Zurzeit sind 552 Biographien in Arbeit und davon 313 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 191




Nach dem wir unsere Autobiografien beendet hatten, vernahmen wir (wieder) von unseren Freunden Lilly und Kai Zimmerli, dass Lilly umfangreiche Tagebücher seit ihrem 13. Lebensjahr führte. Wir baten Lilly,sie uns zum Lesen zu geben. Nach dem Tod von Kai erfüllte Lilly unseren Wunsch und schickte sie sie uns zusammen mit den Briefen von ihrem Bruder Gusti und den Aufzeichnungen von Kai. Silvia schrieb sie in Word um. Ich besorgte die Edition und stattete sie mit Fotos aus mithilfe der Internet-Plattform «meet-my-life», auf Wunsch von Lillly in der der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum.
Die aussergewöhnlich ehrlichen Tagebücher, die auch den seelischen Zustand genau und feinfühlig beschreiben, die Briefe und Aufzeichnungen werden den Nachkommen helfen, nicht nur ihre Ahnen, aber auch sich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen. Sie haben auch eine enorme historische Bedeutung, besonders für die Geschichte der Medizin, da sie zeigen, wie sie am Anfang des schwierigen Umbruchs war von einer autoritativen «der Götter im Weiss» in eine paritative der gleichwertigen Partner, die immer noch nicht abgeschlossen ist.
Diese ausgezeichneten, literarisch wertvollen Aufzeichnungen sind sehr interessant. Es freut uns, dass wir beim Erhalten dieses Schatzes helfen konnten.
Silvia und Peter Marko

(1)
Es gibt schon Momente, in denen man sich sehnt, zu jemandem sagen zu können: „Weisst du noch, damals, als wir Kinder waren“? Das aber werde ich niemals mehr sagen können: Mein einziger Bruder, meine Eltern, die einzige Tante – alle sind sie tot.
Da begannen die Häuser, in denen ich gelebt habe, plötzlich zu mir zu sprechen. Ich kehrte in Gedanken zu ihnen zurück, Erinnerungen lebten auf, farbig und deutlich, besonders, als mein Traum, meine Hoffnung, im „letzten“ Haus mein Alter verbringen zu können, auch ausgeträumt war – das Haus wurde an fremde Menschen verkauft.
Ich bin jedoch kein einsamer Mensch – sehr geborgen bei einem mich liebenden Mann, Mutter von vier erwachsenen Kindern, mehrfache Grossmutter, einmal Aerztin gewesen, dann nur noch ganz im Hintergrund der Praxis meines Mannes eine bessere Sekretärin, Haushälterin, Betreuerin der Schwiegermutter …. Und doch lebe ich oft in der Vergangenheit, kehre zurück in die Häuser, in die Zeit, die mich geprägt hat, so wie ich heute bin.

Man hat mir oft erzählt, dass ich an einem Sonntagmorgen, einem kalten Wintertag, am 8.2.1925 mich gemeldet habe. Mein Vater war noch im Frack, eben von einem Fest des Gesangvereins nach Hause gekommen, als er von meiner Mutter gleich wieder weggeschickt wurde, um die Hebamme zu holen. Dick und dunkelhäutig habe ich das Licht der Welt erblickt.
Man hat mir auch erzählt, dass meine Grossmutter, die in der Familie lebte, über die Neuigkeit, dass noch ein Kind erwartet wurde, nicht erfreut gewesen sei. Den Stubenwagen, für das zu kommende Kind hübsch hergerichtet, soll sie mit einem Fusstritt die Treppe hinunter gestossen haben.
Für sie mochte die Familie eben vollständig gewesen sein, so wie sie war: Sie, meine Mutter, mein Vater und der heiß geliebte siebenjährige Enkel Gusti, mein Bruder. In Winterthur war diese Gemeinschaft gegründet worden, eine kleine Familie, in der sie sehr viel zu sagen hatte. Meine Mutter wurde mit vier Jahren Halbwaise, ihre Mutter führte ein Handarbeitsgeschäft allein, und umsorgte ihr einziges Kind, wie mir scheint, mit ebensolcher Strenge, wie mit besitzergreifender Liebe. Es scheint selbstverständlich, dass sie im jungen Haushalt aufgenommen wurde.
Mein Vater, Geometer, war oft beruflich abwesend – und die beiden Frauen, beide mit Eifer handarbeitend und den Knaben hütend, kaum je getrennt, mochten die Abwesenheit des Mannes gar nicht so sehr bedauert haben.
Mein Bruder soll enttäuscht gewesen sein, weil er nach meiner Geburt ein Keckern hörte und glaubte, es sei ein kleines Schaf geboren worden, anstatt das versprochene kleine Geschwister.Seinen ersten Schreibkünsten zufolge, den Buchstaben L I L I, sei ich dann getauft worden. Er verlangte auch von seiner Lehrerin, dass die ganze Klasse frei bekomme, um seine kleine Schwester zu feiern.
Dass mein Geburtsort „Himmelreich“ hiess, die Erwähnung der Sonntagsglocken, beides hatte in mir früh den Gedanken geweckt, ich sei wohl ein besonders glücklicher Mensch.
Mein Vater bekam die Stelle als Geometer der Eidgenössischen Landestopographie in Bern und die ganze Familie zog 1926 in das Haus Aegertenstrasse.

Kirchenfeld, ein Name, der für mich Heimat bedeutet. Die erste bewusste Erinnerung an ein Riegelhaus in einem grossen Garten.
(1) Haus Aegertenstrasse.
Ein Zimmer mit einem Zeichentisch und zwischen Schrank und Tisch eine Nische für den Puppenwagen – der jetzt in unserem grossen Estrich steht – ein Museumsstück, mit auf- und abklappbarem Verdeck, schwarz, und in vier Federn aufgehängt, ein hölzerner Kasten im Blechgestell auf Gummirädern. Am Verdeck klemmen sich heute die Grosskinder die Finger ein, so wie ich es damals tat.
Ein Gefühl von Düsterheit, Trauer und dennoch Geborgenheit, eine alte Frau geistert durch diese Erinnerungen, meine Grossmutter. Sie war depressiv, sprach tagelang kein Wort, zu den Mahlzeiten nur aus ihrem Zimmer kommend und ein Geldstück neben ihren Teller legend – das hat man mir erzählt.
Ich sehe mich aber deutlich mit Finken in den Händen vor einer geschlossenen Tür stehend, ich wollte der Grossmutter wie jeden Morgen die Hausschuhe bringen, sie war aber in der Nacht gestorben.
Eine weitere Erinnerung:
Mein Bruder sollte mich mitnehmen zum Schlitteln, und ich fror.
Neben dem Turnplatz unter der Kirchfeldbrücke, auf dem steilen Hang, musste ich immer wieder hinauf stolpern, mich dann festhalten und hinunter sausen- ob ich fror oder nicht.
Der Graus, wenn zu Hause die erstarrten Finger aufzutauen begannen, und der Schmerz nicht enden wollte…
Wie ungern hat mich wohl der grosse Bruder mitgeschleppt?
(2) Mit Puppe "Mööggu".
Trost brachte mir sicher meine Puppe Mööggu“, ein hässliches Ding mit einem Plastikkopf und einem Stoffkörper. Wenn man es vom Sitzen zum Liegen brachte, gab es muhende, klagende Töne von sich. Es klagte für mich aber nicht lange, denn es wurde von meinem Bruder als Zielscheibe für das neue Flobert-Gewehr benutzt. Mir blieben als Erinnerung nur seine Glasaugen, die ich lange hütete.
Damals muss noch ein junges Mädchen aus dem Welschland bei uns gelebt haben, sie hiess Violette, und ich lernte von ihr meine ersten Brocken Französisch schon früh! Es waren die Worte „attention aux automobiles“ – wie viele mag es damals gegeben haben auf der ruhigen Strasse, auf die man hätte aufpassen sollen? Brachte Violette mich zu Bett, tätschelte sie mein damals wohl molliges Hinterteil und rühmte: „Comme un petit pain au lait“ – als ich viele Jahre später erfuhr, was ein richtiges „pain au lait“ ist, war ich sehr stolz.
(3)
Violette verschwand plötzlich aus meinem Leben, wann und warum weiss ich nicht. – Die Zeit in jenem Haus war zu Ende.
(4)
(5)

(1) Trechselstrasse 4.
Ganz nahe stand das hübsche Eckhaus mit einer grossen Terrasse und einer bunten Sonnenstore an der Trechselstrasse. Daran erinnere ich mich nun schon ganz genau. Hier kam der Grossvater Staub aus Zürich oft zu Besuch – ein selten lächelnder Mann mit einem dunklen Mantel, mit einem Krempenhut und einem Stock mit Silbergriff – und mit einer seltsamen Sprache: „Züritüütsch“.
Mein Vater hat ja auch immer Zürichdeutsch gesprochen und sich nie an den Berner Dialekt gewöhnt, doch tönte es bei ihm viel weicher, und er verstand das Berndeutsch, während der Grossvater behauptete, nicht zu wissen, was ein „Zibelechueche sei, und das Gebäck „“Bölewähe“ nannte. Auch das „Hemmli“ verachtete er und nannte es „Hämp“.
Beim Spazieren musste man ihm immer die Hand geben, und er hielt die kleine Kinderhand mit festem Griff. Er führte uns mit Vorliebe in das nahe gelegene „Dählhölzli“, den Tierpark, wo man Tauben füttern konnte und auf einer Schaukel neben dem Bach sich auf und hinunter wiegen lassen durfte. Heute steht auf dem Platz, wo eine Vogelvoliere stand, ein Kinderspielplatz – und unsere Kinder wurden auch wieder von ihrem Grossvater oft dorthin geführt.
Zu Hause setzte sich der Grossvater oft wichtig an den Stubentisch, zog ernst eine Dose Schnupftabak aus der Tasche und breitete ein grosses, rotes, gemustertes Taschentuch auf dem Tisch aus. Gebannt sahen mein Bruder und ich, wie er etwas grausig Braunes in den Zwischenraum zwischen Daumen und Zeigefinger legte, es zur Nase führte und mit abwesendem Blick wartete, bis es wirkte. Dann brach ein Urlaut aus seiner Nase, und ein glückliches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.
Ich wurde oft fotografiert von meinem Vater, so auch auf einem Schaukelpferd auf der grossen Terrasse, auch auf einem Gartentisch in einem weissen Flanellkleid mit einer runden Stickerei, und natürlich mit meiner damaligen und jahrelang gleich bleibenden Pony-Fransenfrisur, die ich sehr hasste, ohne mich dagegen wehren zu können. Angeblich stand sie mir sehr gut.
Der Bruder lud oft Schul- oder Pfadfinderkameraden zu sich nach Hause ein, die dann auf der Terrasse Würfelspiele spielten.
Oft mag ich wohl die acht Jahre älteren Knaben geärgert haben - immerhin machte ich mich wichtig, weil ich auf Befehl melden konnte, bei welcher Zahl die Zeiger der Stubenuhr standen, worauf die gescheiten Knaben dann erkannten, wie viel Uhr es war.
(2) Mit Ruthli und Trudi.
Im Nachbarhaus wohnten zwei Schwestern, das Ruthli und das Trudi Züllig. Ich sehe sie in Erinnerung immer in weissen Strümpfen und sauberen Schürzen. Ich war gerne im Nachbarhaus, es gab da vier junge süsse Katzen, die man ganz vorsichtig anfassen durfte.
Vor dem Haus gab es ein Trottoir, man konnte so in Sicherheit um den ganzen Häuserblock herumfahren mit dem Kindervelo, nur verlassen durfte man es nie, weil es gefährlich war.
Auf diesem Trottoir machte ich eine wichtige Erfahrung: Im Garten hatte ich schöne Steine gesammelt, grosse Kiesel, zwei davon trug ich lange herum. Ich versuchte einmal auf dem Trottoir vor der Haustür den einen mit dem anderen zu zerschlagen. Er sprang aber weg und blieb ganz. So prägte sich mir ganz deutlich der Begriff „hart“ ein, sowie das Gefühl von Trauer und gleichzeitig Dankbarkeit….
Traurig war meine Mutter oft. Sie schien viel von einem Buch zu halten, das stets auf ihrem Nachttisch lag, in einer gestickten Hülle mit einem rosa Seidenfutter. Es war sehr angenehm in die Hand zu nehmen und schien ihr Trost zu geben. Es muss sich um ein Lehrbuch der „Christian Science“ gehandelt haben, denn Mutter war dieser Wissenschaft richtiggehend verfallen.
Wir Kinder gingen in die Sonntagsschule in jenes Gebäude am Helvetiaplatz, vor dessen Eingang immer eine rote Lampe brannte und wo das Licht im Innern immer geheimnisvoll schien.
(3) Mit Grossvater und Gusti.
Die braunen Saftspritzer waren ein Ärgernis für meine Mutter. Im grossen Bart von Grossvater sah man immer Spuren – es roch eigenartig, wohl nach Tabak. Er kannte auch wunderbare Lieder, ich kenne noch das „Schön ist ein Zylinderhut, wenn man ihn besitzen tut“, oder: „Jupeidi und Jupeida, Schnaps isch guet für d‘Cholera...“. Er sang jeweils laut und dröhnend. Meine Mutter mochte ihn aber trotzdem gern. Er ging auch mit ihr auf eine Schweizerreise, auch mit dem Dampfschiff, wie sie uns erzählte.
In einem Restaurant verkündete er laut, das Menü passe ihm nicht, als es „Laitue braise“ gab, da er zu Hause auch angebrannten Lattich essen könne. –
Später erfuhr ich, dass er gerne Schreiner geworden wäre, doch habe er den Bauernhof, das Mettli, in Thalwil übernehmen müssen, weil sein einziger Bruder Walter zu schwächlich gewesen sei.
Nun, das Schreinern hat er aber nie ganz aufgegeben, so lebt noch heute ein weisses hübsches Puppenbett, das ich zu Weihnachten erhalten habe. Ja, Weihnachten, da ist mir ein Fest besonders in Erinnerung.
(4) Mit Gusti.
Mein Bruder wartete auf ein grosses, vom Grossvater versprochenes Geschenk – er hoffte auf ein Fahrrad. Die Spannung war gross, als es läutete und an der Türe eine grosse Kiste abgegeben wurde, ungefähr mit den Massen, die einem Fahrrad hätte entsprechen können. Holzwolle füllte bald das Treppenhaus, und zum Vorschein kamen: Wunderschön verpackte Äpfel!!!!
Mit Schmunzeln nahm der Grossvater den mühsam gestotterten Dank des Enkels entgegen, wanderte dann mit demselben in den Keller, wo das Fahrrad unverhüllt und glänzend wartete.
Vater war durch seinen Beruf oft weit weg, und Mutter viel mit uns zwei Kindern allein. Gab es Schwierigkeiten, musste man Frau Käsermann, die Besitzerin eines kleinen Kolonialwarenladens an der Aegertenstrasse benachrichtigen, die konnte dann „gut denken“ für uns.
Das sind meine religiösen Eindrücke aus jener Zeit. Besonders eindrücklich, als ich rückwärts vom Fenstersims auf den Stubenboden fiel und einen heftigen Schmerz im rechten Arm verspürte. Mutter rannte zu Frau Käsermann und war überzeugt, dass es mir nun nicht mehr weh tue…
An der Ecke Aegertenstrasse – Trechselstrasse stand eine grosse, grau-braune Holzkiste mit einem schrägen Deckel, gefüllt mit Sand, um bei Frost die glatte Strasse damit zu enteisen. Man konnte darauf klettern, und ein schwerer Gusseisenhenkel liess sich auf dem Deckel hin- und herbewegen. Allzu mühelos offenbar, denn er fiel einmal mit dem ganzen Gewicht auf meinen rechten Vorderarm, genau auf die Stelle, die schon im Sommer so geschmerzt hatte. Nun aber war es Winter, und mein Vater zu Hause, und Mutter durfte nicht zu Frau Käsermann eilen, sondern man brachte mich sogleich zu Dr. v. Grenus, dem Chirurgen an der Marienstrasse, der gleich mit mir ins Salemspital fuhr und den Arm röntgen liess. – Er war gebrochen. Dem Vater wurde erklärt, dass im Röntgenbild bereits eine schlecht verheilte Bruchstelle zu erkennen sei, die Folge einer unbehandelten Fraktur vom Fenstersturz im Sommer. Die Sache wurde eingerenkt, und es blieb kein Schaden. Eine Narkose, ein zu kleines Spitalbett im Salem, eine unruhige Nacht blieben in Erinnerung – aber auch, dass Mutter die ganze Nacht bei mir blieb und mich lieb hatte.
Die Sonntagsschule im Haus mit dem Licht und die Begegnungen mit Frau Käsermann hörten aber plötzlich auf.
Mein grosses Glück war ein grosser, weisser Teddybär mit einer roten Schleife um den Hals. Er spielte aber eine traurige Rolle. Meine Mutter erzählte, dass unsere Hausmeisterin, die man nur ganz selten sah, und die oft in einer Anstalt interniert war, sich grauenhaft vor meinem Bären fürchtete. Die Stimmung in diesem Haus wurde düster, die Frau schrie oft laut auf der Terrasse, wenn ich im Garten spielte. War das der Grund, warum uns die Wohnung gekündigt wurde? Ein Verlassen dieses Hauses empfand ich schon als traurig und unverständlich.
(5) Mit Blumenstrauss.
Das Kirchenfeld verschwand, und das Burgernziel tauchte auf.
*
(6)
(7)

(1) Karl Staufferstrasse 14.
Ein Reihenhaus, eine Wohnung im ersten Stock. Die Welt wird weiter bestehen, und neue Menschen tauchen aus der Erinnerung auf.
Das gemeinsame Schlafzimmer für meinen Bruder und mich war lang und eher schmal, das Bett mit herunterklappbaren Vorderteil, an dem man sich die Finger einklemmen konnte, stand beim Fenster. Auf dem Gitterbett sitzend, sinnend in die Ferne schauend, wurde ich in einem Barchentpyjama fotografiert – ich fand mich sehr schön auf diesem Bild.
(2) Lilly mit Barchentpyjama.
Die Augen meines "Mööggu" hatten sogar diesen Umzug überlebt, sie waren eine Art Talisman für mich. Mein Bruder war ein ängstlicher Knabe, er verlangte immer, dass ich nachsah, ob nachts die Wohnungstür geschlossen war. Zwar liebte er Geschichten von Verbrechern, versteckte sich auch unter meinem Bett und zog mich plötzlich an meinen Beinen, wenn ich einsteigen wollte, allein im Keller Kohlen zu holen wagte er aber nachts nicht. Er erlaubte mir dann grosszügig, voraus zu gehen und unten das Licht anzuzünden, was mich mit Stolz erfüllte, da ich eben gerade bis zum Lichtschalter langen mochte.
Am Abend erfand er ein Ritual, das sich immer wiederholte. Ich sollte im Finstern starr auf das Fenster sehen, unbeweglich, ohne zu blinzeln, dann würde ich Farben sehen, und wenn ich lange genug aushalte, sogar die Augen der toten Grossmutter.
Der Tod spielte bei ihm in dieser Zeit wohl eine grosse Rolle. Mit dem Steinbaukasten, dessen schwere Teile hart in der Hand lagen und aus grauen und roten, eckigen und runden Steinen bestand, mit denen schon unser Vater als Kind gespielt hatte (und der noch heute vollständig besteht) spielten wir "Friedhof". Mein Name wurde feierlich auf ein viereckiges Stück geschrieben, und schon mit einem Kreuz versehen. Ich liebte dieses Spiel nicht sehr. Viel besser gefielen mir die bunten Lehmstangen, aus denen man Menschlein, Früchte oder Gemüse formen konnte und "Verkäuferlis" spielen. Alles zusammengeknetet wurde es aber dann zu einer unansehnlichen Masse von einem schmutzigen Grau, durch das sich noch einzelne bunte Streifen wanden. Das klebte nicht nur an den Schuhen, sondern auch auf dem Teppich und wurde von der Mutter ärgerlich weggeräumt.
Der Bruder ging in das Polygymnasium am Waisenhausplatz, und er trug die blaue Mütze mit dem roten Strich im Rand mit Stolz bei jeder Gelegenheit, auch bei den obligatorischen Sonntagsspaziergängen mit Vater und Mutter. Man wanderte in den Rosengarten, ins "Waldheim" bei Ostermundigen, die Muriallee entlang bis in den "Sternen", der Gurten war ein beliebtes Ziel, und immer gab es irgendwo dann einen Sirup zu trinken. Weder meine Kinder noch die Grosskinder konnten sich das wohl noch vorstellen. Mein Bruder hatte viele Freundinnen, die ihn jeweils abholen kamen zum Schlittschuhlaufen, und die mich dann ohne grosse Begeisterung mitnehmen mussten. Die Kufenschlittschuhe wurden mit einem Lederriemen zusammengebunden und über die Schulter getragen. Zum Anschrauben an die hohen Schuhe brauchte man einen Schlüssel, den hängte man sich mit einer Schnur um den Hals.
Das "Egelmösli", ein flacher, grosser Tümpel zwischen den Wiesen fror im Winter meistens zu. Am Rande gab es eine Holztreppe, auf die setzte man sich und das Anschrauben der nicht sehr scharf geschliffenen Schlittschuhe begann, wenn der Schlüssel passte! Mein Bruder fuhr dann elegant davon, oft mit einem Mädchen mit vorn gekreuzten Armen, und ich stolperte mehr als ich glitt auf den Innenkanten meiner Schuhe hinterher - zwar hob ich hinten ein Bein etwas hoch und glaubte fest daran, nun Eiskunst zu laufen, man nannte diese Figur, wenn sie jemand korrekt ausführte, das "Fliegerlein".
Spielen im Frühling und Sommer war schön. Vor dem Haus auf dem Trottoir durfte man mit Kreide "Himmel und Hölle" zeichnen. Ein Stein musste auf die nummerierten Felder geworfen werden, und hüpfend, bald auf einem, dann auf beiden Beinen, musste er aufhoben werden, wobei keine Linie mit dem Fuss berührt werden durfte, sonst landete man in der "Hölle", also wieder am Anfang. Die Grossen spielten ein Ballspiel auf der Strasse vor dem Haus, da durften die Kleinen nicht mitmachen. Kaum ein Auto störte, höchstens ein unwillig läutender Velofahrer fuhr dazwischen und verscheuchte die Kinderschar. Ein kleiner, älterer Bub half jeweils mit, er wohnte gleich um die Ecke an der Wernerstrasse. Er sollte später in meinem Leben eine liebe Rolle spielen, lebte auch bei unserem nächsten Wohnort wieder nur ein paar Häuser von uns entfernt - und wurde der Pate unseres jüngsten Kindes --- aber so weit bin ich noch lange nicht.
Ein Nachbarkind beeindruckte mich tief. Es trug immer ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand, war sehr scheu - und durfte um vier Uhr ein Stück Schachtelkäse essen, ohne Brot!
Eines Tages tauchte in unserer gutbürgerlichen Familie ein Polizist in Uniform auf. Hatten es wohl die Nachbarn gesehen? Auf dem Heimweg hatten mein Bruder und sein Kollege es gewagt, mit Kreide Figuren auf eine Hauswand an der Thunstrasse zu zeichen!
Also eigentliche Vorläufer heutiger "Sprayer". --- Ich zitterte um den Bruder, glaubte, der Polizist werde ihn gleich mitnehmen. So schlimm war es aber nicht. Die beiden Buben, der andere war der Sohn eines Gymerlehrers, wurden ermahnt, solches nie wieder zu tun und mussten dann mit einem Zuber Seifenwasser und einer Bürste die Hauswand putzen gehen.
Meine erste Liebe galt dem Werner, dem ein Jahr jüngeren Knaben der Hausmeisterin. Er wohnte im Parterre und war mir ein ergebener Verehrer. Wir badeten zusammen in einem Blechzuber im Garten, im Wasser schwammen leere, grüne Flaschen, um die Sonnenstrahlen besser auszunützen.
(3) Lilly badet.
Ich erfuhr die erste zärtliche Zuneigung, indem Werner fragte, ob er mir den Bauch tätscheln dürfte. - Er durfte, ich fand es sehr angenehm.
Seine grössere Schwester hiess Lotti, sie spielte wunderschön Krankenschwester, und wir durften mithelfen, die Puppen zu pflegen. Oft setzte sie uns aber auch in den Puppenwagen und erklärte, wir seien Patienten. Sie starb grässlich, auf dem Schulweg, von einem schleudernden Lastwagen gegen die Mauer gedrückt.
Als ich die Masern bekam, durfte mich der Werner nicht besuchen. Aber er stellte frische Himbeeren in einem kleinen Teller vor die Wohnungstüre.
Ich hatte noch eine andere Freundin, das Hanneli Gerber, die Milchhändlerstochter von der Thunstrasse, ein sehr scheues Mädchen, das sich vor meinem Bruder sehr fürchtete. Es kam nie in unsere Wohnung, ohne vorher zu läuten und zu fragen, ob der Bub da sei. War er zu Hause, rannte es schnell weg. Bei Hanneli zu Hause roch es immer nach Käse, aber ich war gerne dort, obschon mich sein Vater sehr beleidigt hatte, weil er auf einer Zeichnung von mir nicht erkannt hatte, dass es Kühe auf der Wiese waren. Hanneli verschwand aus meinem Leben, es starb früh an Leukämie.
Ein Mädchen, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, machte mir sehr Eindruck, weil es mir im Schlafzimmer seiner Mutter zeigte, wie man sich das Gesicht pudert, und wo man das Parfum hinstreichen musste. Wahrscheinlich taten wir zu viel des Guten, denn meine Mutter liess mich nicht mehr dorthin gehen. Wahrscheinlich hätte ich noch manch anderes lernen können. Einen Vater schien es dort nicht zu geben.
Die Nachbarn im Haus zur Linken liebte ich. Es waren sehr ernste Leute, und im Gang stand eine seltsame Figur auf dem Schrank, ein Frauenkopf mit einem sonderbaren, nach hinten ragenden Hut und einem schönen Gesicht – mein erster Eindruck von ägyptischer Kultur, die Nofretete.
Im Stockwerk über uns hausten Herr und Frau Oppliger. Ich glaube, Herr O. war Altstoffhändler, schien mir sehr reich, denn er besass ein Auto mit einem Verdeck, das geöffnet werden konnte. Sie hatten keine Kinder, aber einen Hund, der „Ari“ hiess, ein grosses, schwarzes Tier, das ich zwar nicht fürchtete, aber auch nicht liebte, weil es mich ekelte mit seinen ganz kurzen borstigen Haaren und einem plumpen Stummelschwanz. Frau Oppliger schenkte mir meinen ersten Schmuck – einen dicken Jadereifen, den ich bis über den Oberarm hinaufschieben konnte, und der auch dort noch viel zu weit war.
Ich hütete ihn zusammen mit den Glasaugen der Puppe.
Rechts neben uns wohnte die Familie Maurer. Sie besassen eine Auswindmaschine, ein kupfernes, rundes Ding, einen Kessel, in den man die nasse Wäsche einfüllen konnte, und der sich dann rasend schnell zu drehen begann, so schnell, dass man die Wäsche nicht mehr sehen konnte, und wir glaubten, sie sei nun „gefressen“ worden!
Der Hansli, der Bub dieser Familie kam mit mir in den Kindergarten – und er wurde „mein erster Ehemann“, wie auf dem Bild zu sehen ist. Einträchtig wanderten wir zusammen zur „Tante“ Bion, wie die Kindergärtnerin hiess, durch Schrebergärten bis weiter als das Säuglingsheim an der Brunnadernstrasse.
(4) Mit Hansli, meinem ersten "Ehemann" .
Frau Bion liess uns basteln und singen, und sie hatte vier junge, ganz kleine Hunde, die man auf den Tisch nehmen, sie streicheln und ans Gesicht drücken durfte.
Im Kindergarten wurde mir zum ersten Mal die Rolle des Schneewittchens zugeteilt, wohl meiner dunklen Haare wegen. Später „missbrauchte“ man mich noch öfters für diese Rolle, so auch getanzt bei Frau Sauerbeck, der Rhythmiklehrerin an der Viktoriastrasse.
Meine Lieblingszwerge waren: Peter Friedli und Peter Ganz – der eine wurde psychiatrisch deformierter Allgemeinpraktiker, der andere Gynäkologe – .In diese Kindergartenzeit fällt das erste Bewusstsein eines seelischen, quälenden Schmerzes. Hier erfuhr ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas Schlechtes getan zu haben und das Erleben der Scham. Tagelang war ich völlig verstört, konnte kaum essen, verbarg das Gesicht so oft ich konnte, in dem violett geblumten und gemusterten Kissen auf dem Rohrsessel im Gang, bis Mutter endlich erfuhr, was mit mir los war. Wie oft musste sie fragen: „Was hesch ou, Chind?“ bis es schluchzend herauskam: „I ha drum em Hansli Murer gseit, är syg e dumme Cheib!!“ – Ein Schimpfwort, das mir das Grässlichste schien, besonders, da wir ja ein paar Tage zuvor Hochzeit gefeiert hatten! Hansli mit Strohhut und ich in einem gelb karierten Kleid und Schleier. Ich glaube kaum, dass eines unserer Kinder aus diesem Grund Seelenqualen ausgestanden hätte.
Mein Märchenprinz scheint auf dem Bild nicht sehr glücklich zu sein, sein Name war, so weit ich mich erinnere, "Bubi Streit".
(5) Mein Märcheprinz.
Wie ein Wort doch wirken kann! So auch „Kindergarten“, wie die Gedanken zu stürmen beginnen, voraus, rückwärts, sich stauend, strudelnd. „Kindergarten“, da taucht auch ein Gefühl von Scham auf, eine Qual, beschämt zu sein, ohne zu wissen warum. So hatte mich Mutter ernst ermahnt zu gestehen, was auf dem Heimweg vom Kindergarten geschehen sei, da die Mutter eines Knaben sich beklagt hätte, er würde „sein Fudi plagen“. Ich erinnerte mich wohl, dass zwei Kinder auf dem Heimweg sich in einem Schrebergartenhäuschen, an dem wir vorbeikamen, nackt ausziehen wollten, ich aber in Panik davon gerannt war, und nun nicht wusste, worum es gegangen war. Erste Erfahrungen hatte ich also keine sammeln können.
Ich habe auch weder meinen Bruder noch meinen Vater je nackt gesehen. Der Bruder war so prüde, dass er sogar auf dem Damm der „Broye“, wo wir in der La Sauge in den Ferien waren, mir befahl, auf der anderen Seite zu baden, weil er die Badehosen vergessen hatte!!
Dieses würgende Nichtwissen mit der Ahnung von etwas Verbotenem und das Gefühl der Schuld dabei – das habe ich später oft erlebt – immer im Zusammenhang mit einem Vorwurf meiner Mutter, die ich trotzdem bewunderte, und die ich gerne glücklich gemacht hätte.
Ich habe aber auch bewussten Trotz in diesem Alter erlebt, besonders deutlich, als mein Vater mir gebot, einen zu Boden gefallenen Brief wieder aufzuheben, ich mich aber einfach weigerte, dies zu tun. Endlich drohte mein Vater mit einer körperlichen Strafe – so weit war es also mit mir gekommen! Es sind die einzigen Schläge meines Vaters, die mir in Erinnerung blieben, bis zu jenem Tag, mehr als zwanzig Jahre später, als ich eine Strafpredigt meiner Eltern mit der Bemerkung: „Seid ihr jetzt bald fertig?“ quittierte, und meine letzte körperliche Strafe in Form einer saftigen Ohrfeige erhielt.
Vor Weihnachten wurde es um meine Mutter geheimnisvoll. Eines Morgens hingen an der Schnur auf der Terrasse ganz kleine Puppenhemden und Kleidchen, und Mutter überzeugte mich, dass das Christkind sie dort zum Trocknen aufgehängt habe. Bügelte meine Mutter, sass ich voller Angst auf dem Schemel neben dem Tisch. Ich konnte es nicht ertragen, wenn eine Falte im Stoff unter das Bügeleisen gelangte, weil ich fühlte, wie das Leintuch den heissen Schmerz unter dem Eisen erlitt…
Eine Wonne war aber die Tretmaschine mit dem braun lackierten Holzdeckel, der abgehoben werden konnte, und der, umgekehrt auf dem Boden eine herrliche Sitzgelegenheit bot zum Zuschauen, wenn Mutter eifrig den Tritt mit dem Fuss bewegte, und das Rad in Schwung brachte. Auf dem Mittelteil des Gusseisengestells prangte ein Muster, golden und geheimnisvoll. Das Muster war aber ein Wort, das erste, das ich lesen lernte: SINGER – Vorläufer von SALZ, MEHL, ZUCKER, die nächste Wonne des Lesenlernens, in der Küche, auf den Kacheln der Vorratsschubladen im Gestell – meine Kinder spielten später stundenlang damit „Verkäuferlis“.
Löste man den Riemen vom Rad der Tretmaschine, konnte man Eisenbahn spielen und den Tritt ganz schnell hinauf und hinunter bewegen. Mit dem Riemen war es lustiger, nur musste man dann halt manchmal einen eingeklemmten Finger in Kauf nehmen.
Mit Werner dufte ich nicht nur im Garten spielen, er kam auch mit, um die Väter abzuholen. Wir wanderten dann Hand in Hand die Thunstrasse entlang bis zum Thunplatz beim grossen Brunnen. Aus der Mauer plätscherte ein dünner Wasserstrahl aus der Figur eines Löwenkopfes. Ganz kühn fanden wir uns, wenn wir auf der vorgespannten Kette des Wasserspiels turnten. Die Väter tauchten aus der Kirchenfeldstrasse auf, die Landestopografie war damals im Amt für Mass und Gewicht untergebracht.
Werktags assen wir in der Küche, nur am Sonntag in meinem Lieblingszimmer. Dort gab es ein heiß geliebtes Möbel, den Diwan in der Ess–Wohnstube, darauf eine Plüschdecke, und ein ganzer Berg von weichen Kissen, gehäkelt, gestickt, gestrickt und aus Seide, man konnte sich einnisten und ganz versinken darin, und das Bild an der Wand dahinter bestaunen: Konstantinopel im Abendsonnenschein, schimmernd und immer wieder in einem anderen Farbton, je nachdem wie das Licht der Lampe darauf fiel. Die Decke war eine Erinnerung an Vaters Aufenthalt in der Türkei, wo er als junger Geometer 1914 Strassen bis nach Russland vermessen half. Namen wie „Erzerum“ und Trapezun“ tönten für uns wie aus dem Märchen. Wir lernten auch ein paar Worte Türkisch, so konnte ich bis auf zehn zählen, und wusste, dass „Ekmek“ Brot hiess. Ich liebte es, mich in diesen „orientalischen Teil“ unserer sonst eher nüchternen und immer sehr gut aufgeräumten Wohnung zurückzuziehen.
In diesem Zimmer stand eben auch das Klavier. Ein brauner Kasten, links und rechts an der Vorderseite stets blank polierte Kerzenhalter, die man hin- und herdrehen konnte. Es gab auch drei Fusspedale, zu denen hinunter die Füsse aber noch nicht reichten, wenn ich auf dem drehbaren Klavierstuhl sass. Am Sonntag nach der Sonntagsschule, oder wenn Mutter aus der Predigt nach Hause kam und die Lieder aus dem Kirchengesangsbuch spielte, versuchte ich oft die Melodien mit einem Finger nachzuspielen. Mein Klavierspiel begeisterte aber nicht alle, besonders nicht die Hausmeisterin, die sich erkundigte, wie lange die Klimperei noch dauere … Meine Eltern schienen aber von meinem Talent überzeugt, und ich durfte im Alter von fünf Jahren Klavierstunden nehmen.
Es erschien ein Fräulein Scheurer – sie heiratete später einen Zahnarzt Dr. Roth, der mir später viel Kummer bereiten wird – was ich zum Glück noch nicht wusste, denn ich schlug mir die Zähne ja erst zehn Jahre später ein. Ich bewunderte und liebte diese Lehrerin sehr. An die erste Lektion erinnere ich mich sehr deutlich. Mit beiden Händen durfte ich in Oktaven die Tonleiter spielen, von einem „C“ zum anderen, ganz langsam, und dazu begleitete mich die Lehrerin mit einer Melodie von tiefen Tönen, das gab mir den Eindruck, schon vierhändig spielen zu können. An der Hochzeitsfeier der Lehrerin durfte ich dann vorspielen, in einem rosa Kleid und mit schwarzen Lackschuhen…
Wenn Vater zu Hause war, wollte er uns oft eine Freude machen – nicht immer kam es gut heraus. Einmal beschrieb er mir die Freuden des Kasperlitheaters und versprach mir, zusammen eine Vorführung in einem Raum über dem Kornhauskeller zu besuchen. Erwartungsfroh stiegen wir die Treppen hinauf, es war merkwürdig still – weil die Vorstellung halt schon lange angefangen hatte. Wir setzten uns beide auf die Treppe, und ich weinte vor Enttäuschung. Vater putzte mir die Nase – er hatte immer ein grosses, gut riechendes Taschentuch bei sich, und tröstete mich mit dem Versprechen auf heisse Marroni, die es im Winter in den Gassen zu kaufen gab. Er streckte den Papiersack mit den heissen Kastanien in seinen Mantelsack, ich streckte meine kleine Hand daneben und hatte herrlich warm. Zu Hause erklärte ich der Mutter, ich hätte es gar nicht bedauert, keine Plätze mehr erhalten zu haben – ich wollte meinen Vater immer ein wenig schützen vor den spöttischen Bemerkungen meiner Mutter. Man hatte immer den Eindruck, sie wolle Vater spüren lassen, so etwas dummes könne nur ihm passieren. – Ja, eben auch, als er mit meinem Bruder und mir Skifahren und Schlitteln gehen wollte auf das „Chuderhüsi“, dann aber mit uns nach Bolligen fuhr, anstatt den Zug nach Bowil zu besteigen, so dass weit und breit kein Weg auf das „Chuderhüsi“ führte!!
Welche Wonne, wenn der Vater sich rasierte! Ein Tuch um den Hals gebunden zum Schutz des Hemdes, gab ihm ein leicht krankes und schwaches Aussehen. Umso tapferer wirkte er mit dem scharfen, aufklappbaren Rasiermesser, das gemessen und rhythmisch, an einem Lederriemen auf und ab geführt wurde, um noch ganz scharf geschliffen zu werden. Der Schaum wurde in einem kleinen metallenen Becken mit einem weichen Pinsel geschlagen – und wenn das Gesicht des Vaters weiss leuchtete und ich ihn staunend betrachtete, bekam ich jedes Mal einen Schaumtupfer auf die Nase, das Kinn und auf beide Wangen.
Zu den geheiligten Dingen von Vater gehörte das Schnauzscherchen, ein kleines, zartes Ding, das wunderbar schnitt, und das man nie vom Toilettentisch wegnehmen durfte. Vater konnte sich damit die kleinen Haare, die ihm aus der Nase wuchsen, wegschneiden. Wehe, wenn wir es entwendeten, um Bilder aus den Zeitungen auszuschneiden oder wenn Mutter es sogar wagte, uns die Fingernägel damit zu schneiden. – Ich halte es noch heute, mehr als fünfzig Jahre später, als Andenken an meinen Vater in Ehren.
Stolz war ich, dass wir schon ein Telefon besassen, dessen Nummer ich noch heute weiss: „Christoph 5768“. Es wurde eingerichtet für meine Mutter, damit sie mit dem so oft abwesenden Vater telefonieren konnte.
Mutter liebte Schmuck, vor allem Ohrringe, und ich fand die grossen, schwarzen Onyxtropfen in Gold gefasst wunderbar – und Mutter sehr tapfer, dass sie sich Löcher in die Ohrläppchen machen liess, und diese recht schweren Schmuckstücke ertrug. Manchmal roch sie wunderbar, dann, wenn sie mit Vater ausging. Wohin kann ich mich nicht erinnern, wohl aber in ein Konzert oder ins Theater. Sie hatte lange schmale Hände und schön geformte Fingernägel. (Was ich beides leider nicht geerbt habe). Vor dem Ausgehen wurden die Nägel leicht gepudert und dann mit einem länglichen schmalen Holzgestell, mit Leder überzogen, so lange poliert, bis sie schön glänzten. Für das Kämmen brauchte Mutter immer viel Zeit, und sie putzte sich die Zähne nach jedem Essen, was ich übertrieben fand.
