konnte und kümmerte sich nun auch um unseren Sohn damit auch ich Geld verdienen konnte. Es war ein absoluter Glücksfall. Die zwei kleinen Jungs waren wie zwei Brüder und das „Grosi“ kümmerte sich liebevoll um sie. Sie wohnte nur wenige Schritte von uns entfernt. Besser hätte ich es nicht Treffen können! Endlich hatte ich die Möglichkeit mich um meine Zähne zu kümmern und vereinbarte einen Zahnarzttermin. Der Kostenvoranschlag war über meinen Möglichkeiten aber irgendwie mussten wir das hinbekommen. Die Zahnpflege war ein Fremdwort in meiner Familie. Ich war als Schulmädchen ein einziges Mal bei einem Zahnarzt! Und das auch nur weil ich mehrer Tage und Nächte über Zahnschmerzen jammerte. Der Zahn wurde entfernt und somit war das Problem gelöst. Meine Eltern hatten beide falsche Zähne und das wollte ich auf gar keinen Fall. Der Arzt stopfte im wahrsten Sinne des Wortes meine Löcher und danach flatterte die Rechung in meinen Briefkasten. Aus Scham vereinbarte ich keine Zahlungsmodalitäten sonder zahlte einfach Monatlich nach meinen Möglichkeiten. Ich bekam nie eine Mahnung und musste auch nie einen Verzugszins zahlen. Ich bin diesem Zahnarzt für das stille Übereinkommen heute noch dankbar. Leider blieb ich, auch wieder aus Scham nicht seine Patientin. Mit einem Nachbar fuhr ich stets zur Arbeit. Wir bildeten eine gut funktionierende Fahrgemeinschaft. Ich war eine Frühaufsteherin und deswegen meistens gut gelaunt. Von all diesen Morgen die wir zusammen zur Arbeit fuhren blieb mir einer für immer in Erinnerung.
Ich sass wie jeden Morgen frisch geduscht, heiter und unbekümmert auf dem Beifahrersitz. Mein Nachbar sah zersaust und unausgeschlafen aus und er bestätigte meine Vermutung, dass er eine zu kurze Nacht hatte. Wir hänselten und neckten uns oft gegenseitig und die Fahrt war dadurch kurzweilig. Wie jeden Morgen hielt er kurz bei einem kleinen Vorplatz eines Restaurants damit ich aussteigen konnte und danach setzte er seine Fahrt fort. Als er weggefahren war sah ich auf dem Platz den Gullydeckel neben dem Abwasserschacht liegen. Was soll das? Das ist gefährlich, sinnierte ich als ich mich diesem Schacht näherte. Meine zuvor fröhliche Stimmung war mit einem Schlag weg. Ungläubig stand ich davor und konnte nicht einordnen was ich sah. Im Schacht steckte ein lebloser Körper. Die Oberbekleidung war hochgerutscht und ich sah ein Stück nackte Haut von seinem Rücken und den Hosenbund. Die Haltung war komisch und ich war überzeugt, dass jemand ihn in diesen Schacht gestossen hatte und dass er Tod sein musste. Ich hatte hundert Gedanken gleichzeitig und dennoch verstand ich nichts. Ich schaute mich hilflos um aber ich war allein keine Menschenseele weit und breit nur ein einsames Moped stand verlassen bei der nahen Mauer. Schnell überquerte ich die Strasse und eilte ins Geschäft. Der Chef wusste bereits Bescheid und hatte auch schon die Polizei verständigt. Die Strasse wurde abgesperrt. Die Kriminalpolizei in Schutzanzügen bevölkerten den Platz und Kanalarbeiter mit einem Tanklastwagen waren vorgefahren. Den ganzen Vormittag war ordentlich was los. Ich war Verkäuferin in der Epa in Thun. Diese Warenhauskette gibt es schon lange nicht mehr. Anfänglich erhofften sich unsere Kunden Information zum Geschehen aber bald wurden wir von ihnen über die neusten Erkenntnisse informiert. Sie wussten wem das Motorfahrrad gehörte und auch sonst erzählten sie das eine oder andere über dessen Besitzer. Arbeitsscheu, ungepflegt und überhaupt behaupteten die Schaulustigen und Neugierigen. In den Nachrichten wurden die Mutmassungen mit der Tatsache zum schweigen gebracht! Der Motorradschlüssel fiel dem Motorradbesitzer in den frühen Morgenstunden durch die Schlitze des Gullydeckel und bei dem Versuch diesen Schlüssel aus dem Schacht zu holen fiel er Kopfüber in das Loch und konnte sich nicht mehr befreien. Im Todeskampf hatte er mit seinem Körper die Öffnung luftdicht verschlossen und ist erstickt.
Ein unglaublich tragischer Unfall!

Ich wünschte mir eine Freundin und manchmal bildete ich mir ein eine gefunden zu haben.
Die Autostoppreise nach Holland hatte ich auch aus diesem Grund mitgemacht und gehofft mit einem gemeinsamen Abenteuer könnte eine Freundschaft entstehen. Aber irgendwie suchten immer Frauen mit Problemen meine Nähe. In den angesagten Beizen wo man sich traf experimentierten die Jugendlichen mit Drogen oder es wurde gesoffen um in Feierstimmung zu kommen. Ich hatte grosse Angst nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein und deshalb trank ich keinen Alkohol und konsumierte keine Drogen. Die Kontrolle über meinen Körper durfte ich nicht verlieren! Diese Furcht hatte mich wahrscheinlich vor viel Unheil bewahrt! Ich war die langweilige Aussenseiterin und für die Partygäste uninteressant aber mit Problemen wendete man sich gerne an. Ich hatte stets ein offenes Ohr und freute mich wenn ich helfen konnte. Dadurch stärkte ich mein Selbstvertrauen und hoffte auf Anerkennung!
Denise war eine lustige, freche, überdrehte und ausgeflippte junge Frau. Sie war bei den Männern als Saufkumpan beliebt und feierte jede Party ausgelassen. Wenn sie nüchtern war besuchte sie mich öfters und so erfuhr ich ihre Familiengeschichte. Der Vater, ein Alkoholiker, die Mutter alleinerziehend und überfordert und ihre zwei kleinen Schwestern wurden genauso wie sie auch während der Schulzeit in Heime abgeschoben. Der einzige Kontakt zu ihrem Vater bestand darin, dass sie sich mit ihm zum Wettsaufen verabredete. Mit ihrer Mutter und ihrem Partner hatte sie immer Streit.