Eine grosse Angst erlebte ich an einem Winterabend. Es muss schon dämmrig gewesen sein, als mich Mutter in den kleinen Spezereiladen am Ende der Häuserreihe schickte, um eine Flasche Öl zu kaufen. Warum sie mir auf der Treppe aus den Händen fiel, weiss ich nicht, aber das klebrige Öl rann über Hände und Kleid, und auf der Treppe klebten auch die schmierigen Scherben. Vor Entsetzen weinend rannte ich nach Hause, gefasst auf eine schreckliche Strafe. Kann es eine grössere Erlösung geben, als die, welche ich nun erlebte, als meine Mutter, nur tröstend, mich in die Arme nahm? Ein solches Gefühl von Geborgenheit habe ich erst wieder erlebt, als ich meinen Mann kennen lernte, der mir in einer aussichtslosen Situation gebot, mich ruhig hinzulegen und zu warten, bis er wiederkomme, und der dann alles für mich geregelt hatte. – Doch das geschah so viel später – beinahe in einem anderen Leben…
Ich brauchte das Geborgensein in meiner Kindheit so sehr!
(6) Mit Mutter und Gusti.
Mein Vater war im Sommer monatelang weg, im Tessin, in Graubünden, wo immer es eben den Geometer brauchte.
Die Mutter weinte viel, und dann erschien oft eine Ärztin, Frl. Dr. Martha Hostettler, die dann mit ruhiger, etwas heiserer Stimme (vom Rauchen!) meine Mutter zu beruhigen wusste, wenn sie wieder einmal drohte, man werde sie bald in der Aare finden, oder sie wolle den Gashahn aufdrehen. Es waren Tage, an denen das Gesicht der Mutter unnatürlich gerötet war und hässliche Flecken auf den Wangen erschienen. Sie machte dann Lehmwickel und sah erschreckend aus unter dem grauen Dreck! Man musste dann ganz ruhig sein und durfte sie nicht stören.
In guten Zeiten sang sie viel mit uns und im Herbst, wenn der Vater wieder zu Hause war, verging kaum ein Tag ohne Gesang. Mutters schöne Altstimme, mit Vaters klarem Tenor im Duett, begleitet von meiner Mutter am Klavier, schien mir wunderbar. Und wenn nach einem heftigen Wortwechsel zwischen meinen Eltern – das kam recht oft vor, denn meine Mutter war sehr impulsiv – am Abend „Ich wollt meine Liebe ergösse sich all in ein einziges Wort“ im Duett ertönte, oder „Wohin habt ihr ihn getragen, wohin?“, dann fühlte ich mich in der Musik geborgen.
Mutter strickte viel, und ich war das beliebteste Opfer für ihre Werke. Ich sehe noch das braun-rosa Strickkleid, gestreift, mit passender Mütze, einen gestrickten Unterrock darunter, gestrickte Strümpfe, und sogar eine Mütze – der Kunst meiner Mutter hilflos ausgeliefert….
Um meine Gesundheit schienen die Eltern sehr besorgt. Ich muss ein sehr schlankes, oft hustendes kleines Kind gewesen sein. Für Wochen fuhr meine Mutter mit mir in die Praxis von Frl. Dr. Hofstetter an die Optingenstrasse, wo ich dann mit nacktem Oberkörper, mit einer schwarzen Brille vor einen seltsam knisternden Apparat sitzen musste. Es roch so eigenartig, man sagte, nach Ozon, und das Ganze hiess „Bestrahlen“ und sollte die Sonne ersetzen, und gut sein für die Gesundheit, wie auch der immer wiederkehrende Lebertran, vor dem es mich noch heute graust. Wohl auch für meine Gesundheit, aber dies nun auch zu meiner Freude, durfte ich in die Rhythmikstunden zu Frau Sauerbeck gehen. Die grünen, kurzen Pumphosen schlotterten um meine dünnen Beine, und auf Fotos sieht das dürre kleine Wesen nicht sehr anmutig aus.
(7) Lilly (links) in der Rhythmikstunde
An den Weihnachtsfeiern des „Berner Männerchors“, in welchem mein Vater ein eifriger Mitsänger war, wurden von uns Kindern Reigen und Märchen getanzt, natürlich auch wieder das Schneewittchen. Mir wurde es in dem Sarg langweilig, und mit Entsetzen bemerkte meine Mutter, wie ich mit beiden Beinen zappelte, und sie in die Höhe streckte, als ich doch noch von den Zwergen beweint wurde.
In regelmässigen Zeitabständen aber roch Mutter sehr unangenehm nach Fisch, es war ein Geruch, den ich hasste, und den ich bald in Zusammenhang brachte mit weissen Trikotschläuchen in Fischform, die zum Trocknen an der Wäscheleine hingen, und die „Damenbinden“ hiessen. Ich wusste nicht, was das Wort bedeutete, fand es aber schrecklich und war immer froh, wenn sie wieder verschwanden!
Sonntag: Das war nicht nur Sonntagsschule und Singen, das war auch: Battistschürze und weisse Strümpfe und Lackschuhe. Oft durfte ich aber die kleine Küchenschürze anziehen, die meine Mutter für mich genäht hatte, und in der Küche helfen. Mein erstes Werk der Kochkunst war das Plätzli salzen und mit Mehl bestäuben. Zum Dessert brachte Vater am Sonntag oft so genannte „20er Stückli“ nach Hause, meist sehr süsse Stücke mit Schokolade oder Creme gefüllt. Mutters selbstgemachte Caramelcreme blieb mir auch in Erinnerung. – Es gab da immer einen spannenden Moment, wenn der braungebrannte Zucker „abgelöscht“ wurde und dann ganz hart und klebrig in der Pfanne blieb, bis er sich in der Flüssigkeit auflöste.
Herrliche Sommervergnügen gab es an der Aare. Die seichten Nebenarme des Flusses in der Elfenau wurden so warm, dass das Baden auch für kleine Kinder lustig und ungefährlich war. Zu Hause wurden weisse Kissenanzüge eingepackt, am Ufer im Schilf öffnete man alle Knöpfe und hielt den Anzug weit offen, drehte sich ganz schnell im Kreis, d.h. Mutter tat das. Die Luft blähte die Kissen auf, die man dann ganz schnell zubinden und sofort auf das Wasser legen musste. Auf diesen Luftkissen konnte man dann wohlig auf dem Wasser liegen, bis die Luft entwich und das Vergnügen zu Ende war.
Einmal verloren wir den Wohnungsschlüssel im Sumpf. Es war Sonntag und wir lehnten an der sonnenwarmen Hauswand und warteten auf den Spengler, der die Wohnungstür öffnen musste. Ein unheimliches Gefühl, so ausgeschlossen zu sein….
An der Ecke Brunnadern – Thunstrasse gab es ein grosses Gemüsegeschäft – und hie und da durften wir dort Bananen kaufen. Man schälte sie fast ehrfürchtig und genoss es, die weiche Schale sorgfältig herunterzuziehen. Ob man der Bananen wegen auch den einzigen Sohn des Gemüsehändlers, den Hansli Berger, ehrfürchtig betrachtete, wenn er im Garten spielte? Wir andern Kinder vom Quartier standen oft vor seinem Gartentor – der Hansli durfte nie mit uns spielen!
Sehr befreundet waren meine Eltern mit einer Familie Wildberger. Herr Wildberger war ein Kollege aus der Landestopographie. Sie kamen viel zu Besuch, oder wir spazierten zusammen am Sonntagnachmittag. Sie hatten ein einziges Kind, den „Miggeli“, ganz dick und rund, vier Jahre jünger als ich. Ich durfte seinen Kinderwagen stossen und ihn zu Hause auf den Schoss nehmen. Später bewunderte er mich und soll gesagt haben: „on s‘aime, nous deux!“
(8) Mit "Miggeli"
Schon als kleines Kind machte er weise Sprüche. Aus dem dicken Knaben wurde ein Ingenieur, ein Freund meines Schwagers Reini, leider blieb er ledig, und seine herzensgute Maman konnte keine Enkelkinder verwöhnen!
Tante „Toneli“, wie Frau Wildberger liebevoll genannt wurde, war eine charmante Frau. Sie sprach französisch, war klein und rund und hatte braune Zapfenlocken. Noch im hohen Alter waren die Haare gefärbt und immer noch lockig. Sie war sehr komisch, wenn sie sich Mühe gab, Deutsch zu sprechen, besonders, wenn sie das „H“ am falschen Ort mit Stolz gebrauchte, wie: Der Hapfel, aber dann auch das „Aus“ anstatt Haus. Mich lehrte sie das erste französische Liedchen: „Petit enfant, déjà la brume, autour de la maison s‘étend… il faut dormir, quand vient la lune, petit enfant, petit enfant.“ Oder: „Pernette, Pernette va dire au bon dieu qu‘il fasse beaux temps demain!“
Sie machte auch das beste Fondue weit und breit, und mancher Sonntag endete bei der Familie Wildberger, in einer Stube voll Rauch mit Geruch nach Käse. Herr Wildberger rauchte pausenlos Zigaretten und machte uns grossen Eindruck, indem er eine Zigarette gleich an der zu Ende gehenden anzündete…
In diesen Jahren von 1927 – 1931 verbrachten wir die Ferien oft im Tessin. So auch einmal Osterferien in Astano, wo es an Ostern verschneite Palmen gab im Park, und man die Nester im Schnee suchen durfte. Die Wirtefamilie hiess Schmiedhauser, und eine ihrer Töchter, die Mathilde heiratete später einen Sohn von Bundesrat Motta und wohnte in Bern an der Aegertenstrasse, und wir waren stolz, dass sie uns oft zum Tee einlud.
Im Herbst besuchten wir Vater in Gudo und durften uns im Rebberg unter die Trauben setzen und so viel essen, wie wir wollten. In Ambri – Piotta weinte ich eine Nacht lang wegen Ohrenschmerzen. War es die Folge einer Dummheit? Am Tag vorher hatte ich meinen Kopf zwischen die Gitterstäbe der Terrasse gesteckt und ihn dann erst nicht mehr zurückziehen können. Ein Spengler erlöste mich aus der unangenehmen Lage. Noch jetzt, wenn ich den Namen „Ambri – Piotta“ höre, kommen mir das Geländer und das Ohrenweh in den Sinn – und nicht der Eishockeyclub….
Ich habe meine Mutter immer bewundert, dass sie in einer fremden Sprache reden konnte und sofort Kontakt hatte zu allen Menschen. Später merkte ich, dass sie viele Fehler machte, aber immer eine Gabe hatte, durch geeigneten Tonfall oder eine originelle Wendung den Eindruck zu machen, die Sprache zu beherrschen. Mit ihrer Sprache konnte sie uns immer überraschen. Sie konnte mühelos rückwärts reden – und aus Zeitungsinseraten ein so gekonntes Durcheinander erzählen, dass dann auch meine Freundinnen, noch im Gymnasium, Tränen lachen mussten. Sie erfand auch Geschichten und konnte den Tonfall der Stimme den Personen anpassen, von denen sie redete. Sicher wäre sie eine gute Schauspielerin geworden!!
In gewissen Zeiten aber war sie depressiv, und es war schaurig, wenn sie wieder drohte, den Gashahn zu öffnen oder in die Aare zu springen.
Sommerferien in Plan – Seugez, oberhalb Bex, in einem alten Holzhaus mit einer Laube ringsherum. Mein Bruder spielte dort Gespenst, eingehüllt in ein weisses Leintuch und mit grässlicher Stimme.
Vater fotografierte gern und oft, so auch mich, in einer Pose auf einem abgesägten Baumstamm, beide Arme erhoben – und ich fand es grässlich, in gestrickten Unterhosen mit nacktem Oberkörper Modell stehen zu müssen, ich wurde auch dementsprechend von meinem Bruder ausgelacht.
(9) Lilly in gestrickten Unterhosen.
Hier wurde ich auch für mein ganzes Leben vom Rauchen entwöhnt, bevor ich den Genuss kennen gelernt hätte.
Ich liebte es in einer Hängematte unter den Bäumen zu liegen – und mein Bruder, damals zwölfjährig hatte eben die Zigaretten entdeckt. So erklärte er mir liebevoll, wie man den Rauch einziehen müsse, schaukelte dazu heftig die Hängematte, und mir scheint, ich spüre noch heute die Übelkeit, die in Wogen über mich kam. Geraucht habe ich später nie…
Der Wald war voller Beeren im Herbst. Die ganze Familie machte sich früh am Morgen bereit, um Brombeeren zu suchen. Die Arme wurden mit Zeitungen dick umwickelt, um sich vor den Stacheln zu schützen, Kopftücher leuchteten bunt, und die Beerenkessel wurden mit Schnüren um den Leib gebunden, die ganze Gesellschaft fotografiert. Ich wartete gespannt auf den Aufbruch – da wurden mir die Zeitungen wieder abgenommen, das Kesseli weggestellt, weil Mutter plötzlich fand, es sei zu anstrengend für mich, und ich bliebe besser bei der alten Grossmutter auf der Ferme zurück. Von den Beeren, die man mir am Abend zurückbrachte, ass ich keine – und man fand, ich sei ein undankbares Kind.
Meinen Vater durfte ich begleiten bei den Vermessungsarbeiten in der Umgebung. Wir sammelten Pilze und Walderdbeeren – und Vater verstand es, einen hübschen Strauss von reifen Erdbeeren zu binden, den man vorsichtig tragen musste, um ihn am Abend der Mutter nach Hause zu bringen. Immer wurden wir ermahnt, lieb zu sein zur Mutter, sie schien viel kränklich, klagte oft über „Magenkrisen“. Was ihr eigentlich fehlte, wusste ich nicht, das Wort „Nerven“ wurde viel gebraucht.
Zärtlich sah ich Vater eigentlich nie zu Mutter, nur immer sehr um ihr Wohlergehen und die Gesundheit besorgt. Ihre Wünsche wurden, wenn immer möglich erfüllt. So bekam sie auch einen Fuchspelz, von einem Tier, das ein Messgehilfe meines Vaters erlegt hatte. Ich mochte das weiche Pelzding nicht, mit der harten Schnauze und den hängenden Pfoten hing es gefährlich um den Hals der Mutter. Die schwarzen Knöpfe an Stelle der Augen wirkten böse.
Es wurden nun viele heimliche Gespräche geführt zwischen meinen Eltern, ich schnappte das eine oder andere auf, es schien um einen Wohnungswechsel zu gehen. Ich musste versprechen, mit niemandem darüber zu reden – jedoch schon damals war ich sehr gesprächig und machte mich wohl auch gerne wichtig. Dem Hansli Maurer erzählte ich, wir hätten eine ganz grosse Wohnung in Aussicht – und oh Schreck, uns wurde dann gekündigt. Wohl kaum auf meine Aussage hin, aber ich hatte doch Angst, daran schuld zu sein.
Durch unsere Strasse fuhr ein eigenartiges Auto, fast wie ein fahrender Verkäuferliladen. Vater verbot uns aber dort hinzugehen, das Auto komme von der „Migros“ und sei für ärmere Leute, die dort billige Lebensmittel kaufen könnten. Als Beamter fand er dies unter seiner Würde.
Das war der Beginn des „Migros – Zeitalters“.
Spannend war es, wenn jemand rief: „Der Zeppelin, der Zeppelin“ und dann die grosse, graue Wurst über den Häusern schwebte, und man sogar den Korb darunter ganz gut erkennen konnte. Fast jedes Kind hatte ein Modell dieses Luftschiffes, und auch bei uns hing eines aus Karton im Gang.
War mein Bruder guter Laune, durfte ich hinten auf dem Gepäckträger seines Fahrrades mitfahren. Warum mir eines Tages die verrückte Idee kam, meinen Regenschirm während der Fahrt hinten zwischen die Speichen zu stecken, weiss ich nicht – die Folgen waren aber unangenehm. Wir stürzten – und mein Bruder riss sich die Hand auf, und musste sie bei Dr. Lütschg, der gleich an der Ecke unserer Strasse wohnte, nähen lassen. Mein Knie war aufgeschürft, was aber nicht schlimm war. Für lange Zeit war es vorbei mit dem Vergnügen.
In der „La Sauge am Broyekanal kannten meine Eltern die Wirtsleute, auch eine Familie Staub, aus der Gegend der Heimat meines Vaters am Zürichsee, aber nicht verwandt. Sie führten dort eine Landwirtschaft und einen Gasthof, wo wir die Sommerferien verbrachten. Man wurde vom Knecht Juli in Ins abgeholt mit einem Pferdefuhrwerk, oder man musste zu Fuss über das grosse Moos wandern, was mir nicht sonderlich gefiel, so dass ich einmal meine Schuhe in das Feld neben der Strasse warf und barfuss weiterging.
(10) Am Fluss.
Dem Damm entlang wanderte man zum See, am anderen Ufer sahen wir die Strafgefangenen von Witzwil, die dort den Abfall aus den Städten erlesen mussten. Es schien ihnen aber nichts auszumachen, denn sie sangen oft und durften rauchen. Wir schwammen oft durch die Seerosen ans andere Ufer und brachten ihnen Zigaretten. Im Schlafzimmer des alten Hauses nisteten Schwalben, die flogen dann am Abend ein und aus, wenn ich schon ins Bett gehen musste. Der Knecht Juli liess uns auf den Pferden reiten, und es roch herrlich nach feuchtem Schilf, Mohr und Pferdemist. In der Ebene sah man grosse Torfhaufen schön aufgeschichtet. Es wäre herrlich gewesen, wenn man nicht so viele Fische hätte essen müssen!
Nach diesen Ferien wurde es plötzlich war, dass wir die Karl Staufferstrasse verlassen würden. Am Zügeltag durfte ich wieder bei meinem Bruder hinten auf dem Velo sitzen, es ging über den Thunplatz die Kirchenfeldstrasse hinunter – und auf dieser Fahrt gelang mir zum ersten Mal ein Pfiff. Ich hatte das schon lange vergeblich versucht, und nun war ich sehr stolz auf diesen doch sehr mageren Klang.
Zwar zogen wir wieder in das Kirchenfeld – aber Wernerli und Hansli, Peter Friedli und Peter Ganz verschwanden aus meinem Leben – und ich vermisste sie sehr. Doch nun begann ja bald die Schule.
Sowohl Peter Friedli, als auch Peter Ganz tauchten dann wieder auf beim Gymnasium und während des Medizinstudiums.
*
(11)
(12)

(1) Schillingstrasse 15. 1932 - 1936.
In einem Eckhaus im dritten Stock zogen wir ein.
Es lag an einer ruhigen Strasse und hatte zwei Terrassen. Diese Wohnung war für mich ein Schock! Vergebens suchte ich das Kinderzimmer – es gab keines mehr. Der Bruder logierte nun in der eigenen Mansarde – mein weisses Gitterbett mit den bergenden Seitenwänden verschwand – und ich wurde „Allgemeingut“. Man erklärte mir, dass ich nun in der Wohnstube auf dem Diwan schlafen dürfe. Das einzig Eigene war der Kindertisch und der kleine Stuhl dazu, beides wurde neben den Diwan gestellt, und zum Glück hing der bunte Seidenteppich mit den Minaretten und Moscheen von Konstatinopel dahinter an der Wand.
Bis zu meinem 16. Altersjahr hatte ich nie mehr ein eigenes Zimmer. Dann aber hätte ich lieber keines bekommen, denn es blieb für mich das Zimmer meines Bruders, der mit 24 Jahren als Flieger abstürzte.
Da, ohne mein Kinderbett, ohne den Bruder im gleichen Zimmer, begann ich nachts zu wandeln. Ich erinnerte mich nicht mehr, wo ich war und erwachte mehrmals klein zusammengerollt und mit der Tischdecke zugedeckt auf meinem Kindertisch.
Ich hasste diese Wohnung und vermisste auch meine Spielgefährten von der Karl Staufferstrasse.
Die zwei Kinder im Erdgeschoss waren viel älter als ich und zudem wohnten sie in ihrem eigenen Haus. Sie hiessen Therese und Ruth Stettler, und das Haus gehörte ihren Eltern.
Wohl zum Trost erhielt ich eine grosse, schöne Puppe mit weichem Stoffkörper und bunten Kleidern. Ich liebte und pflegte sie bald gleich innig wie meinen Teddybär mit der roten Schleife.
Eigentlich war ich nie ohne Puppen, ich lebte mit ihnen wie mit lebendigen Geschöpfen. Ich hätte gerne ein Haustier gehabt, aber der Hausherr erlaubte es nicht – und meine Mutter war wohl auch nicht traurig deswegen. Es hätte ja ihren sehr peinlich sauberen Haushalt vielleicht aus dem Gleichgewicht gebracht….
Mein Bruder richtete auf einer Terrasse ein Vivarium ein und suchte im Tierpark eine Blindschleiche, die aber nicht sehr lang bei uns blieb. In seiner Mansarde, wo ich ihn immer gerne besuchte, hing eine ausgediente Glühbirne am Fenster, mit Wasser gefüllt, und stolz erklärte er mir, das sei sein Barometer. Bei schönem Wetter flossen die Tropfen schneller aus der kleinen Öffnung als bei schlechtem. Er kam mir sehr gescheit vor.
(2) Erstklässlerin.
Nun ging ich in die erste Klasse im Kirchenfeldschulhaus zu Frl. Aebersold, die ich sehr liebte. Sie schenkte uns nicht nur die Freude am Lesen und Schreiben, sondern turnte auch mit uns, wobei wir immer darauf warteten, dass sie sich bückte, weil dann ihre gestrickten, langen und wollenen, violetten Unterhosen zum Vorschein kamen. Diese Lehrerin und meine Eltern waren überzeugt, ich sei ein intelligentes Kind – ich glaubte es auch… Obschon ich nun in die Schule ging, erfüllte sich die Hoffnung nicht, meinen verhassten Pagenschnitt endlich loszuwerden und wie die anderen einen Scheitel und eine Haarspange zu tragen. Meine Mutter fand, es stehe mir so am besten und sie liebte ein hübsches Kind …
Das Klavierspiel, nun bei einer anderen Lehrerin, Frl. Yvonne Frei an der Thunstrasse, machte mir Freude. Bald hatte ich gemerkt, dass ich dem Geschirrabtrocknen in der Küche entgehen konnte, wenn ich behauptete, üben zu müssen.
An einem Frühsommermorgen umarmte meine Mutter meinen Bruder und mich und sprach pathetisch – aber so redete sie ja oft – und wir waren es gewohnt: „Kinder, eure Mutter muss heute unter das Messer!“ Das ging nun auch uns, an theatralische Szenen gewohnt, nahe, und ich war entsetzt, sah ich doch den Grund nicht, warum von meiner Mutter etwas abgeschnitten werden sollte. Mein Bruder, sich an meinem Schrecken erfreuend, zeigte stumm mit der Hand quer zum Hals, was mich in Verzweiflung stürzte. Mein Entsetzten liess etwas nach, als man mir erklärte, dass im Bauch der Mutter ein Gewächs den Platz für wichtige Organe verdränge, und dass meine Mutter nach der Operation äusserlich nicht verändert sein werde, was mich beruhigte, denn ich fand sie immer sehr schön, besonders wenn sie die langen Onyxohrgehänge trug.
Es erschien dann eine Haushälterin, ein in der Erinnerung wohl noch kleineres Wesen, als es wirklich war. Mit ihr verbindet sich für mich der Begriff „weich“, mollig und freundlich – und wenn sie mich am Abend in die Arme nahm, sie tat es immer vor dem Zubettgehen, war kein Druck zu spüren, nichts Forderndes, wie das jeweils bei einer Umarmung meiner Mutter über mich strömte – nur so eine wohlige Zärtlichkeit. Ihre Hände waren seidig fein, obschon sie alle Hausarbeiten ohne Handschuhe verrichtete, was ihrem Geheimrezept zu verdanken war, das sie mir dann doch verriet: Sie wusch die Hände mehrmals am Tag – ich tat das zwar auch – doch liess sie den Seifenschaum nach längerem Reiben und Massieren der Hände in die Haut einziehen, ohne ihn abzuwaschen.
Dass mein Bruder diese Vorteile nicht zu schätzen wusste, und der Mutter klagte, diese Sophie hätte jeden Tag nur Kartoffeln gekocht, konnte ich nicht verstehen. Als die Sophie einige Tage frei erhielt, quartierte man mich bei Bekannten an der Thunstrasse ein, bei einer Familie Haynard. Die Dame war sehr nett, wir wurden oft mit Mutter dort zum Tee eingeladen und ich durfte dann wählen, ob ich lieber Honig oder Konfitüre, Schokolade oder Tee, ob ein Stück Zucker oder zwei haben möchte … Fast wie im Märchen vom Schlaraffenland…
Nur, dass ich über Mittag schlafen sollte wie ein kleines Kind, gefiel mir gar nicht…, und an dem Tag, an dem ich auch noch mein erstes Schulzeugnis erhalten hatte mit lauter Einsen, riss ich aus. Aus dem Fenster des Hochparterres, ein Sprung in den Garten, sogar in den Finken, schien mir ungefährlich, und ich nahm den Weg zum Feldeggspital unter die Füsse. Dieses lag ganz am Ende der Stadt, der Bahnhofsplatz drohte riesig, und der Schanzenstutz schien endlos – und so ganz sicher war ich auch nicht mehr, in welcher Strasse das Spital stand … Inzwischen war mein Verschwinden bemerkt worden, der Vater in der Landestopografie unterrichtet, und Vorbereitungen für eine polizeiliche Suchaktion eingeleitet – da tauchte ich müde und verschwitzt, aber glücklich im Feldeggspital auf, der Mutter stolz das gute Zeugnis entgegenstreckend. Das brachte mir wieder eine sehr enge, durch die Angst noch etwas festere und publikumswirksamere Umarmung ein, sahen doch die Krankenschwestern mit Rührung zu, wie eine Mutter sich über ein wieder gefundenes Kind freut! Für die Rückkehr der Mutter wurden die Türen bekränzt und mein Bruder hatte ein grosses „Willkommen“ – Plakat gezeichnet.
Ich muss wohl ein vorwitziges Kind gewesen sein, denn ich erinnere mich an den Krankenbesuch bei der Hausmeisterstochter, die das Bein gebrochen hatte. Ich durfte ihr Blumen bringen, und ich übergab sie mit folgenden Worten: „Geduld bringt Rosen aber zuerst Knöpfe“.
Einmal, als wir im Garten spielten, und meine Mutter mir über die Terrassse hinunter rief, eine Bekannte von uns sei gestorben, erklärte ich, ich würde gerade ohnmächtig … ich fand es übrigens sehr unpassend, eine solche Meldung laut in den Garten zu rufen.
Ich fand nun noch oft etwas unpassend, was meine Mutter machte. Einmal gingen wir wieder, wie oft nach dem Einkaufen in der Stadt zum „Gfeller-Rindlisbacher“, einer Teewirtschaft mit guten Stückli. Da lag auf einem Sitz neben unserem Tisch ein Damenregenschirm, den Mutter dann seelenruhig in ihre Tasche steckte, auch als ich sie auf ihren Irrtum aufmerksam machte.
Mein Bruder ging nun in das Gymnasium und hatte einen sehr kurzen Schulweg. Es schien ihm aber nicht zu gefallen, denn oft gab es laute Gespräche zwischen ihm und Vater, wenn die Noten nicht den Erwartungen der Eltern entsprachen.
Ein Frühlingsabend leuchtete aus der Erinnerung auf: Ich hüpfte mit meinem Bruder hinüber zur Bäckerei „Rätz“ und fühlte mich glücklich – und traurig zugleich. Eine Amsel sang, wie wohl schon oft vorher; aber jetzt, gerade jetzt an dieser Strassenecke und mit meinem Bruder nahe bei mir, bemerkte ich zum ersten Mal den süssen Ton, die weiche Melodie. Dieses Gefühl empfand wohl 30 Jahre später mein ältester Sohn, der 6 Jahre alt war, als er beim Abendrot an meiner Hand über die Kirchenfeldbrücke wanderte und ausrief: „Oh Mami, mir isch, wie wenn i öppis wett, aber i weiss nid was!“ Weltschmerz, wie schön kann das sein, und wie glücklich Menschen, die ihn empfinden können….
Diese süsse, etwas ängstliche Wehmut empfand ich auch bewusst an einem warmen Sommerabend, als die Spielkameraden in den Häusern verschwunden waren und ich allein in der Dämmerung mit dem Springseil um die eben angezündete Strassenlaterne hüpfte und auf den Ruf der Mutter wartete, die mich nach Hause rief. Ich fühlte mich auf geheimnisvolle Weise verloren und wusste doch, dass ich schon bald zu Hause geborgen sein würde.
Ich war ein „Heimwehkind“. Das empfand ich besonders tief, als man mich nach gemeinsamen Familienferien in Spiez – wir hatten eine Ferienwohnung bei einer Familie Kräuchi gemietet – dort zurückliess. Ich wollte unbedingt das Kissen behalten, das meine Mutter im Bett gehabt hatte, weil es noch nach ihr roch, und ich so wohlig traurig dort hinein weinen konnte. Nach 2 Tagen habe man mich aber heimholen müssen...
Einmal hatte mir Mutter in jenen Ferien einen Koffer in die Hand gedrückt und erklärt, ich solle weggehen, sie habe mich nicht mehr lieb, weil ich ungehorsam gewesen sei. Entsetzt und verängstigt wanderte ich zu Frau Kräuchi und bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen. Sie erklärte mir dann aber, dass wenn meine Mutter mich nicht mehr wolle, sie mich auch nicht aufnehmen dürfe. Sie schaute aber doch in den Koffer, der leer war, worauf sie mich tröstete und sagte, der Mutter sei es sicher nicht ernst gewesen mit der Drohung, sonst hätte sie mir doch Kleider mitgegeben.
Auch in Grindelwald hatte ich Heimweh, wo ich bei Lehrer Studer bleiben sollte in den Winterferien. Gleich am ersten Abend fiel ich vor der Haustüre auf dem eisigen Boden um und schlug das Knie auf dem „Scharreisen“ etwas auf. Ich muss sehr geweint haben, und der alte Lehrer verblüffte mich mit seiner Menschenkenntnis als er sagte: „Das ist wohl mehr Heimweh als Schmerz“. Wie der mich sofort begriffen hatte!
Ein weiteres Erschrecken erlebte ich, als meine Mutter von einem „fremden“ Mann geküsst wurde. Sie hatte wieder, wie jedes Jahr, bei der Weihnachtsfeier des Männerchors mitgeholfen und erhielt am Ende der Vorstellung zum Dank eine Blumenvase mit Blumen von Herrn Locher, dem Präsidenten, überreicht. Dies vor dem Vorhang – und dann hinter dem Vorhang hatte er sie geküsst! Ich fand das abscheulich – sie wohl nicht! Die grosse Vase habe ich immer sehr ungern auf unserem Tisch gesehen. Und als die junge Katze sie umstürzte und sie zerbrach, war ich sehr glücklich und Mutter war wütend.
Bekamen wir Besuch, oft vom Grossvater aus Zürich, musste ich im Schlafzimmer meiner Eltern schlafen, und zwar im „Spalt“ zwischen beiden Betten. Wohl stopfte man Kissen in die Mitte zwischen den elterlichen Matratzen, aber es war doch ungemütlich, so im Niemandsland. Ich rutschte dann jeweils lieber auf Vaters Seite. Am Morgen setzte er mich auf seine hochgezogenen Knie, wie auf einen Berg, und ich liess mich dann plötzlich dazwischen plumpsen, das genoss ich sehr. Ich bewunderte und bestaunte meinen Vater auch, weil er am Morgen turnte, und zwar mit lustigen Geräten. Er hob ganz schwere Hanteln hoch und zog lange Gummischnüre, die an Handgriffen angemacht waren, auseinander. Das Ding hiess wohl „Expander“.
Über den Betten meiner Eltern hing ein Bild: „Des Hauses Sonnenschein“, ein Vater hebt ein zappelndes, lachendes Kind in die Höhe, und die Mutter strahlt beide an. So hätte ich es auch gerne gesehen…
Ich beneidete auch Pierette Bubois, die Tochter des Tanz- und Tennislehrers, weil sie mit ihrer Mutter oft innig verschlungen spazierte. Frau Dubois war leicht gehbehindert und Pierette schien sie zu stützen. Ich hätte es aber nicht gewagt, meine Mutter so um den Leib zu halten beim Spazieren. Ich wollte immer Zärtlichkeit, aber nie so, dass der andere mich zu sehr drückte, lieber distanziert.
Ganz ist die Zärtlichkeit, wie ich sie erwartete, erst in Erfüllung gegangen bei meinem Mann – keine Angst, Geborgenheit. Es brauchte Geduld und viel Liebe – aber so weit vorauseilen will ich nicht.
Meine Mutter strahlte eigentlich nie richtig, wenn, dann nur in Gesellschaft mit fremden Leuten. Sie konnte nach einem fröhlichen Besuch bei Freunden nach Hause kommen und plötzlich sehr wortkarg sein. Ich fand später den Ausspruch einer Nachbarin sehr treffend: „Sie ist wie ein Geldstück mit einer goldenen und einer rostigen Seite. Hie und da hat man das Glück, die goldene oben zu finden.“
Ein Weihnachtsfest blieb in besonderer Erinnerung:
Neben dem Weihnachtsbaum sass auf dem Lehnstuhl mein geliebter Teddybär – eingekleidet in grosse, graue „Pumphosen“, so sahen damals die Skihosen aus – und einer karierten Stoffjacke. Beide Stücke hatte meine Mutter genäht aus einem so genannten Überzieher, einem alten Wintermantel meines Vaters. Es war ein Skikleid für mich, und ich trug es stolz, auch in den Winterferien, die ich bei einer Krämersfrau im Grund bei Gstaad verbringen durfte. Mein Bruder wurde etwas weiter hinten im Tal bei einem Lehrer einquartiert. Gstaad war damals noch ein kaum bekannter Winterkurort, das Palace – Hotel wurde von allen bestaunt, ebenso die wenigen, mit Pelzen ausgefütterten Pferdeschlitten, in denen mondäne Damen und Herren vorbeifuhren.
Mutter hatte eine Freundin, die eine wunderbar helle Sopranstimme besass – und wenn sie lachte, begann sie mit ganz hellen, hohen Tönen, die dann gegen tiefere perlten, wie ein froher Gesang. Ich liebte es, sie lachen zu hören; sie lachte auch dann noch gerne, als sie schon schwer krank war. Man nannte es „Blutzersetzung“, und an ihrem Rücken entstand ein grosses, rotes Loch. Warum war ich wohl einmal beim Verbinden dabei? Sie starb zu Hause – und ihr Mann heiratete bald darauf die Pflegerin; ich fand das traurig.
An der gleichen Strasse wohnte ein zartes Kind, die Yvette, die Tochter eines Geometers. Plötzlich verschwand sie, man habe sie in eine Klosterschule in Frankreich zur Ausbildung geschickt. Sie durfte nur französisch sprechen. Ich fand es schrecklich, dass ein Kind von zu Hause weggehen musste, und als ein Jahr später Yvette starb, hasste ich ihre Eltern. Konnte man an Heimweh sterben? (Sie starb an einer Leukämie.)
In der Schule fand ich eine gute Freundin, Lilly Blanc. Sie spielte auch noch mit Puppen und hasste Schneeballschlachten ebenso wie wilde Spiele in der Pause.
*
(3)
(4)

(1)
Welche Wonne, nach dem Reihenhaus an der Schillingstrasse, in das freistehende Haus in einem Garten, im Winkel zwischen Landoltstrasse und Sandrainstrasse, zu ziehen. Wir wohnten nur zwei Jahre hier im ersten Stock und von der grossen Terrasse hatte man einerseits einen Blick auf den Gurten und auf der Nordseite auf die Stadt Bern. Aus dem Taubenhaus in einer Gartenecke tönte das heimelige Gurren; ich durfte die Tiere füttern, die Hausmeisterin, eine gemütliche, dicke alte Dame erlaubte mir auch die kleinen Taubeneier aus den Nestern zu nehmen.
(2) Sandrainstrasse.
Das Hausmeisterehepaar war in meinen Augen alt und ihre auch schon ältlich wirkende Tochter war dick und gutmütig. Sie schenkte mir ein fast leeres Parfumfläschchen und der Duft von „Quelques Fleurs „von Houbigands“ schien mir viel angenehmer als das langweilige „4711“, das meine Mutter benutzte, und von dem sie jeweils ein paar Tropfen in ein frisches Taschentuch gab – ja man hatte damals noch Stofftaschentücher und nicht die faserigen Tempo-Papiertücher, die keinen rechten Schnupfen mehr überstehen.
Mit diesem Umzug bin ich von dem „Wohnzimmerkind“ zur „Salondame“ geworden. Ein eigenes Zimmer hatte ich wieder nicht, denn wir hatten zwar nun eine grössere Wohnung, der Bruder konnte sich wieder in der grossen Mansarde gemütlich einrichten. Doch hatten wir nun ein Zimmer mit schönen Möbeln, ein Sofa, das zum Bett improvisiert wurde und das Klavier stand darin, mein Trost! Ich spielte nun sehr viel Klavier, denn ich konnte bei einer diplomierten Klavierlehrerin Stunden nehmen. Ich schien schnell Fortschritte gemacht zu haben. Die Lehrerin wohnte an der Thunstrasse, und nach der Schule am Montag ging ich direkt zu Fräulein Frey. Bei schönem Wetter brachte mir die Mutter ein Picknick, das wir dann zusammen im nahen Dählhölzliwald assen.
Auf der anderen Seite der Strasse, hinter einer hohen Mauer standen zwei grosse Ulmen und dahinter der Bauernhof. Wie gerne hüpfte ich jeweils nach der Schule hinüber zur gleichaltrigen Tochter, die gleich wie ich noch mit Puppen spielte. Wir machten Wanderungen bis an die Aare hinunter mit unseren Puppenwagen, und vor der Schule stellte ich die „Kinder“ in den Bettchen auf die Terrasse, wenn es schönes Wetter war. Oh, wie habe ich diese Wohnung geliebt!
Die Bäuerin war immer sehr ruhig. Sie gab mir in ihrem Gemüsegarten ein kleines Stück Land und liess mich Ringelblumen pflanzen. Noch heute, wenn ich diese Blumen rieche, kommt jene Zeit zurück.
Der Bauer machte mir jedoch Angst, er sprach fast nie, stellte das Radio sofort ab, wenn die brüllende Stimme begann. Er war es, der dem angriffslustigen Gockel den Kopf abschlug, und ich geriet in Panik, weil der Körper ohne Kopf weiter flatterte. Im Stall gab es ein neugeborenes Kälbchen, es war nass und blutig, die Kuh bekam Wein zu trinken. Die beiden Bauernkinder fanden das alles normal. Meine Mutter sah es nicht gerne, wenn ich dann etwas nach Stall roch. Auch da erlebte ich ganz neue Erfahrungen. Ich war gebannt, zu sehen, wo die Milch herkommt und war entsetzt, als ich zusah, wie der Muni die Kuh besprang. Die Bauernfreundin erklärte mir dann, dass es bei den Menschen auch so sei, dass die Frau abliege und der Mann sich auf sie lege und dann bekomme sie ein Kind. Das gab mir sehr zu denken, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass auch mein Bruder und ich auf diese Weise entstanden waren. ---
Das grosse Glück kam auch aus dem Bauernhaus, ich durfte eine kleine, junge, weisse Katze behalten, und sie durfte sogar auf meiner Bettdecke schlafen. Sie begleitete mich jeweils auf dem Schulweg bis zum „Marzili Brüggli“ und kehrte selber wieder um. Ich rannte von der Schule schnell wieder nach Hause, um sie zu füttern. Mit ihrem schneeweissen Fell, einem grünen und einem blauen Auge, war sie eine rechte Schönheit und wurde heiß geliebt. Leider dauerte diese wunderschöne Zeit nicht lange. Das Leid war gross, als sie unter ein Auto geriet und noch so jung starb. Sie wurde von meinem Bruder gleich begraben. Sie erhielt ein schönes Grab neben dem Bienenhaus beim Bauerngarten. Nun hatte ich schon zwei Stückchen Erde, die ich bepflanzen konnte. Nach ihrem Tod fand ich noch viele weisse Katzenhaare, die ich in einer kleinen Schachtel in der Tasche herumtrug.
Wie verschieden war doch das Leben auf der andern Seite der Strasse, dort wo der Bauernhof stand und das schöne alte Herrenhaus, bewohnt von einer Familie von Steiger und einem gütigen älteren Herrn mit einer weiten schwarzen Pelerine. Er wurde von uns jeweils etwas ängstlich begrüsst, zeigte uns aber hie und da schöne Blumenbilder. Ich erfuhr, dass er der Maler war, der ein Buch mit Blumenmärchen illustriert hatte und Herr Kreydorf hiess.
Im Obstgarten beim Bauernhaus wuchsen herrliche Äpfel, Birnen und Kirschen. Gab es zu Hause einmal eine Banane oder eine Orange, war das ein Erlebnis. Mein Vater hatte eine eigene Art, die Orange zu schälen. Mit dem Messer ritzte er die Schale so, dass er dann die Teile wie Blätter einer Blume herunterziehen konnte und die Frucht bewundert wurde, bevor man sie in Schnitze teilte und ass. Wenn der Vater zu Hause war, beschäftigte er sich viel mit uns. Er liess uns den Zirkel benützen, zeigte, wie aus übereinander gelegten Kreisen neue Muster entstanden.