Denise hatte einen Freund aber die Beziehung war schwierig. Sie war einfach unberechenbar. Eine Einladung von einem beliebeigen Zechkollegen auf ein Feierabendbier endete meistens in einer Sauferei und dabei vergass sie jede Abmachung. Einmal hatte sie ein frisch gebratenes Poulet eingekauft das sie zusammen mit ihrem Freund beim Nachtessen geniessen wollte. Aber wie so oft kam alles anders als geplant. Sie verspätete sich aber das war nicht ungewöhnlich. Ihr Freund wartete geduldig und deckte schon mal den Tisch. Endlich kam sie und er freute sich auf das noch warme Hähnchen. Sie öffnete den Alufolienbeutel und leerte den Inhalt lachend auf seinen Teller. In dem Beutel waren nur noch die feinsäuberlich abgenagten Knochen. Sie war wieder einmal ungeplant in der Beiz gelandet und verzerrte mit einem Kumpel zusammen das Güggeli und dessen Gerippe landete statt im Abfall im Warmhaltebeutel und diesen leerte sie wie bereits erwähnt auf seinen Teller.
Natürlich wurden über diese und ähnliche Geschichten geschmunzelt und gelacht.
Auch meine Freundschaft mit ihr war aufreibend. Manchmal hörte ich länger nichts von ihr aber dann meldete sie sich wieder und brauchte meinen Rat oder Beistand. So war es auch als sie mir von einer neuen Liebe erzählte. Dieser Mann liebte ihr flammendes Wesen und ihre unbändige Lebenslust und er wollte ihr Quartalversagen erdulden. Sie sagte auf dem Standesamt JA aber danach ist sie weggerannt und mit ihrem Exfreund durchgebrannt. Es folgte die Versöhnung und wachsen konnte das Familienglück. Anfänglich tat sie sich schwer mit einem Baby aber sie versuchte ihren Alltag zu meistern und ich unterstütze sie. Ich glaube die kleine Familie war damals glücklich. Diesen Eindruck hatte ich als sie das zweite Kind erwartete. Wir waren alle Zuversichtlich und der kleine Sandro wurde mein Patenkind. Leider war der Frieden nicht von Dauer. Der Alkohol wurde wieder ihr stetiger Begleiter. Mit einer unglaublichen Geduld ertrug das Familienoberhaupt ihre Krankheit. In guten wie in schlechten Zeiten und die Guten werden wieder kommen so hoffte er! Sie lebten im eigen Haus und er pflanzte Rosen und sie sprach von Therapie und manchmal von Trennung. Ich konnte ihre Sucht kaum noch ertragen aber als wäre all das nicht dramatisch genug ereignete sich ein trauriges Unglück.
An einem sanften Frühlingstag verunglückt der Dreikäsehoch, mein Patenkind Sandro, auf der Nachbarswiese tödlich. Er ist in ein ungesichertes Schafbad gefallen und ertrunken.
Der Kleine war bei seinem Vater draussen im Garten und plötzlich war er verschwunden. Zuerst suchte der Vater seinen Sonnenschein im Haus aber leider war er nicht zu seiner Mutter gegangen. Danach suchte die ganze Nachbarschaft und die herbeigerufene Polizei verzweifelt nach ihm. Erst nach Stunden rufte ein Mann, wir haben ihn gefunden. Der Vater ist erleichtert und rennt zu dem rufenden Mann aber was er sieht ist der tropfnasse leblose Körper von seinem Sohn. In einem kleinen weissen Sarg haben wir ihn zu Grabe getragen und ein Teddybär aus Stein schmückte jahrelang sein Grab.
Denise hatte bereits einige Krisen aber nach dem Unfall konnte sie nichts mehr aufhalten. Kein lustiges Lachen, kein herzerweichendes Weinen von dem Kleinen konnte sie jetzt noch retten. Hemmungslos und nicht mehr grundlos konnte sie jetzt saufen. Sie hatte noch einen Sohn, das war ihr egal. Sie hatte einen Ehemann und eine Freundin auch das kümmerte sie nicht. Sie sass nur noch rauchend und trinkend am Küchentisch. Ich meldete mich immer spärlicher und so verloren wir uns aus den Augen. Nach einem Entzug hatte sich bei mir gemeldet aber irgendwie war unsere gemeinsame Zeit vorbei. Viel später kontaktierte ich ihren Mann und er erzählte mir von ihren unzähligen Rückfällen, ihrer Trennung und zu guter letzt von ihrem Tod. Auf dem Grab vom Sandro wurde auch ihre Asche beigesetzt. Die traurige Geschichte ist aber hier noch nicht zu Ende. Ihr Exmann erzählte mir auch von seiner Krankheit. Er hatte Lungenkrebs und ist einige Wochen nach unserem Treffen gestorben und seine Asche wurde in seinem Garten vergraben.