Ich war ein lebhaftes Kind, das nie lange still sein konnte, ausser beim Klavierspielen. In der Schule machten wir im Turnen Gleichgewichtsübungen. Zu Hause erweiterte ich die Versuche, so stützte ich mich auf einem Taburett mit beiden Händen auf, streckte beide Beine über die Horizontale und schaukelte hin und her – leider dann nicht mehr im Gleichgewicht, sodass ich unsanft mit dem Gesicht nach vorne auf die Kante des grossen Gusseisenofens in der Küche prallte. Ein Knacken, ein Schmerz und mein erst recht ausgewachsener vorderer Schneidezahn war gebrochen. Wohin sofort zum Zahnarzt? Nun kam mir wieder das Haus meiner ersten Klavierlehrerin in Muri in Erinnerung, der Mann war ja Zahnarzt. Er war ein Sängerkollege meines Vaters, und er hatte in Muri seine Praxis. Oft machte ich dann die komplizierte Reise dorthin. Zuerst ins Kirchenfeld über die Marzilibrücke, hinauf zum Helvetiaplatz, wo das blaue Muribähnli zur Station „Egghölzli“ fuhr, dann der Marsch zum Haus des Zahnarztes und schlussendlich wieder zurück. Heute würde man den Zahn wieder einsetzen, damals wurde gleich auch die Wurzel entfernt und ein Kunstzahn an einer Spange an den hintersten Zähnen befestigt. Es sah grässlich aus, war unbequem und störte mich beim Sprechen. Ich gewöhnte mir an, nur noch mit der Hand vor dem Mund zu lachen. Wie schrecklich war es, als mich meine Mutter deswegen vor allen Leuten auslachte und verspottete. Die Mutter wurde mir jetzt oft fremd. Sie begann auch, mich vor Bekannten eingebildet und hochnäsig zu nennen, ja sie nannte mich sogar Totsch vor meiner besten Freundin.
Später erhielt ich dann eine Art Stiftzahn, der aber nie richtig an seinem Ort blieb und der ihn oft im ungemütlichsten Moment verliess, was viel Ärger bereitete, blieb er doch etwa im Pausenbrot stecken oder einmal bei einer Schneeballschlacht auf dem Pausenplatz suchte er das Weite – was dann zum friedlichen Suchen beider Parteien führte, sozusagen als „Friedensstifter“!
Ein zweiter Unfall war viel gefährlicher. Bei einer Schulfreundin übten wir auf einer Teppichklopfstange direkt neben einem rostigen Zaun mit spitzen Eisenenden den Umschlag. Mit Schuss drehten wir uns in den Kniekehlen – da rammte ich das linke Bein in eine Zaunspitze, vom Einstich in der Wade bis neben dem Kniegelenk blieb ich im wahrsten Sinne des Wortes aufgespiesst. Die Freundin rannte schreiend davon, und ich zog das Bein selber wieder heraus. Blutend schleppte ich mich zur Wohnung der Freundin. Man liess den Familiendoktor kommen, der mir mit einem von Jod getränkten Wattestab den ganzen Wundkanal ausputzte. Dieser Schmerz war so heftig, dass ich ohnmächtig wurde. - Man brachte mich nach Hause, spritzte Tetanusserum, und ich musste still halten, aber dann schlief ich vor Erschöpfung ein. Mein Bein schwoll in den nächsten Tagen stark an. Zum Verbandwechsel erschien jeden Tag die Hebamme von Wabern. Eine Infektion wurde dadurch vermieden. Meine Schulfreundinnen erfanden dazu die Geschichte: „Verunglückte Prinzessin, die nur verletzt wurde“, besuchten mich mit Blumen und Schokolade sowie brachten mir ein Poesiealbum mit herrlichen Sprüchen wie: „Schmerzt Dich das harte Wort: Du musst! So macht nur eins dich still, das schöne Wort: Ich will“. Oder: Kurz und gut, mein Wunsch ist klein, Lilly soll recht glücklich sein.“
Bald rutschte ich dann auf dem Hinterteil in der Wohnung herum, die Hausaufgaben wurden mir gebracht. Vom Unfall blieb kein Schaden, man sieht nur noch heute, nach mehr als 70 Jahren, zwei Narben, eine am linken Unterschenkel, die andere neben dem linken Kniegelenk. - Trost konnte mir die Katze nun ja leider auch nicht mehr spenden.
*
In Erinnerung bleiben die Reden eines brüllenden Mannes aus dem Radio, den wir damals kauften. Hitler hielt seine Ansprachen, was uns Kinder zum Lachen reizte und was wir später zu fürchten begannen als unsere Freunde, die jüdische Familie Arnholz, in Panik gerieten. Der Mann war Direktor des Mode- und Stoffgeschäftes „Stoffhalle“. Sie waren entsetzt, als sie hörten, dass ich gerne die Reden eines brüllenden Mannes am Radio bei den Hausmeisterleuten hörte. Später sprachen auch meine Eltern über diesen gewissen Herrn Hitler, der ein gefährlicher Mensch sei und der die Juden aus Deutschland vertreiben wolle, sie verhafte und sogar umbringe. Ich konnte das nicht begreifen, waren doch unsere Freunde die Familie Arnholz auch Juden. Ihre Angst wurde mir aber bewusst, als sie meinen erst 19 jährigen Bruder baten, ihre einzige Tochter zu heiraten und ihm eine grosse Geldsumme boten. Er konnte das aber nicht annehmen – und Daysi heiratete dann einen andern Schweizer, war aber so unglücklich, dass sie sich das Leben nahm.
*
Ach, ich fand mich immer hässlicher mit der Spange im Mund, an der der „verlorene“ Zahn die grosse Schaufel vorn angemacht war und die an den Stockzähnen festhielt.
Ich wuchs auch schnell, wurde dünn und formlos und beneidete meine Kameradinnen mit fraulichen Rundungen.
Das „Bettenmachen“ war damals eine zeitraubende Angelegenheit: Duvet, Kissen, Wolldecke, Oberleintuch, Unterleintuch Molton raus, alles zum Auslüften auf dem Fenstersims ausgebreitet, die Rosshaarmatratze gewendet, damit sie gleichmässig belastet wurde. Diese musste auch von Zeit zu Zeit zum Sattler gebracht werden, damit er die Matratze öffnete, den Inhalt auseinander zupfte und durchlüftete und wieder zunähte. Wieviel einfacher ist es heute mit den Schwedenduvets und den angenehmeren und praktischeren Matratzen. Es lebe das „ Nordische Schlafen“ heute.
Auch ein besonderes Erlebnis war die grosse Wäsche!
Heute ist es diesbezüglich auch einfacher als damals. Am Vorabend erschien jeweils eine dicke Frau und weichte die Wäsche getrennt in Koch- und Buntwäsche in einem grossen Zuber in einer „Lauge“ ein. Am nächsten Tag erschien sie wieder sehr früh, heizte den grossen Kessel ein und bald verschwand alles im Dampf. Mit einer grossen Holzkelle wurden die Wäschestücke aus der Lauge in das kochende Wasser gezügelt. Auf dem Waschbrett wurde sie gerieben und geschlagen. Die hitzebeständige Wäsche wurde auch noch im grossen Kessel gekocht, mit der Kelle in ein Gefäss mit klarem Wasser gegeben und durchgespült und schlussendlich in die Auswinde gegeben. Zum Znüni gab es Wurst und Brot.
Immer noch machten wir fast jeden Sonntag einen Familienausflug. Oft ein Stück mit der Bahn, nach Vechigen und dann zu Fuss zum Bauernhof der Familie Studer oder wir spazierten auf den Gurten oder nach Muri der Aare entlang.
In diesem Haus musste ich mich entscheiden, ob ich die Sekundarschule oder das Progymnasium besuchen wollte. Es gab nun heftige Diskussionen mit den Eltern und dem Bruder, der sich weigerte, eine Wiederholdung der Tertia im Gymnasium zu machen. Er ging dann in die Lehrwerkstätte, um eine Lehre als Mechaniker zu machen. Nach ein paar Monaten wollte er dann aber zurück ins Gymnasium, was der Vater aber nicht erlaubte. Nach Abschluss der Lehre besuchte er das Technikum in Burgdorf. Zum Trost durfte er das Segelfliegen lernen. Oft am Sonntag spazierten wir zum Belpmoos und bewunderten seine ersten „Hüpfversuche“. Das Segelflugzeug wurde von einem aufgebockten Auto aus hochgezogen und flog dann einige Meter weit, landete nicht allzuweit vom Start. Ich bewunderte den Mut meines Bruders! Fliegen blieb seine Leidenschaft – bis zu seinem Absturz 1941 als Militärpilot.
Wohl weil ein Studium für meinen Bruder nun nicht mehr aktuell war, fanden meine Eltern, ein Mädchen sollte sowieso lieber einen „praktischen“ Weg wählen und die Sekundarschule besuchen. Ich hatte ja auch immer mehr Zeit mit Klavierspielen zugebracht und machte am Konservatorium Fortschritte, spielte bei Matinéeaufführungen im Theater, an der Jubiläumsfeier der Landestopographie im Bellevue, begleitete Sänger etc. Also ging ich tapfer in die Mädchensekundarschule im Monbijou und fühlte mich eigentlich wohl.
Dann aber häuften sich wieder ungute Dinge. Mein Bruder verletzte sich schwer mit einer Bohrmaschine, die ihm die linke Hand durchbohrte und mein Vater hatte in den Bergen einen Unfall mit den Folgen eines Leberrisses, darauf folgte ein Spitalaufenthalt in Disentis.
In der Schule wurde es mir oft langweilig und die Klassenlehrerin sprach mit meinen Eltern, sie sollten mir doch ein Studium ermöglichen. Nicht mit grosser Begeisterung erklärten sie sich einverstanden, mich im Progymnasium anzumelden. Es blieb nicht viel Zeit, um mich auf diesen Tag vorzubereiten, und so war ich dann in der Mathematik so miserabel, dass der Rektor mich kommen liess und mir den Vorschlag machte, ein Jahr zu repetieren. Es hat sich gelohnt, es machte mir Freude, in diese Schule zu gehen. Bald spielte ich auch hier wieder Klavier an Schlussfeiern, begleitete den schon damals vielversprechenden Geiger Hans Heinz Schneeberger und erreichte sogar in Mathematik gute Noten bei dem alten, lieben Mathe-Lehrer. In dieser Zeit machte ich auch mit bei den Pfadfinderinnen.
Die Stimmung meiner Mutter wechselte oft sehr schnell. So erklärte sie am 24. Dezember, es gebe dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum, weil mein Bruder und ich nicht folgsam gewesen seien. Welche Enttäuschung! Da spazierte mein Vater mit uns zu einer Gärtnerei, wir fanden dort einen kleinen, schön gewachsenen Baum. Zu Hause schmückten wir ihn mit roten Kerzen und Äpfeln – Weihnachtsschmuck fanden wir keinen – Mutter setzte sich dann doch zu uns und wir sangen Weihnachtslieder.
Schon nach zwei Jahren zogen wir wieder um. Was wird das Leben an der Tillierstrasse bringen? Ich werde ja dort leben bis zu meiner Verheiratung, 18 Jahre später. Und freute ich mich, das Haus am Sandrain zu verlassen? Niemand fragte mich, ein Kind hat ja ungefragt dahin zu ziehen, wo die Eltern hin möchten. Halb war ich traurig, halb freute ich mich. Wir kehrten wieder heim ins „Kirchenfeld“. Da begann eine ganz prägende Zeit meiner Jugend. In diesem Haus wurde ich erwachsen. Progymnasium, Konservatorium, Gymnasium. Tod meines Bruders. Kriegszeit. Verdunkelung Landdienst. Erste Liebe, Freundschaften, Hausbälle, Pfadfinderzeit, Wölfliführerin, Matura und wieder ein neuer Lebensabschnitt: das Medizinstudium.
(3)

Es war wie eine Heimkehr, wieder im Kirchenfeld zu wohnen; nach dem „Abstecher“ zwei Jahre Karl Staufferstr. - Schillingstr. - Sandrain – nun in einem Reihen-Eckhaus an der Tillierstrasse. Ein Haus mit ringsum drei Terrassen, eine langgestreckt gegen Süden mit einer lauschigen Ecke und einem Nektarinenstrauch, eine kleine „Spielzeugterrasse“ gross genug für den Puppenwagen und dann die wohnliche, mit Reben bewachsene gegen die Strasse. Man sah von da zur Bushaltestelle und sah die Besuche von weitem kommen.
Die Wohnung hatte nun vier Zimmer und eine Mansarde, doch wohnte ich immer noch als Allgemeingut in der Wohnstube. Mein Bruder hatte die Ausbildung an der Lehrwerkstatt beendet, wohnte während der Woche in einem Zimmer in Burgdorf, hatte aber auch jetzt noch sein eigenes Zimmer zu Hause. Hatte ich mich eigentlich nie gefragt, warum ich nie ein eigenes Zimmer, einen eigenen Schreibtisch, eine eigene Kommode besass? Aber ich hatte ja wieder das Klavier neben dem Bett – und ein Büchergestell über dem Bett mit einer Serie blau gebundener Werke verschiedener Schriftsteller. Niemand fragte, ob die Literatur für mich geeignet sei, ich erinnere mich an „Quo vadis?“ und „die sexuelle Frage“ von A. Forel.
Nun, meine Sekundarschulzeit war zu Ende, ich durfte nun ins Progymnasium, da mein Bruder das Technikum in Burgdorf besuchte. Der Übertritt von der reinen Mädchenschule zu dem gemischten „Proger“ war ein Erlebnis. In dieser Zeit spielte ich viel Klavier, durfte im Konservatorium Stunden nehmen, begleitete einen Sänger an einer Feier der L T, wo mein Vater arbeitete, spielte bei den Berner Singbuben und begleitete H.H. Schneeberger in der Französischen Kirche. Ich war so eine Art „Wunderkind“, hatte selber aber nie das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ein Foto von mir war beim Musikhaus Kronenplatz ausgestellt, und die Mitschüler gingen es lachend betrachten.
Das Verhältnis zu meiner Mutter begann schwierig zu werden. Ich liebte sie zwar sehr, hätte sie gerne oft umarmt, aber nicht so demonstrativ und hart. Ja, und da hatte ich auch meine erste Liebe, den Heinz, ein schüchterner, blonder Knabe der Parallelklasse. Lange hütete ich das „Geheimnis“ - er wartete jeweils in der Pause, bis ich vom Klassenzimmer herauskam, er besuchte mich beim Los-Verkauf und fragte, ob ich viel verkauft habe, er begleitete mich zum Schwimmen in der Ka-We-De und sass vor mir im Singunterricht. Von diesem Gefühl konnte ich im Tagebuch schreiben, das mir mein Bruder zu Weihnachten geschenkt hatte.
Ausschnitte aus dem Tagebuch:
„Ich komme mir so komisch vor, weil ich immer an Heinz denke. Warum nur? Ich habe dieses Gefühl noch nie gekannt. Vielleicht werde ich es nächstens einmal sagen, wie es steht. Helfen kann es ja zwar auch nicht. Nun fange ich an müde zu werden. Es ist Zeit, dass ich schlafe!“
Das Verhältnis meines Bruders zu unserer Mutter war ungewöhnlich tief. Ich erinnere mich an Sommerferien in Schuls, wo Gusti zwischen Rekruten- und U.Off.-Schule als Messgehilfe bei unserem Vater arbeiten konnte. Ein Gespräch zwischen Mutter und Vater blieb mir geheimnisvoll in Erinnerung. Mein Bruder soll mit der Tochter der Ferienwohnungsvermieter ein „Verhältnis“ gehabt haben, d.h. er habe mit ihr im Zelt geschlafen. - Ich sah darin nichts Schreckliches, Mutter und Vater waren aber „entsetzt“!!
Siehe Brief v. 6.6.1937, ebenfalls v.11.7.37, weitere Briefe bis 17.10.1937.
In der dritten Klasse wechselte ich wieder den Klavierlehrer. Ich durfte nun zu Herrn Willy Girsberger am Konservatorium. Vortragsübungen liebte ich. Man lobte mein Spiel, und ich übte mit Freude. Bald liess sich Vater lieber von mir begleiten als von Mutter. Jetzt begleitete ich an Familienabenden des Berner Männerchors auch Gesangssolisten, und bei einem Konzert der Berner Singbuben in der Franziskus Kirche spielte ich eine Mozart Sonate.
Die Tagebücher wurden in dieser Wohnung geschrieben. Siehe Kapitel 3-3.3.
*
(1)
(2)

(1)
Dübendorf, 17. 3. 1937 (1)
Meine Lieben,
Vaters Brief habe ich gestern mit Freude erhalten. Getrübt wurde diese Freude aber von der Nachricht vom Tod von Herrn Rudin. Sehr tragisch ist ferner noch, dass die Beerdigung ausgerechnet auf den 15. Geburtstag von Hanny fällt.
Doch nun etwas anderes. Über die Prüfungsergebnisse bin ich gerade gar nicht erstaunt. Die Hauptsache ist mir, dass ich bestanden habe. Nur die Noten der Theorie will ich noch gerne wissen. Doch damit LÄDERE basta! Den Gips werde ich mir so bald als möglich holen.
Mein ganz grosses Ideal ist und wird das Militär bleiben.
Exerzieren und technischer Dienst wechseln so schön ab, dass die Tage nur so fliegen, ja, einfach schön, und der Gusti lernt in diversen Lagen die Zähne zusammen zu beissen und durchzuhalten. Und das ist es, was mir so gefällt. War jetzt zwei Tage mit meiner Gruppe allein, da unser Korpis wegen Befehlsverweigerung drei Tage „Scharfen“ eingefahren hat. Doch ging es auch ohne ihn prima. Meine diversen „Krankheiten“ sind langsam am Verduften - und eben ist Rapport.
Dem Müeti ein Müntschi und sonst allen guet Nacht.
Gusti
*
Dübendorf, 17.3.1937 (2)
Soeben eine halbe Stunde „Pfusen“.
Bin bei Kp.3,1.Zug. Kommandant Imhof. Wurde beim technischen Dienst Corp- Stellvertreter. Bis jetzt alles im Butter. Dienst schön. - Viel Blödsinn, z.B. „Corp. FI-R. Staub muess ga schiffe -
Bitte Hemden Socken und Handtücher (aber plötzlich).
Gusti
(2) Vor dem "Pfusen" in einer späteren Zeit.
*
Dübendorf, 17.3.1937 (3)
Meine Lieben,
Eben habe ich Zeit, Euch einige Worte zu schreiben. Also, bis jetzt ist alles in schönster Butter. Ich bin in Kp.3., Zug 1, Gruppe 1. Nebenbei von der ganzen Kp. der 2. Grösste. Oberleutnant Imhof ist Kp.Kommandant. Schon in Zürich fragte er nach Rekrut Staub. Und bis jetzt fragte er mich bereits zweimal, wie es mir gehe. Na, danke bis jetzt prima. Im techn. Dienst bei Kp Matter – einem Berner Segelflieger bin ich Kp.Stellvertreter. Unsere Devise der 6 Berner lautet: „Es isch ja ne Sport wie jede andere.“
So, heute hatten wir Ausgang bis 21.30, aber schon um 20.30 stecken wir in unserem Schlag und verziehen uns schon bald ins Nest. Zuerst Planken – „Du Aetti: jä so --“. Also wie gesagt, der Dienst ist interessant.
Bitte Nastücher, Hemden und Socken, sowie noch ein Paar Hosenträger, aber möglichst plötzlich! Für Handtücher wäre ich auch noch dankbar.
Empfangt nun noch die herzlichsten Grüße und fürs Mueti ein Müntschi von Eurem
Fliegerrekrut Gusti
Adresse: Fl.Rekr.Staub Gusti Fl.R.S. 1/37 Dübendorf
Komp. 3,1.Zug
*
Dübendorf, 21.3.1937 (4)
Meine Lieben,
Eben haben wir ein bäumiges Mittagessen inhaliert und haben jetzt wieder einmal ein bisschen Zeit. Ja goppel auch mit Ruhezeit stets mies, immer angespannt von morgens 05.30-22.00.
Heute morgen Duschen und Impfen. Mich haben sie noch einmal drangenommen.
Doch hantli habe ich den Dreck wieder ausgedrückt und abgeputzt. Diesen Morgen Lebenslauf schreiben. Für Reverenz über Vater habe ich Herrn Zoelli L R angegeben. Gestern Abend war ich schnell bei Trudel, traf aber nur seine Frau. Bin jetzt nach Ostern bei ihnen eingeladen. Zigaretten rauchte ich letzte Woche kein ganzes Päckli, keine Zeit---
Aber alle Abende stecken wir Berner in der Soldatenstube bei Most und Güetzi.
Bis jetzt habe ich für andere Zwecke noch kein Geld gebraucht, ausser noch für diverse militärische Artikel.
Morgen fasse ich neue Marschschuhe, die alten haben mich über dem Rist zu stark gedrückt. Also, wie gesagt, mir gefällt der Dienst, wenn schon bis jetzt drei Tage lang Schnee und Regen fällt, also richtig gehend Sauwetter. Das will aber nichts heissen, denn im Kaput und Helm ist man gäbig am Schärme. Nur putzen, nicht pützelen am Abend, dass es eine Freude ist. Mir kann es gleich sein, es ist ein Sport wie jeder andere auch. Mutters 2 Säckli und Hosenträger habe ich erhalten, jedoch ein bisschen enttäuscht war ich, als ich darin ausser dem Verlangten weder einen anständigen Brief, noch Zigaretten oder eine Schokolade fand. Also bitte denkt daran, dass ich in unserer Gruppe der einzige bin, der bis jetzt keinen Bissen von zu Hause bekam.
Mit meinen Korporalen komme ich bis jetzt ganz gut aus. Während dem Dienst sind sie saustreng, nebenbei aber alles Gemütsathleten und heute glücklicherweise alle heiser. Ich spüre im Hals nicht das geringste, trotz stetem Brüllen. Denn d a s kann ich. In 10 Minuten beginnt der Krieg mit den Planken wieder und diese Woche Zimmertour. - Wischen, was ein grosser Seich ist und ich besonders gern tue.
Und nun denn, Mueti, ein Müntschi und dem Rest herzliche Grüße
vom Gusti.
(3)
*
Dübendorf, 9.4.1937 (5), Montag 12.35 Uhr
Meine Lieben,
Mittagsruhe. Heute das erste Mal nicht genug zu essen. Also ab in die Pinte und noch Rösti und Kaffee. Nun bin ich restlos pleite, habe kein Geld mehr. Nächsten Sonntag schon um 09.00 Abtreten und den ganzen Tag Ausgang. Werde wieder nach Zürich gehen. Von Mix und Dres Dübi erhielt ich einen langen Brief aus Adelboden. Es soll schön sein auf den Skis, aber hetzen können sie mich nicht, denn mir gefällt der „Krieg“. Wenn nur mein linker Fuss ein bisschen besser mitmachen würde. Am Morgen beim Antreten Laufschritt in den Marschschuhen, ca. 2 km. Nach 30 Minuten Arbeit wieder der alte Schmerz, aber umbiegen können sie mich nicht.
Ausgang haben am Abend nur die, die den ganzen Tag mit Willen und Schneid ihr Tagewerk zu Ende brachten. Die „Faulen“ dürfen noch speziell exerzieren. Ich hatte noch jedes Mal Ausgang. Soeben Ruhe vorbei, doch ich habe meine Schuhe schon angezogen, mir pressiert es nicht so wie dem Korpis.
Heute Arbeit und Schlauch bis zum Verrecken, abends noch Ausmarsch auf den Wangenberg.
Gusti
*
Samstagabend 16.30 Uhr (ohne Datum) (6)
Meine Lieben,
Heute hat es mich überschlagen. Bei der Inspektion durch Magron ging noch alles gut. Nachher beim Turnen wurde mir trümmlig. Kp. Spörnli (der meinige, ein saunetter Kerl) merkte es, und ich durfte austreten und abliegen. Da habe ich mich so geschämt, dass ich den Kopf ins Gras drückte und weinte. Oblt. Imhof nahm mir dann die Hand wie ein Vater und meinte, das könne jedem passieren. Überhaupt ist er nett zu mir. Bis jetzt ist meine Qualifikation sehr gut und ich glaube, dass dieser Schwächeanfall nichts zu sagen hat. Habe überhaupt Halsweh und Schnupfen wie toll. Sehe kaum zu den Augen hinaus. Der Arzt behauptet zwar das Gegenteil, doch hören U.O. und Off. nicht viel auf ihn, fertiger Dubel ---.
Empfanget nun die besten Grüße von Gusti.
*
Dübendorf (7)
Meine Lieben,
Habe soeben das Wäschsäckli erhalten und danke noch für den langen Brief von Mueti. Mir geht`s wieder richtig gut, dafür hat es heute wieder einen anderen Berner überhauen. Nächsten Samstag ist Urlaub, und ich werde natürlich meine schönen Patten in Bern spazieren führen. Jetzt freue ich mich recht auf den „Grossen“. Die letzte und diese Woche waren so verreckt streng, dass es mir manchmal richtig stank, und ich in Versuchung kam, die ganze Eidgenossenschaft solle mir am „A“ läcken…
Von Eurem lieben Kartengruss wurde ich zuerst ein wenig falsch, besonders über die Glückwunschkarte.
Von Ernst Wüthrich habe ich ein grosses Paket mit Fresswaren erhalten, und den Bericht, dass Schär in Bern in verschiedenen Kreisen mächtig an Punkten verloren habe.
Zu Lillys Erfolg möchte ich gratulieren, doch soll sie sich nun nur nicht zu stark fühlen! (Es handelte sich um das Klavierspielen am Berner Männerchor Familienabend.)
An Wäsche habe ich nun genug, und nun will ich noch 15 Min. pfusen und schliesse meinen Bericht mit den herzlichsten Grüssen an alle.
P.S. Oblt. Imhof liess mich bis jetzt noch nicht fliegen. Ich glaube, er will mir einen prächtigen Überlandflug reservieren, und zwar mit ihm. Er ist schwer nett mit mir, nur als Kommandant im Morgenturnen ein Ekel (Laufschritt wie verrückt).
*
Dübendorf, 18.4.1937 (8)
Meine Lieben,
Heute Sonntagnachmittag mit Kameraden in Züri am Sechseläuten. War ganz gemütlich. Dito der Tanz in der Sihlporte. Doch schon um 20.00 war ich wieder in der Kaserne. Heute Abend, d.h. Nacht, kriegt unser Ekel der Gruppe Schär, auf den Ranzen mit den Centurond mit Bewilligung des Korporals. - Mir gefällt der Dienst und schön ist es. Gestern hatten wir von 07.30 bis 13.00 Uhr bei strömendem Regen Zeltbau.
Für Muetis Dessert bin ich sehr dankbar, es war fein. Von Fam. Rätz erhielt ich ein ganz grosses Fresspäckli. Ich werde noch schriftlich danken, doch vorerst durch Mueti mündlich. Für Nastücher wäre ich dankbar. Nächste Woche beginnt die Schildwache.
PS. Für das Geld von allen meinen besten Dank. Jetzt guet Nacht und herzl. Gruß
Gusti
*
Dübendorf, 22.4.1937 (9)
Meine Lieben,
Mittagspause, die ich dazu benütze, Euch rasch, rasch etwas zu prichten. Stehe jetzt vor zwei harten Stunden, in denen ich mich bis zum Äussersten anstrengen werde. Erste Siebung der Off.Aspiranten. Alle Aspiranten müssen vor Oberstleutn. Magron und dem ganzen Rösslispiel ihre militärischen Kenntnisse auspacken und diverse Liegen und Gewehr-Griffe klopfen. Doch es wird wohl gehen, denn übermorgen ist ja Samstag, an dem ich aber erst gegen Abend in Bern ankommen werde, da Abtreten am Mittag und Verbindung in Zürich erst 15.36.
22.4. abends 21.50
M.L.Türgg vorbei. Musste vor dem Oberst den Gewehrverschluss demontieren. Das erste Mal in der R.S. verreckte mir die Montage. Doch meine Achtungsstellung hat ihm eingeleuchtet. Zum Schluss meinte er, ich sei also weiter vorgesehen, meine Einberufung in die UO zu erhalten. Zum Schluss musste ich die ganze Bande in Marschkolonne sammeln, abmelden und ins Kanti führen. Juhee! Der Dienst ist schön. Morgen wird‘s bös: Frühturnen und Zeltbau bis 22 Uhr.
*
Dübendorf, 26.4.1937 (10) abends 21.55
Meine Lieben,
Schon hocke ich wieder in meinem Nest daheim auf dem Flugplatz Dübendorf. Die meisten Kameraden haben Heimweh nach dem Schatz, was mir Gott sei Dank abgeht. Und morgen wird wieder mutig und mit Speuz und Freude losgetürggt.
Eben machte Oblt. Imhof Rapport. Richtete ihm einen Gruß von Vater aus. Er dankte dafür und lässt Vater ebenso grüssen. Habe mir noch ein Nachtessen inhaliert.
Herzliche Grüße
Gusti
*
Dübendorf, 28.4.1937 (11)
Meine Lieben,
Schon wieder zwei Tage, die verflucht streng waren, vorbei. Gestern war es saumässig. Am Morgen Turnen wie wild, am Nachmittag Exerzier-Schlauch, wie der Teufel. Manchmal trappten wir bald auf die Lunge. Der ganze Türgg fand noch im Kaputt statt. Heute gings wieder besser. Sogar mein Husten hat sich verzogen dank Muetis Tabletten. Morgen früh beginnt das Wettschiessen für das Schützenabzeichen. Hoffentlich!!!!! Allerdings sind die Anforderungen hoch, sauhoch sogar. In die Verlegung geht es also nach St. Gallen, d.h. in die Nähe davon.
Und nun guet Nacht, herzliche Grüße
Euer Gusti
*
Dübendorf, 30. April 1937 (12)
Meine Lieben,
Heute morgen machte ich mit Imhof einen ganz bäumigen Flug von 35 Minuten über Rapperswil das Lindtthal „z‘düruff, den Bergen zu und zurück nach Zürich, Züriberg, Zoo bis hier. Mir gab es wieder neuen Mut, weiter zu türggen, um selbst einmal am Steuer einer solchen Maschine zu sitzen und in der Luft herum zu gondeln.
Muetis Geburtstag habe ich trotzdem nicht vergessen und wünsche ihm fürs neue Jahr gute Gesundheit und viele frohe „glückliche“ Stunden.
Gestern Nacht, d.h. „nächti“ hat Schär nun seine Tracht Prügel eingefahren. Dazu wurde ihm sein Nest auf den Grind gestellt, und die Planke hinunter gerissen. Auch schön. Dito Fl.Rk. Waldhard ging es so.
Morgen haben wir den ganzen Tag Zeltbau und abends sehr wahrscheinlich Alarm.
Am Sonntag gehe ich nach Züri, vielleicht zu Farners.
Gestern mussten wir noch ein Nachtessen kaufen, d.h. es gab nicht genug bei der
Pension „Minger“.
Und nun allen recht schönen Sonntag und empfanget die herzlichsten Grüße vom Gusti
P.S. Schreibe im Nest liegend daher das Gekafel!
*
Dübendorf, 1. Mai 1937 (13)
Meine Lieben,
Socken, Unterhosen und Abtrocktücher muss ich plötzlich haben. Im Übrigen ist alles in Ordnung. Am Montag Nacht beginnt der Wachtdienst vor den Zelten. Heute gab es „Aff“ Gewehr und Ausgangstenue-Inspektion. Volle 7 Minuten stand die 3. Kp., d.h. wir in Achtungsstellung vor den Obersten. Auch schön.
Muetis liebes Sonntagspäckli habe ich mit grosser Freude erhalten.
Am Dienstag geht ein Detachement mit den besten der KP per Camion nach dem neuen Stausee, dem Sihlwerk. Ich bin auch dabei.
*
Dienstag, 2. Mai 1937 (13a)
Mit dem Helm im Arm habe ich ca. 2 Stunden geschlafen. Heute Dienstag um 04.00 Tagwacht. Und Abfahrt zwei Stunden lang per Camion nach Einsiedeln am Sihlsee. Brandbomben-Abwürfe und Häusersprengungen. War ganz gerissen, nur hat es den ganzen Tag geseicht, was es herunter mochte und gefroren haben wir wie die Schneider.
Nun geht es bald in die Verlegung. Nächsten Sonntag per Auto in die Nähe von St. Gallen, nach WINKELN. 8 Tage später nach Altenrhein und dann geht‘s noch eine Woche und in 8 Wochen hoffe ich, Korporal zu sein!
Auf Deine liebe Frage, ob ich Geld brauche, kann ich Dir die erfreuliche Nachricht machen, dass ich vorläufig keines brauche. Unsere Sonntagsausgänge sind ziemlich zu Ende, und während der Woche sind auch die Ausgänge am Abend zurückgeschraubt.
Weisst Du, Mueti, so auf der Wache, während der Patrouille auf dem sicheren Flugplatz liegt in jedem Gang eine ganze Welt von Zwecklosigkeit. Dann kommen ganz automatisch Gedanken über tiefe Dinge und man hat Zeit, in aller Ruhe sich mit sich selber und mit seinen Fehlern abzugeben. Ich habe mir jedenfalls auf dieser Wache vieles vorgenommen.
Von Chur erhielt ich von Greta Conzett einen Korb für den Pfaderabend. Der Korb war begleitet von 2 Salsitz. Na schade, aber ich gehe doch am 29. Mai an den Abend.
Nun wünsche ich Dir gute Besserung von Deinem Husten.
Erhalte ein herzliches Müntschi vom Gusti --- Gruß an alle.
*
Dübendorf, den 4.5.1937, abends 21.15 (14)
Mein liebes Mueti,
So, nun will ich Dir wieder einmal erzählen, wie es uns so geht. Am Sonntag war ich bei Familie Farner in Züri und fand Herr und Frau als ganz liebe Leutchen. Nach dem Mittagessen, das ich natürlich bei ihnen ass (Spargeln), setzte man mich in einen Fauteuil, liess mich 5 Min. allein, und schon war Gusti in den Jagdgründen, d.h. er schlief wie ein Stock den ganzen Nachmittag bis abends 18.00!!
*
Bemerkungen von Lilly:(15)
Zweisimmen, 26.4.2011, finde ich in meinem Tagebuch einen Eintrag, dem ich entnehme, dass mein Bruder offenbar mit der Tochter des Vermieters der Ferienwohnung ein Verhältnis hatte. Meine Mutter machte eine Szene, weil Gusti mit der Meni im Zelt geschlafen hatte. Mein Bruder war zwischen der R.S. und der Unteroff.Schule als Messgehilfe meines Vaters tätig, der in diesem Sommer von Schuls aus als Geometer arbeitete. Der Brief meines Bruders vom 6.6.37 nimmt Bezug zu dem Vorfall.
*
Schuls, den 6.6.1937, abends 20.00 (16)
Liebes Mueti,
Nach schöner Reise bin ich also am Donnerstag hier angelangt. Am Mittwoch noch Regen bis Chur. Also blieb ich dort bei Conzetts. Am Abend pilgerte ich zu Hausers (Götti und Gotte von Lilly).
Donnerstagmorgen um 06.00 Uhr war Tagwacht, da Maiensäss-Aufzug der Schüler, den ich als alter Churer nicht verpassen durfte. Mittags rutschte ich dann bei schönstem Wetter Richtung Engadin.
Weisst Du, eine wunderschöne Fahrt ist das schon.
In Schuls angekommen suchte ich gleich die Handlung Büchele, diese befindet sich mitten in Unter-Schuls, ca. 20 Minuten (wenn man bummelt) vom Bahnhof. Familie Büchele empfing mich aufs Herzlichste, und ich habe den Eindruck, dass es sehr nette Leute sind. Unsere Küche ist sehr sauber mit „Holzherd“. Das Holz steht alle Tage frisch drin. Das sind die dienstbaren Hände der Familie Büchele. Unser Schlafzimmer ist eine heimelige Bude, ganz mit Holz getäfert. Die letzten zwei Tage war schönstes Wetter und mich hat es schon gäbig verbrannt. Heute Sonntag schiffts allerdings schon seit dem Morgen, und es scheint, der Regen wolle auch morgen nicht nachlassen. Mit Alois (Messgehilfe und Faktotum meines Vaters) habe ich mich ganz gut angefreundet. Er ist ein netter Typ. Gestern waren wir beide bis 23.00 im Dorf. Ebenso mit dem jungen Büchele komme ich ganz gut aus. Das wäre im Moment alles, was Schuls und Umgebung betrifft. Zu bemerken sind die schön geputzten Waldwege, die alle 50 Meter ein Bänkli aufweisen.
Für das Aufgebot meinen besten Dank. Gehen wir also doch nach Dübendorf. Henu sode! Vati ist am Radio in der Stube Bücheles und lässt Euch auch herzlich grüssen.
Herzliche Grüße, Euer Gusti
Lasse alle Bekannte grüssen, auch „Tante Gritli“.
(Bemerkung von Lilly:Tante Gritli ist die Wirtin in Bern, die ein Restaurant führt und die den Soldaten immer etwas Gutes vorsetzt.)
*
Schuls, 13.6.37 (17)
Dear Mother,
Da wir wieder einmal Sonntag haben, setze ich mich auf das Bänkli vor das Haus und gebe Rapport über die letzte Woche.
Vorerst Deinen Brief und die Karte haben wir erhalten, besten Dank! Dass ich in Bern den Blumentürgg verpasst habe, ist mir mehr oder weniger recht. Weisst Du, hier oben ist es einfach ganz gross. Den ganzen Tag strahlende Sonne und wirklich tiefblauer Himmel. Dazu die Wälder, die einen so starken Duft ausströmen, dass man es manchmal im Dorf selbst riecht. Für Spaziergänge auf „gstrählten und frisierten“ Wägli einzig. Letzten Donnerstag machten wir während der Arbeit einen Besuch in den Trinkhallen von Schuls. Eisenwasser, Schwefelwasser und noch eines, alle versuchten wir gratis. Vati und ich glauben bestimmt, dass ein Ferienaufenthalt für Dich hier oben wirklich nur von Gutem sein kann. Auch Lilly wird in der prima Luft und an dieser Sonne sicher schwarz wie ein Neger. Ich für mich bin ganz prima zwäg.
Weisst Du, den Brenner am Buckel habe ich auch überstanden.
Für den langen 16 wöchigen „Krieg“ in Dübendorf bin ich dann also wieder in Hochform. Es fällt ja dann die Entscheidung, ob der Gusti Offizier wird. Doch es muss gehen, ich werde mein Letztes einsetzen, um mein Ziel zu erreichen.
Morgen geht‘s mit Ätti und Alois in die Dislokation. Mit Zelt und unserer ganzen Bagage steigen wir in die Höhe. Vorerst streifen wir für 8 Tage die Zivilisation ab. Acht Tage fern vom Dorf werden wir wieder leben wie die Räuber, auch schön. Wenn das Wetter anhält, so ist der Piz Lischanna fällig. Juhee Berge, ich möchte auch singen: Die Berge sind meine Heimat, in den Bergen bin ich zu Haus.
Von Gutz aus Zürich erhielt ich einen Brief. Er schreibt, dass sein Studium sau streng sei und er ebenfalls lieber in den Höger herumklettern möchte. Am 16. zieht auch er wieder in den Krieg, nach Andermatt. Freiwillig macht er seinen ersten Wiederholungskurs. Also scheint auch ihm das Militär zu gefallen.
In Chur war es ganz nett. Selbst bei Hausers gab es einen ganz gemütlichen Abend. Auch Frau Jecklin im Laden lässt Dich herzlich grüssen.
Du fragst, wie Greta Conzett beurteilt worden sei. Ich kann nur so viel sagen, dass Greta nie mein Ideal werden kann, denn mit „Gi“ kann sie nicht im Entferntesten konkurrieren. Und Du kennst ja meine Schwäche. Besser als Greta gefällt mir schon Anneli. Doch auch das kommt nicht in die engere Wohl. Ueberhaupt habe ich jetzt dann fast vier Monate meinen Kopf anders zu gebrauchen.
Und nun denke ich, es sei für heute genug, d.h. das nächste Mal in 8 Tagen das Weitere.
Empfange nun die lieben Grüße, dito Lilly
Von Gusti
*
Dübendorf, 11.7.1937 (18)
Liebes Mueti,
Schon gestern Abend gab es um 16.30 Abtreten. Wir gingen prompt nach Zürich. Zuerst in ein Kino „REX“. Dann bei Tanti in Höngg. Habe den ganzen Sonntag geschlafen und gegessen. Heute mussten wir zum ersten Mal die Handschuhe tragen. Meine Häntsche“ von Bern waren nicht diensttauglich. Kostenpunkt Fr. 4.90. Bis jetzt war der Betrieb ganz gerissen. Ab morgen bin ich Zimmerchef, bis gestern war ich Gruppenführer. Das Wetter war bis jetzt ganz gross, nicht allzu heiß, überhaupt schön. Ihr werdet nun wohl in Schuls stecken. Hoffe, dass Ihr gut gereist seid. Hat Euch Meni abgeholt?
Du Mueti, ich habe eine Bitte an Dich, bitte schau, dass Du mit Meni gut auskommst, denn das Mädel hat Dich gern, denn ich habe ihm von Dir nur Gutes und Liebes erzählt. Wenn ich Dir weh getan habe, dann bitte Verzeih! Dass Meni und ich einander liebten, darin sehe ich nichts Schlechtes.
Dass ich Vaters Vertrauen missbraucht hätte, war ich mir nie bewusst, denn ich sagte Vater immer, wo ich gewesen sei. Ja, es stimmt, ich kam viel spät nach Hause. Du schreibst, ich hätte das Glück gehabt, „leichte“ Mädchen kennenzulernen. Bitte, bezeichne mein Meni nie so! Mit diesem Ausdruck hast Du mir sehr weh getan. Denn Meni liebt mich rein und aufrichtig. Später werde ich Dir einmal die Briefe zum Lesen geben, doch jetzt kann ich es noch nicht. Bis jetzt war ich aufrichtig zu Dir und möchte es auch in Zukunft sein. Bis jetzt warst Du trotz allem meine liebste Freundin, und ich möchte, dass unser Verhältnis als Mutter und Sohn durch diese Affäre nicht getrübt wird, denn ich habe Dich ja so lieb, glaub mir Mueti!!!
Eines kann ich Dir vorläufig nicht erfüllen, mit Meni zu brechen, das bringe ich bis auf weiteres nicht übers Herz, denn ich habe Meni gern. Das sei ein Geständnis, das ich Dir als Mutter trotz allem sagen muss. Also tue mir den Gefallen, bitte, sei mit Meni nett. Denn Meni hat Heimweh nach mir und es schrieb mir, es freue sich, Dich kennen und schätzen zu lernen. Also bitte zerreisse unser Verhältnis zueinander nicht zu brüsk. Ich werde Meni wieder schreiben, und ihm ganz langsam, tropfenweise beibringen, dass es nicht gehen soll. Für Eure Ferien wünsche ich Euch schönes Wetter und gute Gesundheit. Mueti, bitte sage Vater, dass ich es bedaure, dass ich sein Vertrauen missbraucht haben soll, doch war ich immer der Meinung, er wisse alles.
Und jetzt werde ich wieder krampfen, dass die Schwarten krachen. Körperlich war ich schon lange nicht mehr so gut beieinander. Und überhaupt bin ich momentan froh, dass ich den straffen Disziplinbetrieb mitmachen kann. Dabei kann ich alles am besten vergessen. Und nun erhalte die besten Grüße – und trotzdem Du mir den „ehrlichen“ Mutterkuss nicht mehr gabst, ein herzlicher Kuss.
Gusti
Lasse alle Bekannten grüssen.
*
Dübendorf, 20. Juli 1937 (19)
Mein liebes Mueti,
Ich bin Wachkommandant-Stellvertreter. Alle Kameraden, die nicht eben Wache stehen, schlafen, einschliesslich des Leutnants. Vorgesehen war ja, dass wir heute Dienstag nach Kloten versetzt werden sollten. Was zum grössten Teil auch geschah, doch hiess es gestern plötzlich, aus jeder Klasse sollen die zwei Besten abkommandiert werden, damit die vielen fremden Flugzeuge bewacht werden können. Und stellt Euch vor „i c h“ war auch bei den Auserwählten wie Theo Ludwig. Sulzer Mäni stinkts bös. Gestern wollte ihn der Hauptmann prompt nach Hause schicken wegen Unfähigkeit. Mit mir sind alle zufrieden. Ich gebe mir auch alle Mühe, dass sie es merken. Meine Qualifikation lautet bis jetzt auf gut – sehr gut. Anmerkung von Hpt. Troller: gibt sich sehr Mühe. So sind wir also auf Wacht abkommandiert bis nächsten Donnerstag und kommen in dieser Zeit nicht einmal aus den „Tschopen“, geschweige denn aus den Hosen. Von Schuhe ausziehen keine Rede. Nicht einmal der Leutnant darf den Rock ausziehen. Zu tun haben wir wenig. Je zwei stehen zwei Stunden und dann haben wir wieder vier Stunden zum Schlafen oder Lesen oder Schreiben. Kein Exerzieren, rein gar nichts. Ich stehe Tag und Nacht bis Donnerstag immer von 5-7 und 11-1 Uhr vor der Halle der Italiener. D a s sind Maschinen im Wert von ca. 3 Millionen Schweizerfranken. Man hat so mitten in der Nacht, wenn man d a r a n denkt, ein Gefühl, dass man jetzt erst als v o l l angesehen werde. Und denkt Euch, alle Offiziere grüssen u n s, als Ehrenwache zuerst, auch die Ausländer. Heute photographierte ich einen aus der Tschechoslowakei. So ist der Dienst schön, aber man wird trotzdem müde. Man merkt es an meiner Schrift, denn jetzt könnte ich schlafen, darf aber nicht. Aber ich wache ja gerne, denn ich bin doch Schweizersoldat und die hohen ausländischen Offiziere sollen von unserer Fliegertruppe eine gute Erinnerung mit nach Hause nehmen. Denn PFLICHTTREUE ist unser höchstes Ideal, und ich werde das Vertrauen, das meine Vorgesetzten mir entgegenbringen nicht missbrauchen. Denn unser Wachdienst ist hier EHRENSACHE.
Apropo, wie geht es Euch? Mir persönlich prima, bis auf den leichten „Pfnüsel“, den ich mir letzte Nacht holte. Hat es bei Euch auch so tief hinab geschneit? Hier war letzte Woche ganz respektabel kalt, so dass wir zweimal mit dem Mantel ausrückten.
Du Mueti, nach stunden- und tagelanger strengsten Prüfung meiner selbst, sehe ich ein, dass Du mit Deiner Einstellung zu Meni doch recht hast. Ich gebe mir Mühe, den Verkehr mit M e n i selbst brieflich wieder auf gescheitere Gedanken zu bringen. Es ist ja gut für Dich und das Mädel, dass es jetzt im Engadinerhof ist, und dort hoffentlich viel zu tun hat. Bitte unterrichte auch Vater in diesem Sinne, und wenn ich ihm, allerdings unbewusst, weh getan habe, so bitte ich ihn um Verzeihung!
Doch eben ist mein Leutnant erwacht und so habe ich jetzt Zeit, ein bisschen zu pfusen.
Empfange also herzlichste Grüße und einen Kuss von
Deinem Gusti
Dem Rest der Familie natürlich auch meine besten Grüße – aber ich habe ja an Dich geschrieben. Gusti
*
Kloten, Samstagabend 22.10, 31. Juli 1937 (20)
Meine Lieben,
Auch ich habe krampfhaft auf Post gewartet. Heute Abend erhielt ich endlich von Mueti ein 1. August-Päckli. Meinen besten Dank dafür. Die Fotos haben mich riesig gefreut und wieder auch betrübt, indem sie in mir die schönsten Erinnerungen in den Sinn rufen. An mein ziviles, privates Leben zu denken, habe ich richtig keine Zeit, denn unser Dienst war ohnmächtig streng in den letzten 14 Tagen. Die Verlegung nach Kloten scheisst mich bös an! Das ganze Flugmeeting brachte uns nur böse, harte Tage. Seit 14 Tagen stehen wir nun alle drei Tage Wache. Dabei traf mich Wacht-Stellvertretung. In dieser Nacht habe ich drei Stunden, in einer anderen sage und schreibe 1/12 Std. geschlafen. Dabei den ganzen Tag durch strengen Dienst. Heute massen unsere Offiziere die Spitzenleistungen der Mannschaften. Da hiess es wieder einmal, das Letzte aus sich herauszugeben. Am Morgen, kurz nach 04.00 Uhr gabs Alarm. In sieben Minuten war die ganze Bande marschbereit. Dann gings ab per Topo-Karte stundenlang im Gelände herumstreifen. D a s war noch ein gemütlicher Bummel. Doch 5 km vor Kloten weg im Wald hiess es: Einrücken ins Kantonnoment. Der beste dürfe ca. 37 Minuten brauchen. Wir 46 Mann zogen los, mit Helm und Gewehr Laufschritt und wieder Laufschritt, bis man fast die Lungen auskotzte. Durch dick und dünn ging es direkt ins Kanti. Mit letzten Kräften über den Drahtzaun beim Platz. Zuletzt stellte es sich heraus, dass der Letzte ganze 31 Minuten gebraucht hatte Ich wurde mit ca. 26 Minuten guter 13., d.h. wir, die Spitzengruppe lief gemeinsam ein. Dann Duschen und nachmittags wieder in Dübendorf Pikett sitzen. Der Abendausgang wurde auf ein Minimum beschränkt und dazu zwei Sonntage Dienst. In 8 Tagen ist ja Gott sei Dank die U.O. fertig, und wir werden entlassen. Nach Hause und rasch, rasch in Zivilkleidern über Sonntag. Und schlafen, schlafen. Noch einen Nachteil hat das Meeting, man braucht Geld, eine Saumenge Geld. Was man alles versäuft in dieser Hitze und Glacé sowie Eiscrème herunterschlingt, ist aschgrau. Auch das Rauchen kommt nicht zu kurz.
Von Meni habe ich noch keinen Bericht auf meinen Brief bekommen. Doch hoffe ich, es werde sich auch damit abfinden, so wie ich es auch muss. Den Tag durch habe ich keine Zeit, nachts schlafe ich, nur auf den endlosen Nachtwachen, da habe ich manchmal Heimweh, dass es mich fast übernimmt. - Doch Schwamm darüber, ich hoffe, ihr habt noch zwei recht schöne Wochen und empfangt die herzlichsten Grüße von
Gusti
Morgen 1. August stehen wir Wache, daher ein besonderes „Prosit“!
Lasst mir alle grüssen und Vaters „Kapitlete“ habe ich mir zu Herzen genommen.
*
Sonntag, 1. August 1937, morgens 10.30 (21)
Habe bis 06.30 ganz bäumig geschlafen. Dann Tagwache und bei strömendem Regen auf dem Flugplatz Kloten, wo wir 20 Flugzeuge startbereit machten. Dieser 1. August ist ein fertiger Seich. Nicht einmal Ausgang, nur Wachdienst. Heute Nacht stehen wir auch wieder Wache. Wieder Stunden, die nicht vorbeigehen wollen. Und ich habe ganz leicht Heimweh. Auch ich möchte wieder einmal so einen Feiertag mit allen meinen Lieben verbringen. Doch ich bin eben im Dienst, und da haben private Wünsche nichts zu bedeuten.
Du Mueti, die Wäsche schicke ich Dir im Laufe der Woche. Wenn wir wieder nach Dübendorf ziehen, so ca. Mittwoch. Hier in Kloten haben wir kein Kästli oder Schrank, sondern müssen unseren Bettel im Waschsäckli verstauen. Da hat es saubere Socken und frische Hemden in schönster Harmonie. Bitte sende mir im Laufe dieser Woche noch Unterhosen und Frottiertüchli, Socken und ca. zwei Hemden.
So, nun rauche ich noch eine Zigarette und um 11.00 Uhr hält uns unser Schulkommandant eine schöne Augustrede, wir wieder im Helm und Kaputt (da Regen) samt Gewehr stehend, dürfen sie anhören.
Und nun wünsche ich Euch noch die schönsten Tage und allseits gute Besserung.
Herzliche Grüße vom Gusti
Werde noch E. Blaser schreiben, damit ich nächsten Samstag gratis Mittagessen kann.
Machts gut!
*
Dübendorf, 13.8.1937 (22)
Mein liebes Mueti,
So, rasch will ich Dir e chli prichten. Deinen Brief habe ich mit grosser Freude erhalten. Ebenso die 10 Stutz. Das war Rettung in letzter Minute, denn ich war richtig „stier“. Zu Eurer Lischanna Besteigung meine herzlichsten Glückwünsche.
Du kannst jetzt vielleicht begreifen, warum ich den Bergen verfallen bin. Kannst Du Dir etwas Schöneres vorstellen, als ein prächtiger Sonnenuntergang vor einer Hütte oder ein Aufgang auf einem Gipfel? Wenn ich morgen in 8 Tagen frei habe, werde ich Deinem Wunsche, nach Bern zu kommen, gerne Folge leisten. Ich glaube auch, dass wir zwei einander ziemlich viel zu sagen haben. Was Du aus dem Tagebuch erfahren hast, werde ich Dir einmal ehrlich erzählen, denn ich möchte trotz allem noch gerne Dein Bub sein.
Weisst Du, bis jetzt gefällt mir der Dienst als Korporal. Meine Rekruten, glaube ich, werden den Namen Staub nicht so rasch vergessen. Wenn es mich ankommt, mache ich nachts um 11 Uhr noch Inspektion der Gewehre, so wie gestern Abend, und wehe dem, bei dem ich irgendwo Dreck finde. Mit so einem verfahre ich ziemlich energisch. So 20 Min. Laufschritt – der mir nichts macht – sind nicht zu viel. Fritzli Pieth habe ich in meiner technischen Gruppe, bis jetzt müssen wir beide, wenn wir einander ansehen, stets grinsen. Der Zufall ist halt doch ganz gross.
So, jetzt hörte ich, auf dem Nest liegend und rauchend, auf. Noch ¼ Std. Radio, denn wir U.O. haben uns einen gemietet, der läuft nun, von morgens bis gegen Mitternacht.
Und nun herzliche Grüße und auf Wiedersehen
Euer Gusti
Für Lillys Edelweiss besten Dank, kann sie allerdings hier nicht gebrauchen. Der kleinen und der grossen Bergsteigerin meine herzliche Gratulation. Gusti
*
Dübendorf, 6.9.1937 (23)
My loveliest Mother,
So, ich stecke wieder ganz fest in meinem Element, dem Dienst. Gestern hatten wir eine bäumige Nachtfahrt hierher. Alles verlief glatt und ohne jede Panne erreichten wir unser Dübendorf.
Weisst Du, ich ging restlos unbefriedigt von Bern weg. Ich wollte Dir doch so viel sagen und Dich noch fragen. Du, seit gestern stiegen mir Zweifel hoch wegen Meni. Ich hätte Dir doch so gerne offen gesagt, wie Meni meine Geliebte wurde, und was ich moralisch empfunden habe, als ich die erste Frau ganz besass. Zum Teil machte ich mir Vorwürfe, die ich dann aber mit aller so genannter „Gesellschaftsmoral“ auf einen Haufen warf. Ich suchte mich damit zu entschuldigen, man sei nur e i n m a l 20 jährig und jung. Dabei glaube ich, dass mir mein Erlebnis in Schuls nichts geschadet hat. Ich sehe jetzt wieder vieles mit andern Augen und verstehe manches, was mir vor einem halben Jahr noch nicht in den Kopf wollte. Also noch einmal, Mueti sei mir bitte nicht böse!
Du, heute Nachmittag gegen fünf stand die Fahne in Dübendorf wieder einmal zum 5. Mal in diesem Jahr auf Halbmast. Leutnant B., der diesen Frühling bei uns den Leutnant abverdiente, ist tödlich abgestürzt. Schade um den guten Kerl, denn er war ein prima Militär und Offizier. Doch das ist eben Fliegerschicksal.
So nun ist in 10 Minuten Lichterlöschen. Ich muss für heute stoppen und grüsse und küsse Dich von Herzen.
Dein Gusti
*
Rümlang, den 8.10.1937 (24)
Mein liebes Mueti,
Endlich finde ich einmal Zeit, Dir einige Zeilen zu schreiben. Seit letzten Montag stecken wir in diesem Negerdorf und haben Kämpfe wie toll. Du, so gearbeitet habe ich mein Leben lang noch nie. Am Abend sind wir müde und dreckig wie die Schweine und vor 21.00 gibt es selten Abtreten. Dann halten wir noch einen kleinen Sausertrunk ab und verziehen uns in die Bundesfedern – lies „Stroh“ - im Kindergarten. Unsere Bude ist mässig bis saumässig, ... alt ist es wie der Teufel. Zum Schlafen haben wir nur e i n e Decke. Und übrigens hat es gestern und heute nur e i n m a l geregnet. Doch nehmen wir (wenigstens ich) die Sache nicht tragisch – denn heute haben wir schon Tagesbefehl Nr. 60. Und der ganze Türgg geht 76 Tage.
So, nun will ich Dir was von Chur erzählen. Am Samstag startete ich also
Richtung Bündens Hauptstadt. Rasch ging ich zu Conzetts und nachher noch in die Stadt. Und weisst Du, wen ich an der Bahnhofstrasse getroffen habe? Ich glaubte, mich treffe der Schlag. Steht da leibhaftig M e n i vor mir. Natürlich musste ich ihr den Abend widmen. Du, ich kann mich wirklich nicht mehr begreifen, wie ich in diese Frau verliebt sein konnte. Wie brieflich, so habe ich nun auch mündlich meinen Standpunkt klargelegt. Und davon weiche ich nicht mehr ab! Sonntagabend schlief ich noch herrlich in Dübendorf in meiner Klappe – doch nur bis Montag morgen 03.00 Uhr, da gab es Tagwacht und sofort ab auf den Flugplatz Kloten. Im Morgengrauen begann ein fieberhaftes Arbeiten von U.O. wie von Rekruten. Der ganze Flugplatz musste kriegsmässig ausgebaut werden. Das gab Arbeit! Erst heute sind wir fertig geworden. Und jetzt regnet es wie mit Gelten. Am Dienstagabend war unser Zug Wache. Der Hauptwachposten mit den Zelten steht mitten im Wald. Da unser Leutnant krank ist, übertrug man mir das Kommando über unseren Zug. Ich organisierte also den ganzen Wachdienst und siehe, die Sache hat geklappt. Mich freute diese Kommandierung, zeigte es mir doch, dass man mich für fähig hält, einen Zug zu führen. Ich hoffe also, für 1938 immer noch das Beste.
Wäsche brauche ich bis auf weiteres noch keine. Ich wünsche Euch beiden einen guten Sonntag und noch bessere Gesundheit. Gott sei Dank geht‘s mir in dieser Beziehung prima. Von Vater habe ich diese Woche einen saunetten Brief erhalten. Ich bin froh, dass ich Euch nun wieder offen in die Augen schauen darf.
Doch nun ist wieder bald 22 Uhr, und ich verziehe mich ins Stroh.
Empfange also die herzlichsten Grüße und ein Müntschi von Gusti.
*
Dübendorf, 14. 10. 1937 21.15 (25)
Mein liebes, liebes Mueti,
Jetzt haben wir wieder eine warme Bude und ein sauberes Bett. Wir sind froh, dass wir den Türgg „Rümlang“ überstanden haben. Heute, d.h. jetzt stinkts bei uns gewaltig. Von Ausgang keine Spur. Den ganzen Abend Inspektion. Zuerst bei den Rekruten, jetzt bald 21.30 bei uns U.O.
Eben wird ein Korpis aus unserer Bude in den Arrest geführt für 10 Tage. Er wird erst am 24.10.1937 um 12 Uhr mittags entlassen. Wegen zu spätem Einrücken ins Kanti gestern Abend. Hauptmann Troller ist überhaupt heute verdammt bissig. Seit heute Nachmittag 17.15 Uhr stecken schon 5 Rekruten wegen kleinen Fehlern im Loch. Wie Du siehst, ist die Stimmung bei uns nicht sehr rosig. Da wir sogar morgen Abend keinen Ausgang haben, brauche ich vorläufig von Deinen 10 Stutz nichts.
Jetzt kannst Du mir bitte sofort senden: Socken, Unterhosen, Hemden. Ich bin nun saumüde und muss in die Klappe. Guete Nacht, herzliche Grüße und ein Müntschi
vom Gusti
Freitagmittag: Bei uns stinks, verfluchter Schlauch!!!
*
Dübendorf, den 17.10.1937. Abends 20.30 (26)
Meine Lieben,
Eben bin ich von Züri nach Hause gekommen und möchte nun doch nicht unterlassen, Euch besonders Mueti, mit einem Päckli zu erfreuen. Euer Säckli samt Lillys Brief und süssem Inhalt habe ich dankend erhalten. Dito „Gips“ von Mueti. Zu Vatis 46. Geburtstag gratuliere ich ihm von Herzen, und hoffe, er möge noch einmal so lange leben! Denn ich habe Vater ja so nötig! Der Schuss ist dussen: Ich bin in die O.S. vorgeschlagen. Jetzt hängt das Aufgebot nur noch von Bandi ab – und ich würde es an der Zeit finden, Oberst Strüby mal auf ihn loszuhetzen. Du, ich habe eine Saufreude und bin mächtig im „Chut“. Trotzdem ich einen tollen Bart eingefangen habe, doch den lege ich am besten diesem Brief bei, könnt Euch bitte selber überzeugen. Momentan stinkt mir der Dienst gewaltig. Nicht nur mir allein, nein, allen. Eine Inspektion an der andern. Ein fertiger Seich! Doch nächsten Samstag ist der Türgg ja auch ume Egge!!! und ich freue mich wenigstens, zwei Monate Zivilist zu sein. Heute habe ich etwas läuten gehört, dass die Pilotenschule um zwei Monate verlängert werden soll. Na gut, das wäre dann vom 3. Januar 1938 bis Dezember 1938. - Bis jetzt bin ich allein im Kanti, die andern kommen erst gegen 22.30. Ich habe unser Öfeli angefeuert, und haue es jetzt in die Klappe. Bitte, mir noch ein Frottiertuch nebst vielen leeren Wäschesäckli zu senden. Ich muss doch so langsam Demobilisieren. Empfangt also noch einmal die besten Sonntagsgrüsse von mir – und das nächste Mal bringe ich sie selbst.
Euer Gusti
*
Dübendorf, 11. 8.1938, 21.20 (27)
Mein liebes Mueti,
Deinen lieben Brief habe ich erhalten. Vielen, vielen Dank. Weisst Du, Offizier zu werden ist nicht so verdammt einfach. Uns nehmen sie jedenfalls gottlos an die Leine. Ich habe einen Ast im Arsch ganz eisern, Muskelkater, dass ich kaum den Scheichen lüpfen kann. Aber das wird ja wieder vergehen, halt ein bisschen die Zähne zusammen beissen und durchhalten. Was es heisst, Schwitzen, das habe ich jetzt gelernt. Ströme fliessen schon morgens um 06.15.
So, jetzt aber etwas anderes. Sonntags werden ca. 80% der Offiziersschüler in Dübendorf bleiben, ich auch! Dito Fritzli Pieth! Bei der Austrittsinspektion hiess es, dass Kpl Staub seine Policemütze und sein Essgeschirr schmutzig hätte. Sigs eso, mir tut es ja verreckt weh, dass ich sehr wahrscheinlich nicht heimkommen kann. Trotz allem werde ich ein Urlaubsgesuch vom Stapel lassen. Geht es, so komme ich mit Freuden, geht es nicht, bleibe ich eben hier und putze mit grosser Vehemenz meine Ausrüstung. So, das war ca. alles. Ich bin Zimmerchef und habe eben die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, meine Bande zu hüten. Heute Abend waren Fritzli Christen und ich in der Bar im „Hecht“. Es war ganz nett. Apropos, im Kasino essen wir prima bis jetzt, aber steif. Kragen bis zuoberst geschlossen – und dabei der noch höhere Aspirantenkragen. So, leb wohl mein liebes Mueti, herzliche Grüße und Küsse
Dein Gusti
*
Samstag, 13.8.38, 18.00 (28)
Meine Lieben,
Hier mein erstes Geschenksäckli an Mueti. Eben haben wir gebadet und uns angezogen. Ganztägigen Urlaub gibts nicht, erst von 11 Uhr an, so dass es mir nicht langt, heimzukommen.
Am 29. August beginnen wir mit dem Flugdienst. Auf den freue ich mich. Morgen Sonntag sind wir noch schäbige Korporale, da e i n e r die komplette Ausrüstung noch nicht beieinander hat.
So, bald wird gegessen, das jedenfalls ein Fest ist, denn der Frass ist prima.
Herzliche Grüße und dem Mueti einen kräftigen Kuss
Euer Gusti
*
Dübendorf, 16.8.1938, 21.40 Uhr (29)
Mein liebes Mueti,
Deinen Brief habe ich heute Abend um 18.30 erhalten. Allerdings war er gespickt mit Vorwürfen, vo wäge nicht schreiben. Am Samstag haben wir bis 20.15 Uhr gearbeitet. Sonntags gab es um 07.00 Uhr Tagwacht und um 10.45 Abtreten. Habe dann in Höngg diniert. Nachmittags machten wir in Stiefeln und Säbel das Dorf Züri unsicher. Probierte Ruth Tanner zu treffen, aber es war niemand daheim. Abends waren wir um 22.30 im Bett. Gegen Montag gab es dann einen gottlosen Schlauch, der von mir zwar gut überstanden wurde.
Heute allerdings war es schön. Am Morgen als einziger Krampf einen Frühlaufschritt von ca. 1,5 km. Christen Fritzli haben wir zu zweit unter die Arme genommen (Kurt Zimmer u. ich), da er uns zusammenklappte. Jedoch ans Ziel musste er. Diesen Abend war er beim Arzt. Er sagte mir, das er Angst habe, heim zu müssen. Ich hoffe, dass nicht. Nächstes Wochenende wäre ich nun bei Ruth eingeladen. Wenn wir aber am Samstag weg können, so komme ich promptestens heim. Andernfalls gehe ich nach Zürich. Hoffe zwar, dass ich in Bern debutieren kann.
Nach dem Turnen heute Morgen gabs „Schule“ (Theorie) bis 10.15, dann ab per Camion ins Strandbad Uster bis gegen Mittag. Von 13.15 bis 14.30 war Befehl, auf dem Bett zu schlafen. Von 14.45 bis 18.30 war wieder Schule. Funktheorie! Gott sei Dank, habe ich bei den Pfadi das Morse gelernt, das kann ich jetzt brauchen.
Ja, Lillys, d.h. meine alte Karte habe ich hier. Lilly hat doch eine neue solche. Apropos, ich dachte, dass ich Lillis Brief in meinem letzten Schreiben verdankt habe.
Vo wäge Wäsche: Bitte Socken. So, nun wäre Rapport, guet Nacht und herzliche Grüße an beide
Gusti
*
Dübendorf, 19.8.1938, 22.00 Uhr (30)
Lieber Aetti!
Deinen Brief habe ich schweisstriefend erhalten. Du, so eine Off.Schule ist was anderes. Ganz faustdicke Sachen. Es gibt Tage, an denen man zu verrecken meint, an anderen hingegen wähnt man sich in der Sommerfrische. Heute zum Beispiel: Am Morgen gabs nettes Frühtraining per Gewehr, das war mit leerem Magen vor dem Morgenessen. Um 07.15 allerdings Morgenfrass. Ganz gross. Butter esse ich selten unter 10 Röllchen, dito löffelweise Confiture. Also punkto Essen gross. Dann gabs Theorie, genau wie am Tech., alle Stunden ein andere.!!! Um 10.15 Abfahrt ins Strandbad Uster am Greifensee bis 11.30. Dann Mittagessen mit anschliessender Bettruhe bis 14.30. (Kein Witz, sondern Tatsache)! 14.45-18.30 wieder Schule und um 19.15 abtreten. Abends hingegen nicht grad gross Ausgang, sondern Theorieaufgaben stossen. Siehst Du, auch diese Sache wäre zu überstehen. Morgen, um 13.15 Abtreten über Sonntag. Ich gehe heim zum Mueti per Stiefel und langem Säbel.
Dir wünsche ich noch recht gutes Wetter, und hoffe doch, Dich vielleicht mal in Chur zu treffen. Bis auf weiteres alles Gute und herzliche Grüße Dein Gusti
*
Dübendorf, 25.8.1938. 07.50 (31)
Meine Lieben,
Du, Mueti, ich weiss nicht mehr, ob ich diese Woche schon geschrieben habe. Jedenfalls am Sonntagabend sind wir gut in unserem Ferienort angekommen. Am Dienstag habe ich dann Dein Säckli erhalten. Besten Dank.
Du, nächstes Wochenende haben wir erst am Sonntag Abtreten, warum genau, wissen wir noch nicht. Ich gehe dann halt nach Züri. Eben wurde in unserer Bude beschlossen, dass die ganze Bande tanzen geht. Am nächsten Montag beginnt der Flugbetrieb.
Flugklasse Koschel: Christen-Staub, Zimmer-Brenzikofer und Sulser(einer, mit dem ich die RS gemacht habe.
Stelle Dir vor, jeder hat eine eigene Bücker zur Verfügung. Endlich scheints loszugehen. Heute ist wieder ein Ferientag!
05.30 Tagwache
06.00-06.45 Exerzieren
07.20 Morgenessen 8ich habe meine 9 Butterröllchen versorgt)
08.30-09.30 Theorie: Logikund Methodik
09.00-10.15 Schiesslehre für Fliegerabwehr
10.15-11.45 Baden im Strandbad Uster
13.00 Mittagessen
13.45-15.00 Schlafen auf den Betten
15.15-17.00 Technischer Dienst an den Flugzeugen
17.00-18.00 Militärgeographie
18.00-19.00 Funkdienst
19.30 Hauptverlesen
20.00 Obligator. Nachtessen
22.00 Zimmerverlesen
22.30 Lichterlöschen.
Das wäre unser Betrieb für heute. Du siehst also, es wäre noch zu überstehen.
*
Scuol, den 01.09.1938 (32)
Lieber Gusti,
Wenn Du mein Schreiben empfängst aus dem Bergell, hast Du wohl die schwerste Woche in Deiner militärischen Laufbahn hinter Dir. Leicht hätte eine Woche vergehen können, bis wir zur Kenntnis dieses in der Schweiz wohl einzig da stehenden Unglücks gelangt wären; dem schlechten Wetter hatten wir es zu verdanken, dass wir am Mittwoch Rückzug blasen mussten, nach Scarl zurückkehrten, und alsdann eine erste Meldung in Form eines Sonntagsblattes in die Hände bekamen, das mir Mueti mit einigen wenigen Begleitworten zugestellt hatte. Ich kenne jene Drusberger Heuplanggen, und Felshänge, da ich die dortigen Übersichtspläne verifiziert habe und mit den Wildhütern um die Wette die wenigen, gangbaren, mit Leitern und Drahtseilen versehenen Zugänge gesucht habe. Mittwochabend habe ich dann Mueti angeläutet, und dabei vernommen, dass Du bei den Hilfsaktionen und diversen Beerdigungen beteiligt warst. Für Euch junge Draufgänger, die Ihr nun auf Tod und Leben mit Euren Maschinen verbunden werdet, war dieses Vorkommnis zweifellos eine Lektion, wie sie ernster nicht an Euch herankommen konnte. Als alter Soldat fühle ich aber gleichwohl, dass gerade die härtesten Erlebnisse den senkrechten Eidgenossen nur um so enger an seine gewählte Waffe und die Kameraden schmieden, so dass es ein eitles Unterfangen wäre, Eure Einstellung zu Eurer Waffe und dem militärischen Gedanken überhaupt beeinflussen zu wollen.
Elterliche Mentalität und vorab mütterliche gehört freilich in solchen Unfallzeiten in ein anderes Kapitel. Da hört eben auch die beredete Kriegskunst auf, und es sprechen in stummem Schmerz die Gemüter und Leidenszeiten der Fliegermütter-Herzen von Familie zu Familie. Für Mütter gar, denen Kriegspsychose ein Fremdwort bedeutet, können solche Verluste körperlichen Zusammenbruch bedeuten, und ich verstehe vollends das Zittern und Beben jener Mütter, die, wenn auch nicht direkt betroffen, dennoch die Leidenszeiten der Fliegermütter mit wunden Herzen durchringen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass speziell auch unser Mueti dem Ansturm der Gefühle etwas unterlegen ist, nun vom Heimweh nach ihren Mannen geplagt wird, und sich nach normalem Familienleben sehnt. Ich nehme an, dass Du die erste Gelegenheit benützen werdest, um einen Bernerbesuch auszuführen. Mich selbst hält die Pflicht noch ca. bis 18. September (Bettag) hier fest. Dann werde auch ich einen Rutsch nach Bern tun, um dann, wenn es das Wetter gut meint, noch ein ruhiges Nachsömmerchen im Prättigau zu absolvieren. Ich zweifle nicht, dass nach strammem soldatischem Gesetz Eure Ausbildung schon wieder normalen Lauf genommen hat. Für mich hatten seinerzeit militärische Beerdigungen mit dem „klingenden Spiel“ immer tief symbolische Bedeutung. Nur eine knappe Spanne war dem toten Kameraden bei Trauermasch und Ehrensalve gewidmet. Schon der Rückmarsch vom Friedhof war übertönt von Klängen eines fröhlichen Heimatliedes, als wollten sie uns sagen: „Pflicht und Tat müssen im militärischen Leben den absoluten Vorrang haben.“ So werdet auch ihr Junge, werdende Schweizer Offiziere es halten und in diesem Sinne grüsse ich Dich und Deine Kameraden in familiärer und vaterländischer Herzlichkeit.
Vater
*
Dübendorf, 9.9.1938, 07.55 (33)
Mein liebes Mueti,
So bis morgen wirst Du noch eine Karte von mir aus dem Tessin erhalten. In einer Stunde starten wir zur Beerdigung von Hptm. Baccilieri in Locarno. Nur die Pilotenklasse. Ich muss schon sagen, ich freue mich auf die Reise im 1.Klass-Abteil ins Tessin. Es ist nämlich schon ziemlich lange her, seit ich das letzte Mal unten war.
Gestern hat unser Fluglehrer, Obltn Hitz gemeint, dass er nun genug hätte, mit uns in der Luft herumzukutschieren. Wir sollen a l l e i n abhauen. So waren wir 5 die ersten der FL.OS 11/38, die allein flogen. 26 Minuten rutschte ich ganz solo in der Welt herum. Von unserer Gruppe waren immer drei Flugzeuge in der Luft unterwegs. Sau schön wars, mir hat es mächtig gefallen. Wenn man da seine Runden dreht, kann man so geruhsam seinen Kameraden von oben in die Kisten gucken.
(4)
Weisst Du, Mueti, auf d e n Moment war ich seit Jahren gespannt. Stelle Dir vor, das erste Mal als Militärflieger a l l e i n in der anvertrauten Maschine zu sitzen, Vollgas zu geben und abzuhauen. Mueti, das sind Momente, die wir als junge Piloten nicht so rasch vergessen können.
Gestern über Mittag ist Obltn Frey aus Solothurn in Ausübung eines Höhenfluges in Frauenfeld tödlich abgestürzt – und am Nachmittag flogen wir. Wir Jungen dürfen nicht nachdenken über solche Fälle und in unserem Zimmer wird das erste Gebot aufrecht erhalten: Leben, das Leben geniessen, so lange man jung ist, und es geniessen kann! Wir werden alle die an uns gestellten Aufgaben pflichtgetreu erfüllen, komme, was kommen mag. Morgen ist auch ein Tag!
Und nun, Mueti, trotz allem sei tapfer und behalte den Kopf oben. Zeige Dich gegen allfällige Anfechtungen eben so stolz, wie ich stolz darauf bin, schweizerischer Militärflieger zu sein.
Ich wünsche Euch einen recht netten Sonntag und grüsse Euch.
Dem Mueti einen festen Kuss – recht herzlich, Gusti
*
Dübendorf, 10.9.1938, 21.45 (34)
Mein liebes Mueti,
Hatten heute eine „nette“ Pfadfinderübung von ca. 20 km Distanz. Aber durchgehalten haben wir alle. Die Rekruten und Pilotenschule steht morgen auf Pikett, wegen der dummen Sachen in Deutschland. Wir haben Ausgang.
Und nun will ich ins Bett, morgen ist um 05.00 Tagwacht, da einige an die Beerdigung von Oblt. Frey gehen. Ich habe genug von solchen Scherzen, und gehe über Sonntag zu Ruth nach Zürich.
Näheres folgt im Brief am Montag.
Herzliche Grüße und Küsse Gusti
Bitte Unterhosen und Turnleibchen.
*
Dübendorf, 11.9.1938, 07.00 (35)
Lieber Aetti,
So, nun habe ich gäbig Zeit, ein kleineres Epistel ins Engadin abzulassen. Heute morgen Sonntag gabs um 05.00 Tagwache, da einige Kameraden an die Beerdigung von Oblt. Frey nach Uzwil abgefahren sind. Am Freitag war die Pilotenklasse, also wir, in Locarno, wo Hptm. Bacilieri beigesetzt wurde. Wir alle hatten Hptm Bacilieri gern gehabt, als strengen, aber gerechten Offizier und Führer, so wie als ganz gerissenen Kameraden. Am Samstag, ca. 3 Stunden vor dem Start zu seinem letzten Flug gab er uns angehenden Fliegern noch Theorie, wie wir uns bei Unfällen zu verhalten hätten, Unfälle seien zwar nicht unbedingt nötig, jedoch, wenn sie eintreffen, müsse man auch dann noch ruhig sein. Das könne halt in unserer Laufbahn einmal eintreten früher oder später, meinte Batsch achselzuckend. Einige Stunden später hat ihn sein Schicksal getroffen.
Am Donnerstag stürzte Obltn. Frey tödlich ab und am selben Nachmittag liess uns unser Fluglehrer Obltn Hitz zum ersten Mal a l l e i n starten! Du, das war ein Moment, auf den ich nun seit dem Anfang meiner Dienstlaufbahn mit Spannung gewartet habe. Das erste Mal als „Militärflieger“ allein in meiner Maschine zu sitzen, Vollgas zu geben und einige Sekunden später --- fliegen!!! Weisst Du, das Fliegen ist trotz allem das Schönste, das ein Mensch erleben kann. Du, Aetti, ich freue mich auf unseren ersten Flug, bei dem ich DICH mal vor mir in der Maschine habe und wir abhauen können! Du sollst der erste Zivile sein, den ich mitnehmen will, mit dem möchte ich Dir dann für Vieles danken. Denn hätte ich nicht oft Deine starke Hand im Nacken gespürt, ich weiss nicht, ob ich jetzt in der Offiziersschule wäre (ich denke dabei an die schrecklichen 4 Jahre meiner Lehrzeit). Du, das war auch noch ein Höhepunkt in meinem Leben, als ich über Bern flog und das erste Mal allein in meinem „Kistli“ 1000m hoch über der „Lädere“ meine Steilkurven drehte. Damals meinte ich, es müsse mich versprengen vor Glück!!!
Und nun wieder etwas vom Dienst. Im Grossen und Ganzen gefällt mir die Sache ja mächtig. Es gibt natürlich auch Augenblicke, wo man denkt, nun lächle mir die ganze Eidgenossenschaft am A….! Doch diese Momente sind relativ selten und dann wieder schnell vergessen. Letzten Montag hatten wir einen solch gottlosen Schlauch von einer Stunde im Wald von Dietlikon. Es gab Scherze, wie liegen auf Brombeeren und Wassergräben, sowie Knieheben im Schlamm. Aber klein kriegen haben sie mich nicht können. Gestern Samstag gab es noch eine kleinere Pfadfinderübung mit Kompass und Karte von rund 20 km in drei Stunden. Patrouillenlauf. Wir haben nicht schlecht abgeschnitten, trotzdem wir Christen Fritzli unter den Armen mitschleppten. Weisst Du, das in Dübendorf bekannte Tandem Christen – Staub war natürlich wieder zusammen. - Es ist eigentlich interessant, wie sich so Bubenbekanntschaften zu Freundschaften entwickeln können. Besonders bei zwei so verschiedenen Typen, wie wir beide. „Fritzli der Finanzkräftige, aber körperlich schwächere, und ich, der ich so in ziemlich allem eben das Gegenteil bin. Du, bis jetzt habe ich oft gemeint, dass Reichtum gleich Glück bedeute, und nur mit Geld allein der Mensch glücklich sein könne. Geld hat Fritzli, jedoch ist er zum grössten Teil unglücklich. Selbst wenn der Befehl zum Fliegen kommt, ist er oft nicht einmal recht erfreut darüber. Ich glaube, er hat Angst vor den Konsequenzen, die das Fliegen mit sich bringen kann. Bei mir ist alles eitel Freude, wenn ich starten kann, und dann da oben, etliche 100 Meter über dem ganzen Dreck – da bin ich glücklich. Ich habe schon gejauchzt wie ein Schulbub nach gut gelungenem Start.