Der Krebsabstrich ist positiv! Mit diesen Worten eröffnete der Gynäkologe im weissen Kittel das Gespräch. Sachlich und ausführlich erklärte er mir die notwendigen weiteren Schritte. Ich hörte interessiert zu und akzeptierte seine vorgeschlagen medizinisch geeigneten Massnahmen um diese bedrohliche Gefahr lahmzulegen. Die Diagnose lautete Gebärmutterhalskrebs und ich musste einer Operation und einem unumgänglichen Spitalaufenthalt zustimmen. Nichts unterschied dieses Gespräch von einem beruflichen Meeting. In Gedanken beschäftigte ich mich mit meinem Arbeitsplan und dessen Neugestaltung. Ich war Leiterin von einem Bahnhofkiosk in Bern und der ständige Personalmangel machte meine Abwesenheit nicht einfacher und ausserdem war ich eine alleinerziehende Mutter von meinem damals 14-jährigen Sohn. Ich verliess die Arztpraxis und fühlte mich leer einsam und unsicher. Alle meine Mitarbeitenden waren einfüllend und stimmten einem anstehenden Mehreinsatz sofort zu. Nach einem kurzen Anruf war ebenfalls meine beste Freundin bereit meinen Sohn in ihre Obhut zu nehmen während meiner Genesungszeit. Am nächsten Tag unterzog ich mich einigen ambulant durchgeführten Untersuchungen und übermorgen werden mein Sohn und ich getrennte Wege gehen aber vorerst packten wir gemeinsam unser Reisgepäck. Er war voller Vorfreude, denn er geht nicht nur zu meiner Freundin sondern auch zu seinem besten Freund, ihrem Sohn. Meine herannahende Operation kümmerte ihn nicht sonderlich, denn er kann sich noch gut erinnern als ich vor zwei Jahren an einer Hirnhautentzündung erkrankt war und in weitaus dramatischeren Umständen ins Spital eingeliefert wurde. Nein, wir alberten unbekümmert derweil wir unsere Taschen packten. Erst als er mir sein selbst gesammeltes und seit geraumer Zeit in einem Buch, zwischen den Seiten gepresstes vierblättriges Kleeblatt schenkte musste ich kurz durch atmen und leer schlucken. Fröhlich schulterte er seinen Rucksack und sagte: „Tschüss Mami mach’s gut!“ „Tschüss mein Grosser.“ Konnte ich gerade noch erwidern bevor meine Stimme ein versagen drohte. Ich räuspere schneuzte und putze meine Nase und beobachte wie er sich auf sein Fahrrad schwingt und davon radelt. Ich erholte mich sehr schnell von der OP und war zuversichtlich und voller Lebensfreude. Immer wenn ich eine schwierige Lebenssituation überstanden hatte belohnte ich mich. Das war und ist bis heute ein liebgewordenes Ritual. Immer wenn Gefahr bestand unterzugehen drückte es mich, wie ein Korkzapfen immer wieder an die Oberfläche und das musste honoriert werden. Manchmal gönnte ich mir ein paar Schuhe oder einen neuen Pulli aber dieses Mal leistete ich mir eine neue Frisur. Ich melde mich in dem mir vertrauten Geschäft an mit dem Wunsch, dass ich einen rassigen Kurzhaarschnitt möchte. Ich liess der mir zugeteilten Coiffeuse freie Hand. Nicht ahnend, dass der Geschäftsinhaber meine Anmeldung bemerkt hatte und mich einer seiner talentiertesten und kreativsten Hairstylistinnen zugeteilt hatte. Was ich natürlich erst viel später erfuhr. Während ich entspannt und glücklich im Salon sass kam der Inhaber für ein kurzes Gespräch vorbei. Das war nicht ungewöhnlich war er doch auch bei uns im Kiosk ein gern gesehener Kunde. Als er mir beim Abschied einen wunderschönen Blumenstrauss überreichte war ich überrascht und erfreut und hoffte inständig dass diese Frühlingsblumen mehr bedeuteten wie nur gute Genesungswünsche. Nein, ich wusste es war mehr sehr viel mehr. Seit geraumer Zeit flirteten wir etwas kompliziert und vorsichtig miteinander. Wir wollten uns nicht vor unseren Angestellten und Mitarbeitern blamieren aber ihnen war längst klar was wir uns erst noch eingestehen mussten!

Die Tannen rauschen leise im Wind und es duftet nach Moos und modrigem Holz. Ich überquere ein Bächlein mit einem Sprung. Ich fühle mich jung und ohne Sorgen, vergesse bisweilen sogar meinen Namen. Lausche dem Zwitschern der Vögel und suche die Spuren vom Wild. Ich überrasche ein Reh, wir bleiben beide erschrocken stehen und verharren einen Moment bewegungslos bis es sich mit ein zwei Sprüngen von mir verabschiedet und aus meinem Blickfeld verschwindet. Ach nein, muss das jetzt sein? Ein Eichelhäher krächzt und verrät mich. Jetzt werde ich kein einziges Tier mehr sehen! Ich bin nur eurer Gast und ihr macht die Spielregeln!Ich besinne mich weswegen ich eigentlich in den Wald gegangen bin. Pilze sammeln war eigentlich mein Ziel. Gewöhnlich finde ich immer einige Maronenröhlinge, Rotfüssler und Pfifferlinge oder sonstige essbare Pilze aber am liebsten sind mir Steinpilze. Ich kenne jeden Baum, jeden Strauch und eben auch die Pilzstandorte. Voller Vorfreude auf das bevorstehende Pilzessen mit Rösti beschleunige ich meinen Schritt. Zielstrebig gehe ich von einem Pilzplätzchen zum andern. Freue mich über jedes schöne Exemplar auch über die ungenießbaren. Es geht doch nichts über einen leuchtend roten mit flockigen weißen Tupfen gesprenkelten Fliegenpilz! Mein Blick sucht den Walboden ab und schweift nur selten in die Ferne. Manchmal sehe ich eine Maus entschwinden oder einen Laubfrosch hüpfen. Ich bin ganz verzaubert und träume vor mich hin.Plötzlich sehe ich ein paar gelbe Gummistiefel unter kleinen dicht ineinander wachsenden Tännchen stehen. Ungläubig starre ich auf diese leuchtende Farbe. Daneben entdecke ich leicht versteckt ein paar zerrissene Jeans. Auf dem Waldboden sind spuren vom wischen oder liegen zu sehen. Ich habe in meinem Leben schon viel Außergewöhnliches erlebt, aber bitte nicht heute, ich will nicht mehr!Es nütz alles nichts, mein ganzer Zauber ist verflogen. Ich verlasse hastig den Wald. Als ich in unserer Wohnung angekommen war kontaktierte ich die Polizei. Sie holten mich umgehend mit einem Streifenwagen vor dem Haus ab damit ich ihnen den Weg zu den Fundobjekten weisen konnte. Sie verstanden meine Sorgen und suchten die Umgebung intensiv ab und fragten mich nach möglichen Verstecken. Ich zeigte ihnen ein Loch in einem Felsen aber da war nichts. In der Nähe war auch ein Tümpel und in diesem stocherten sie mit Stöcken aber auch hier fand man glücklicherweise nichts. Die Stiefel, die Hosen und einige Stofffetzen werden in Plastiktüten eingepackt und mitgenommen. Man ist sich sicher irgendetwas ist hier geschehen aber was? Das wurde nie geklärt!

Mit viel Engagement und Leidenschaft war ich Verkäuferin und den Job als Kioskleiterin war für mich eine grosse Freude und oft auch eine nicht minder grosse Belastung. Mit guten Leistungen gewann ich immer wieder traumhafte und einzigartige Motivationsferien, unter anderem durfte ich nach Florida Norwegen Andalusien Piemont und vieles mehr. Diese vielen Reisen in kleinen Gruppen begleitet vom Direktor sind unvergesslich. In meinem Team waren Frauen und Männer mit unterschiedlichsten Berufsausbildungen. Die meisten langjährigen Angestellten waren Frauen und diese liebten den stressigen abwechslungsreichen Job genauso wie ich. Die männlichen Angestellten waren meistens Studenten und die sorgten häufig für gute Stimmung. Für die eine oder andere Erheiterung und Abwechslung sorgten auch unsere Kunden. Zu ihnen gehörte der Designer Luigi Colani oder Jan Tinguely ebenso wie Obdachlose. „Guten Morgen“, grüsst die unscheinbar aber stets freundliche Frau und fächelt wie immer mit ihrer mitgebrachten Zeitschriftenrolle in unsere Richtung bevor sie sich in der Klatschheftchen-Abteilung nach neuem Lesestoff umsieht. Ein kurzes Hallo und ein Nicken unsererseits um die mitgebrachten Zeitschriften als gesehen zu bestätigen. „Eine Schachtel Malbochch...,“ tönt es schon von weitem. Da scheint einer arg pressiert zu sein und er droht am Zigarettenmarkennamen zu ersticken. Die Wahl des Herrn mit Aktenkoffer fällt auf die voluminöse und sperrige „Zeit“. Er legt sie griffbereit auf einen Stapel Illustrierte und streckt ohne Blickkontakt und ohne ein Wort zu sagen das dafür abgezählte Kleingeld über die Theke. Er erwartete keinen Kommentar und trotzdem sagte ich ihm danke und wünschte einen schönen Tag. Ach, sorry mein Herr, sie haben nur die „Zeit“ bezahlt das darunter liegende Magazin nicht. Rot wird sein Gesicht nicht, als er mir wirsch antwortete: „Das war keine Absicht, so ein Zeugs lese ich doch nicht“! War schon klar, ich wünschte ihm einen schönen Tag und sagte trotzdem nochmals danke. „Sehr geehrte Dame können sie mich beraten? Ich habe eine lange Bahnfahrt vor mir und möchte dabei lesen?“ „Ja sicher gerne, sie suchen eine spannende Lecktüre? Small World von Martin Suter (Diogenes Verlag) könnte ich ihnen wärmstens empfehlen:“ War mein spontaner Ratschlag. Die oben erwähnte freundliche Frau mit der gestrickten Jacke und der Heftchen-Rolle hatte während dessen stets meine ganze Aufmerksamkeit. Seit einigen Tagen hege ich Zweifel an ihrer Ehrlichkeit. Auch in der Lustecke schmökerte seit geraumer Zeit ein Mann. „Darf ich behilflich sein, suchen sie ein bestimmtes Magazin?“ War meine Frage an ihn. Er antwortete nicht aber suchte fluchtartig das Weite. „Liebe Frau das geht so nicht!“ Erschrecke ich das hinterlistige Weib mit gelocktem Silberhaar, als sie fröhlich mit der von ihr heimlich ausgetauschten und wieder sorgsam zusammen gerollten Regenbogenheftchen winkend uns auf Wiedersehen sagte.
Oft waren die Vorfälle lustig manchmal tragisch und gelegentlich auch traurig. Mehrmals wurde ich zu später Stunde von der Polizei angerufen weil ein Schaufenster zertrümmert war. Die Schaufenster könnten so vieles erzählen…
Glasklar unsichtbar und unbeweglich stehen wir in Reih und Glied und trennen die Menschenmassen vor den von ihnen begehrten farbenfrohen Waren. Oft stehen sie vor uns, diskutieren, bewundern und begutachten die gefragten Dinge. Der kleine Junge mit der modischen Jeans, die das Windelpack trotzdem erahnen lässt hat ganz glänzende Äuglein und sagt: „Auto!“ Seine Begleitung lächelt stolz und bestätigt seine Aussage. Ach ja, ich sollte mich erst einmal vorstellen: Ich bin ein Schaufenster, das letzte von einer ganzen Reihe bevor der dunkle Gang beginnt. Um meinen Standort im Hauptbahnhof werde ich von meinen Artgenossen meistens beneidet. Nur meine Nachbarin weiss wie dreckig und hilflos ich manchmal bin. In dem kaum benutzten Durchgang zum Treppenhaus verweilen oft nur die etwas übermütigen oder düsteren Gestallten. Ich stehe immer da ob Sommer oder Winter und beobachte dieses Treiben. Nein, ich will mich nicht beklagen das verbannt die Langeweile. Sicherlich es gibt auch ganz erfreuliches zu berichten, wie letzte Nacht, da kam ein junges Paar, sie kuschelten sich in ihren Schlafsack und wünschten sich gegenseitig schöne Träume. In Gedanken wünschte ich ihnen einen ruhigen und ungestörten Schlaf. Die Bahnhofsaufseher offensichtlich auch, denn sie hatten die jungen friedlich schlafenden Leute gekonnt übersehen. Einmal musste ich schon um mein Leben bangen. Nein, glauben sie es mir, ich hatte riesiges Glück! Mit einem Vorschlaghammer schlug ein Idiot auf meine glänzende Front. Leider konnte ich der Gewalt nicht standhalten und musste klirrend und scheppernd eine Wand von meiner Doppelverglasung opfern, aber die Rückseite blieb unversehrt. Die rasiermesserscharfen Zacken wurden am nächsten Morgen behutsam weggeräumt und ich wurde vorübergehend mit einer hässlichen Holzwand eingekleidet. Die hämischen Blicke der übrigen Schaufenster ertrug ich mit stoischer Ruhe. Die erfolgreiche Renovation bescherte mir erneut den glasklaren Blick auf die dunkle Ecke. Ich strahle und spiegle im neuen Glanz und präsentiere mit Erfolg die zum Kauf angebotenen Objekte. Ein schwankendes, stolperndes verwahrlostes Mannsbild kommt lallend auf mich zu, seine Hosen sind fleckig und nass. Hoppla, ohne meine Standhaftigkeit wäre er jetzt hingefallen. An meiner blanken Frontseite bleibt er angelehnt stehen, würgt und übergibt sich. Angewidert ertrage ich diese Pein bis eine liebevolle Hand mich davon befreit. Ach, fast hätte ich’s vergessen, gepisst wird täglich in dieser Ecke. Links nach mir ist die Personaleingangstür, davor wurde auch schon mal ein Haufen deponiert ohne Klopapier. Ein gut bürgerlicher Familienvater, der hat sich gewiss verirrt, nein, er kommt zielstrebig zu mir und klebt ein Fotostreifen aus einem dieser vielen Billigfotoautomaten an mein frisch poliertes Glas. Ach so, er will die im Laden arbeitenden Verkäuferinnen beglücken. Freuen sich die Frauen über dieses gut gebaute erigierende Glied in seiner beringten Hand?