Apropos, Du schreibst, dass Du auf den 18. ds, mal nach Bern fahren würdest. Auch ich hätte im Sinn, wieder mal zum Mueti zu rutschen. Am Samstag fährt normalerweise unser Zug in Zürich ab um ca. 15.30. Vielleicht könnten wir uns treffen.
Heute gehe ich nach Zürich zu Fräulein Ruth Tanner, der Schwägerin von Herrn Bleuer. Sauhübsch! Sage ich Dir gäng no, wie am 1. August 1935.
Und nun wünsche ich Dir noch recht gutes Wetter und alles Gute, sowie herzliche Grüße
*
Dübendorf, 13.9.1938, 13.45. (36)
Liebes Mueti,
Eben habe ich Deinen Brief samt Wäschesäckli erhalten, besten Dank. Ich hoffe, Ihr habt den Sonntag ebenso nett verbracht wie ich mit Frl. Ruth Tanner in Züri. Mittagessen im Nidlebad ca. 2km unter Thalwil, dann Bummel nach Wollishofen und per Tram und Bus auf den Züriberg mit anschliessendem Spaziergang nach Trichterhauser-Mühle. Zum Abschluss des Tages wurde in der Gotthelfkeller Stammbeiz, in der Apfelkammer gespiesen. Es war eigentlich der schönste Sonntag, den ich bis jetzt in Zürich verbracht habe.
Den Bericht von Lillys Heldentat habe ich zur Kenntnis genommen. Sauschlau! Doch warum hat man eine Veloversicherung – und zwar die der Schneiderin? Der 20km Lauf am Samstag hat bei uns keine Spuren hinterlassen. Ich bin purlimunter und fliegen tun wir bereits alle Tage allein. Gestern war ich genau 1Std.04Min. in der Luft und habe mich ganz gut gefühlt. Besonders, als ich ca. 3 Min. in gleicher Höhe mit dem Berner-Alpar Flugzeug Seite an Seite flog. Landen kann ich zwar annähernd zufrieden. Am Sonntag morgen hatten wir um 05.00 Tagwacht, um 09.00 konnten wir dann ab. In dieser Zeit zwischenhinein habe ich Vati einen Brief abgelassen, und hoffe sehr, dass wir nächsten Sonntag alle beim Mueti zu Gast sein werden.
Und nun beginnt schon bald wieder der Flugdienst, mit vorhergehender Navigation. Ich freue mich darauf.
Indessen herzliche Grüße und alles Gute. Gusti
*
Dübendorf, 19. 9. 1938, 20.00 (37)
Liebes Mueti,
Habe heute Lillys Brief erhalten, besten Dank!
Heute hatte die Flugklasse Hitz ihr grosses Erlebnis, nämlich den ersten Überlandflug mit Aussenlandung in Kloten. Jeder setzte sich in sein „Kistli“ ich in Nr. 9 und Fritzli in seine 13. Die erste Landung war von mir ein Seich, die andern 7 alle gut. Über Kloten und Rümlang frischte ich „Jugenderinnerungen“ auf. Herrgott war das schön! Nach Hause flogen wir wieder in langgezogener Staffel und grüssten in die Aussenquartiere von Züri. Jedenfalls habe ich heute über eine Stunde in der Luft gehangen. Und nun sollte ich noch inneren Dienst ablassen und Flugbuch nachtragen. Morgen ist Ausmarsch mit „Aff“, Helm und Gasmaske und um 09.45 muss ich zum Chefarzt der Fliegertruppe. Jeder Pilot und Beobachter muss wieder einmal eine Untersuchung überstehen, aber Angst habe ich keine. Denn ich fühle mich 100%-ig in Form. Heute Nacht ist sehr wahrscheinlich unser „Türgg“ fällig. Fritzli und ich erhielten jeder eine Tafel Schokolade von Mueti Schatzmann. Kaffee habe ich getrunken, so dass ich nicht schlafen kann.
(5)
Und morgen Abend werde ich Dir anläuten und Dir die neuesten Nachrichten übermitteln.
Indess alles Gute und beiden ein herzliches Müntschi
Gusti
Lillys Karte wird noch diese Woche eintreffen.
*
Dübendorf, 20.9.1938, 13.40 (38)
Mein liebes Mueti,
Seit heute morgen liegt Dein liebes Päckli auf meinem Bett, und jetzt erst hatte ich Zeit, das nette Päckli zu öffnen. Für alles herzlichen Dank!
Heute morgen war der Betrieb aschgrau. Sie wollten uns einfach auf die Knie zwingen. Aber Nobis, ich stehe immer noch fest auf beiden Beinen. Hoffentlich fliegen wir heute wieder über Land!!!!
Herzliche Grüße Gusti
*
Dübendorf, 27.9.1938, 13.50 (39)
Mein liebes Mueti,
Habe heute Deine prompte Sendung mit bestem Dank erhalten. Bitte verzeih, dass ich so lange nicht geschrieben habe, aber uns fehlt einfach die Zeit dazu. Habe auch sonst noch keinem Bekannten geschrieben. Überhaupt nehmen sie uns gottlos nach. Fast alle Tage wird versucht, uns restlos in die Knie zu zwingen. Aber gelingen soll es ihnen ums Verrecken nicht. Du, Mueti, jetzt trainieren wir schon Staffelfliegen, was verdammt schwer ist. Zweck dieser Übung ist der, dass wir weiter von Dübendorf weg können und den Staffelführer nicht verlieren. Letzte Woche flog ich schon zweimal allein über Eugens Gärtnerei in Höngg. Nächstens sind nun Flugplätze Frauenfeld und Altenrhein an der Reihe. Jedenfalls mussten wir schon den Kompasskurs dahin bestimmen, sowie uns die Notlandeplätze merken. Schön ist halt das Fliegen trotz allem. Gestern übten wir, wie man möglichst rasch von 500m auf ca. 200m Höhe hinunterkommt. Ganz einfach Sturzflug und Steilkurve abwärts. Die Maschine kommt dabei allerdings auf ein Tempo von rund 210 km pro Stunde, und winden tut es ganz anständig um die Ohren.
Letzten Samstag nach dem 32km Lauf hatten wir abends Abtreten. Ich war mit Ruth in der Börsen Bar, und um 01.15 lag ich, nach 23 Stunden auf den Füssen – im Bett in Dübendorf. Sonntags war ich dann von Mittag an in Höngg, wo ich bis 18.15 geschlafen habe. Heute soll nun Verdunkelung abgehalten werden, wir machen uns jedenfalls wieder auf einen mitternachtsmässigen Türgg gefasst. Und nun warten wir wieder auf den Befehl zum Fliegen! Am Samstag soll scheints grosser Urlaub sein, und ich werde heimkommen. Aber der Samstag gehört mir. Einewäg, ob Ihr zu Hause seid oder nicht.
Und nun sei herzlich gegrüsst und ein Müntschi vom Gusti
*
Dübendorf, 4.10.1938 (40)
Mein liebes Mueti,
Eben habe ich den Spitalbrief? beantwortet und nun will ich Dir noch rasch ein Grüsschen senden.
Heute morgen wollten sie uns ums Verrecken in die Knie zwingen. Fast wäre es gelungen. Christen Fritzli sackte prompt ohnmächtig zusammen. Sulser von unserer Klasse kotzte wie toll nach dem zweimaligen Hindernislauf. Im Turnen gabs noch einen Dauerlauf rings um den Platz bei strömendem Regen und nur in den Turnhosen. Nun regnets wieder wie Toll, ich hoffe, dass unser angesetzter Zeltbau ins Wasser fällt.
Indessen herzliche Grüße Dein Bub Gusti
*
Dübendorf, 6.10.1938 22.00 (41)
Mein liebes Mueti,
Eben habe ich Dein Päckli und Deine lieben Zeilen mit bestem Dank erhalten. Und nun habe ich den Gewehrgriff überstanden, da ich heute den rechten Daumen ganz gäbig verstauchte. Weh tut es ja noch ein bisschen, jedoch Zeltbau und Gewehrexerzieren sind für mich erledigt.
Apropos wir werden sehr wahrscheinlich am Sonntag abtreten können. Da ich Deine Theaterfreude kenne, habe ich mich irgend wann vor einiger Zeit nach etwas Nützlichem umgesehen, und ich glaube, etwas Rechtes für s‘Mueti gefunden zu haben. Ich will Dir das Päckli schon früher geben, konnte es aber dann am Sonntag und Montag ganz gut verklemmen. Ich hoffe aber, dass Dir das kleine Ding etwas Freude macht.
Geflogen sind wir diese Woche nicht, dafür nehmen sie uns anderweitig ganz nett hoch. Bitte sende nur das Säckli möglichst bald wieder – und zwar mit ärmellosem Pullover versehen, da es in Dübendorf hie und da ganz nett kalt ist. Jetzt in unserer Bude ist es gerissen, wir haben geheizt – und grosse Musik – Herz, was willst Du noch mehr.
Und nun herzliche Grüße und einen Kuss
Dein Gusti
Für Lillys Päckli meinen herzlichsten Dank – das hat sie gut gemacht. Gusti
*
Dübendorf, 13.10.1938 07.35 (42)
Mein liebes Mueti,
In Eile rasch ein Grüsschen aus unseren „Bundesferien“. Zeit hatten wir bis jetzt aber ums Verrecken keine Minute, abends müssen wir arbeiten bis zum Lichterlöschen und den Tag durch geht‘s wie der Teufel, am Montag flogen wir einzeln nach Mollis bei Näfels. Wunderbar war‘s, so gegen die Berge zu fliegen. Gestern waren wir wieder in Frauenfeld Staffelflug zu dritt. Haben dabei in 1100m Bekanntschaft mit den Wolken gemacht, sahen den Boden hie und da nicht mehr. Da gab es halt ein kleineres Sturz-Flügchen, bis der Boden wieder zu sehen war, und nun müssen wir wieder schiessen, den ganzen morgen --- und kalt ists.
Indessen die herzlichsten Grüße Dein Gusti
*
Dübendorf 17.10.1938 22.20 (43)
Mein liebes Mueti,
Liege im Bett und habe eben noch Deinen und Vatis Brief gelesen und mir so ein bisschen meine Gedanken gemacht über mich und meine Familie. Du schreibst, dass Du ja noch eine Zeit lang Deinen Bueb hättest. Ja, noch lange sollst Du, liebes Mueti, Deinen Bub haben. Wenn ich auch hie und da ein Mädel küsse, vorläufig gehöre ich doch noch Dir! Am Samstag rutschte ich also nach Chur. Herzliche Grüße von Hausers, Conzetts, Frau Angst, Schuhmachers und Gantenbeins, sowie Fam. Pieth. In Chur haben wir so richtig gesoffen bis wir um 01.00 mit einer „Oelbirne“ ins Bett wankten. Sonntags gings weiter bei Sauser mit Fritzli und Chläusli. Habe in dem lieben, alten Städtchen ein Mädel kennengelernt – Gritli Cavelti, das sehr hübsch und nett ist. Habe oft mit ihm getanzt. Ist nur schade, dass ich nicht in Chur wohne!
Apropos, ich habe „Gy“ auf den 16. einen Brief geschrieben. Ja, hätte ich „Gy“, dann wäre ich einmal restlos glücklich – ach, was sagen mir alle die Zofen, wenn ich die, die ich gerne habe, nicht haben kann!
18.10.1938 06.50 (44)
Die Tagwache wäre wieder überstanden und jetzt ist‘s kalt. Um 08.00 beginnen wir mit Schiessen in Wehrlen. Vielleicht gehen wir morgen und übermorgen ins Engadin nach Zuoz und Madulein. Und nun wäre ich dafür, dass diese fünf Wochen noch rasch vorbeigehen, denn so ganz langsam kommt mir die Offiziers „S c h u l e „ auf den Magen. In 10 Tagen sollte ich neben allem andern noch einen 20 minütigen Deutschvortrag über das Höhenatmungsgerät „Munerelle“ halten bei Oblt. Frymann (einen fertigen Schulmeister). Sämtlichen Piloten hat es so den Ärmel hineingenommen. Gestern sind wir morgens und nachmittags geflogen, waren beide Male in Wil (einem kleinen Städtchen im St. Gallischen)
Und nun die herzlichsten Grüße und alles gute wünscht Dir Gusti
*
Dübendorf, 19.10.1938 21.25 (45)
Meine Lieben,
Juhui! Morgen, wenn Ihr diese kärglichen Zeilen erhaltet, ja dann bin ich schon über den Fluela in Samaden. Unsere Fliegerabwehr schiesst scharf im Engadin und wir Offiziers-Schüler werden dem Scherz als Schlachtenbummler mit Pistole, Kartentasche und Feldstecher beiwohnen. DAS gibt ein Fest mit Alpenchilbi in Samaden. Morgen um 06.00 mit Abfahrt per Camion: Zürich, Thalwil, Näfels, Kerenzerberg, Ragaz, Landquart, Klosters, Davos, Flüela, Zernez, Samaden,. Heimfahrt am Samstag über Julier, Lenzerheide, Chur nach Dübendorf. Post ist bis Samstag keine zu erhalten.
Und nun wünsche ich Euch viel Vergnügen und herzliche Grüße
Gusti
Werde mir auf der Fahrt ein Auge auf Pany im Prättigau werfen. Gusti
*
Dübendorf, 22.10.1938 (46)
Liebes Mueti,
Eben über den Julier über Tiefenkastel, Lenzerheide, Chur (Rossboden) wieder halb erfroren in Dübendorf angelangt. Sollte nun etwas Hemden mit langen Ärmeln haben, Nastücher und Socken! Besten Dank für Deinen lieben Brief. Auch ich habe s‘Mueti ja im Bündnerland nicht vergessen.
Indessen herzliche Grüße an alle „Daheimgebliebenen“ Euer Gusti
Werde in 8 Tagen noch heimkommen. Morgen muss ich nachschlafen, da in Samaden pro Nacht rund 3 Stunden geschlummert. Und in drei Wochen gehe ich noch einmal nach Chur.
Gusti
*
Dübendorf, 30.10.1938 22.10 (47)
Meine Lieben,
Wieder gut in Dübendorf. Mueti, bitte sende mir den geliehenen Kamm (Strähl) und nochmal mit grobem Mut die drei Wochen am Grind nehmen. Es muss gut gehen!!!!
Herzliche Grüße Gusti
Bitte Waschplätzli 31.10. 06.45 Gusti
*
Dübendorf, 30.1.1939 (48)
Meine Lieben,
Als erstes vielen Dank für Muetis Brief. So, wir sind zu dritt in unserer Bude. Gribi Siegfried und ich. Fritzli schläft in Zimmer 4. Ich war gestern auf Ruths Grab, das direkt nach Dübendorf schaut. Genau die Kirche sieht man. Ich habe als Leutnant wieder geweint wie ein Kind. Dann war ich bei Ruths Eltern. Ich sage Euch, der Zustand dort ist unhaltbar. Beide machen sich Vorwürfe. Ruths Wunsch war, mit mir über Sylvester und Neujahr in die Skihütte zu gehen, jedoch wagte sie es nicht, zu fragen! Sein Zimmer ist noch unberührt, in den Schränken Ruths Kleider und Wäsche, Kleider, in denen ich es gekannt habe. Aus m e i n e r Tasse mit Goldverzierung habe ich getrunken und in meinen Geschenkbecher geraucht. Nervenprobe. Mit Ruths Vater komme ich prima aus, ebenso mit der Mutter.
So, jetzt wären wir wieder im Dienst. 06.00 Tagwacht – doch bereits ist es 22.35.
Guet Nacht, alles Liebe Euer Gusti
*
Dübendorf, 3.2.1939 22.10 (49)
Meine Lieben,
So, eine Woche Pilotenschule wäre bald vorbei, wenn es „so“ weiter geht, wird dieser Pilotendienst eine schöne Zeit.
Viel zu erzählen weiss ich nicht, ausser dass ich prima zwäg bin und vorgestern wieder einmal eine „Messerschmidt“ auf dem Ranzen gelandet ist. Pilot natürlich wohlauf, hat rein nichts, Maschine zum Teil defekt. Grund: Das Fahrgestell war oben eingefroren und konnte nicht mehr herausgelassen werden.
Morgen gegen Abend Abtreten, und ich gehe vorerst wieder zu Ruth, diesmal allein. Ruths Grab schaut direkt nach Dübendorf. Die Foto der Lieben hängt über meinem Bett, und mahnt mich Tag und Nacht, rechtschaffen zu arbeiten. Ja, Ruth fehlt mir hier, und die Gedanken an Samstagen und Sonntagen sind wahnsinnig. Doch auch d a s wird vorübergehen.
So, nun gehe ich in die Klappe, viele liebe Grüße und dem Mueti einen Kuss
vom Gusti
Euch allen einen schönen Sonntagabend.
P.S. Neue Adresse: Lt.Staub Gust.Fl.-S1 (nicht mehr 39 schreiben)
Sonst alles gleich, wie sonst.
*
Dübendorf, 7.2.1939 17.45 (50)
Liebes Mueti,
Da Du ja schon lange einen „Helgen“ von mir haben möchtest, hier ist er.
Bei uns ist alles in schönster Ordnung und gesund bin ich auch. Geld ist zwar fast alle – Lilly kann sich ja so einen Helgen aneignen. Auf alle Fälle wünsche ich ihr alles Gute, und viel Glück im 15. Lebensjahr! Doch nun Schluss, allseits
herzliche Grüße und einen Kuss vom Gusti
*
Dübendorf, 9.2.1939 21.30 (51)
Meine Lieben,
So, ein Grossflugtag wäre vorbei. Wir waren in 7ner Staffel in Spreitenbach und Speck. Direkt über Ruth‘s Grab donnerten wir alle im Sturzflug. Hat es uns wohl gehört? Von mir und meinen Maschinchen war es ein Gruß!
(6)
So, nächsten Sabatt komme ich sehr wahrscheinlich nach Hause, vielleicht gegen 18 Uhr oder noch später, je nach Flugwetter und Dienstpensum. Sende in diesem Brief neues Schlüsseli zum Wäschesack, altes Schloss ist kaputt.
Und nun hoffe ich, dass alles wohl und gesund ist so wie ich und schliesse
mit den herzlichsten Grüssen Euer Gusti
*
Dübendorf, 17.2.1939 21.57 (52)
Mein liebes Mueti,
vielen Dank für Deinen lieben Brief, den ich heute Abend erhalten habe. Du kannst in allen Teilen beruhigt sein, ich bin tatsächlich prima zwäg. Heute morgen waren wir wieder in Frauenfeld, wie übrigens alle Tage. Das Kaff kenne ich jetzt dann bald von oben, ebenso den Weg über Winterthur. Nur e i n e s haben wir alle: Schlaf! Das Staffelfliegen macht müde und wir freuen uns männiglich auf den Sonntag; zum „Pfusen“. Morgen Samstag werde ich sehr wahrscheinlich in Zürich noch an die Scheuchzerstrasse gehen, und ich werde mein Möglichstes tun, um die alten Leute Tanner nach Bern zu lotsen. So, nun sollte ich noch die Geographie des Emmentals lernen, da morgen Geographie Klausur bei Oberst.Lt. Zobrist. Aber d e r erwischt mich nicht in meinem liebsten Fach ausser dem Fliegen.
Empfange nun die herzlichsten Sonntagsgrüsse und einen lieben Kuss
von Deinem Gusti
Natürlich sind in diesen Grüssen auch Aetti und Lilly eingeschlossen.
*
Dübendorf, 19.2.1939 22.50 (53)
Mein liebes Mueti,
Gott sei Dank ist wieder ein Sonntag vorbei und dass morgen die Arbeit wieder beginnt! Solche Sonntage ohne Ruth sind saumässig. Ich pflegte gestern und heute Äste wie selten. Gestern Nacht habe ich sogar wieder einmal geweint. Gestern Nachmittag war ich 2 Stunden bei Mutter Tanner. Sie ist relativ verständig, während mir der alte Herr immer weniger gefällt. Eben als ich gehen sollte, kam er nach Hause. Natürlich musste ich noch einmal hinein, ja an den Armen zog er mich mit. Und nun, stell Dir vor, der Alte hat Ruth als Leiche 6 mal fotografiert – und diese Bilder zeigte er mir, natürlich unter Tränen. Auch mich hats wieder tief erfasst. Da sah ich die liebe, tote Ruth tief in Blumen gebettet, auf der Ottomane liegend und im Sarg. Im Sarg hielt sie in den gefalteten Händen auf der Brust einen Strauss weisser Nelken. Ob es meine gewesen sind? Ich habe mich gefragt.
Habe heute in Höngg bis gegen Mittag geschlafen.
Hier hört dieser Brief auf……
*
Dübendorf, 22.2.1939 21.45 (54)
Liebstes Mueti und Anverwandte,
Besten Dank für Päckli und Brief von Mueti. Au Du, ich sage Dir, DAS ist ein Dienst wie Gold. Gestern, heute morgen, alle Tage Fliegen! Heute morgen hingen wir 1 Stunde 17 Min, über den Wolken in der 7ner Staffel. Die ganze Ostschweiz lag unter der Decke – und wir sieben jungen Kerle hingen an der Sonne. Ganz gross wars!
Jetzt was anderes: Ich komme am Samstag heim. Aus zwei Gründen. Erstens sehe ich, dass meine Züri-Aufenthalte katastrophal auf meine Nerven wirken – und DIE habe ich momentan verdammt nötig. Zweitens gibt es in Bern ausser Euch noch jemanden, der mich ein bisschen gern hat. Also! Am Sabattabend allerdings werde ich weder ins Theater noch ins Casino gehen. Was gespielt wird, wird sich zeigen. Bitte entschuldigt die Schrift, aber bis jetzt hatten wir offiziellen Schulhöck in Gala.
Gusti
PS. Beiliegend den Schlüssel, den Du mir geschickt hast, ich brauche den nicht, da ich noch einen zweiten solchen habe.
Gruß Gusti
*
Dübendorf, 2.3.1939 12.07 (55)
Meine Lieben,
So, will rasch einige Zeilen berichten. Abends hatte ich bis jetzt keine Zeit, da Monatsabschluss der Starkontrolle gemacht werden musste. Gestern Abend war die ganze Meute im Kino „Frauen für golden Hill“. Auch den Sold gab es gestern, ganze Fr. 20.00 bleiben übrig nach Abzug des Essens und Fr. 80.00 für Versicherung. Beiliegend Quittung. Und jetzt wird Tag für Tag geflogen. Gestern den ersten Höhenflug, allein von St. Gallen, Wil, Rapperswil, Dübendorf auf 3000m über dem Boden. Sauschön wars aber kalt! Werde jetzt noch Staub in Thalwil schreiben für nächsten Sonntag.
Sollte mit der Zeit Socken haben!
Nun herzliche Grüße Euer Gusti
*
Dübendorf, 6.3.1939 18.10 (56)
Servus!
So, der Sonntag wäre wieder vorbei. Ein Wochenende wars wie Gold. Erst der fantastisch schöne Höhenalpenflug und in Züri und Thalwil wars eisern. Samstagnachmittag mit Kameraden diverse Bars unsicher gemacht, abends bis 22.00 bei Tanners. War sogar ganz nett. Die alten Leutchen umsorgten mich, als ob ich ihr Sohn wäre. Und essen und gut trinken scheint beiden zu gefallen, na ja, mir ja soweit auch. Abends 23.10 in Höngg pfusen bis 10.00 und 12.00 ab nach Thalwil. 12.30 feudales Mittagessen bei Herr Vetter und Frau Base. (Sherry Brandy, prima Wein und Rauchwaren!) Draussen Regen in Strömen und mein Mantel in Dübendorf. Vetter Staub stellte mir grossen Wagen und Chauffeur nach Dübendorf zur Verfügung. Er und seine Gemahlin kamen auch mit. 15.30 wieder auf Bellevue Platz in Züri. Da kam der grosse Moment, als ich dem netten alten Herrn die Hand zum Abschied drückte, blieb mir die Sprache weg! Ganze 50!!! Hebel liess er in meiner Obhut. Als ich mich „sträubte“, meinte er, ich solle keine Geschichte machen, so ein Leutnant könne mal einen kleinen Zuschuss zum mageren Sold gut vertragen. Im Übrigen solle ich bald wieder kommen. Ihr seht also, die Sache ist richtig!
Traf nach 10 Min. „Gutz“ ganz per Zufall. Nachtessen im St. Peter, und dann waren wir beide, er in Zivil, in der Corso Bar. Habe zur Abwechslung einer Polin das sehr sparsame Kleid ein bisschen zerrissen beim Tanzen. Tragisch hats niemand genommen, es war zu lang. Oben spärlich und unten zu lang, dass halt mein Fuss so einen Fetzen erwischte. So, das wären meine Taten der letzten Tage. Sende nun die Fr. 50.-- heim, könnt sie vielleicht brauchen, mir langt es sonst.
Gruß Gusti
*
Dübendorf, 10.3.1939 12.05 (57)
Servus!
Sende hier meine Wäsche in der Annahme, dass zu Hause alles wohl sei, da Ihr es nicht mal mehr für nötig findet, mir auf zwei Briefe zu antworten, so habe ich das Gefühl, dass wir unter Umständen mündlich miteinander verkehren könnten. Ich komme also morgen heim, und es würde mich sehr freuen, wenn Mueti ein bisschen zu Ansichten kam, die sich sehr wahrscheinlich nur zum Teil – mit meinen eigenen decken.
Gruß Gusti
*
Dübendorf, 14.3.1939 12.06 (58)
Meine Lieben,
Vorerst dem Mueti herzlichen Dank für seine Zeilen. Du siehst, wir sind also gut um 01.45 in Dübendorf gelandet, aber verdammt rasch war dann Morgen. Die Fahrt verlief ohne jeglichen Zwischenfall.
Gestern herrschte Sauwetter und trotzdem Flugdienst den ganzen Tag. Ich musste einen Beobachterflug ausführen, der bei stärkstem Schneetreiben abgehalten wurde. Auch während der Schiessanflüge in 80m über dem Greifensee fegte der Schnee schön quer übers Land und Wasser. Der Platz Dübendorf lag im Schneesturm und trotzdem landete unsere Flugklasse sauber und präzis beim Landepfeil – jeder allein.
Ja, auch ich freue mich, für nächsten Samstag, wenn schon ich ohne „avec“ erscheine. Von Nanni erhielt ich einen lieben Brief, in dem sogar wieder sehr nett von m e i n e m Mueti die Rede war, d.h. Nanni gebot mir, trotzdem es in Lausanne sei, nach Bern zu Mueti zu gehen. Mueti, ich habe Dir schon mal gesagt, dass Nanni Dich gern hat, also liegt es zum grössten Teil an Dir, dass unser schönes Verhältnis so bleibt, wie es jetzt ist. Heute morgen tippelten wir bei gröbster Bise und Schneefall 4 Stunden um Volketswil herum, zwecks Rekognoszierung des Stützpunkts. Auch nette Aufgabe des Offiziers, von dem der Soldat nichts weiss.
So, nun Schluss und herzliche Grüße
Euer Gusti
*
Dübendorf, 22.3.1939 22.05 (59)
Mein liebes Mueti,
Herzlichen Dank für Deine lieben Zeilen! Vor allem hoffe ich, dass Du nun wieder ganz auf den Beinen seiest, so wie ich. Sieh, trotz des „schönen“ Wetters sind wir gestern und heute geflogen. Besonders heute wars ganz dick! Am Morgen Akrobatik fast bis zum Kotzen und ein Beobachterflug in die Gegend von Winterthur. Musste dort der Töss nach Pulvermagazine suchen. Dabei drückten mich ganz anständige Schneegestöber bis auf 20m über dem Boden. Gut gegangen ist es trotzdem. Am Nachmittag flogen wir per Staffel zu 7 Stück gegen Basel. Über dem Jura mussten wir umkehren, da die Windstärke doch allzu heftig wurde. Aber, trotz allem, es war schön. Wieder in Dübendorf bekam ich den Auftrag, bei Turbental 3 Brücken von oben zu zeichnen. Habe es gemacht, und musste als 3. Beobachterflug heute nachher noch bei Ingenhausen am Pfäffikersee ein altes römische Kastell aus 1000m Höhe abzeichnen. (Die schwarzen Minen sind aus), also geht‘s auch so. Du siehst also, unser Tagesprogramm war ganz gäbig voll. Doch so gefällt‘s mir doch bedeutend besser als im Theoriesaal. Heute Abend war wieder einmal offizielles Nachtessen mit abschliessendem Höck im Casino. Bier und Kirsch floss in Strömen, Habe mich allerdings um 21.15 gedrückt und nun bin ich ganz allein in unserer Villa. Da ich von Nanni ebenfalls heute einen Brief erhalten habe, so schrieb ich halt jetzt noch retour. Weiss der T…, warum ich dieses Mädel so gern habe. Ich frage mich, ob es darum ist, dass Nanni hübsch ist und gut küssen kann oder was denn los sei. Schon oft komme ich mir wie ein Luder vor, der toten Ruth gegenüber. Wenn Du wüsstest, wieviele Äste ich aus diesem Grund schon gehabt habe! Oder bin ich einfach unheimlich lebenshungrig? Das sind Fragen, die ich mir schon oft gestellt habe, und für die ich noch keine Antwort fand. Kannst Du sie mir geben? Und nun genug für heute, Erhalte die herzlichsten Grüße und ein Müntschi
von Deinem Gusti
Gruß an alle und bitte bald Antwort auf meine Fragen.
*
Dübendorf, 3.4.39 (60)
Meine Lieben,
Ganzer Tag Flugdienst. Schön war‘s und gäbig warm.
Bitte: Plötzlichstens meine genagelten Bergschuhe senden, da nächstens Nacht Patr.Lauf à la System „Hörnli Türgg“. Besten Dank für Wäschesäckli (ohne Begleitschreiben)
Herzliche Grüße Euer Gusti
Sollte dann mit der Zeit neue Hemden haben, da die Aussichten auf freie Ostertage sehr gering sind.
Neuestes: Bei Entlassung der Wehrmämmer aus dem WK wurden jedem 10 Laden scharfe Munition in die Hand gedrückt, samt beinernem Totentäfeli um den Hals. Offiziere fassten 72 Schuss für Pistole. Haben heute die Deutsche Grenze von Koblenz bis Schaffhausen abgeflogen.
*
Dübendorf, 18.4.39 21.30 (61)
Mein liebes Mueti,
Vorerst besten Dank fürs Telefon. Allerdings erchlüpfte ich mächtig, denn wir besprachen gerade mit Oblt. Wagner einen 5000m Höhenflug. Düb.-Altenrhein-Basel-Dübendorf. Wenns Wetter nur einigermassen gut ist, wird gestartet. Und wir fliegen nun Jadtflugzeuge, Devoitine D-26. Nach dem hochgradig nervösen „Bücker“ ist es wie ein Lastwagen zu einem Rennauto. Aber dafür „tifiger“. Rutschen wir doch nun mit 200 km/h in der Welt herum. Du, ich habe letzte Woche rund 14 Stunden oben gehangen, und bin von Wind und Wetter ganz verbrannt. Doch dabei ist mir sauwohl. So Flieger zu sein für meine Heimat ist halt doch ganz gross, und die Fliegerei packt mich Tag für Tag stärker. Letzte Woche war von A-Z bäumig. Alle Tage 2-3 Höhenflüge. Habe mir am Dienstag morgen Chur und den Bergsturz bei Flims angesehen. Ferner beobachtete ich am Mittwoch einen riesigen Brand eines Bauernhauses am Zugersee und schlussendlich flogen wir am Donnerstag bei Nacht. Das grenzt nun allerdings an Schönheiten, wie sie nur in 1000 und eine Nacht vorkommen. Dass die Nachtfliegerei gefährlich sein soll, glaube ich nun nicht mehr. Am Samstag „Pro-Aero-Flug“ in 7ner Staffel über Dübendorf-Zürich-Baden-Frick-Schwyz-Liestal-Olten-Aarau-Bremgarten-Zug-Schwyz-Brunnen-Altdorf-Glarus-Weesen-Lachen-Wädenswil-Dübendorf. Dies alles in einem Flug. (Lilly soll sich die Strecke mal auf der Karte ansehen). Das macht ca. 350 km in 2h 52 Sek.! Und nun wollen wir hoffen, dass das Wetter morgen gut ist, denn wir wollen FLIEGEN!!
Ich muss um Entschuldigung bitten, ich habe nicht geschrieben letzte Woche; war aber der Meinung, dass ich Muetis Brief verdankte. Aber alle Abende war etwas los – und Höhenflüge machen müde.
Und nun hoffe ich, dass sich Muetis Nerven – die keine sind – wieder erholen, und schliesse
Mit herzlichen Grüssen
Euer Gusti
*
Dübendorf, 1.5.1939 22.00 (62)
Mein liebes Mueti,
Natürlich gut wieder in Dübendorf gelandet. Das Beste: Heute morgen, als ich dem Kondukteur das Billet nach Menziken zeigte, um nach Aarau zu rutschen, lies schütteln, fragte er: „Diräkt?“, als ob ich noch in den diversen Käffern einen Frühschoppen tränke! Von Aarau, wo ich 4 Min. Aufenthalt hatte, nach Zürich habe ich herrlich geschlafen. Um 10 Uhr in Dübendorf, wo ich Wohnungswechsel hatte.
Neue Adresse: Lt St., Düb. CASINO Zimmer 12.
Nur zu zweit, mit Siegfried. Die Bude ist ebenso hübsch, und noch neuere Betten mit neuen Matratzen. Wie ich heute schlafen werde!!!!
Heute waren wir den ganzen Nachmittag in Olten, d.h. auf dem Flugplatz Menzikon sah ich aber, dass der Weg übers Moos führte.
Ich hoffe, dass Du noch schöne Stunden in Deiner so lieben Heimat verbracht hast und schliesse
mit den herzlichsten Grüssen
Dein Gusti
PS: Von Nanni habe ich schon einen Brief erhalten. Es ist halt doch ein liebes Mädeli!
*
Dübendorf, 6.5.1939 13.20 (63)
Meine Lieben,
Bleibe bis gegen Abend hier, da die Moneten verdammt knapp geworden sind. Aber bis am Mittwoch geht es noch. Tag für Tag waren wir jetzt oben – schöne Zeit, so eine Fliegerschule! Es ist nur schade, dass das Fliegen auf Devoitine D27 auch schon bald fertig ist. Bald schon kommen die schweren Beobachterflugzeuge dran. Die Beoabachter kommen am Montag. Am Dienstag fliegen wir bei schönem Wetter einzeln die Strecke: Düb-Illanuz-Thun-Lausanne-Genf-Basel-Düb., rund 630km. So werden wir wieder einen gäbigen „Bitz“ unseres Ländli sehen.
Beiliegend einige Photos. Bitte n i c h t weggeben oder einkleben!
Herzliche Grüße und alles Gute! Gusti
*
Dübendorf, 15.5.1939 20.17 (64)
Mein Liebes Mueti,
Besten Dank für Wäsche und süsse Zugabe. Natürlich wieder gut in Dübendorf angekommen und um 22.15 im Bett.
Du, Mueti, ich bin ziemlich restlos glücklich. Meine Jugendträume, Offizier und Flieger zu werden, sind in Erfüllung gegangen – und dazu habe ich noch ein Mädeli, das mich gern hat. Ja, Mueti, ich will alles tun, um mich der jungen Liebe von Nanni würdig zu erweisen. Doch vorerst war heute wieder mal Nicht-Flugdienst. Mir persönlich war es noch gleich. Plagt mich doch den ganzen Tag gleichmässiges Bauchweh mit kötzerischem Gefühl und Durchfall wie Bergluft verbunden. Jetzt werde ich noch einen Wermuth trinken, und in 1/4 h bin ich im Bett.
Guet Nacht und herzliche Grüße von Deinem Gusti.
*
Dübendorf, 17.5.1939 18.00 (65)
Mein liebes Mueti,
Vielen Dank für Deinen lieben Brief! Ja, mir geht‘s wieder gut. Allerdings blieb ich den ganzen Dienstag im Bett und habe richtig ausgeschlafen. In der Nacht vom Montag auf den Dienstag ging ich fünf Mal auf den Lokus. Doch jetzt ist alles in bester Ordnung. Heute sind wir wieder (endlich!) geflogen und diese Nacht werden 30 km getippelt über das Züri Oberland. Dafür werden wir morgen schlafen, und am Nachmittag werde ich vermutlich in Nesslau abgeladen und kann mit meiner Patrouille den Steiss beginnen. Vielleicht schlage ich bei Göldis Alarm.
Jetzt aber Schluss. Herzliche Grüße und ein Müntschi Gusti
*
Mittwoch, 17.5.1939 (66) Bemerkungen von Lilly
Ich fürchte, dass meine Mutter und ich uns nie ganz verstehen werden. Ach, wenn doch nur Gusti zu Hause wäre! Er ist noch der einzige, der hie und da nett zu mir ist. Ich muss einfach still werden und mich damit abfinden, dass ich in unserer Familie überflüssig bin.
Ich habe mich versteckt und bin ganz still geblieben, als sie mich suchten.
Aber das tut weh, sehr weh!
*
Samstag, 20.5.1939
Ja, drei Tage haben wir es ausgehalten ohne ein Wort zu sprechen. Heute haben sie mir dann gemeinsam eine Strafpredigt gehalten. So leid es mir tut, aber sehr zu Herzen genommen, habe ich mir das nicht. Im Garten habe ich mich auf dem Ahornbaum versteckt, und ich blieb ganz still, als sie mich suchten. Ja, so boshaft bin ich geworden. Sprechen tue ich nur gerade das Nötigste.
*
Dübendorf, 22.5.1939 (67)
Mein liebes Mueti,
Vielen Dank für Deinen so lieben, langen Brief! Ich sehe daraus, dass es bei Staubs zu Hause wieder einmal s e h r freundlich aussieht. Ja, ich werde meiner „lieben“ Schwester einen Schreibebrief abgehen lassen und versuchen, ihr Diverses klar zu machen. Du, am Samstag morgen hast Du sicher an den Himmel geschaut – so um 10.15, als ich mit meiner 3er Patrouille mit Vollgas eine Steilkurve über dem Kirchenfeld drehte! Um 09.20 versuchte ich Dir anzuläuten, doch war niemand zu Hause. Bei dichtestem Dreck stach ich dann 15 Min. später mit meinen beiden Kameraden unter dröhnendem Motorengeheul über des netten Obersten Haus in Menziken. Direkt einen Tiefangriff führte ich gegen seine Fabrik aus. Doch reklamieren kann er nicht, denn die Regenwolken hingen bis auf 20 Meter über dem Boden. Und gut heimgekommen sind wir trotzdem. Am Nachmittag war ich an der „Landi“, ja, die Schweiz kann stolz sein auf dieses Werk!! und wir können stolz sein, Schweizer zu sein. Abends traf ich dann Nanni samt ganzer Familie im Vergnügungspalais. Zwar waren uns nur kurze Minuten des Alleinseins beschieden, doch ich bin ja glücklich. Schon um Mitternacht war ich in Höngg im Bett und habe dann den ganzen, verregneten Sonntag geschlafen.
In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag war Patrouillenlauf im Hörnligebiet, und heute stellte es sich heraus, dass unsere Patrouille das beste Marschresultat erzielte. Unser Tagewerk von heute bestand darin, dass wir regelrecht die Zeit tot schlugen. Von Fliegen natürlich keine Rede, da der Platz Dübendorf wieder dem Bodensee ähnlich sieht.
So, nun gute Nacht. Herzliche Grüße und ein Müntschi vom Gusti
Gruß an alle
*
Dübendorf, 24.5.1939 (68)
Servus Lilly,
Vorerst besten Dank für Deinen Brief. Sieht Du, es freut mich ja, dass Du mit Deinen Sorgen zu „Brüetsch“ kommst. Du beweist genau, dass ich bis jetzt immer bemüht war, Deine Klagen zu begreifen. Auch ich hatte diese Zeiten durchzumachen, denn so mit 14-16 Jahren war ich Mueti und Vater gegenüber ein richtiger Flegel. Bei einem Mädchen kann man diese Benennung nicht gut anwenden, doch Du wirst meine Bemerkung verstehen.
Versuch doch einmal Mueti etwas besser zu verstehen. Schau, unser Mueti ist die patenteste Frau, die existiert. Du klagst mir, dass Dich niemand in unserer Familie gern habe. Das stimmt nun glattweg nicht. Vater und Mutter haben Dich sehr lieb und beide wollen gewiss nur das Beste für Dich. Und wirklich zu beklagen hast Du Dich nicht. Wenn Du wirklich studieren willst, so nehmen unsere Eltern wieder ungeheure Lasten auf sich. Sie tun dies auch alles für mich, schon daraus kannst Du sehen, dass die Liebe unserer Eltern gleichseitig verteilt ist. Was Mueti am meisten unglücklich macht, ist das, dass Du durchs Band weg kein Interesse für ihre Arbeit an den Tag legst. Versuch doch nur einmal die Kleinigkeit, nur EINE Woche lang ohne ein Wort zu verlieren, aber mit freundlichem Gesicht, ein Abtrocktüchli in die Hand zu nehmen und rasch und freudig zu helfen. Du wirst sehen, es wird Wunder wirken! Mueti ist ja mit wenigem zufrieden. So, nun aber Schluss mit meinem Epistel!