Dealer und Käufer treffen sich in aller Eile. Die Polizei schaut einfach nicht hin und umgeht so den lästigen Schreibkram. Ein Fremder kommt zu später Stunde, schaut, geht hin und her bleibt stehen und geht auch wieder weg. Zur vorgerückter Stunde kommt dieser Fremde erneut zurück. Er benimmt sich eigenartig und hantiert mit einem Eisen. Er schaut durch mich hindurch, was will er eigentlich? Ein glatter Durchschuss zierte eines Morgens unser Schaufenster und musste zum wiederholten Mal erneuert werden!
An einem Sonntagmorgen entdeckte ich einen sitzenden aber leblosen Mann auf einer Sitzbank im Bahnhof Bern. Er hatte einen tiefen und berührenden Eindruck hinterlassen, dass ich ihm ein Leben davor schenken musste…
Heute bin ich früher aufgestanden, aber wie jeden Morgen rede ich mit dir. Nein, meine geschätzte Bea du brauchst dich da oben nicht um mich zu kümmern. Es geht mir gut und ich kann nach wie vor noch für mich alleine Sorgen. Na ja, meine liebe Nachbarin mit ihren drei kleinen Kindern hilft mir gerne für einen kleinen Lohn. Weißt du noch, die kleine Esther von nebenan, sie geht jetzt zur Schule und ist schon neun Jahre alt. Sie holt für mich immer noch Brot und Milch. Ein liebes und hübsches Mädchen, wird sicherlich später ein sehr begehrtes Fräulein. Oh, ich kann dein tadelndes Lächeln sehen, ich bin ein Alter, aber immer noch ein Mann! Alt ist ein gutes Stichwort, bald werde ich neunzig. So, so du willst mich schon wieder korrigieren? Was sind schon drei Jahre? Ich feierte letzten Monat doch meinen Siebenundachtzigsten! Sehnsucht- fragst du - doch du fehlst mir schon aber ich bin geduldig und nicht in Eile. Ich weiß wir werden uns wieder sehen! Heute bin ich bei unserer Tochter zum Mittagessen eingeladen. Freuen - ja schon aber sie ist immer so fürsorglich und ich mag diese Ratschläge nicht mehr hören. Na ja, bitte nicht verspotten, ich erinnere mich ich wollte auch deine Befehle nie verstehen. Grosskinder- sie sind ganz ok, der Sascha und die bezaubernde frech gewordene Michèle werden zum Essen bleiben, den begehrten Sackgeldzuschuss abwarten und danach mit ihren Freunden die Zeit vertreiben. Na, wie findest du meinen Anzug? Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem Aussehen. Das Gewand frisch aus der Reinigung ein weißes Hemd die dezent rot schwarz gemusterte Krawatte passend zu meinem hellgrauen Pullover, in meinem Alter ist etwas warmes auch an einem Junimorgen unerlässlich. Ich erahne dein zustimmendes Nicken und deinen aufmunternden Blick. Die Kaffeemaschine ist aus, die Fenster sind zu und der Geldbeutel befindet sich in meiner rechten Gesäßtasche und die kurze Reise kann beginnen. Die Busfahrt dauert nur einige Minuten bis zum Hauptbahnhof. Zum umsteigen auf die Regionalbahn habe ich genügend Zeit vorgesehen. Ich nehme den Lift, ist sicherer als diese fürchterlichen Rolltreppen. Ich muss mich nicht mehr an den allgegenwärtigen Infotafeln orientieren. Zielstrebig gehe ich zum Bahnsteig. Der Stock ist mein ständiger Begleiter und dennoch wird das gehen immer beschwerlicher. Bin müde und muss mich ausruhen. Gott sei dank, da ist eine Sitzgelegenheit. Ein, zwei Minuten, tief durchatmen mich etwas erholen dann wird es wieder gehen! Was ist los? Was sagt diese reizende Frau? Sie spricht mit einem Mann, sie will Hilfe holen und zurückkommen. Der junge Mann schaut mich seltsam an. Was will er? Die hübsche Frau ist wieder da, sie kommt zu mir schaut mich liebevoll an und setzt sich neben mich auf die Sitzbank. Entspannt hocke ich da mit meinem Stock zwischen den Beinen und meine Hände ruhen auf dem wohlgeformten Elfenbeingriff. Sie legt ihre Hand sanft auf die meinen. Ich will ihr lächeln erwidern, doch sie sieht es nicht, will guten Tag sagen, sie hört es nicht. Ein Krankenauto kommt gefahren. Was ist passiert? Was wollen die Sanitäter? Die reizende junge Frau steht auf und berichtet, die Männer verstehen und nicken. Sie wollen kein Aufsehen und deshalb kein Leichenwagen. Behutsam, liebevoll und mit Respekt legen sie mich auf die Krankenbahre. Die Frau ohne Namen streichelt ein letztes Mal mein Gesicht. Ich kann nicht mehr aufstehen, mich nicht rühren, habe keine Schmerzen, kein Verlangen, keine Angst und auch kein Bangen. Bin ganz leicht und unbefangen und kann getrost gen Himmel fahren.
Es war eine berührende Zufallsbegegnung für mich und auch für die Sanitäter. Sie hätten den toten Mann eigentlich nicht mit dem Krankenwagen transportieren dürfen.
Ich arbeitete fast jedes Wochenende und liebte ganz besonders die Sonntage. Alle hatten Zeit und waren gut gelaunt. Einige kamen nach einer durchzechten Nacht meistens fröhlich und laut bei uns vorbei und andere waren Frühaufsteher und holten ihre Zeitungen. Ein Stammkunde näherte sich unserem Laden und ich beobachtete wie er in der Tür wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte. Er riss einen Ständer mit Glastablaren auf denen viel Krimskrams ausgestellt war klirrend und scheppernd mit sich. Ich war allein im Laden und ohne zu zögern versuchte ich den Mann in all den Scherben, Bärlis, Glögglis, Gläser, Tassen und Vasen mit aufgedruckten Berner-Wappen und sonstigem Kram irgendwie zu stützen und gottlob kam im selben Moment ein rüstiger Rentner in den Shop. Gerade wollte ich ihm meinen Platz an der Seite des Verunglückten anbieten als er über uns hinweg stieg mit den Worten er nehme nur den Sonntagsblick. Ich war fassungslos aber nur kurz! Ich musste ans Telefon und er sollte derweil den Mann stützen damit der Verunglückte sich nicht weiter verletzen konnte. Nein, war seine Antwort und er stelzte begleitet von einer abfälligen Handbewegung aus dem Geschäft. Ungläubig räumte ich einige Dinge weg damit ich den Verunglückten in einer einigermassen angenehmen Lage liegen lassen konnte während ich telefonieren musste. Der Krankenwagen war ganz schnell vor Ort und mein Verdacht, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte wurde bestätigt. Am darauf kommenden Sonntag kam der Hilfeverweigerer und wollte informiert werden über den Besoffenen wie er den Gestürzten nannte und dessen Ausgang. Ich informierte ihn freundlich und wünschte ihm meine Anwesenheit sollte er einmal einen Schlaganfall erleiden.
Einmal war ein Foto von einem Stammkunden auf der Titelseite vom Blick. In grossen Buchstaben wurde über sein Leben und von seiner Tat berichtet. Er hatte nachts auf einem Autobahnrastplatz eine Frau in ihrem Auto schlafend vorgefunden und sie durch die Windschutzscheibe erschossen. Natürlich hatte ich auch ihm auf meine art ein Leben angedichtet...
Seit Stunden fahre ich mit dem Auto durch die Nacht. Autobahnauffahrt rauf und wieder runter, zielloses umherirren, was suche ich eigentlich? Ruhe? Will ich zurück in die Wirklichkeit? Wer bin ich? Was will ich? Der Klub ist oder besser war anfangs aufregend und jetzt? Ich verliere die Kontrolle, die Fantasie beherrscht meinen Körper. Die blöde Arbeit im Supermarkt und alle die ahnungslosen Kollegen! Mein Gefühl rückwärts zu gehen, jedoch gleichzeitig nach vorne zu preschen beherrscht mich. Bin aufgeregt und an Schlaf ist nicht zu denken. Parke meine alte Kiste und schlendere zum Hauptbahnhof. Der hier sonst so hektische Betreib weicht an diesem Sonntagmorgen einer gemächlichen Atmosphäre, nur vereinzelte übernächtigte fröhlich singende sowie einige grölende Partygänger mischen sich unter die Reisenden, Obdachlosen und Randständigen. Ein Putzmann sitzt auf seiner Maschine und fährt seine Runden. Ein Polizistenpaar schlendert gemütlich in voller Montur durch die unterirdischen Gänge an Geschäften, Sitzgelegenheiten, Schließfächern und den öffentlichen Toiletten vorbei. Zeitung liegen stapelweise vor den noch geschlossenen Kiosk-Eingängen. Diese für mich faszinierende Stimmung beflügelt erneut meine Fantasie. Beobachte eine Weile das Kommen und Gehen. Ein kicherndes Paar, ein aufreizendes Girl mit schwarzen transparenten Seidenstrümpfen an wohlgeformten Beinen die in hohen Stöckelschuhen enden, ein Minirock der ihren Hintern abzeichnet, unglaubliche, wohlgeformte Brüste absichtlich zur Schau gestellt. Möchte die drei zum mitmachen auffordern, die vergangene Nacht wiederholen aber dieses Mal werde ich der Beherrschende sein! Bin erregt und außer Kontrolle, oh Gott nein, es geht alles durcheinander! Bin noch in der Öffentlichkeit und muss mich als Voyeur begnügen und mein Körper leidet ohne Vergnügen. Mein begehrender Blick trifft die Lasterhafte und sie fragt nach meinem Namen, ich sage einen falschen, danach erkundigt sie sich nach der Herkunft meiner schwarzen Lederhosen und verabschiedet sich kichernd. Seltsam, mit diesem Kichern hatte sie die Taste Aus gedrückt und meine Fassung ist zurück. Ich zünde mir die letzte meiner bevorzugten und außergewöhnlich selten gerauchten Zigaretten Virginia06 an. Ich kann mir im Shoppingkiosk neue besorgen. Beobachte den Shop, kenne die Gepflogenheiten bin an jedem Sonntagmorgen hier. Die Chefin persönlich kommt durch die Hintertür. Auch sie trägt die Farbe der Trauer und ist noch allein. Gehe hinein und werde freundlich begrüßt. Sie ist vorsichtig und durchschaut meine gespielte Gelassenheit. Sie schließt ihre Kasse. Nein, ihr Geld interessiert mich nicht, ich will mehr, sehr viel mehr, ich will ihr Leben! Wie ganz zufällig und völlig unbeabsichtigt berühre ich ihre Hüfte, zwänge mich unnötigerweis ganz nah an sie um die Tabakwaren anzuschauen. Sie durchschaut meine vorgetäuschte Zufälligkeit, trotzdem entschuldigt sie sich. Verdammt, kann es hier und jetzt nicht, bezahle und verlasse diese höfliche Dame. Die Angst kriecht in mir hoch und hält mich gefangen, Angst entdeckt zu werden, Angst vor mir und meinen Sinnen, Angst vor dem nächsten Wochenende! Meine Fantasien steigern sich und ich kann sie überhaupt nicht mehr stoppen. Mein Wunsch, mein Verlangen einen Menschen, nein eine Frau umzubringen ist eine Frage der Zeit und der Gelegenheit. Leiden muss sie nicht. Sie soll einfach nur sterben, durch meine Hand ihr Leben hergeben. Sie soll nicht nur im Sarg liegend die Tote spielen. Ich will ihr Todesurteil vollstrecken! Danach werden bestimmt unglaubliche Wallungen durch meinen Körper gehen. Wieder einen Samstagabend und erneut ein Besuch in diesem abnormen Klub, mit meinem längst schon abgestumpften Interesse. Ich will nicht mehr in Fesseln gedemütigt und als Strafe selbst im Sarg liegen. Ich kämpfe stetig gegen meine ewige Rolle vom getreuen und braven Diener. Ich will der Herr, der Gebieter, der Mächtige sein. Ich wanke zum Wasserglas und zünde mir eine Zigarette an. Bin völlig fertig und musste nein sagen und einfach gehen. - Sitze im Auto und kann mich nicht entsinnen wie es dazu kam. Weiß nicht mehr wie es geschah. Stand einfach da mit meiner Pistole in der einen Hand und die andere zwischen meinen Schenkeln eingegraben. Ihre halblangen goldbraunen Haare umschmeicheln noch immer ihr ovales Gesicht, der Mund halb offen, die Pupillen farblos, regungslos liegt das Opfer meiner Begierde auf ihrem Autositz!