Morgen Donnerstag werden wir sehr wahrscheinlich in Genf Mittag essen. Unser 600km Flug ist fällig. Heute flogen wir den ganzen Tag Akrobatik. Hui, das pfiff wieder gäbig um die Nase. Im Rückenflug mit Looping vorwärts und all den schönen Sachen.
Und nun hoffe ich, dass für Euer Besuch an der „Landi“ schönes Wetter herrscht.
Und es grüsst Dich herzlich Dein Bruder Gusti
*
Dübendorf, 25.5.1939 12.36 (69)
Liebes Mueti,
Vielen Dank für Deinen lieben Brief! Gestern habe ich Lilly nun geantwortet, und ich hoffe, dass meine Zeilen selbst „ihr“ einigen Eindruck hinterlassen.
Und nun möchte ich Dich bitten, mir ein Säckli mit Hemden (ein weisses und Socken zu senden.
Samstag haben wir bis 17.00 Uhr Dienst, und ich werde gegen 18 Uhr in Zürich sein. Als Familientreffpunkt möchte ich das Bahnhofbuffet II. Kl. vorschlagen und zwar ab 18 Uhr. Vielleicht kannst Du mir Eure genaue Ankunft noch mitteilen. Das Wetter pfui Teufel! Wir alle sind fast am Verrückt werden, und unsere Laune sinkt von Tag zu Tag tiefer.
Also auf baldiges Wiedersehen und herzliche Grüße Gusti
P.S. Bitte Dienst- und Schiessbüechli nicht vergessen!
*
Dübendorf, 6.6.1939 12.25 (70)
Mein liebes Mueti,
So, zwei schöne, aber heisse Tage wären vorbei. Gestern besuchten wir die Saurerwerke in Arbon von Altenrhein aus und heute morgen war unsere 7ner Staffel „daheim“, d.h. auf dem Belpmoos. Ziemlich genau um 11 Uhr überflogen wir in 1000m Höhe die KWD. Leider hatte ich keine Zeit, Dir zu telefonieren. Nachmittags gabs einen kurzen 5000m Flug nach Schaffhausen und sonst noch eine Landung in Dübendorf. Und morgen, um 07.00, kommt der grosse Moment, wo uns jungen Piloten unsere Beobachter Kameraden das erste Mal anvertraut werden. Also wieder einen Schritt weiter – und die Verantwortung wächst damit. Bis jetzt trug ich nur meine eigene Haut zu Markte, doch von morgen an wären es zwei, die ins Gras beissen könnten bei einer Saulandung. Aber wir werden unsere Fokker so zart und fein wieder zu Erde zurückführen, wie ….äh, eben wie man eine Frau berührt. Ein besserer Vergleich fällt mir jetzt im Moment nicht ein.
Anmerkung L. Zimmerli: hier endet dieser Brief, d.h. ich finde keine Fortsetzung.. (17.5.2012)
*
Dübendorf, 9.6.1939, nach Mitternacht. (71)
Liebes Mueti,
Komme soeben von einem ganz netten Abend im Heim von Oblt. Wagner nach Hause und will nun noch in Eile meine Wäsche absenden. Werde Dir dann meine Adresse von Lausanne raschestens zukommen lassen. War heute um 10.30h über Bern, kam von Luzern her über Eiger, Mönch, Jungfrau, Thun wieder nach Dübendorf. Beobachterfunk-Flug auf 4800 m und zwar ¼ Std. Saukalt aber schön.
So guet Nacht, um 05.00 Uhr ist Tagwacht.
Herzl. Grüße Gusti
*
Thun, 19.6.1939 21.58h (72)
Mein liebes Mueti,
Besten Dank für Säckli und kurzen Brief.
Heute morgen also in Lausanne per Staffel gestartet und 40 Min. später kreisen wir um 09.20 über Bern. Das Kanti in Thun ist etwas besser als Lausanne. Traf hier den Leutnant Ruedi Gygax und Rekrut Burkhalter! Samstag und gestern war soweit schön, dass jedoch Nanni nicht mit auf den Gurten gebummelt ist, daran habe ich mich gestossen. Doch nun sind wir schon fast alle im Bett, auch ich will nun schlafen.
Guet Nacht und sei herzlichst gegrüsst vom Gusti.
Bitte sende ein Turnleibchen.
*
Dübendorf, 21.6.1939 12.38 (73)
Mein liebes Mueti,
Gestern war den ganzen Tag kein Flugdienst, da allzu „schönes“ Wetter. Heute allerdings waren wir oben. Ich kam gäbig tief über Bern Kirchenfeld. = 3 mal Gas weg und nun hat einer von unserer Schule ins Gras beissen müssen. Lt. Decombaz und Lt. Hagen (s.Bern Beob.) sind im Jura im Nebel hängen geblieben. Hagen tot, Dec. Pilot leicht verletzt. Sie haben wenigstens ihre Pflicht erfüllt, ihre Aufgabe gelöst, und das ist meiner Meinung nach die Hauptsache.
Morgen muss unsere Staffel über dem Eidg. Schützenfest mit den Schweizerfahnen über Luzern kreisen! Trotz Hagens Tod werden wir fliegen, heute Nachmittag auch. Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen – und Du musst auch tapfer sein, Deinem Gusti passiert nichts, denn Mueti betet ja für mich.
Herzliche Grüße Gusti
*
Dübendorf, 29.6.1939 12.10 (74)
Mein liebes Mueti,
Herzlichen Dank für Deine Zeilen und das Säckli! Gestern dachte ich häufig an Deine Wäsche – und schönes, herrliches Flugwetter haben wir auch. Heute morgen kreiste ich die längste Zeit um den Säntis Gipfel und in ca. 3 Std. bin ich sehr wahrscheinlich im Bündnerland. Nächsten Samstag bin ich von 11.30 bis 12.45 im Casino und gehe mit dem Zug 13.15 nach Zürich.
Neuigkeiten habe ich keine zu berichten ausser, dass ich munter bin wie ein Fisch im Wasser! D.h. also prima zwäg. Lilly wünsche ich gute Besserung und verbleibe
mit den herzlichsten Grüssen Euer Gusti.
Werde mich nun auf die Suche nach Pyjama begeben. Gusti
*
Dübendorf, 30.6.1939 20.20 (75)
Liebstes Mueti,
Vielen herzlichen Dank für Deinen so lieben Brief und Päckli! Deine Zeilen habe ich eben das dritte Mal durchgelesen und finde darin Deine tiefe Liebe zu Deinem Bueb. Auch ich habe zurückgedacht um einige Jahre. So jung ich ja noch bin,
v i e l hat mir das Leben schon gebracht. Mein Jugendtraum, Flieger und Offizier zu werden, ging in Erfüllung und dass „Gy“ jetzt halt einem andern gehört, darüber werde ich mich hinwegsetzen. Momentan geniesse ich ja die Liebe eines hübschen Mädchens, und morgen werden wir beide glücklich sein.
Gestern war ich dann richtig gehend im Bündnerland und zwar über Rueras, Sedrun. Habe über dieser Gegend Erinnerungen aufgefrischt, und beinahe wieder „Äste“ bekommen. Jedenfalls grüsste ich auf dem Heimflug lange und ernsthaft das Grab meiner lieben toten Ruth, die ich, komme, was kommen möge, nie vergessen werde. Ruth war eine Frau, die ich tief liebte, und die ich jetzt noch liebe. Doch das Leben ist halt hart, und oft reisst es auseinander, was vielleicht nach menschlichem Ermessen zusammen gehörte. Doch jetzt genug der traurigen Nachgrübelei, wir sind jung, und noch ist die Welt nicht mit Brettern vernagelt.
So, nun haben wir heute Abend ein Abschiedsfest bei Oblt. Wagner.
Sei herzlich gegrüsst und geküsst
von Deinem Gusti
*
Dübendorf, 3.7.1939 22.10 (76)
Mein liebes Mueti,
So, nun geht‘s nur noch 5 Wochen, bis die so heiß ersehnte Fliegerschule auch „ume Egge“ wäre. Wir nehmen diese nicht mehr tragisch, das wurde heute Abend in Corpore beschlossen.
Nun will ich dir noch kurz meinen Rapport des Wochenendes geben. Also, ich hatte mit Nanni abgemacht, dass wir uns um 13.30 im Bahnhof Zürich treffen wollten. Um 10 Uhr hatten wir Abtreten und um 10.30 erhielt ich telefonisch den Befehl, von Hptm Troller, dass ich sofort nach Payerne fliegen müsse, mit einem neu revidierten Fokker, also noch quasi Einfliegen. Fluchend meldete ich mich am Start, da hiess es, Lt. Brenzikofer fliege für mich. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zur angegebenen Zeit traf ich dann mein Mädel. Und es wurde ein schönes, wenn auch verregnetes Wochenende. Ja Mueti, ich war glücklich. Doch nur viel zu rasch waren diese schönen Stunden vorüber, und am Sonntagabend, um 21.20, entführte der Zug mein Nanni wieder heim und m e i n Tram rutschte um 21.25 gen Dübendorf.
Lillys Brief samt Inhalt machte mir grosse Freude, und mit Stolz legte ich meinen Berner Bär neben das Cigaretten Etui. Vielen Dank dafür. Das Päckli aus dem Engadinerhof war von Meni. Inhalt: Beiliegende Karte und einen Strauss Alpenrosen. Von „Gy“ erhielt ich, wie jedes Jahr eine Berndeutschkarte mit Ankündigung, dass ein langer Brief folgen werde. Von Aetti erhielt ich auch eine liebe Karte mit den besten Glückwünschen.
So das wäre in kurzen Zeilen das Neueste. Ich hoffe, dass daheim alles gesund und zwäg sei wie ich und schliesse mit den herzlichsten Grüssen und einem Müntschi.
Dein Gusti
*
Dübendorf, 5.7.1939 23.50 (77)
Liebes Mueti,
Schon wieder muss ich Dich bitten, den Kopf oben zu behalten und stark zu sein.
Ltn. Rolaz ist heute um 16 Uhr beim Umschulen auf C35 abgestürzt. Resultat: Pilot tot (kein Beobachter), Maschine restlos hin. Doch wir sind Soldaten, und hoffentlich ist morgen Flugwetter. Am Samstag bin ich in Bern. Bitte teile mir mit, ob Ihr noch zu Hause seid.
Herzliche Grüße – und nicht zweifeln!!!!
von Deinem Gusti
*
Dübendorf, 14.7.1939 12.10 (78)
Mein liebes Mueti,
Besten Dank für Deine Zeilen. Am letzten Sonntag habe ich nach Eurer Abfahrt noch bis 10 Uhr geschlafen und dann Alfa angeläutet, der mich dann prompt zum Mittagessen einlud. Habe natürlich dankend angenommen. Am Nachmittag machten Alfa und ich einen Bummel der Aare entlang und im Dählhölzli Nachtessen. Nanni habe ich nicht mehr gesehen, dafür „hunderte“ von jungen Frauen, die sich badend in der Aare tummelten. Auch ich sehe ganz langsam ein, dass Nanni nicht d i e Frau ist für mich. Um 22.10 war ich dann wieder in Dübendorf. Nach Bern gehe ich erst wieder an unserem Entlassungstag, also am 5.8.. Der Dienst beginnt langsam öde zu werden, das heisst nur Theorie, da unser Flugdienstbudget zur Neige geht.
Nun wünsche ich Euch allen recht frohen Sonntag und weiterhin viele schöne Tage.
Gusti
*
Dübendorf, Sonntag, 16.7.1939 (79)
Mein liebes Mueti,
Gott sei Dank ist wieder ein Sonntag vorbei! Weiss der T.., aber ich habe einen ganz blödsinnigen Ast. Gestern war ich am Nachmittag auf Ruths Grab --- und lange stand ich schweigend vor diesem kleinen Fleckchen Erde, das einen mir so teuren Menschen birgt. Und immer und immer wieder stieg in mir die verdammte, quälende Frage auf: WARUM? Jetzt, wo die sorglos glückliche Zeit der Pilotenschule sich langsam dem Ende nähert, beginne ich wieder ein wenig weiter über die Nase hinaus zu denken als bis jetzt. In wenigen Monaten schon soll ich wieder die Schulbank drücken – ein mir grässlicher Gedanke. Doch auch d i e s e 1 ½ Jahre werden noch zu überstehen sein.
Du, Mueti, ich weiss, dass ich Dir in den letzten 5-6 Monaten oft weh getan habe. Ich weiss, dass Du mein Verhältnis zu Nanni nie gebilligt hast – und dass Du es nie billigen würdest. Du sagtest mir einmal vor ½ Jahr, dass du mich nicht begreifen könnest. Jetzt begreife ich DICH. Zugegeben Nanni ist hübsch, und küssen kann es auch, aber seit geraumer Zeit sind Zweifel in mir erwacht, die ich nicht einfach unterdrücken kann. Nämlich Nannis Gesundheit und seine negative Einstellung zum Sport. Immer wieder zwingen sich mir die Vergleiche auf zwischen Ruth, „Gy“ und Nanni. Und bei diesen Vergleichen kommt, bei ganz ehrlichem objektivem Beurteilen, Nanni schlecht weg. Doch, was habe ich schon von diesen Vergleichen, wo mein Ideal von Frau bisher für mich nicht zu erreichen ist? Ruth ist tot, „Gy“ mit einem Pfarrer verlobt.
So, nun aber Halt mit diesen trüben Gedanken. Morgen beginnt ja wieder der Dienst und vielleicht (je nach Kassenstand) komme ich nächsten Sonntag zu Euch. Bitte sende mir nun auf Ende Woche Socken und bitte rasch einen Waschlappen! Und nun sei herzlich gegrüsst und erhalte ein Müntschi vom Gusti
Lilly meinen besten Dank für den Brief, ebenso herzlich verdankt seien Deine Zeilen.
*
Dübendorf, 28.7.1939 22.00 (80)
Mein liebes Mueti,
Vorerst vielen Dank für Säckli und Brief! Wie ich aus diesem ersehen kann, seid Ihr ja vom Wettergott auch nicht grad begünstigt. Doch von heute an wird‘s besser. Gestern waren wir aber trotz Regen und Sturm in Thun und Bern und zwar per C 35. Sauschön war‘s, über dem Breitenrain und Muri waren wir wegen den Wolken sicher nicht höher als 20 Meter unten. Heute haben wir den ganzen Tag in Kloten mit den Flugzeugen geschossen und wenn Du diesen Brief erhälst, sind wir sicher schon zurück von Bellinzona, Lugano, Locarno. Ja, wenn es dann das Wetter will, so startet unsere Klasse in 10 Stunden e i n z e l n, (d.h. jede Maschine C35, also Pilot und Beobachter) fliegen auf getrennten Strecken in den Tessin. Ich über Wolfenschiessen. Die Ecke nach Klosters wäre etwas zu gewagt, da wir nur 1½ Stunden Flugdienst haben dürfen, bis wir bei Locarno landen.
Am Sonntag gehe ich noch zu Tanners.
Und jetzt aber ab ins Bett, denn morgen ist unser grosse Tag: ALPENFLUG!
Nun denn herzliche Grüße, auch an meine blonde Tanzpartnerin.
Und schönen Sonntag.
Gusti
*
Dübendorf, 1.8.1939 22.20 (81)
Meine Lieben,
Wieder einmal 1. August, und ich habe einen Ast. War heute Abend bei Tanners zum Nachtessen eingeladen. Spiegeleier, Kartoffelsalat, Salami, Bier, Wein, Schnaps, einfach alles, was ich gerne habe, wurde aufgetragen.
1. August!!!! Heute Offizier und Militärpilot, letztes Jahr Brevet 1 geflogen, vor zwei Jahren Unteroffiziersschule, vor drei Jahren Rekrutenaushebung, vor vier Jahren Ruth kennengelernt, doch zurückdenken hat keinen Sinn. Vorwärts!!! Am letzten Mittwoch per C35 bei Sauwetter in Thun und Bern. Donnerstag Theorie, Freitag Schiessen C35 in Kloten und Sonntag Flug über den Gotthard in den Tessin: Locarno, Lugano, Chiasso, Bellinzona. Auf dem Heimflug war ich über Klosters und habe im Tiefflug über der Vereinahütte Stilkurven gedreht. Sicher habt Ihr den verrückt gewordenen C35 gesehen, am Nachmittag 16h. Am Morgen 08.10 habe ich in Wolfenschiessen Nanni bei der Morgentoilette gestört und einige Minuten später auf dem Titlisgipfel Touristen gegrüsst. Heute waren wir wieder einmal am morgen in Altenrhein per Zehnerstaffel.
(7) Fliegerformation.
Schön zum Ansehen, aber schwer zum Fliegen. Aber morgen ist Inspektion, durch den Waffenchef, da müssen wir Piloten zeigen, was wir können Hals und Beinbruch!
Gusti
Besten Dank für die Karten.
*
Bern, den 6.8.1939 (82)
Mein liebes Mueti,
So, meine langersehnte Pilotenschule wäre glücklich zu Ende. Mit Stolz und riesiger Freude trug ich gestern meinen „Spatz“ am Ärmel und mein Militärflieger Brevet in der Tasche nach Hause. Ich bin ja so glücklich, dass ich nun endlich DAS habe, was mir seit Jahren erstrebenswert schien. Pilot bei unserer Luftwaffe, Flieger für unsere Heimat zu sein, seinen ganzen Kerl für sein Vaterland einsetzen können, das muss doch einen Jungen mit riesigem Stolz erfüllen! Es ist ja sehr zu bedauern, dass nicht alle, die wir am 30. Januar in Dübendorf zusammen kamen, mit solch freudigem Stolz zu ihren Lieben zurückkehren konnten. Doch gegen das Schicksal ist leider bis heute kein Kraut gewachsen. Uns Jungen werden ja diese gefallenen Kameraden Fingerzeige sein, und an ihren Todesstürzen wollen wir lernen – wie man es n i c h t so macht. Über den letzten Absturz an der Ibergeregg mit Lt. Real als Pilot und Lt. Wälti musst Du nicht studieren und Dir Sorgen machen. Den Piloten trifft die ganze Schuld, denn er machte seinen Eltern dort oben einen Tiefangriff vor, kam dann noch in den Nebel und brach sich an Tannen und Felsen die Flügel, Lt. Real ist unverletzt, Lt. Wälti noch im Spital, jedoch sind seine Verletzungen nicht gefährlich. Der in Vallorb mit Ltd. Hager abgestürzte Pilot Lt. Decombat kam am Freitag zu uns an den Schlussabend, allerdings den linken Arm noch im Gips, im Übrigen aber guter Dinge.
Am Samstagmorgen führte uns Gribi per Auto über Luzern nach Hause. In Luzern musste er rasch an die Himmelreichstrasse 13, was ich benutzte, um einige Häuser weiter vorne Kochers Grüezi zu sagen. Sie lassen Euch alle herzlich grüssen. In Bern traf ich die Wohnung in schönster Ordnung. Am Abend war ich wieder Zivilist mit Krawatte und Hut. Heute war ich Gast zum Mittagessen bei Familie Inderbitzin, und Alfa, und ich verbrachten den regnerischen Sonntag im Casino bei e i n e m Bier und Musik. Heute Abend waren wir zusammen im Schwyzerhüsi am Gurten, wo es neuerdings saunett ist und sogar gute Musik gespielt wird.
Doch nun rückts gegen Mitternacht. Ich will schliessen und wünsch Dir vor allem schleunigste Erholung von Deinem Nervenkrampf. Bitte berichte mir Deine genaue Ankunft, damit i „afe“ d‘Musig bschtelle cha… Und nun sei herzlichst gegrüsst und nimm es Müntschi von
Deinem Gusti
Natürlich sei auch der Rest der Familie gegrüsst, so wie meine Bekannten.
*
Utzensdorf, 28.8.1939 20 Min. nach Mitternacht (83)
Liebstes Mueti,
So, nun bin ich glücklich meine Stiefel und Hosen los, die ich seit Sonntagmorgen 04.30 getragen habe. Gestern Nacht bis gegen 3 Uhr gearbeitet und um 03.15 Tagwacht. Ganze dreissig Minuten lag ich in den Kleidern auf dem Bett. Heute morgen nun per Auto zuerst nach Luzern, wo auf der Allmend die Soldaten unseres Regiments einrückten. Nach dem Mittagessen hatte ich keine Zeit zum Frühstücken, ab per Töff über Sursee hierher, wo ich als erster eintraf. Hatte Glück und fand ganz flottes Zimmer bei Frau Wittwe Studer, alte, nette Dame. Mit meinen Soldaten und Vorgesetzten komme ich gut aus. Fliegen kann ich zwar nicht, ich muss den Stabsoldaten das Waffenhandwerk beibringen. Die ernsten Stunden haben nun auch uns ergriffen und mit heiligem Eifer tut jeder seine Pflicht. Es ist d o c h schön, Offizier und Soldat zu sein.
Nun will ich noch rasch 4 Stunden schlafen und seid herzlich gegrüsst von
Eurem Gusti
Adresse: Lt. Staub Stab Fl.Abt.4 Utzensdorf
Bitte keine weiteren Kleider oder Stiefel schicken.
*
Aktivdienst 1. Mobilmachungstag 2.9.39 14.03 (84)
Mein Liebstes Mueti,
So, nun hat sich vieles gewendet. Gestern war ich noch auf einen Sprung bei Dir, DAHEIM, und einige Stunden später wurde die Generalmobilmachung proklamiert. In unserem lieben Bernerdorf sah ich gestern und heute rührende Abschiede von Vätern, Brüdern und Söhnen. Ich bin froh, dass ich gestern meinem Schwesterchen noch einen Kuss gegeben habe, Lilly wird sich ja kräftig über seinen grossen, „bösen“ Bruder gewundert haben. Effektiv erzählen konnte ich Dir ja nie während des Telefonierens. Nun habe ich gerade einen Moment Zeit. So will ich nun doch in Form eines Briefes, den Du ja sicher aufbewahrst, kurz meine Gefühle während der Vereidigung mitteilen.
Vor allem leide ich momentan wieder unter wahnsinnigem Heimweh nach meiner lieben, toten Ruth, ihr Foto habe ich im Zimmer aufgestellt – während ich kein einziges Bild von Nanni bei mir habe. Als ich beim feierlichen Akt der Eidabgabe als junger Offizier mit blankem Säbel und entblösstem Haupt vor meiner Truppe stand und als die laut und mit heiligem Ernst gesprochenen Worte: „ICH SCHWOERE ES!“ über den Flugplatz tönten, da wanderten meine Gedanken weit übers Bernbiet hinaus zu einem kleinen Fleckchen Heimaterde, zu jenem kleinen Platz, wo meine Ruth in ihrem letzen Schlaf liegt und nie wiederkehrt! Doch ich muss aufhören, in dieser Wunde zu grübeln, denn ich kämpfe mit Tränen, - und das darf ich doch nicht, ich bin doch Offizier meiner Soldaten, die, glaube ich, für mich durchs Feuer gingen. Doch in meinem Zimmer sieht‘s trüb aus wie seit langen Monaten nicht mehr. Jetzt, gerade jetzt hätte ich die Liebe einer Frau wie Ruth nötig gehabt, doch es wird auch ohne das gehen. Ich weiss ja, dass mein Mueti an mich denkt und Ruth als Schutzengel an meiner Seite geht und steht. Heute morgen verteilte ich an meine Soldaten die Erkennungsmarken. Ich weiss nicht, woher es kommt, dass ich plötzlich beim Verteilen der scharfen Munition und dieser Marken meine Gedanken in Worte fassen konnte. Endlich, endlich konnte ich meinen Mannen sagen, um was es gehe, und wie i c h all diese Kriegsvorbereitungen auffasse. Jedenfalls folgte eine tiefe Stille auf meine Worte und ich glaube, ein Pfaffe müsste das gleiche Gefühl nach gehaltener Predigt empfinden, wenn die „Gläubigen“ nach der Rede still die Kirche verlassen. Doch, ich will nicht spotten, meine Einstellung zur Kirche und den Pfarrern kennst Du ja. Und trotz all dem habe ich zu unserem Herrgott gebetet, dass er unsere liebe Heimat vor dem unmittelbaren Schrecken des Krieges verschone und alle meine Lieben zu Hause behüten möge!
So, nun will ich aber schliessen, denn sonst würde ich ganz, ganz grässlich zu Fluchen beginnen, weil ich bei d e m schönen Wetter nicht am blauen Himmel hängen kann, sondern zum Bürodienst verdammt bin. Aber sicher wird später eine Versetzung zu einer fliegenden Kompanie eintreten.
Sei indessen herzlichst gegrüsst und geküsst von Deinem Gusti.
PS. Bitte neue Adressgebung beachten, denn es geht niemanden etwas an, WO unser Stab steht. (Wir bleiben sehr wahrscheinlich hier im Ort.) Keine Ortsbezeichnung mehr, die Post weiss, wo wir stecken.
Lt. Staub Gust. Feldpost
Stab fl.Abt.4
*
Aktivdienst 4.9.1939 (85)
Mein liebes Mueti,
So, ein Tag wäre wieder bald vorbei, d.h. ein gewöhnlicher Zivilistentag. Ab heute ist nun meine Arbeitseinteilung folgendermassen:
18.00-02.00 (Piket auf dem Kommandoposten)
02.00-10.00 Frei(tag)
10.00-18.00 Dienst(ag)
18.00-02.00 Frei
02.00-10.00 Dienst usw.
Sonst geht‘s mir sehr gut und dasselbe hoffe ich von Euch auch zu vernehmen. Da scheints das schöne Wetter nicht mehr abgehalten wird, bitte ich Dich, mir meinen graugrünen Gummimantel und die alte Aspirantenmütze zu senden.
Doch nun sollte ich noch Kriegskarten nachfüllen und sonst die Zeit totschlagen.
Sei bis auf weiteres herzlichst gegrüsst und geküsst von Deinem
Gusti
Auch Lilly lasse ich in diesem Sinne grüssen
* Aus dem Tagebuch von Lilly, Freitag, 8. Sept. 1939 (86)
Was alles geschehen kann in einem Monat! Nun ist es Wirklichkeit geworden, was man letzten Herbst gefürchtet hat, - KRIEG! - Auch unsere Schweiz hat mobilisiert. Gusti ist fort im Militärdienst, Vati immer noch in Graubünden. Frankreich, England und Polen gegen Hitler. Die Schulen haben wieder begonnen, nur unser Progymnasium hat noch frei. Zu allem Schweren kommt noch der Unfriede mit meiner Mutter. Ist es wohl ganz unmöglich, dass wir einmal zusammen gut auskommen? Jetzt, wo doch eines das andere so nötig hätte!! Wenn nur Gusti zu Hause wäre! ……….
Gestern war Raimond Richli wieder da. Sein Vater kämpft mit den Franzosen, er und seine Mutter sind befreundet mit unserer bekannten Fam. Arnholz - und Raimond geht hier ins Gymnasium. Er ist oft bei uns – und eben gestern auch im Schwimmbad auf der Ka-We-De, wo er sich mit Heinz zankte. Er schmiss Heinz dann ins Wasser, was mich wütend machte, denn es ist unfair, Heinz ist ja viel kleiner und wohl schwächer!
Ich zog dann vor, zu gehen! Ich hätte wieder einen Brief von Gusti nötig!
Aber alle persönlichen Sorgen sind ja so klein gegen all das Elend, das jetzt der neue Krieg vielen Tausenden bringt!
Möge Gott unsere Schweiz beschützen!!
*
Sonntag, 10.9.1939 10.10 (87)
Liebstes Mueti,
Hier endlich die gwünschte Wäsche. Habe jetzt wieder Dienst von 13.00- morgens 01.00 Uhr. Also wieder 12 Stunden auf dem Posten.
Herzliche Grüße Euer
Gusti
*
Im Feld, 12.9.1939 18.50 (88)
Mein liebes Mueti,
Habe vorhin eben Trainer und nette Beigabe erhalten, vielen Dank! Du, mir geht‘s prima. Ich nehme zu an Gewicht und „moralischem Halt“. Direkt neben unserem Büro habe ich einen Platz gefunden, wo ich meine Freizeit verbringe. Sehr nette Familie (mit 21 jähriger Tochter, die sich keine Illusionen macht). Jung, hübsch und weit gereist, sie sah London, Paris und steckte das ganze letzte Jahr (bis vor 8 Tagen) in Italien als Kinderfräulein und spricht nebenbei 4 Sprachen geläufig. Du siehst, selbst in diesem gottvergessenen Kaff Utzenstorf hat es noch Leute mit Bildung. Mein schwarzer Kaffee wird mir stets von Frau Kilchenmann (Mutter) serviert. Du, wenn ich das nächste Mal heimkomme, so wirst Du und ganz Bern staunen, denn nach allgemeinem Beschluss lassen sich nun in 8 Tagen alle Offiziere der FL.Abt.4 ---- den „Schnauz“ wachsen. Ich züchte mir nun ein „Flügeli“, wie es unser lieber Aetti jahrelang pflegte. Bis jetzt macht unsere Neuheit kräftig Fortschritte, männiglich hat seine helle Freude daran. Morgen, Mittwoch, habe ich ganze 24 Stunden dienstfrei. Leider muss ich aber im Kantonementrayon bleiben. So werde ich mich halt auf ein requiriertes Velo setzen und an den Emmenstrand pedalen. Werde in Begleitung die Zeit totschlagen und um 01.00 Uhr (nachts) meinen Dienst wieder aufnehmen. Werde Dir morgen Fr. 4.-- zustellen lassen. Bitte sende mir dafür 5 Päckli „North State“, ohne dieses verdammte Kraut halte ich es kaum aus. Direkt lechzend stürze ich mich auf Deine geschickten Giftnadeln.
So, nun dauert mein Postenstehen noch bis 01.00 und dann wird wieder geschlafen.
So wünsche ich Dir und Lilly recht gutes Befinden und sende Euch jedem herzliche Grüße und je einen lieben, festen Kuss
Gusti
*
Im Feld, 20.9.1939 06.20 (89)
Mein liebes Mueti,
Seit 04.45 stehe ich wieder mit kalten Fingern auf dem Posten und denke wehmütig an ein warmes Bett zurück. Bis Mittag habe ich nun Dienst und am Nachmittag muss ich ganze drei Stunden exerzieren.
Von Alfa erhielt ich gestern einen langen Brief. Er sass in Mörel im Wallis. Stinklangweiliges Kaff scheints. Nächstens bezieht unsere Mannschaft ihr Winter-Kantonnement und soll sich moralisch auf weitere 3-4 Monate Dienst vorbereiten. Sollte das der Fall sein, so kaufen wir Offiziere noch warme Armee- Wintermäntel und ein Paar dicke Gummistiefel. Vorläufig sollte ich nur Nastücher erhalten, mein Waschsäckli kommt später. Hoffe, dass Ihr noch einen netten Bettag miteinander verbrachtet. Von Tagesbefehlen für nächsten Sonntag habe ich noch keine Ahnung. An Nanni ist ein langer Brief am Montag abgegangen.
Herzliche Grüße und ein Müntschi Gusti
Habe gestern mit Oblt Mösch in Bern ein langes Telefongespräch geführt. Auch nett, die „Anrede“ Herr Kamerad, zu einem alten Lehrer!
*
Im Feld, 29.9.1939 10.00 (90)
Meine Lieben,
Jetzt ist der Moment da, wo ich recht dazu komme, Euch einige Zeilen zu schreiben. Die ganze Woche bis jetzt war verrückt. Als ich am Sonntagabend wieder ankam, hiess es, dass wir n i c h t zügeln werden. Bis Mittwochabend liess man uns bei diesem Gedanken und ganz plötzlich kam die Devise: „Morgen 28. ds. umziehen“! In einem neu renovierten Haus, direkt am Bahnhof ist nun unser Reich. Als ich dort ankam, wies man mir mein Zimmer zu. Ich war platt! Vor mir sah ich eine grosse, zweifenstrige, schön hell tapezierte Bude mit Wandschrank, aber glattweg unmöbliert. Kein Bett, kein Tisch noch sonst irgend etwas war da. Aber abends um 17. Uhr war der Schlag tipptopp in Ordnung. Habe sämtliches Mobiliar im Dorf zum Teil erbettelt, z.T. „gefunden“. Sogar einen Nachttisch samt Stehlämpchen konnte ich auftreiben. Was aber das Schönste an meiner Wohnung ist, das ist das Badezimmer mit 75l Boiler!! Ganz allein für meinen persönlichen Gebrauch. Und nun wird‘s sogar noch angenehm warm hier drin, denn die "Telefönler“ heizen wie toll, und meine moderne Etagenheizung funktioniert prima. Zivilpersonen hat es im ganzen Haus keine, alles wurde zu Büros gemacht, einzig meine Bude ist wie eine Insel im ersten Stock. Da immer, Tag und Nacht, ein Offizier hier im Kommandoposten sein muss, steckte mich der Kommandant hier herein als alleiniger Herr und Meister. Heute Abend werde ich mich im Dorf noch nach einigen Vorhängen sowie einzelnen Bildern umsehen. Ich habe das Gefühl, dass sich hier ganz angenehm überwintern liesse. Vor zwei Tagen wurde mir eine Liste betreffend Tagesoffizier in die Hand gedrückt, die gerade bis zum 24. Januar 1940 reicht. Habe auf das hin dem Technikumsdirektor einen lieben Brief vom Stapel gelassen und ihm darin mein aufrichtiges Bedauern ausgesprochen, dass ich aus triftigen Gründen am Montag nicht kommen könne. Laut dieser Tages Off.Liste soll ich dieses schöne Amt am 24. Dez.
P.S. Hier endet dieser Brief. Wo ist die Fortsetzung? (20.5.2012 L. Z.)
*
Im Feld, 14.10.1939 19.40 (91)
Mein lieber Aetti,
Beim Schreiben dieser Zeilen sitze ich immer noch in unserem bäumigen Zimmer im Kommandoposten (KP). Du siehst, dass es den goldstrotzenden, gekrönten Häuptern noch nicht so heftig pressiert, den Lt. Staub fliegen zu lassen. Mir pressierts aber umso mehr. Mueti ist weniger erbaut von diesen Plänen, besonders da wir heute wieder einen Kameraden zu Grabe getragen haben. Lt. Reber, nebenbei noch ein Tech.Kollege von mir, stürzte in der Ausführung einer Kampfübung zu Tode. Kp Kdt seiner Kp ist Hptm. Imhof, der heute in der Kirche von Belp ganz gross gesprochen hat. Doch m e i n e Versetzung ist ganz gewiss, und ich freue mich darauf! Weisst Du, Flieger zu sein, und nicht fliegen zu dürfen, das ist zum Toll werden. Lt. Zimmer von Thun hat sich vor wenigen Wochen im Dienst den Arm gebrochen, wurde entlassen und steckt jetzt am Technikum. Sie seien ganze 7 Mann in ihrem Semester. Du siehst, Armbruch, etc. braucht es, um die Uniform an den Nagel hängen zu können.
Doch das alles ist ja gar nicht der Grund, warum ich Dir schon wieder einen Schreibebrief vom Stapel lasse. Nein, ich will Dir zu Deinem bevorstehenden 48. Geburtstag gratulieren und Dir recht viel Glück wünschen für die Zukunft. Du kennst mich, mündlich kann ich nicht danken, doch so. Habe Dank für alle Deine Mühe und Opfer, die Du das ganze letzte Jahr wieder für mich gebracht hast!
Herzliche Grüße und „Glück auf“ Dein Gusti
*
Im Feld, 18.10.1939 (92)
Mein liebes Mueti,
Lilly wird Dir erzählt haben, dass ich es noch für kurze Zeit aus der Lateinstunde erlöst habe. Hier im KP war alles erstaunt, dass ich so rasch wieder zurück sei.
Du, es scheint, dass unsere Fliegertruppe in eine Pechsträhne gerutscht ist. Kaum liegt „Stahl“ unter der Erde, müssen wir wieder um zwei Kameraden trauern. Aber trotzdem dürfen wir nicht mutlos werden oder gar verzagen. Wir Flieger haben – wie 1 000 000 andere geschworen, unser Leib und Leben für die Heimat einzusetzen, und ich bin überzeugt, dass das jeder mit Freude und Hingebung tut. Wenn wir bedenken, dass ausserhalb unserer Grenzen täglich etliche 100 oder 1000 Soldaten für ihre Heimat sterben, so müssen wir uns glücklich schätzen, mit so wenigen Opfern auszukommen. Und das kleine Einzelschicksal eines einzelnen Menschen spielt ja gar keine Rolle, wenn durch diese Opfer die Freiheit unserer Schweiz aufrecht erhalten werden kann.
Also wieder einmal: Kopf oben behalten!!
Herzl. Grüße und einen Kuss Gusti
*
K.P. 24.10.1939 16.23 (93)
Mein liebes Mueti,
Du, vor allen anderen, muss ich Dir „leider“ mitteilen, dass Du mindestens die nächsten 5-6 Wochen noch ruhig schlafen kannst. Unser Nachrichten Off. Oblt. Lätsch rückte vorgestern in die Zentralschule ein und so ist der Lt. Staub zu einem schönen, verantwortungsvollen Posten nachgerückt. Aber Fliegen kommt nicht in Betracht! Doch mich freut das Zutrauen meiner Vorgesetzten besonders unter Major Vacano, dass er mir jungem Leutnant diesen Posten überträgt. Ich werde mir alle Mühe geben, diese Arbeit treu und zur Zufriedenheit meiner höher gestellten Kameraden auszuführen. Nun geht alles, was vom Regiment oder sogar von Bern kommt, zuerst durch meine ehemaligen schmutzigen Mechanikerhände – und darauf bin ich stolz! In sämtliche geheime und geheimste Befehle und Akten habe ich nun Einsicht, und es fällt mir sogar hie und da die Entscheidung zu, ob ganze Kompanien auf die Beine zu bringen sind oder nicht. Auch habe ich als erster alle Urlaubsgesuche zu prüfen und meinen Antrag auf Bewilligung oder Ablehnung derselben darauf zu vermerken. Von Faulenzen gibt‘s nun nichts mehr, denn von 06.00 bis 18.00 stecke ich nun an m e i n e m Schreibtisch, so unsere Akten, schreibe und disponiere. Auch Maschinenschreiben und sogar meine wenigen Kenntnisse in der Stenographie kommen hier wieder zu Ehren. Bei all dieser strengen Arbeit komme ich mir wieder als Offizier vor und nicht mehr als „Tschumpel“. Von Vater habe ich einen langen Sonntagsbrief erhalten, worin sogar er sich in kleineren Bedenken über die Fliegerei ergeht und mich wieder mal an meine zivile Laufbahn (Tech., etc.) erinnert. Aetti will ja nächstes Wochenende in Bern sein, und auch ich setze alles daran, um Samstag und Sonntag Urlaub zu erhalten. Wollen mal sehen, ob ich auch in dieser Beziehung durchdringen kann. Den Brief aus Dübendorf, den Du mir gestern zugestellt hast, habe ich schon lange erwartet (seit Anfang Sept.) - sehnlichst! Der Armeeflugpark (Abt. Kasse) machte mir nämlich Mitteilung, dass ihnen meine Diensteinteilung nicht bekannt sei und sich deswegen die Auszahlung meines Lohnes, resp. Trainingsentschädigung so lange verzögert habe. Ich möge bitte entschuldigen! Ja gerne, wird gemacht, und ich habe angeordnet, dass die mir zu zahlende Summe ins Feld nachgeschickt werde. Du siehst, was lange währt, kommt endlich gut.
Meine schmutzige Wäsche werde ich Dir samt Nachschubbegehren auf Ende dieser Woche zukommen lassen und hoffe sogar auf ein Wiedersehen mit Euch in nicht allzulanger Zeit.
Inzwischen herzliche Grüße Gusti
Muss plötzlich schliessen, da die Postordonanz den Brief grad mitnimmt. G.
*
K.P. 24.10.1939 19.37 (94)
Lieber Aetti!