Der Diebstahl war eine lästige Angelegenheit und stets wurde alles Mögliche geklaut. Ich beobachtete wie ein junger Mann eine Sonnebrille in seine Jackentasche steckte und sich mit zügigem Schritt dem Ausgang näherte. Ich forderte ihn auf mir die Sonnenbrille auszuhändigen was er etwas zögerlich aber schlussendlich ohne murren tat. Damit war die Angelegenheit für mich erledigt. Offensichtlich nicht für ihn wie ich kurz darauf erfahren musste. Plötzlich betrat der ertappte Ladendieb erneut unseren Shop. Er kam zielstrebig auf mich zu und verpasste mir eine schallende Ohrfeig. Die anwesende Kollegin stand völlig unter Schock und war handlungsunfähig, sie zitterte und fing an zu weinen. Die wenigen anwesenden Kunden schauten weg und suchten das Weite bevor sich auch der Übeltäter ebenfalls davon machte. Etwas irritiert rief ich die Polizei welche auch umgehend erschienen war. Nach meiner kurzen Schilderung des Vorfalls forderten sie mich auf mit ihnen zusammen nach dem Schläger zu suchen. Es dauerte nicht lange und ich sichte ihn mit seinem roten Halstuch in der Menschenmenge. Die Schutzmänner nahmen ihn trotz seiner Gegenwehr fest. Einige Schaulustigen sammelten sich um das Geschehen und kritisierten lautstark mit Buhrufen die Arbeit der beiden Polizisten. Ich war fassungslos! Das Adrenalin verflüchtige sich und die Wut kroch in mir hoch. Weinend und enttäuscht kehrte ich an meinen Arbeitsort zurück.
Manchmal gab es auch lustige und erheiternde Situationen so geschehen als wir einer Frau den hängengeblieben Kleiderbügel aus dem Mantel entfernten. Sie bedankte sich und lachte herzhaft mit uns über dieses Missgeschick. Ich liebte die Menschen, das pulsierende und facettenreiche Leben. Ich war hilflos gegenüber den gestrandeten Obdachlosen, Drogensüchtigen und Heimatlosen aber ärgerte mich wenn sie bei uns klauten. Manchmal belasteten mich die Lebensumstände der Angestellten obschon meine Biographie auch nicht einfach war. Fast ausschliesslich alleinerziehende Frauen hatten oft erdrückende Sorgen. Immer wieder ärgerten sie sich auch über die sorglosen und teilweise unzuverlässigen Studenten die ihren Arbeitsplan durcheinander brachten. Diese hatten schon die eine oder andere seltsame Entschuldigung um kurzfristig der Arbeit fern zu bleiben.

Roger du warst mein fürsorglicher und liebevoller Ehemann und Vater von unserem gemeinsamen Sohn und wie selbstverständlich gehörte auch Irenes Sohn, der den gleichen Vorname trug, zu unserer Familie. Meine Anliegen waren auch deine. Egal welche Dramen in meiner Familie passierten du warst da um zu tun was getan werden musste. Dein fröhliches und positives Gemüt war ansteckend. In Porrentruy bist du aufgewachsen und daher kam dein unnachahmlicher französischer Akzent. Du warst überall beliebt. Deine Geselligkeit und deine Leidenschaft für den Fussball waren legendär. Gutes Essen und einen guten Wein, letzteres sollte dir später zum Verhängnis werden, mehr brauchtest du nicht zum glücklich sein. Bier und Wein begleiteten dich bei jeder geselligen Runde. Ich fing an dich zu kritisieren und verlangte deine Zurückhaltung bei deinem Alkoholkonsum. Ich entwickelte mich zu deiner Spassbremse. Ich trank keinen Alkohol und ein richtiger Gourmet wie du es warst war ich damals nicht. Sicher ist vieles auch meine Schuld, dass es so gekommen ist wie es kam. Ein Zufall hatte mir endlich die Augen geöffnet. Eine Bekannte schenkte mir einmal eine Flasche Kaffeelikör und du fandest damals dieses Gesöff widerlich. Wie erwähnt schätzte ich keine alkoholischen Getränke und deshalb stand diese Flasche ein oder zwei Jahre lang ungeöffnet in einem Schrank. Ab und an müssen auch Schränke ausgemistet werden und diese Flasche wollte ich nun definitiv entsorgen. Die braune Flasche war noch da aber ohne Inhalt! Sie war leer! Ich war erschüttert denn jetzt gab es keinen Zweifel mehr mein Mann war Alkoholiker! Wortlos hattest du mein verzweifeltes Schreien ertragen aber eigentlich wolltest du widersprechen. Du warst noch nicht so weit um es dir einzugestehen und den einen Satz auszusprechen der alles hätte ändern können. Manchmal konntest du einige Tage oder sogar Wochen enthaltsam sein. Nach dem Fussballmatch bestelltes du ein Mineral statt Bier beim geselligen Beisammensein. Du hattest einen unglaublichen starken Willen und wolltest keine Hilfe aber die hättest du dringend gebraucht! Deine Krankheit als solches zu benennen das konntest du nicht. Ich war ratlos und traurig und ich wollte mich von dir trennen. Ich konnte dein Schluckauf nicht mehr ertragen. Nein, du glaubst mir nicht. Doch, dieses Glucksen und dein vergeblicher Versuch es zu unterdrücken ekelte mich. Es war der Beweis, dass du wieder Rückfällig geworden bist! Lieber Roger lass mich ziehen und werde glücklich und wir werden für immer Verbunden sein. Mit diesen Worten versuchte ich deine Einwilligung für die Trennung zu erhalten. Ich hatte Angst du könntest in deinem Trennungsschmerz dir oder mir und unserem Sohn etwas antun.
Irenes Sohn lebte damals nicht mehr bei uns. Seine Schulzeit war vorbei und er hatte eine Lehrstelle. Sein leiblicher Vater erinnerte sich seiner und wünschte das Sorgerecht. Roger sollte entscheiden wo er während seiner Lehrzeit wohnen möchte und er hatte sich für seinen Vater entschieden. Du warst sehr traurig über seinen Entschluss. Deine Tränen und dein Sehnen nach ihm zeugten davon. Ich akzeptierte seinen Wunsch denn so bekam er die Chance seinen Vater wirklich kennen zu lernen und ich hoffte er würde uns nicht ganz vergessen.
Zu guter Letzt hattest du in die Scheidung eingewilligt und verzweifelt eine Wohnung in unserer Nähe gesucht. Wir wünschten uns eine Familie mit räumlicher Trennung aber statt endlich deine Sucht zu bekämpfen hattest du exzessiv gesoffen und einmal danach alle verfügbaren Medikamente vor meinen Augen eingenommen. Ich musste den Notarzt rufen welcher auch mit unglaublicher Ruhe und Einfühlungsvermögen mitten in der Nacht sich um uns gekümmert hatte. Bestimmt kannst du dich nicht mehr an diese eine Nacht erinnern. Die Menge, der mehr oder weniger harmlosen von dir eingenommene Tabletten waren nicht lebensbedrohlich. Während du stockbesoffen und schnarchend in deinem Bett lagst versuchte der Arzt mich zu ermuntern dir eine Chance zu geben und versicherte gleichzeitig uns auf diesem Weg zu begleiten. Aber ich wollte und konnte nicht mehr! Es brach mir das Herz dich so zu sehen aber es kam noch schlimmer! In deiner Stammbeiz gab es ein Säli in welchem sich hauptsächlich Junge Leute aufhielten und es war allgemein bekannt, dass dort auch Drogen konsumiert wurden. Mit einem Mal war dieses Säli dein neuer Aufenthaltsort! Sorry, lieber Roger aber das war nun wirklich das allerletzte was du dir und uns damit angetan hattest! In der Zwischenzeit bewohntest du wie gewünscht in der Nähe deine eigene Wohnung und unser Plan gemeinsam uns um unseren Sohn zu kümmern drohte zu scheitern. Den Suppenlöffel, das Feuerzeug und die Zitronen in deinem Wohnzimmer durfte unser Sohn sehen, aber was du damit machst ganz sicher nicht! Rein äusserlich war diese Sucht angenehmer. Du warst gepflegt und unauffällig aber ich hatte Angst und das zu Recht! Ich wurde über deine Verhaftung informiert. Was für ein Desaster! Ich suchte weitere Informationen bei einem mir bekannten Polizeibeamten über den Grund deiner Verhaftung obschon ich nicht ahnungslos war. Dieser bestätigte meine Vermutung und umgehend versuchte ich unserem Sohn diese unglaublich traurige Geschichte zu erklären. Nach einem oder waren es zwei Tage die du in der Untersuchungshaft verbringen musstest? Ich kann mich nicht mehr erinnern aber egal, danach war dein Leben nicht mehr so wie es einmal war. Vor der Festnahme versuchtest du erfolglos das eine oder andere Mal deine Heroinsucht wieder los zu werden und das schmerzhafte Verlangen zu unterdrücken. Du bist am Tiefpunkt deiner Krise angekommen! Endlich nahmst du die Hilfe an die dir zur Verfügung stand. Ein Entzug in einer Klinik und völlig zugedröhnt hatte ich dich dort abgeliefert. Ich hoffte auf Erfolg aber leider konntest du diese Therapie nicht akzeptieren. Du beklagtest dich über den stumpfsinnigen Klinkalltag und nach einigen Tagen wolltest du raus. Ohne Hilfe und nur mit deiner Willenskraft wolltest du deine Sucht bekämpfen. Ich bezweifelte dein Vorhaben. Ein letzter verunreinigter Schuss der dein Leben bedrohte war schlussendlich ausschlaggebend für die Wende in deinem Leben. Du hattest deine Wohnung gekündigt und du bist zu deinen Eltern gezogen und bei ihnen tatsächlich den Selbstentzug geschafft! Dein bevorstehender Gerichtstermin belastete dich sehr aber du wolltest dich deiner Vergangenheit ohne Anwalt stellen nicht zuletzt weil du auch noch etliche Schulden hattest. Ich wollte dir beistehen und deshalb begleitete ich dich. Im gleichen Gerichtsaal wurden wir geschieden und wir hatten damals auch keinen Anwalt bemüht. Etwas unkonventionell aber wir glaubten immer auf einen gesunden Menschenverstand und so auch an diesem Tag. Ich wollte an der Verhandlung teilnehmen und ich bekam die Erlaubnis. Weisst du noch wie angsterfüllt du vor dem Richter gestanden bist und wie ich deine Verteidigung übernahm? Ich erzählte die rührende aber wahre Geschichte von unserer Vergangenheit. Der Richter wartete nur noch auf das Happy End aber leider konnte ich ihm und dir diesen Gefallen nicht tun! Du wurdest wegen Drogenhandel zu einer bedingten Straffe verurteilt und damit konnten wir leben.
Endlich hattest du eine neue Lebensgefährtin einen neuen Job und ein neues zu Hause in der französischen Schweiz. Irgendwie doch noch ein Happy End…
Leider plagten dich immer wieder gesundheitliche Probleme aber auf einmal waren sie lebensbedrohlich und in deinem neunundvierzigsten Lebensjahr lagst du in deiner neuen Heimat ohne Hoffnung auf Heilung im Spital. Ich besuchte dich um dir für unsere gemeinsame Zeit zu danken aber ich vermochte es nicht zu sagen denn wir hätten beide geweint. In deinem Herzen behielt ich meinen Platz denn bei jedem Treffen sah ich deine Sehnsucht. Am 29. Februar 2000 erkundigte ich mich telefonisch nach deinem Befinden und dein letzter Satz war: „ je te laisse“
Die Zeitangabe von diesem Anruf auf meiner Telefonrechnung mit Einzelverbindungsnachweis und die amtliche Todeszeit von meinem Exmann trennten eine einzige Minute...