Habe gestern Deinen Brief mit bestem Dank erhalten. Wie ich leider daraus ersehen muss, beginnst selbst Du an der Fliegerei zu zweifeln. Das solltest Du nicht, denn alle die Unfälle in der letzten Zeit sind sicher nur auf eine Kette von unglücklichen Zufällen zurückzuführen. Im Übrigen wurde meine Versetzung in eine Kp wieder um gute 5-6 Wochen verschoben, denn unser Nachrichten-Offizier, Oblt. Lätsch, rückte letzten Montag in die Zentralschule ein. Auf das hin wurde dem Lt. Staub dieses schöne Amt feierlichst übergeben. In einem gewissen Sinn freut mich ja dieser Posten, zeigt es mir doch, dass meine Vorgesetzten einen nicht ganz kleinen Rest von Zu- und Vertrauen in mich setzen. Ich werde mich bemühen, dieses Vertrauen zu rechtfertigen, um meine mir noch kräftig ungewohnte Arbeit gut zu machen. Doch mit einem bisschen guten Willen wird auch d a s zu machen sein. Alle Befehle oder Akten, seien sie vom Regiment oder sogar von Bern, müssen nun zuerst durch die ehemals oft so schmutzigen Mechanikerhände – und auf das bin ich mächtig stolz. Ja, selbst alle Urlaubsgesuche müssen zuerst von mir visiert werden, bevor sie auf dem Dienstweg zum Major gelangen. Und auf alle setze ich meine Bemerkung hin, ob dienstlich ein Hinderungsgrund vorliegt oder nicht. Allerdings lernen muss ich noch, oder wieder, vieles. Du wirst Dich ja wohl leicht wundern, dass ich mit der Maschine schreibe, doch auch das gehört mal zum Rüstzeug eines Nachrichtenoffiziers. Auch die mir seinerzeit so verhasste Steno kommt nun wieder zu ihrem vollgültigen Recht. Du siehst also, dass es mit dem Faulenzen so ziemlich aus sein dürfte. Mir ist‘s auch so; denn von 06.00 an bis abends 18.00 sitze ich nun an m e i n e m Schreibtisch.
*
K.P. 27.10.1939 13.11 (95)
Mein liebes Mueti!
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Leider haben wir uns schon wieder zu stark auf meinen Bernerbesuch gefreut, aber es soll scheints nicht sein. Mein Urlaubsgesuch wurde gestern formel bewilligt und laut dem hätte ich schon am Samstagmittag abfahren können. Gestern Nacht gegen 24 Uhr mussten wir plötzlich sämtliche Beurlaubte wieder telegrafisch aufbieten. Die Gruppenbestände müssen neuerdings zu über 90% besetzt sein. Weiss der Teufel, was wieder im Tun ist, aber mir ist‘s egal. Ich tue meine Pflicht und damit ça suffit.
Über Deinen letzten Brief habe ich mich mächtig gefreut. Es war so richtig das Schreiben einer glücklichen Mutter, die sich freut, dass es all ihren Schäfchen gut geht. Ich freue mich mit Dir, doch die verhinderten Stunden in Bern haben mich wieder mal hässig gemacht. Denn ich freute mich wirklich, die Nacht vom Samstag auf den Sonntag in meinem Bett verbringen zu können. Aber eben, so ist der Krieg, und gegen Befehle ist bis heute noch kein Kraut gewachsen! Du, für Dein Liebesgabenpaket meinen herzlichsten Dank und ein noch herzlicheres Müntschi. Das Hemmli ist richtig und ich denke, dass es mir bei noch kälteren Tagen gut meinen Korpus wärmen wird. Auch Dein Rauchergrüessli wird natürlich bestens verdankt. Dass Lilly nun wie eine Gelehrte ausschaut, kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich hoffe jedoch auch mächtig, dass ihr „Gebrüll“ nur vorübergehenden Charakter hat. Riesig gespannt bin ich ja schon, mein Nasen-Velo-bewehrtes Schwesterherz persönlich zu begutachten.
Heute Abend werde ich etwas z‘Nacht kriegen, was Staub Güstus Gaumen noch nie gekitzelt hat. – Nämlich Schnecken. Im Laufe irgend einer Diskussion über Magenfragen (was bei uns eine grosse Rolle spielt) stellte es sich heraus, dass ich der einzige in unserem Verein sei, der noch nie diesen Götterfrass erlebt hätte. Nun setzte mein besonders väterlicher Freund Hptm. Stucky ein Schneckenfestessen im Bären an für heute Abend. Ich werde wohl in den sauren Apfel beissen müssen. Du siehst aus alle dem, dass unsere Gedanken nicht nur einseitig auf Krieg eingestellt sind. Gestern oder vorgestern habe ich Vati einen langen Brief vom Stapel gelassen, den er sehr wahrscheinlich mit nach Hause bringt.
Unsere schweren Mäntel sind nun in Arbeit und bei dem schönen Wetter wird sicher keiner wild, wenn sie bald in unserm Besitz sind. Heute Morgen um halb sechs habe ich gäbig in der Welt herumgeschnuppert, als sich mir eine ganz andere, weisse Welt enthüllte. Doch in Bern wirds ja wohl auch nicht besser sein. Will aber jetzt mein Geschreibsel abklemmen für heute, werde Dir bald weitere Berichte von der „Front“ zukommen lassen. Empfanget also meine herzlichsten Sonntagsgrüsse und lasst Euch den Feiertag nicht verdriessen durch meine Abwesenheit.
Herzlichste
Gusti
*
K.P. 30.10.1939 14.34 (96)
Mein Liebes Mueti,
Du wirst Dich ja sicher wundern, dass ich heute schon wieder einen Brief schreibe, nachdem ich Dir gestern Abend doch noch telefonierte. Aber es geht einfach nicht anders, ich muss Dir doch noch erzählen, wie der gestrige Abend verlaufen ist. Als ich Dich am Draht verliess, machten sich meine Kameraden grad zwäg, um sich zu Ursenbachers zu begeben. Hptm. Derron wartete auf mich, um mich auch mitzunehmen. Und noch jemand hat mich schon am Nachmittag beim Kegeln eingeladen, nämlich unser Schätzeli aus der Krone. Also nahmen wir das Mädeli am Arm und zogen ins Stöckli zum Grossätti. Nebenbei bemerkt, ist das so genannte „Stöckli“ ein wunderbar eingerichtetes und ausgebautes Wohnhaus. Schlussendlich waren wir versammelt: 6 Offiziere, Frau Hubler (Wirtin zur Krone), deren Schwester, Tante Betli, Margritli (unser Schätzeli), dessen Cousine Anneli und beide im Alter von 21 Jahren, sowie zwei eingeladene Freundinnen, Marti und Hedi. Unter den Offizieren waren wir: Major Vacano, die Hauptleute Derron, Stucky, Griesshaber (Arzt), Oblt. Scheidegger, Motw.Of, und ich als Benjamin der Gesellschaft. Bald war der Grammo startbereit, und das Fest konnte beginnen. Und es gab ein Fest, von einer Fein- und Kultiviertheit, wie ich noch keines mitgemacht habe. Über all dem Trubel lag ein sehr angenehmer Ton von unaufdringlichem Wohlstand. Und noch selten sah ich einen Kreis reinsten Glücks geniessender Menschen wie gestern Abend. Rang und Altersunterschiede waren ad acta gelegt. Wir waren alles nur Kameraden im schönsten Sinne des Wortes. Unseren sonst in sich verschlossenen Kommandanten kannten wir kaum mehr. Es war das erste Mal, dass er vor uns aus sich heraustrat und uns so seinen wahren Charakter offenbarte. Hpt. Derron entwickelte sich als Innenbeleuchtungsgenie, besonders die Kerzenlicht-Stimmung in allen Räumen scheint ihm zu liegen. Aber trotz spärlichem Kerzenschimmer fanden erbitterte Kämpfe um ein besonders nettes Eggeli statt. Jedoch lebt der Mensch nicht nur von Luft und Gemütlichkeit, nein, auch der Magen kam zu seinem Recht – und wie!!! Etliche Flaschen guter, alter Eppesses mussten ihr Leben lassen und auch die Berner Zungenwurst fand begeisterte Abnehmer. Männiglich entwickelte einen ober gesunden Appetit. Ein Höhepunkt des Abends war gekommen, als es auskam, dass heute der 27. Jahrestag der Hochzeit von Herrn und Frau Hubler war. Drei brausende „Hoch“ auf die Jubilare versprengten fast das Stöckli und Mueter Hubler kam prompt das Augenwasser.
Dass auch etliche junge und ältere Herzen Feuer fingen und sogar zum Teil verloren gingen, ist nicht zu verwundern. Margritli erklärte mir mal, vor ca. einer Woche, dass es in seinem ganzen Leben noch keinen jungen Mann geküsst hätte, und es dazu noch gar nie das Bedürfnis gehabt hätte. Unser allgemeines Urteil über dieses Mädeli lautet: Fein, gut erzogen, hübsch, sehr zurückhaltend bis stolz. Gestern Nacht nun hätte i c h das Kind küssen können, ich spürte, dass es direkt nach einem Kuss verlangte. Ich habe ja schon etliche Frauen geküsst, ohne zu überlegen und ohne sie gern zu haben. Tritt einem aber eine Frau in den Weg, die man, ich möchte fast sagen, verehrt, so fehlt einem trotz allem der Mut! Und eben so ging es mir letzte Nacht. Ich fand den Mut zur Offensive nicht, und so mussten wir beide ungeküsst schlafen gehen. Ich glaube, wir beide waren die einzigen. Doch es reut mich nicht, denn so habe ich es noch vor mir.
Der Major hat mir die Maschine gemopst, so geht‘s halt wieder von Faust bis auf weiteres. Doch nun habe ich eine Bitte an Dich. Nächsten Freitag wird im Theater „Gräfin Maritza“ gespielt, und das möchte ich in Begleitung von Margritli geniessen. Drum möchte ich Dich höflichst fragen, ob ich das Mädchen einladen darf. Maschine kam eben retour, also weiter im Text.
Von Nanni erhielt ich heute einen Brief, worin es erklärt, dass es auf die verlangte Unterredung verzichte, und dass es einsehe, dass es nicht die richtige Frau für mich sei. Im weiteren dankt es mir für diverse schöne Stunden, besonders erwähnte es die beiden Tage in Zürich. Zum Schluss wünscht mir Nanni noch viel Glück und alles Gute in meinem Leben. Doch noch anständig, das muss ich sagen! Trotzdem werde ich nun auf diesen Brief nicht mehr antworten.
Was hier meinen Dienst betrifft, so verläuft alles in einem normalen Rahmen. Dass ich Augenblicklich noch ziemlich viel leere Zeit finde, das siehst Du an meinen Schreibmaschinenergüssen. Doch ich tu es gern, denn ich weiss, dass Du Dich ja immer auf Post freust. Und dann ist‘s noch ein anderer Grund, um den ich Dich ja nicht erst bitten muss, nämlich der, dass Du mir diese Grenzbesetzungsbriefe gut aufbewahrst. Sollte der Friede wieder mal ausbrechen, so werden wir die Seiten zusammenlegen und schon haben wir das schönste Fronttagebuch. Vielleicht gibt‘s einmal ein Nachschlagewerk für einen jungen Staub, der sicher seine helle Freude daran hätte. Doch das sind Utopien, vorerst stecken wir noch kräftig im Aktivdienst.
Gestern machte mir Hptm Stucky eine Freude und gab mir zugleich eine Mahnung, indem er sagte: „Staub, du g‘fallsch mer. Blib so wi de bisch, aber tue mer d‘s Tech nid vernachlässige!“
Doch nun glaube ich, dass es für heute wieder genug sei und schliesse mit den
herzlichsten Grüssen
Dein Gusti
*
Aus dem Tagebuch von Lilly, Montag, 30. Oktober 1939 (96a)
Ich bin noch einmal an der "Landi" gewesen. Der Krieg geht weiter und fängt schon an, etwas Selbstverständliches zu werden.
Und ich bin an der Beerdigung meines Cousins Ernst gewesen. Er wollte von einer Tanne Zweige holen und ist dabi tödlich gestürzt und war noch so jung, erst 12-jährig!
Für mich ist ein Wunsch in Erfüllung gegangen, ich darf zu den Pfadfinderinnen. Das hab ich meiner Freundin Martina zu verdanken.
Ja und ich werde auch wieder von Raimond und seiner Mutter verwöhnt. Er hat mich sogar an einen Klassenabend eingeladen. Das sieht Heinz nicht gern. Ich sollte eigentlich gar nicht immer an die Buben denken. So, Schluss!
Sorge macht mir auch das Latein. Wo soll das enden? Bis jetzt habe ich eine 1-2 und eine 2-!
*
K.P. 2.11.1939 (97)
Mein liebes Mueti,
Ich muss ja schon sagen, dass Ihr in Bern nicht gerade schreibfreudig angehaucht seid. Denn es ist jetzt schon wieder Donnerstag und von Euch vernehme ich rein grad gar nichts. Einzig von Alfa habe ich einen langen Brief erhalten und Vater Tanner stellte mir wieder Zeitungen zu.
Bei uns passiert so zu sagen nichts, wenigstens nichts von Bedeutung. Gestern feierte unser Kronen-Margritli seinen 21. Geburtstag. Wir Offiziere stifteten ihm einen Strauss Chrisanthemen und ein Päckli Schokolade. Als Gegenleistung dafür wurden uns am Abend einige Flaschen guten, alten Weines aufgestellt. Leider wurde das nette Festchen gestört durch die Nachricht, dass es eben den Onkel des Geburtstagskindes „verjagt“ habe (entschuldige, wollte sagen, dass er gestorben sei). Doch dem armen Teufel ist es zu gönnen, denn er litt an Magenverschluss und konnte schon seit Jahren nur noch künstlich ernährt werden. Uns war er auch bekannt, denn er war der Wirt vom „Bären“ Utzenstorf. Gestern Nacht war es schon finster wie in einer Kuh, als ich gegen halb zwölf nach Hause pedalte. Grund: Verdunkelung bis am nächsten Samstag morgen. Also verdunkelten wir auch unsere Hütte und krochen verdunkelt in die Klappe.
Pfusen konnte ich aber trotzdem wie ein Murmeli, nur allzugut; denn heute Morgen focht ich wieder einen bösen Kampf ums Dasein aus. Unser Abt. Kdt. blieb gestern den ganzen Tag im Bett, angeblich weil es ihm nicht wohl war. Mir ist‘s jetzt dann auch mal nicht gut, denn so einen Tag verschlafen, würde sicher gut tun.
Du, Cigaretten brauchst Du mir in der nächsten Zeit keine zu senden, denn unsere En Gros Ladung ist gestern eingetroffen. So, nun aber Schluss für heute Morgen, vielleicht prichte ich am Nachmittag weiter.
Seid alle herzlichst gegrüsst von Eurem Gusti
*
K.P. 3.11.1939 (98)
Mein Liebes,
Ich habe eben Deinen Brief samt übriger Post erhalten. Mir geht es in Sachen Minne eigentlich gut. Margritli ist gar keine Frau, um stürmisch vorgehen zu können. Ich getraute mich auch gar nicht…. Grad aus diesem Grund mahnt mich das Mädeli immer mehr an Ruth. Doch es geht mir ja gut. Wie ich erfahren habe, seid Ihr von der dreitägigen Verdunkelung verschont geblieben. Wir tappten hier schon die zweite Nacht im Finstern herum. Gestern Nacht wurde eine ganze Division verschoben – und alles durch unser Dorf. Bald nach Anbruch der Dunkelheit begann der Vorbeimarsch, stundenlang. Mir war, als erlebte ich hier etwas ganz Grosses. Dumpf dröhnten die Schritte von rund 2500 Mann mit Geschützen, Ross und Wagen durch die Nacht. Kein Wort hörte man, nur hie und da ein unterdrückter, aber dafür umso herzhafterer Fluch über den allzu anhänglichen „Verdrusskoffer“. Fragte man einen der Soldaten über ihr heutiges Ziel, so hiess es: „Weiss nid, Herr Lütnant“. So tippelten wie weiter und weiter, jeder stumm vor sich hin starrend und sicher sind alle in Gedanken zu Hause bei ihren Lieben. Manch einer wird sich auf diesen Märschen wieder fragen, ob das ums Verrecken nötig sei. Wenn er aber tags darauf wieder mit offenen, wachen Augen durch sein Ländli marschiert, so weiss jeder ganz sicher wieder, warum er sich die wunden Füsse abläuft. Weisst Du, Mueti, wir bei der Fliegertruppe wissen gar nicht, wie schön wir es eigentlich haben. Uns wird ja alles auf dem Servierbrett gebracht, und unsere Dislokationen sind Sonntagsausflüge gegen solche der Infanterie. Überhaupt ist es eine Ungerechtigkeit von vielen, dass sie meinen, der „Pinggel“ von der Infanterie sei weniger als ein Soldat der Fliegertruppe. Ich werde das jedenfalls in Zukunft heftig widerlegen!!
Eine unerwartete Begegnung hatte ich gestern gegen Abend. Ch stand vor dem K.P. und sah dem Vorbeimarsch von einzelnen, kleinen Spähtrupps zu, die hoch zu Velo dem Gros der Truppen voranzogen. Plötzlich tönte es von der Spitze eines solchen Zuges: „Herr Lütnant, Kpl. Häusler!“ Fuhr da ein schwer beladener Korpis durch die Welt, und siehe da, es war Guido aus der Anselmstrasse. Zeit für einen Händedruck zu wechseln fanden wir nicht, ein rasch nachgerufener Gruß und „guete Dienscht“ war alles, was wir einander sagen konnten. Auch das ist wieder eine Episode, die zeigt, dass der Einzelne nur eine Figur in dem grossen Schachspiel der Grossen ist.
Heute morgen habe ich wieder ein bisschen Mannschaftsoffizier gespielt. Um 07.00 marschierte ich mit 15 Mann ab in den Schiessstand von Utzenstorf. Dort leitete ich den ganzen Schiessbetrieb meiner 15 „Knechte“, und musste noch bald aufpassen, dass mich nur 2 bis 3 überflügelt haben. Im allgemeinen wurden prima Resultate erzielt. Nur eines war sehr uninteressant, nämlich der fusstiefe Dreck, in dem wir marschieren mussten. Dazu war es richtig nass und kalt, nettes Wetter, um sich einen anständigen „Schnuderi“ einzufahren. Mein gestern aufgetretener Husten ist von Margritli mit viel heisser Milch und Honig und noch mehr Liebe schon bereits wieder weggepflegt worden. Dazu hat mir das Strupfli noch das Rauchen für heute verboten. Und tatsächlich hat‘s der Gusti bis jetzt verklemmen können, trotzdem ich ohne meinen Sargnagel fast umstehe! Aber äbe, da chasch nüt mache. So, stopp, sei herzlich gegrüsst und ein ebenso herzliches Müntschi
vom Gusti
*
K.P. 5.11.1939 09.08 (99)
Mein liebes Mueti,
Laut Kalender ist es wieder einmal Sonntag, aber ich merke trotz allem nichts davon.
Mein Tagewerk begann um 06.15 und wird dauern bis 19.30h. Was dann heute Abend gespielt wird, weiss ich noch nicht. Jedoch bin ich sicher, dass ich heute Abend nicht wieder um 20.00 Uhr im Bett bin wie gestern. Du, das Neueste ist jetzt, dass jeder pro Monat Dienst für vier Mal 24 Std. Urlaub kriegt. Wird also im Laufe des Novembers 2 mal 2 Tage nach Hause kommen. Dafür sind die Sonntagsausgänge nur im Kantonnementsrayon gestattet. Aber auch das ist nicht mehr so bös, denn die lieben Verwandten dürfen nun ihre noch lieberen Angehörigen in Feldgrau besuchen. Drum möchte ich direkt den Vorschlag machen, dass Ihr nächsten Sonntag zu mir hierher kommt. Ich kann nicht weg von hier, denn der schöne Posten „Tages Off“ wartet wieder auf mich. Aber trotzdem könnte ich mich für einige Zeit frei machen vom Dienst. Doch über d e n Plan werden wir später noch knobeln. Ich bitte Dich, mir das Theaterprogramm für die laufende Woche zuzustellen, da ich nun doch mit Margritli nach Bern möchte.
Du, am Freitagabend haben wir wieder einmal so richtig gelacht. Ich habe Dir ja erzählt, dass bereits eine ganze Division durch unser Dorf gezogen ist. Unser Gasthaus zur Krone war das Absteigequartier für die Offiziere der durchziehenden Stäbe und Truppeneinheiten. Abends nun, zu unserer Essenszeit, stürzte ich wie ein Wilder in die für uns Flieger reservierte Stube, riss die Türe auf und – Päng stand ich vor Oberst Div. v. Graffenried. Du, der ist noch einen ganzen Gring länger als ich! Aber sehr hantlig machte der Lt. Staub sein Mannli und schon war er wieder draussen. Ich glaube, wir haben beide grad gleich schlau in die Welt geguckt in diesem Augenblick. Im nächsten Augenblick trat ich bei der vorderen Türe in die Gaststube, wo ich bereits die Hauptleute Stucky und Grieshaber vorfand, die sich die Bäuche hielten vor Lachen. Bald darauf hiess es, die Luft in unserer Bude sei jetzt rein, also auf und in unseren eigenen Schlag. Anneli, das uns Gesellschaft leistete, nahm ich kurzer Hand samt dem Stuhl auf den Arm, und im Triumpfzug folgten die beiden „Häuptlinge“. Doch heute schien alles verrückt zu gehen, denn als unser Zügli in die Stube trat, standen wir – vor einem Obersten der Motorwägeler. Du kannst Dir unsere und seine Verblüffung ausmalen, als er, der Gold strotzende Herr Oberst und der gar dünn vergoldete Leutnant mit seiner herzigen Last auf den Armen voreinander standen. Doch der alte Herr schien noch den gesunden Sinn für Humor zu haben, denn er verstieg sich zur Bemerkung, dass er um einen solchen Preis gerne noch einmal Leutnant sein möchte. Aber ich mochte nicht tauschen mit ihm, denn ein Oberst ist halt trotz allem ein alter Mann, und ich fühle mich noch stinkjung und momentan verdammt glücklich, trotzdem ich immer noch keinen Kuss erhalten habe! Ich habe mich schon gefragt, warum ich Dir immer alles schreibe, was im Grunde genommen ja gar nicht interessant ist für Dich. Aber ich weiss, dass Du Anteil nimmst, was mich angeht. Du weisst, wann ich unglücklich bin und gibst Dir in solchen Zeiten alle Mühe, mich aufzuheitern. Also hast Du auch das Recht, zu wissen, wann ich glücklich und zufrieden bin. Von Familie Rätz habe ich gestern eine grosse Schachtel mit zwei anständigen Torten und Guetzi erhalten. Werde mich nun höflich bedanken.
Will abklemmen für heute und grüsse Euch alle von Herzen.
Euer Gusti
*
K.P. 10.11.1939 18.50 (100)
Mein liebes Mueti,
Natürlich wieder gut an meinem „Ferienort“ angelangt. Gestern Abend gabs noch bis morgens 03.15 keine Nachtruhe. Um Mitternacht mussten von neuem alle Beurlaubten telegraphisch aufgeboten werden, dass es scheints wieder irgendwo stinkt. Nur allzu rasch war es dann Morgen und mein „Kampf“ ums Dasein wie alle Tage von neuem um 07.30 hat mein still verehrtes Mädeli noch herrlich geschlafen und seine Mutter legte ihm meine „süssen“ Grüße aus dem Urlaub aufs Kopfkissen. Mit einem lieben Blick und einem herzlichen Händedruck wurde mir später gedankt. Du, man wird eigentlich recht bescheiden, von jeder anderen Frau hätte ich zum mindesten einen Kuss verlangt. Hptm Stucky meinte, das Päckli sei ums Verrecken für ihn bestimmt, aber nobis! Er war ebenso der Getäuschte wie Du gestern. Mit unserem Plan vom schönen Familienbesuch am Sonntag in 8 Tagen wird wieder mal nichts, da wir von heute an unter ständig erhöhter Alarmbereitschaft stehen (bis auf weiteres).
Habe heute Frau Rudin eine Karte geschrieben und bei der Unterschrift vielleicht den Fehler gemacht, dass ich anstatt „Gusti“ Ltd. Staub Gusti darunter gesetzt habe. Wenn sie sich zu stark darüber aufhält, kannst Du etwas sagen, sonst brauchtst Du nichts zu erwähnen. Wünsch Euch recht frohen Sonntag und verbleibe mit den herzlichsten Grüssen und einem Müntschi
Euer Gusti
*
K.P. 12.11.1939 13.10 (101)
Mein liebes MUETI,
Du, heute morgen war der Major so anständig und liess Lt. Schauenberger und mich ausschlafen, indem er einen andern auf das Büro setzte. Als ich endlich erwachte, so gegen 11 Uhr, waren meine von Dir geschickten Hosen schon auf dem Stuhl.
Gestern erhielt ich von Greta Conzett einen netten Brief, in dem sie mir das Datum ihrer Hochzeit angibt und mich zu diesem Fest einlädt. In einem „kurzen“ Brief von ca. 6 Seiten habe ich Greta dann klargelegt, dass es mir unmöglich sei, jetzt nach Chur zu gondeln. Ich schrieb ihr auch, dass ich sicher nicht nur wegen dem Essen gekommen wäre, trotzdem mich das auch kräftig interessiert hätte. Gretes Zukünftiger ist hilfsdienstpflichtig und dazu noch Lehrer, – pfui Teufel. Ich kann Grete nicht verstehen, aber dass die verdammte Liebe Blinde erzeugt, ist ja eine alte Tatsache. Grete hofft natürlich, dass ihr Staatskrüppel nicht einrücken muss. Eigentlich ist es ungerecht, dass so saublöde Lehrer jetzt ihren schönen Zapfen beziehen können und sogar noch heiraten, während 10‘000 andere draussen im Dreck liegen und aufpassen, dass den Herren keiner das warme Nest wegträgt: doch ich will nicht giftig werden, ändern kann ich ja doch nichts an der ganzen Chose. Du, sag mal, wer hätte das vor vielen, vielen Jahren gedacht, dass die kleine blonde Grete sich quasi unter dem Waffenschutz des freundnachbarlichen Schlingels in den Kriegshafen der Ehe begeben würde. Aber eben, man sagt, dass Gottes Wege wunderbar seien, aber noch viel rätselhafter sind die Wege, die die Menschen gehen.
Gestern Abend war ich schon um halb 10 im Bett, da Schauenberg Ausgang hatte. Vorher erfüllte ich allerdings noch eine, mir nicht eben angenehme Aufgabe, nämlich die, den Wachtmeister für 4 Tage einzusperren. Weisst Du, irgend einen Rekruten oder Soldaten ins Loch zu stecken, macht mir fast noch Spass – aber höhere Unteroffiziere einzusperren ist immer unangenehm. Und der Grund dieser Strafe ist der, dass Wm. Pfister vorgestern Abend mit geöffnetem Waffenrock vom Major in einer Gaststube angetroffen wurde! Nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub war ich direkt deprimiert, da in unserem Stab eine Stimmung herrscht zum Kotzen. Jeder ist bissig und ödet den andern an am laufenden Band. Woran das liegt, weiss ich nicht, aber ich vermute, dass es der neuerdings beschnittene Ausgang ist. Sogar Mueter Hubler pflegt einen schauderhaften Ast, und sie klagte mir gestern ihr Leid. Die Herren Off. werden schnäderfrässig, und nichts sei mehr recht, was man den Herren auf den Tisch stelle. Im weiteren muss ihr Bueb heute Sonntag wieder einrücken, was der Mutter auch wieder fast das Herz abdrückt. Dass der Junge sich dann noch freut, wieder zu gehen, kann sie auch nicht verstehen. Du siehst also, die Muttersorgen sind nicht nur bei Staubs und Schmieds die gleichen.
Heute Abend haben wir Offiziere unsere Mädeli zu einem gemütlichen Höck im „Bären“ eingeladen. Ich freue mich darauf, wieder einen schönen Abend zu verbringen. Das Theaterprogramm für die nächste Woche ist mässig bis saumässig. Doch ich glaube, dass ich mit Margritli auf die „Mariza“ verzichten muss und nächsten Sonntagabend mit ihm die neue Operette „Teresina“ beaugenscheinigen werde. Ich muss die Zeit, die mir noch im Stab verbleibt, ausnützen, denn wie bald stecke ich bei einer Kompanie! Lt. Christen Fritz tut seit dem 6. dies Dienst bei der Kp. 11 und Hirt Bene steckt in der Kp. 16.Überhaupt sind fast alle meine P.S.Kameraden wieder im Dienst. Doch auch ich habe ja mit heute meinen Leutnant abverdient.
So, nun will ich ein Auge voll Schlaf nehmen. Sei herzlich gegrüsst
von Deinem Gusti
*
K.P. 13.11.1939 19.19 (102)
Mein Liebes,
Bitte staune nicht, wundere Dich bloss, dass ich Dir schon wieder schreibe. Wie gesagt, ich musste nicht, aber ich habe einfach das Bedürfnis, meinem Mueti meine neuesten Erlebnisse mitzuteilen. Gestern Nachmittag, habe ich Dir von unserem geplanten Nachtessen mit anschliessendem gemütlichen Teil geplaudert. Und ich muss sagen, der Abend wurde wieder reizend. Nach mit grossem Genuss verzehrtem Rehrücken, wurde ich als Benjamin der Gesellschaft dazu bestimmt, unseren Damenflor abzuholen, was ich mit grossem Vergnügen auch tat. Um 20h war unser Kränzli beisammen und bald darauf wurde wieder getanzt. Ich denke, dass es unnötig ist, zu erwähnen, dass Margritli auch mit von der Partie war. Aber schon um 23.30h wurde das Zeichen zum Abbruch des Festes geblasen und nun folgte noch ein netter Heimbummel. Die älteren Semester mit Tante Ursenbacher und dem Herrn Major gaben die Spitze des feierlichen Zuges ab. Fast nach Alter und gegenseitiger Zuneigung geordnet folgte der Rest der Gesellschaft. Das Mädeli und ich wurden automatisch die Letzten – und es war gut so. Ich muss schon sagen, das Kind war zum Anbeissen reizend. Zu seinem schwarzen Kleidli mit strengem, weissen Kragen hatte ich ihm beim Tanzen noch ein weisses Nägeli ins Blondhaar gesteckt, wie gesagt, ich musste mich wieder höllisch zusammennehmen. Ich bin sicher, dass ich meinen Kuss haben will, aber erst, wenn ich vom Stab wegkomme. Was nach neuester Version gar nicht mehr lange gehen wird. Aber um eines bat ich das Mädeli, und das Du wurde mit einem warmen, innigen Händedruck bekräftigt. Bei all diesen kleinen Begebenheiten ist es mir, als ob ich die feine Liebe meiner toten Ruth neu erleben würde. Trotzdem ich diese Frau noch nicht geküsst habe, bin ich restlos glücklich. Hier habe ich wieder das Gefühl, dass DER Kuss als etwas fast Heiliges zu betrachten sei. Wenn ich am Abend vor meiner Abreise von hier dem Mädeli noch einen Kuss gebe, dann ist er wohl überlegt, und ist zugleich das Versprechen, dass ich wieder komme. Ich habe dann die feste Gewissheit, dass es bei mir dann nicht mehr heisst: Andere Städtchen (oder Flieger-Stütz-Punkte) andere Mädchen! Der Major eröffnete mir heute Abend beim Nachtessen, dass sobald Oblt. Lätsch zurückkomme, ich meine 7 Sachen packen könne und mir Flugplatzluft um die Nase wehen lassen dürfe. Vor einigen Wochen noch wäre ich dem Chef bei dieser Mitteilung sicher fast um den Hals gefallen; heute sage ich nur noch: „zu Befehl!“ und werde mein Bündel schnüren. Doch hoffe ich bestimmt, dass meine Versetzung erst nach nächstem Sonntag erfolgt, denn ins Theater möchte ich drum vorher noch. Und ich freue mich darauf, Dir mein mir lieb gewordenes Mädeli vorzustellen. Ich hoffe dabei, dass mein liebes Mueti nach Besichtigung des Objekts mit meinem Tun einverstanden sei, denn ich weiss noch nur zu gut, wie Du seinerzeit zur Episode Nanni eingestellt warst.
Indem ich annehme, dass Du und Lilly einen angenehmen Sonntag verbracht habt, schliesse ich mit den herzlichsten Grüssen und einem recht lieben Kuss
Dein Gusti
*
5.12.1939 17.12 (103)
Mein liebes Mueti,
Welch ein Wetterumschlag! Sonntagabend noch Sternenhimmel und Aussicht auf Flugdienst, am andern Morgen Regen und alles grau in grau. Vom Fliegen keine Rede. Stundenlanges untätiges Herumsitzen im Besatzungsraum ist unsere ganze Beschäftigung. Auf dem Tagesbefehl stehen zwar stets wichtige Ausbildungsfächer für Offiziere, doch noch nie habe ich etwas davon bemerkt, ausser dem intensiven Funktraining der Beobachter. Auf die Initiative von Oblt. Tschannen (Toni) und mir hin, geben sich nun auch die Piloten dazu her, sich einen Hörer an den Kopf zu hängen und zu funken. Dass ich dadurch Lt. Christen des Nichtkönnens überführt habe, wird er mir sicher danken. Doch genug davon, nächsten Samstag ist grosser Off-Ball im „Elite“. Vermutlich melde ich mich in dem Fall freiwillig auf Wache. Lieber allein sein, als irgend einer beliebigen Frau schön tun müssen. Hoffe, dass daheim alles in Ordnung sei und grüsse herzlichst
Gusti
Wieder 100 Diensttage vorbei!
*
Aus Lillys Tagebuch, Donnerstag, 14.12.1939 (104)
Mir ist heute so eigenartig zumute. Eigentlich bin ich traurig, warum weiss ich nicht. Am Samstag gibt es Zeugnisse und dann sind ja bald Ferien. Ich habe Glück, denn ich darf nach Adelboden ins Chalet. Dann macht mir auch der Raimond Sorgen. Er verwöhnt mich, ladet mich sogar ins Du Theater ein und seine Mutter schenkt mir oft Schokolade. Raimond nennt sich Raimond Richli, aber eigentlich heisst er R. Levy. Sein Vater ist in Deutschland, die Mutter hat einen Herrn Richli geheiratet und der hat Raimond adoptiert. R. macht mir immer Komplimente und sagt, ich sei hübsch. Mir ist das unheimlich. Die Gymeler sehen mir auf der Brücke auch immer nach. Doch darauf achten sollte ich mich ja nicht. Ärztin zu werden muss doch etwas Schönes sein. Frau Bleuer erwartet das zweite Kind. Das ist noch so rätselhaft, aber fragen kann ich ja niemanden. Ich lese zwar Bücher, so auch von August Forel: „Die sexuelle Frage“. Das Buch ist im Büchergestell über dem Diwan, wo ich schlafe. Es sind alle Bücher blau eingebunden mit goldigen Titeln, auch „Quo vadis“, das fand ich gut. Ich möchte so Vieles genau wissen, schliesslich bin ich ja schon bald 15 Jahre alt. Nun weiss ich auch den Grund, warum ich traurig bin. Niemand nimmt mich ernst, für alle bin ich klein und dumm, halt ein kleines Mädchen, das zur Schule geht wie viele andere auch. Das stimmt ja, aber einmal werde ich etwas sein, arbeiten, helfen. Ich will jetzt dann wieder mehr in das Tagebuch schreiben und meine Gedanken festhalten.
Aus Lillys Tagebuch, 14. Dezember 1939 (105)
Mir ist ganz komisch zu Mute, ich bin ja glücklich, denn ich darf in den Ferien nach Adelboden in das Chalet der Pfadfinderinnen und dann freue ich mich auch, dass mich viele Gymeler freundlich grüssen. Ich glaube ich bin ziemlich hübsch – blöd das zu schreiben! Ich will doch die Schule gut beenden und einmal Ärztin werden. Es muss doch etwas Wunderbares sein, helfen zu können. Es ist noch so vieles unklar, rätselhaft. Wen kann ich fragen? Um die Sexualität gibt es so eine Geheimnistuerei. Und ich werde ja auch schon bald 15 jährig. Alle halten mich für ein kleines Mädchen und nehmen mich nicht ernst! Das bin ich ja auch, ein Mädchen, das in die Schule geht, wie viele andere auch. Aber einmal will ich etwas sein, arbeiten, ein richtiger Mensch werden!
*
Auf Wache 22.12.1939 (106)
Meine Lieben zu Hause Gebliebenen,
Vor allem andern meinen herzlichsten Dank für all die lieben Weihnachtspäckli!
Ganze 7 Stück brachte mir heute der Pöstler in meine Bude. Von Daisy erhielt ich nebst dem Päckli einen lieben Brief, sowie vom Hano auch. Zwei Pakete fielen mir auf durch ihr Gewicht, das eine war Aettis Malaga und das andere kam von Bätterkinden. Dieser Begleitbrief enthielt noch weniger Worte als vor einem Jahr der Weihnachtsbrief von Ruth selig. Aber trotzdem spüre ich aus dem ganzen Päckli – es waren lauter gluschtige Früchte -, dass mich das Mädeli gern hat. In meinem grossen Haufen ausgepackter Päckli kam ich mir so glücklich vor --- ich hätte heute den ganzen Tag mit keinem Fürsten getauscht. Am Morgen hingen wir wieder ganze 49 Minuten in der Luft und für mich war der grösste Augenblick der, als aus unserer Patrouille einer nach dem andern aus ca. 500m über den Flügel abkippte, den C35 auf die Nase stellte und als Ziel den K.P. in – Bätterkinden – vor der Nase hatte. Toller Sturzflug mit darauffolgendem Wegflug im „Vol rasant“ tief über die „Krone“ in Richtung Utzenstorf, wo schon wieder ein Angriff auf den Stützpunkt der Kp.10 im Tiefflug erfolgte. Leider waren wir über dem Haus, in dem mein liebes Mädeli wohnt, wohl fast zu tief, als dass ich ruhig hätte Ausschau halten können, denn trotz allem „safety first“! Heute Abend nun traf es mich turnusgemäss als Wachtkommandant.
(8)
Dort fand ich die herzliche Einladung meiner H.D. Soldaten vor, mit ihnen im Bahnwärterhäuschen Weihnacht zu feiern. Als ich dann gegen 20h dorthin kam, stand ein herziges, kleines Bäumchen auf dem Tisch – und einer – der kleine Stump – raste zur Mutter in die Küche und zauberte von dort „Burebiftegg“ Cervelas gebraten her. Vorher sangen wir ganz leise zur Violinbegleitung die alten schönen Weihnachtslieder, worauf ich ein paar ganz kurze Worte an meine Soldaten richtete und allen ein recht gutes 1940 wünschte. Viele kräftige Händedrücke empfing der junge Leutnant, und mir war, als läge in jedem desselben ein starkes Versprechen. Ich glaube, dass ich heute Abend die rechten Worte gefunden habe, um den Leuten, die nun fern von ihren Lieben in einem ganz armseligen Häuschen Weihnachten feiern, den Sinn und Zweck ihres Hierseins klar zu machen. Als wir nachher noch still beisammen sassen und jeder in die Kerzenflammen starrte, beschlichen mich plötzlich eigene Gefühle. Halb war ich stolz, in diesen Zeiten meine Pflicht als Offizier und Flieger tun zu dürfen, halb war es Traurigkeit. Meine Gedanken schweiften um ein Jahr zurück in die Zeit, in der ich wähnte, glücklich zu sein. Dass dieses Glück auf so brutale Art zu Scherben ging, war Schicksal, gegen das niemand etwas kann, doch es hat keinen Zweck, in alten Wunden zu grübeln. Morgen Abend findet die gross angelegte Soldatenweihnacht für uns in der Tonhalle in Biel statt. Eingeladen sind wir durch den dortigen Frauenverein.
Am 16. ds. stehen wir wieder Pikett, ebenfalls an Sylvester und Neujahr. Ich hoffe zwar immer noch, dass ich nächsten Donnerstag und Freitag nach Hause kann. Mittwochabend allerdings hoffe ich, bei meinem Margritli zu sein. Doch jetzt will ich mich noch ein bisschen aufs Ohr legen und versuchen, zu schlafen.
Also noch einmal meinen herzlichsten Dank für alles und meine herzlichen Grüße
von Eurem Gusti
PS. Bitte sendet mir noch meine Pantoffeln. Dank G.
*
„Daheim“, 27.12.1939 16.45 (107)
Mein liebstes Mueti,
Vor zwei Stunden noch fror ich ganz gottlos an die Finger, und noch jetzt in der warmen Stube beisst und krabbelt mein „Kuhnagel“ nach Noten. Schön war‘s trotzdem – auf 5200 Meter, so weit das Auge reichte, nichts als ein weisses Meer von Wolken und hoch darüber wir paar Menschlein mit unseren schwer bewaffneten Maschinen. Jetzt sitze ich daheim in einem Klubsessel, rauche ganz naturgemäss, neben mir läuft das Radio und ich lasse mir die Wärme um die Beine streichen. Nur die Feder kann ich noch nicht recht halten, da der Mittelfinger erst jetzt geruht, aufzutauen. Du, ganze 55 Min. hingen wir am Winterhimmel. Der Clou des Fluges war der supponierte Bombenangriff auf Lyssaus 5000m Ausgangsstellung. Dort Kopfstand und so s‘Loch ab bis 2000m. Der Geschwindigkeitsmesser kam nicht mehr mit, als Maximum zeigte er noch runde 600km/Stunde. Resultat davon: Der Beobachter kotzte wie toll. Mir hat‘s nichts gemacht. Diesen Monat habe ich ganze 6 Stunden Flugzeit bis jetzt, was noch einen anständigen Batzen abgibt im Januar. Habe heute Lilly einen Brief nach Adelboden geschickt, Dir sende ich beiliegend Fliegermarken für die Kleine, aufpassen, da wertvoller Viererblock mit Stempel.
Auf meinen diversen Nachtwachen ging alles in schönster Ordnung. An Weihnachten, 25. ds. wurde ich am Mittag abgelöst und ging ins Zimmer. Bei meinen Zimmerleuten musste ich mich direkt zum schwarzen Kaffee nötigen lassen, was mich aber gar nicht falsch machte. Hier unten steckten wir im dichtesten Nebel. So wurde der Vorschlag gemacht, rasch per Auto nach Magglingen, Leubringen an die Sonne zu fahren. Ich muss Dir sagen, wunderbar wars. Zum Nachtessen war ich ebenfalls Gast, und mit Herrn Weber habe ich bis Mitternacht manchen guten Tropfen hinter den Kragen gleiten lassen. Dafür war dann der andere Tag (letzten Dienstag also) Alarmtag. Von 07.00h steckten wir im Lederzeug auf dem K.P. bereit, zu starten, wenn irgend einer kommen sollte. Aber, wie vorauszusehen war, es kam keiner. Infolgedessen wurde halt auf den harten Bänken kräftig geschlafen oder gelesen, Schach gespielt oder gejasst, je nach Laune oder sonst das eine oder andere.
Ich hoffe, dss Ihr Eure Weihnacht zu Hause einigermassen gemütlich machtet und freue mich, dass ich wenigstens über Jahresende in Bern sein kann. Auch auf den Abend des 30. in Bätterkinden freue ich mich….
Von Alfa habe ich gestern noch einen langen Brief und 3 Päckli Cigaretten erhalten, dito von Herrn Tanner. Dieser schickte mir so teure 2 Päckli, dass ich sie in B gegen 4 Päckli meiner gewohnten Marke umtauschte. Im ganzen erhielt ich rund 200 Cigaretten! Doch nun will ich langsam schliessen, und freue mich, aufs Wiedersehen, am nächsten Sonntagmorgen gegen 10 Uhr.
Bis dahin mit den herzlichsten Grüssen und einem Müntschi
Dein Gusti
*
Tagebuch von Lilly, Sonntag 7.1.1940 (108)
Das erste Mal im neuen Jahr schreibe ich in das liebe Tagebuch. Ich werde auch wieder ein Jahr älter und Vieles wartet auf mich. Wenn schwere Zeiten kommen werde ich an Gutes und Schönes denken, z.B. in diesem nebligen Bern an die sonnenüberfluteten Tage in Adelboden. Wie wir warm eingepackt in Liegestühlen auf glitzernden Schneeflächen vor dem Chalet des Pfadfinderinnenheims lagen, über uns klar blauer, strahlender Himmel und rings um uns die stolzen Berge. Ach so schön war es! Beschreiben kann ich es nicht richtig, aber in Erinnerung behalten werde ich es immer. Habe ich das verdient, solch schöne Tage? Unvergesslich schön im Schnee und Sonnenschein. Wie schwer ist doch die Luft wieder hier unten. So glücklich wie in der goldigen Sonne von Adelboden kann man da unten wohl kaum sein. Sonne, nichts als Sonne. Ich bin so dankbar für alles.
Wie manchmal musste ich mich fragen, ist denn wirklich Krieg möglich? In dieser wunderbaren Welt? Ja, kaum ist man unten, so hört man in den Radionachrichten über Greueltaten und Kriegsopfer. Muss das sein?
*
Daheim, 9.1.1940, 20.20 (109)
Mein Liebes,
Habe soeben das Päckli und den Brief mit bestem Dank erhalten. Lilly hat mir geschrieben, dass es kräftig huste, aber das wird auch vorübergehen, wenn sogar Lt. Christen gestern wieder erschienen ist.
Gestern Nacht war ich auf der Wache, habe also herzlich wenig geschlafen, da ich gegen Mitternacht ein kleineres Alärmchen vom Stapel liess. Das Ganze spielte sich im strömenden Regen ab. Um 06.30h Frühstück mit anschliessendem Alarm-Tag. Habe dann den ganzen Morgen recht tüchtig im Lederzeug geschlafen, als das Telefon schrillte. Fliegermeldung, Fliegermeldung, Fliegermeldung!!!! Und nicht: Fliegermeldeübung! Hei, diese Worte gaben Leben in die Bude! - Lederhaube auf, Pelzhandschuhe und Pelzfinken anlegen, letzte Instruktionen des Patr.Chefs „Vergiss de nid d‘Kanone z‘lade!! Wie hungrige Wölfe warteten wir auf das Schlusskommando: „Los und drauf!“ --- es kam nicht! Der deutsche Flieger sei schon zu weit weg. So erging es uns dreimal! Beim 4. Mal kam eine Meldung, ein feindliches Flugzeug sei über BERN!, Burgdorf, Solothurn in Richtung Olten. Diese Meldung liess unser Jagdfieber neu aufflammen. Ach, wie gerne wären wir auf das Aas los mit Kanonen und MG! Doch der Scheisskerl an verantwortlicher Kommandostelle fand wieder etwas, um uns nicht starten lassen zu müssen. Pfui Teufel, wenn DAS wieder das Volk vernimmt, da schäme ich mich direkt, Fliegeroffizier zu sein! Lieber einen HD Waffenrock tragen, von dessen Träger man nichts wirklich verlangt. Fliegeroffizier und Pilot zu sein, und den Gegner vor der Nase herumfliegen zu lassen, - pfui, zum Kotzen, lieber heimgehen!
Doch es hat ja keinen Wert zu fluchen. Wir bleiben wieder in unserem blödsinnigen in den Tag hineinleben.
Bin morgen Tagesoffizier und am Samstag wieder auf Pikett. Gebe Gott, dass wir doch (nur einmal!!!) losfliegen können.
Herzlichst
Gusti
*
??.1.1940 14.00 (110)
Mein liebes Mueti,
In einer Stunde zieht Lt. Staub wieder auf die Wache. Drum habe ich jetzt noch Zeit, um meinen persönlichen inneren Dienst zu erledigen. Rasiert wäre ich nun und die anderen Stiefel sind grad angezogen. Sogar tüchtig ausgeruht bin ich jetzt auch wieder, lag ich doch nicht ganz vergebens während 3 Tagen der letzten Woche im Bett. Husten, Halsweh und ein gottloser Schnupfen zwangen mich, mal tüchtig zu schwitzen und zu schlafen. Der Arzt verordnete mir als Schlafmittel jeden Abend eine Flasche dunkles Bier, das ich kräftig temperiert gerne zu mir nahm. Frau Weber bepflasterte meinen Hals mit „Zibeleumschlägen“ und versprach Besserung davon. Ich glaube zwar, dass mir das tüchtige Gurgeln mit „Sansilla“ mehr geholfen hat. Fieber hatte ich keines, und heute bin ich wieder zu hundert Prozent beieinander. Gestern merkte ich – zur Ausnahme – wieder nichts vom Sonntag, da unsere Patrouille wieder mal Pikett stand. Von Stehen kann zwar nicht gesprochen werden, denn den ganzen Tag verbrachten wir mit tiefem Schlafen. Passiert ist den ganzen Tag nichts und kaum ein Telefonanruf riss uns aus dem wohlverdienten Schlummer.
Da uns neuerdings 1 Tag Urlaub pro Monat abgeschränzt wurde, verklemme ich meinen Zürcher Besuch bis auf bessere Zeiten und hoffe, dann die ganzen 3 Tage über den 27.1.40 daheim (in Züri) zu verbringen. Bitte gib mir genau Bericht, über den Scherz des B.M. am 27.ds., da ich gerne Vorbereitungen treffen möchte.
Und nun wäre ich Dir dankbar, wenn Du mir noch Nastücher senden würdest, da diese ein begehrter Artikel geworden sind und meine Nase immer noch geruht, in weinerliche Stimmung zu verfallen. An allem andern leide ich keinen Mangel.
Verbleibe mit den herzlichsten Grüssen an alle
Dein Gusti
*
„Daheim“, 16.1.1940 20.05 (111)
Mein liebes Mueti,
Habe Deine Sendung mit bestem Dank erhalten und beeile mich, Deinen langen Brief sofort zu beantworten.
Heute erhielt ich die Anweisung der Trainingsentschädigung für den Monat Dezember 39 lautend auf etwas mehr als Fr. 200.--. Ich werde sie Dir zustellen lassen, was drüber ist, kommt in eine „eiserne Reserve“. Ich denke, dass mit dem schon wieder etwas zu verstopfen ist. Ich hoffe natürlich inständig, dass auch in diesem Jahr unsere Flugstunden angemessen entschädigt werden und dass daher die elterliche Familie noch n i e allzu kurz gekommen ist, wirst Du dich sicher erinnern. Was meinen momentanen Sold betrifft, damit mache ich, wie es mich am besten dünkt. Das blödsinnige „Auf dem Flugplatz hocken“ ohne etwas Positives leisten zu können, macht, dass wir alle zusammen – angefangen vom Hauptmann bis zum jüngsten Leutnant – eine ganz verdammte Rasselbande geworden sind. Daher sind wir verdammt kurz angebunden punkto Vergnügungen; dass dann über Samstag und Sonntag keiner zu früh ins Bett steigt, ist klar. Du wirfst mir in Deinem Brief fast vor, dass mein Geld unberechenbar für Wein, Weib und Tanz in die Welt hinausfliege. Ja, das stimmt, aber immer noch in genau vorher bestimmter Menge, und soviel ich mich erinnere, habe ich seit meiner Unteroffiziersschule kein Geld mehr für meine persönlichen Vergnügen von daheim bezogen, ausser in der Zeit meines Technikumbesuches – und ich hoffe, dass ich auch nicht mehr „der Huufe“ von Euch verlangen muss! Werden unsere Flugstunden noch bezahlt, so kannst Du versichert sein, dass regelmässig bis auf weiteres 2 Drittel des bezogenen Betrages an Dich abgehen werden.
Wegen Wäscheankauf meinerseits möchte ich Dir sagen, dass mir das stinkt, und ich bitte Dich, das Geschäft – aus meinem Geld bezahlt – weiter für mich zu besorgen.
In einem früheren Schreiben fragst Du nach Rechnungen von „Dick“. Alle, die ich hatte, sind bezahlt. Sie betrafen allerdings nur kleinere Beträge. Die Grossen befinden sich nicht in meinem Besitz. (Habe Dir in diesem Moment telefoniert). Wie ich meinen S 3 Sonntag verbracht habe, habe ich Dir soeben erzählt. Oberst Magron erschien plötzlich auf dem W.P. und ziemlich rasch darauf hiess es: „Alarm“! Drei Minuten später donnerten unsere Maschinen schon über den Platz in Richtung Murten. Hoch über den Wolken zogen wir vier jüngeren Flieger unseren Weg weit über unser Ländli. Weiss der Teufel, aber da oben hoch über allem Dreck und Dunst, da bin ich jedes Mal restlos glücklich. Nur möchte ich meinem Aetti mal diese Schönheiten eines ÜBER Wolken Fliegen bieten können. Das zwar lieber ohne der am 27.8. mitgeführten Kanonen- und MG Munition! Sollte der Friede irgendwann mal ausbrechen, werde ich das sofort nachholen!! Auch mein liebes Mädeli möchte ich mal mitnehmen.
Wie ich Dir eben gesagt habe, wird mein „Margritli“ immer mehr ähnlich der lieben, toten Ruth. Mir sagt der Satz genug, den es am Anfang seines letzten Briefes setzte: Es wartet auf Deine Briefe und vergisst dabei das Antworten. Ich denke, dass ich auf meinem nächsten Urlaub am 27., 28. und 29.ds. erst am Samstagmorgen nach Hause komme, da ich am Freitagabend die Eltern Hubler persönlich noch um ihre Einwilligung zum Besuch des Berner Männerchor-Abends bitten möchte. Sehr wahrscheinlich werde ich also mein Margritli mitbringen – malgré de tous! Was die hoch wohllöbliche Bernergesellschaft sagen wird – darum foutiere ich mich. Früher wurde ja auch schon gemeckert, die Hauptsache ist die, dass ich immer noch nicht von ihr abhängig bin.
Doch nun genug für heute, bitte sei mir über meine Ausführungen nicht böse!
Herzliche Grüße und einen Kuss
Gusti
*
Im Feld, 18.1.1940 (112)
Meine Lieben,
Habe eben Deinen Brief mit bestem Dank erhalten und beeile mich, denselben zu beantworten. Von meinem Angebot, Fr. 200.--, gehe ich ab und erhöhe dasselbe auf Fr. 300.--. Da ich doch noch etwas in meiner eisernen Reserve habe, nämlich in der von Dir geschenkten Brieftasche. Ohne weiteres nehme ich an, dass das Geld von Euch zweckmässig verwendet wird. Auch ich wäre froh, wenn die „dicke“ Angelegenheit in Ordnung käme.
Herzliche Grüße Gusti
*
22.1.1940 11.23 (113)
Meine Lieben,
So, der Sonntag wäre wieder mal glücklich vorüber. Am Samstagabend waren wir, d.h. die ganze Bande in der Stadt, aber schon um Mitternacht verzog ich mich in die Klappe. Am Sonntag (gestern) hatte ich das grosse Vergnügen, bis 06.00 h im Bett bleiben zu dürfen. Herr Oblt. Weber, mein Hausmeister, kam gestern mit einem seiner Kameraden aus der Geb.Abt.Bat.10 nach Hause, Im trauten Familienkreis haben wir drei dann am Nachmittag ganzen 10 Flaschen Bier den Garaus gemacht. Gegen Abend waren wir bei den Eltern von Frau Weber, Fam. Breguet, eingeladen zu einem Fondue. Ich muss schon sagen, so ein Fondue Frass in einem Kreis fröhlicher Menschen ist halt doch eine grosse Sache. Nachher gabs, als ausgesprochene Neuenburger Spezialität noch Salami und Brot! Später Twanner, schwarzen Kaffee und Cigarren – von der besseren Sorte! So dick und so gross! Würde der Krieg in diesem Sinne weitergeführt, mir würde es noch lange gefallen. Ihr seht also, dass mein Sonntagswerk sehr angenehm durchzuführen war. Heute fing allerdings wieder ein anderes Leben an, da unsere Kompanie am Mittwoch noch eine Inspektion durch den Rgt.Kdt. Oberst Magron bevorsteht. Alles ist plus ou moins aufgeregt, am meisten der Captain, der überall herumrast wie ein wahnsinnig gewordener Furz in der Konservendose! Ich debutiere als Zugführer, und glaube, dass viel davon abhängt, wie ich dort abschneide – so vo wäge Abverdienen in R.S. Jedenfalls wartet mir heute morgen noch gäbiger Krampf. Aber meine Leute anbrüllen und wüten wie ein Tollhäusler – nobis! Kommt nicht in Frage! Wenn der „Türgg“ verreckt, he nu so de verreckt er halt. Nur aus einem Grunde ist mir diese Inspektion „z‘wider“, nämlich wegen dem Schnee und der herrschenden Kälte. Aus Anlass dieses hohen Besuches wird natürlich jetzt nicht geflogen bis Donnerstag. Dann werden wir wieder nach Payerne rutschen und dort unsere Bleispritzen arbeiten lassen. Flugzeiten schinden, das ist jetzt Trumpf bei uns. Ich habe diesen Monat bis jetzt 8 Stunden und 42 Minuten, was wieder ein erkleckliches Sümmchen abgeben dürfte. Ich glaube, dass ich mir doch noch Ski und Hosen kaufe und dann mal den 3 tägigen Februarurlaub (mit Transportgutschein d.h. bezahlter Reise retour) in Adelboden oder Wengen geniesse, ohne vorher nach Hause zu kommen
PS Ich finde keinen Schluss dieses Briefes. (Anmerkung Lilly 2012)
*
Ende Jan./anf.Feb. 1940, Bauernhaus Mory 19.30 (114)
Meine Lieben,
Wie Ihr aus dem Datum ersehen könnt, stecke ich heute Abend wieder auf dem „Ehren-Posten eines Wachtkdt. Gestern Abend landete ich gesund und munter zur guten Zeit wieder „daheim“. Heute morgen, d.h. den ganzen Tag, im K.P. auf Pikett. Starten wäre heute reiner Selbstmord gewesen, da leiser Regen fiel und schon durch das bisschen Rollen vereisten die Flügel und selbst am sich rasend drehenden Propeller setzte sich das Eis sofort fest. Also haben wir unsere Maschinen wieder versorgt, und wir Piloten und „Beaugapfler“ legten uns kräftig aufs Ohr. Geschlafen habe ich heute den Tag durch rund 8 Stunden, so dass ich diese Nacht ein bisschen wachen kann. Auf dieses Wachbett zu liegen reizt mich verdammt wenig, da alles richtiggehend vor Dreck nur so starrt. Auch der Umstand, dass ich vor einer halben Stunde einem „motorisierten Brotbrösmeli“ den Garaus gemacht habe, ermuntert mich nicht heftig, mich in Morpheus Arme zu legen. Obenstehender Ausdruck heisst nämlich in der Soldatensprache: die ja so fein und zart alles zu umschreiben weiss (bitte erschreckt nicht): W a n z e n! Schon nur der Gedanke an diese lieben Biester – äh, mich beisst es schon am ganzen Körper! Ich habe so das ganz leise Gefühl, dass ich mich morgen promptestens in ein heisses Bad stürzen werde. Ich weiss nicht, ob Vati auch solche Grenzbesetzungserinnerungen mit sich herumträgt? Ich habe jedenfalls jetzt schon genug davon. Es ist wirklich Zeit, dass wir aus diesem Dreckloch herauskommen. Wäre ich nicht eben im blitzsauberen Bernerheim gewesen und hätte so frisch die „Segnungen“ des zivilen Lebens genossen, so wäre mir all der Dreck sicher nicht so aufgefallen.
Nun noch ein kurzes Resumé über den verbrachten 3-tägigen Urlaub: Allgemeiner Eindruck gut. Der Samstag hat mir gefallen, der Abend war ganz gerissen, nicht einmal gelangweilt habe ich mich. Sonntags als Zivilist kam ich mir meistens saublöd vor. Aber „Die lustige Witwe“ hat mir gefallen. Wie ich dann am Montag wieder in mein Waffenröckli geschloffen bin, fühlte ich mich sofort viel wohler. So gut es mir auch gefallen hat bei Euch, so gerne bin ich wieder zur Truppe gegangen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich jetzt h i e r h e r gehöre und nicht ins Zivilleben!
Heute war ich noch nicht in meinem Zimmer, so dass mein Waschsäckli immer noch im Kasten ruht. Werde es morgen absenden.
Bis auf Weiteres alles Gute und herzliche Grüße Gusti
*
Tagebuch von Lilly, Sonntag, 11. Februar 1940 (115)
Auch wenn ich schwere Stunden erlebt habe, behalte ich den Kopf hoch. Seit gestern ist das Band der Freundschaft zwischen Sylvia und mir zerrissen. Ja, wir werden uns wieder anständig gegeneinander benehmen, aber eine Freundschaft, wie sie gewesen ist, wird und kann sie nie mehr werden. Die Aussprache mit Sylvia war gut, obwohl wir beide Tränen in den Augen hatten. Ich weiss nicht, wem es schwerer war, mir oder Sylvia. Unsere Wege werden auseinander gehen, denn sie ist neidisch auf mich. Sie wirft mir vor, ich dränge mich überall vor. Sie habe lange gekämpft gegen den Hass, der in ihr aufstieg. Ach, ich hätte Sylvia sicher noch viel helfen können, ich werde den Weg ohne sie machen. Hasse mich nur, bis Du einsiehst, dass Du mir Unrecht getan hast. Wir sind alle nicht unfehlbar, aber dass Neid eine Freundschaft in Scherben schlagen kann, das ist bitter! Wie oft ging ich Sylvia trösten, wenn sie krank war – nun hat sie mir nicht einmal mehr zum Geburtstag gratuliert. Eigentlich traure ich um zwei Freundschaften, um die von Heinz und die von Sylvia. Man verliert und gewinnt Freunde. So lernte ich Beatrice Leugger in Adelboden kennen, eine Pfadfinderin aus Basel. Sie schenkte mir das Buch „Im Lenz des Lebens“. So denke ich mir, muss es sein, eine Schwester zu haben.
14.2.1940 (116)
Mein liebes Mueti,
Ich habe Deine lieben Zeilen mit herzlichem Dank erhalten, und entnehme daraus, dass mein Mueti wieder mal unter Heimweh nach seinem Bueb leidet. Ich werde also machen, dass ich nächste Woche mal für zwei Tage nach Hause kommen kann. Den 3. Tag werde ich dazu brauchen, um ganz rasch mal nach Zürich zu gehen. Du, was sagst Du zu den überwiesenen Fr. 300.--? Im Ganzen erhielt ich etwas über Fr. 400.--, jedoch ist die Versicherungsprämie von Fr. 70.-- schon abgezogen. Für den Monat Februar sind die Trainingsentschädigungen verdammt klein, da ich bis jetzt ganze 40 Min. Flugzeit habe. Du, der Witz der Woche: Jeglicher Besuch von Maskenbällen war uns Offizieren, Uof. und Soldaten plötzlich vom Abd.Kdt. aus verboten. !Punkt! Aber trotz Verbot haben wir uns schadlos gehalten und über allzu viel Schlaf in den Wochenendtagen konnten wir nicht klagen. Am Montag rekognoszierten der Hpt.Mann und unsere 3 „Einsternige“ den Stützpunkt La Sagne bei La Chaux de Fonds. Mensch, das wäre anderes Klima als Biel! Bei schönstem Schneesturm trappten wir im Dorf herum – und Ltn. Ebert und ich mussten die „Hotels“ auf meinen Plänen einzeichnen. Ja, Hotel, so nennen sich die Spelunken! Auf den „Vue des Alpes“ tobte und pfiff die Bise so gottlos, dass es uns fast den Karren kehrte. Auf dem Heimweg fand der Captain, dass man in Auvernier gut Fisch esse. Also, nichts wie los, und prima war‘s! Ich kannte meinen Hptm. kaum mehr; denn schon in Neuenburg wollte er noch ins „Beau-Rivage“, konnte es dann aber bis Tüscherz verklemmen, auch in Twann wusste er ein ganz gerissenes Beizli, die „Ilge“, wo der Mönchliwy auch nicht schlecht ist. Du siehst aus all dem, dass mein Wohlbefinden auf Gut steht, und auch moralisch bin ich richtig zwäg. Habe ich doch von meinem Mädeli aus der Lenk schon zwei Briefe erhalten.
Mit den herzlichsten Grüssen und auf baldiges Wiedersehen
Dein Gusti
*
16.2.1940 19.37 (117)
Mein liebes Mueti,
Damit Du morgen nicht vergebens in den Briefkasten schauen musst, habe ich mich hingesetzt, um Dir rasch einige Zeilen zu schreiben. Ich hoffe, dass nun Dein moralisches Gleichgewicht wieder etwas hergestellt sei und wünsche Dir gerne wieder mal eine restlos gesunde Familie. Unserem Aetti wird wieder mal ein gründliches Ausschlafen von seiner strengen Büroarbeit auch nicht grad schlecht bekommen sein, und wie ich Dich kenne, so ist er ja in besten pflegerischen Händen. Bei uns „im Felde“ geht alles tagtäglich seinen gewohnten Gang. Nein, es passiert noch viel weniger; nicht mal mehr fliegen können wir, da der Platz sich in einen Sumpf zu verwandeln pflegte und im übrigen der Wettergott Schnee und Regen „g‘heie“ lässt, dass es grad nümme schön ist. Von meinem Mädeli habe ich aus der Lenk schon zwei Briefe erhalten, und ersehe daraus, dass es dort oben Sonne und Schnee in Hülle und Fülle geniesst.
Du, der hohe Abt. Stab zügelt scheints nächstens nach – Biel! Also scheint eine Dislokat. unsererseits in die Ostschweiz nicht mehr sehr aktuell zu sein. Wenigstens vorläufig. Die Herren vom Stab sind mir persönlich ja gut und recht, aber trotzdem für die Kp. ist es nicht vom Besten, wenn die dick Vergoldeten direkt auf ihr oben hocken, aber es wird auch so gehen. Von Entlassung oder Ablösung ist weit und breit nichts zu bemerken, so werden wir wohl den Frühling noch hier erleben.
Mit den besten Sonntagswünschen und einem herzlichen Kuss
grüsst Dich Dein Gusti
PS. Gute Besserung allseits!
*
26.2.1940 17.33 (118)
Meine Lieben,
Gott sei Dank, wieder ein Sonntag vorüber. Am Sonntag übernahm ich um Mittag die Flugplatzwache und bis vor einer halben Stunde kam ich nicht mehr in mein Zimmer. Den ganzen Sonntag verbrachte ich im Hangar als Wachtkommandant und feueröffnender Offizier. Erhielt am Samstag noch einen lieben Brief von meinem Mädeli und benützte die langen, freien Stunden, um in Form eines Briefes zu antworten. Heute nun war ich seit drei Wochen wieder mal in der Luft. Ganze 99 Min. hingen wir in der Luft, und Toni, Ltd. Tscharner, hat uns tüchtig gedrillt. Mein Beobachter, Oblt. Zeiger, hielt jedenfalls das ewige Drehen und Sturzfliegen nicht aus, und so opferte er sein ganzes Mittagessen den Göttern der Luft. Aber mir hat es gefallen, trotzdem der ganze Flug eine sackgrobe Angelegenheit war. Am Boden herrschte Nebel, so dass wir direkt blind landen mussten. 5 Min. vor uns versuchte ein Pilot aus Kp. 12 bei uns zu landen, gab aber den Scherz bald auf und flog, ohne den Boden berührt zu haben, wieder heimwärts.
Für das Säckli besten Dank. Bitte für das nächste Mal Nastücher und einen Waschlappen senden. Ich hoffe, dass der Schreck vom Donnerstagabend betr. Lillys Ohnmacht ohne Folgen blieb und schliesse mit den herzlichsten Grüssen
Euer Gusti
Beiliegend Karte von „Hecht“ und Brief von Onkel Johann.
*
Tagebuch von Lilly: Sonntag, 10. März 1940 (119)
Patriaabend. Ja, gestern Abend war ich im Casino am Pfaderabend. Ich muss sagen, ich bin restlos zufrieden. Nun, dass Gusti nicht kommen konnte, war Pech. In meinem langen weissen Kleid habe ich ja ganz nett ausgesehen. Mit Heinz habe ich nicht gesprochen, aber viel getanzt. Ein Gymeler hat den ganzen Abend fast nur mit mir getanzt. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn sich drei zur gleichen Zeit vor einem verbeugen und zum Tanz auffordern. Besonders hart ist es, wenn man wie ich den Tanz versprochen hat und dann lieber mit einem andern tanzen möchte. Der Gymeler dauerte mich ein wenig, denn ich mag ihn nicht besonders, auch wenn er mir liebe Sachen gesagt hat, die mir bis jetzt noch keiner gesagt hat. Warum habe ich denn doch immer mit ihm getanzt? Weil ich es nicht übers Herz gebracht habe, nein zu sagen.
Wie anders war es doch, als mich der herzige, dunkeläugige Pfader holte. Nur zweimal gelang es ihm, mich zu engagieren, bevor der andere kam. Er geht auch in den Proger und ich mochte ihn gern, vielleicht weil er mir keine Dummen Sachen gesagt hat. Dumme Sachen nenne ich z.B. „Du bist hübsch. Du tanzest gut“. So jemanden könnte ich gern haben. Den letzten Tanz habe ich mit ihm getanzt. Den andern habe ich wohl sehr enttäuscht. Ich hoffe, dass ich ihn nie mehr sehen werde, obschon er mir den Abend schön gemacht hat. Er ist der erste, der mir gezeigt hat, dass er mich gern hat, für das bin ich ihm dankbar. Der Abend war herrlich.
*
Donnerstag, 14.3.40 08.10 (120)
Meine Lieben,
Viel habe ich nicht zu berichten. Bei uns geht alles im alten Tramp. Nur, dass es gestern den ganzen Tag und die ganze Nacht nur e i n m a l geregnet hat. Dabei versah ich letzte Nacht noch den schönen Posten des Wachkdt. War dabei nass bis auf die Haut und habe mich grad jetzt retabliert. Beiliegend eine Marke des hohen Armeestabes, die mir Mäd Loxder geschickt hat.
Mueti, ich sollte wieder Waschlappen und Socken haben.
Herzliche Grüße Gusti
*
16.3.1940 07.35 121
Mein liebes Mueti,
Du, am Sonnerstagabend hatte Staub Güstu wieder mal Schwein. Abends 21.30 h, als wir in der Stube sassen, wurde hier ein Sturmalarm geblasen. Meine Kameraden, die im Kino in der Stadt waren, wurden alle gefunden und per Auto direkt auf den Flugplatz geführt. Staub war nicht auffindbar und infolgedessen auch nicht auf dem Platz. Offiziell war ich halt irgendwo privat in der Stadt. Jedenfalls hat all das keine Folgen gehabt und mir rasselte doch ein ganz grosser Stein vom Herzen. Wie immer, Glück, auf das ich ja sehr weitgehend vertraue. Gestern war ich Pikett und dabei wurde uns wieder so recht bewusst, dass wir „Brätzeli Buben“ für die Katz im Dienst sind. C35 ist ja soweit ganz schön, aber Morane und Messerschmitt sind eher Maschinen. Gestern morgen fanden die schönsten Luftangriffe zwischen Deutschen und Franzosen in der Gegend von Pruntrut statt. Die Kameraden der schnellen Flugzeuge konnten aufsteigen und sahen der Scheisse von oben zu – und entsicherten Kanonen und Mg‘s. Wir C35, auch Flieger, durften am Boden bleiben, während 25 km von uns weg die schönste Kriegsfliegerei im Gange war. Die Entschuldigung auf unsere Anfrage betreffend Start war die, dass „man“ nicht unnötigerweise noch mehr Besatzungen gefährden wollte. „Schiesscheibe!“
Du, Mueti, stelle bitte Dein unsinniges Heimweh ein bisschen in eine Garage. Du weisst ja, dass ich gleichwohl immer wieder heimkomme.
Doch heute sollte ich noch rasch nach Lausanne und wünsche Euch recht guten Sonntag.
Herzlichst grüsst Dich Dein Gusti
*
Feld. 20.3.40 (122)
Mein liebstes Mueti,
Habe gestern Deinen lieben Brief und das Päckli erhalten. Besten Dank! Dass Du ja in den Nerv eingedrungen bist, habe ich ja gemerkt, aber, dass es so bös steht, wusste ich nicht. Ich hoffe nur, dass Du letzten Sonntag eine kleine Freude hattest. Du, wenn Lilly nach hier kommt, werde ich die Gelegenheit dazu benützen, um mit meiner Schwester etliches zu bereinigen. Aus Deinen Zeilen zu schliessen, führt sie sich ja auch nett auf! Auch mit Vati werde ich wieder mal unter vier Augen reden. Du, mein Mädeli hat mich den ganzen Dienstag erwartet, doch ich konnte nicht zum Zahnarzt, da ich am selben Tag rasch nach Basel musste. Nun hat sich Margritli die nächste Woche einen ganzen Tag mit mir ausbedungen. Und gern werde ich ihm diesen Tag schenken. Und zwar werden wir uns nicht in Bätterkinden treffen. Gehe halt dann nur 2 Tage per Transportgutschein zum Skifahren.
Wünsche Dir frohe Festtage trotz allem und verbleibe mit innigem Kuss
Dein Gusti
*
Tagebuch von Lilly: Mittwoch, 10. April 1940 (123)
Schon sind zwei Wochen Ferien vorbei. Zeugnisse hat es auch gegeben. Yvonne und Marie sind sitzen geblieben, nun sind wir nur noch 6 Mädchen. Die Kluft, die zwischen mir und Martina entstanden ist, wird immer grösser. Ich hänge noch mit grosser Liebe an Martina, aber ich spüre es, sie will nichts mehr von mir wissen. Wie sehr mich das quält, kann ich gar nicht beschreiben. Mueti hat mit Frau Steffen gesprochen und diese meint ganz bestimmt, dass wir uns wieder finden werden. Ich habe die Hoffnung ja auch noch nicht aufgegeben. Dieses Jahr wird Sylvia noch ein Hindernis sein, aber schon nächstes Jahr sind Martina und ich schon im Gymer und Sylvia noch nicht. Und wir sind doch Pfadfinderinnen, und unser Gesetzt sagt doch:
Die Pfadfinderin ist die Freundin und Schwester aller Pfadfinderinnen.
Jetzt soll ich auch den Konfirmandenunterricht besuchen. Ich fühle mich aber gar nicht reif dazu. Wenn mir jemand die Frage stellen würde, wie ich mich zur Religion stelle, so müsste ich antworten, dass ich es selber nicht weiss. Ich muss ja zweifeln an Gott, denn, wenn er doch so mächtig ist, warum lässt er es geschehen, dass sich die Völker gegenseitig vernichten. Warum lässt er einen Hitler bestehen. Will er die Menschen bestrafen? Aber warum straft er nicht die, welche Strafe verdient hätten. Wieviele sehen im Krieg die Möglichkeit, reich zu werden!
Aber manchmal überkommt mich trotz allem ein Glücksgefühl, einfach weil ich bin. Ich bin ein Mensch, ich arbeite, ich bin etwas. Dafür muss ich doch gewiss auch wieder Gott danken.
Man sollte wohl nicht nachdenken und einfach sagen: „Es gibt einen Gott und der macht, wie es gut ist und an ihn muss man glauben.“ Wer das kann, den bewundere ich!
*
10.4.1940 21.00 (124)
Mein einzig liebes Mueti,
Heute Nachmittag trotz Regen und Nebel wieder „heim“ geflogen und „glücklich“ hier gelandet. Habe hier Deinen so lieben, aufmunternden Brief erhalten und spreche Dir dafür meinen innigsten Dank aus! Ja, nach allem, was ich wieder erlebt habe, braucht es festen Mut, im gleichen Schritt und Tritt zu marschieren. Ich glaube, mir hilft hier nichts, als mich n o c h fester in meine militärischen Aufgaben zu stürzen, um dadurch meine Gedanken von der geliebten Frau wenigstens für Stunden abzulenken. Morgen schon soll ich mit einer Patrouille irgendwo in der Ostschweiz zu einer Übung der xten Division eingesetzt werden und für einige Tage dort bleiben. Als noch so junger Pilot fühle ich mich fast ein wenig geehrt dadurch und habe grosse Freude mal den Kameraden von den andern Waffengattungen zeigen zu können, dass wir Flieger auch etwas leisten können. Wo wir hinkommen, und was für Aufgaben uns gestellt werden, wissen wir noch nicht, werden es aber heute Abend noch um 23.30h erfahren. Und ich verspreche Euch, d i e s e Aufgaben werden gut gelöst! Ich bin mir meiner Verantwortung über 6 junge Flieger vollauf bewusst und werde demnach vorsichtig sein. Wäre ich allein, so würde ich vor keinem Wetter umkehren. Doch auch so, sollen die hohen Herren vom Kommando zufrieden gestellt werden.
Glück ab! Und sei herzlichst gegrüsst und geküsst von Deinem Bueb
Gusti
Heute von Frl. Dr. Hofstetter aus Ascona Karte und Cigaretten erhalten.
*
Tagebuch von Lilly: Sonntag, 14. April 1940 (125)
Gusti war da! Das sagt eigentlich alles. Es ist immer dasselbe, zuerst die grosse Freude, dass er da ist, dann die kleine Enttäuschung, wenn er am Nachmittag mit seinem Freund Alfa ausgeht und am Abend der herzliche Abschied.
Und morgen beginnt wieder die Schule. Ich gehe mit gemischten Gefühlen in die Kl. A. Mir ist, als wäre es gestern gewesen, dass wir von Lehrer Mösch weg in den 2. Proger kamen. Nun gehe ich wirklich nur noch zum Lernen in die Schule. Eine Freundin habe ich keine mehr und einen Freund auch nicht. Ich werde nun allein sitzen, neben Martina will ich nicht mehr. Ich nehme mir vor, wieder mit allen freundlich zu sein und meine Noten nicht mehr zu sagen. Ach, ich möchte, es wäre alles noch wie im dritten Proger. Vielleicht ist der Verlust der Freundschaft von Sylvia und Martina eigentlich mein erster grosser Kummer, aber ohne Nutzen gehe ich auch nicht daraus hervor. Ich habe gelernt, bescheidener zu werden.
*
Tagebuch von Lilly, Sonntag, 28.4.1940 (126)
Ja, ich sitze allein, aber es ist gar nicht so schlimm und bis jetzt hatte ich die besten Noten der Mädchen. Aber nun, wo es in der Schule besser geht, hapert es zu Hause. Ich weiss nicht, warum ich nicht traurig und niedergeschlagen bin, wie sonst nach solchen Szenen. Allerdings so wie heute ???
Seit einiger Zeit trage ich eine Spange im Mund, um einen Zahn weiter nach hinten zu setzen. Sie stört mich beim Sprechen, und ich kann den Buchstaben „R“ nicht mehr gut sagen. Gestern Abend hat mich meine liebe, gute Mutter wahrhaftig ausgelacht und verspottet deswegen. Ich habe nicht mehr viel geantwortet, aber es hat mich tiefer getroffen, als es vielleicht sollte. Heute hat sie natürlich wieder geheult wie immer. Sonst hat mich das immer gerührt, aber heute liess mich das kühl. Nur eines tut mir leid, dass ich meinem Vater so entschieden meinen harten Kopf zeigen musste. Er verlangte, dass ich Mutter abtrocknen helfe. Da habe ich ein festes, klares Nein gesagt. Es hat wohl härter geklungen, als ich eigentlich wollte. Sprachlos vor Erstaunen blieb Vater in der Türe stehen, dann wiederholte er den Befehl und er bekam die gleiche Antwort. Wenn ich ihm auch weh getan habe, um nichts würde ich es zurück nehmen, was ich gesagt habe! Bis hier her habe ich Mutter manchmal gehasst, seit gestern habe ich das Verachten gelernt. Vielleicht ist sie zu dumm, um zu spüren, wie weh sie mir getan hat. Zum ersten Mal habe ich mich dem Vater in dieser Weise widersetzt, aber ich konnte nicht anders. Er erklärte mir dann, ich könne die Konsequenzen tragen. Jawohl, das werde ich tun.
*
10.5.1940 16.35 (127)
Mein liebstes Mueti,
Trotz der neuesten Ereignisse behalten wir den Kopf oben, und ich bitte Dich, wieder von neuem stark zu sein. Auch das wird vorübergehen. Urlaube sind natürlich jetzt Illusion und auch nicht nötig!
Innig umarmt und küsst mein Mueti Dein Gusti.
*
Tagebuch von Lilly, 14. Mai 1940 (128)
Eine unglaubliche Nacht, die ich wohl nie mehr vergessen werde! Es ist bald 11 Uhr, aber das ganze Haus ist noch wach. Vati und Herr Berger richten den Luftschutzkeller mit fieberhafter Eile fertig ein. Mueti hat Decken für Notlager nach unten getragen und sie auf den Hurden ausgebreitet. Dann auch Wasser, Cognac und Kerzen. Alles ist bereit. Was ist eigentlich vorgefallen? Gusti hat vor einer halben Stunde telefoniert, es stehe sehr schlimm. Heute ist der letzte Tag, an dem die Ausländer Waffen tragen dürfen. Frankreich hat Deutschland um Frieden gebeten.
Gestern bin ich gegen Pocken geimpft worden.
Am Nachmittag hielt ich einen Vortrag über „Louis Pasteur“. Sehr gut.
*
Besatzungsraum, 14.5.1940 13.55 (129)
Mein liebes Mueti,
Draussen wird ein herrlicher Frühlingstag abgehalten, wir Besatzungen haben Theorie. Eine Maschine hängt in der Zeit am Rhein und Beobachter und Pilot hängen mit brennenden Augen am Himmel und wachen darüber, ob ennet dem Rhein Truppen aufmarschieren. Wie allgemein bekannt, ist ja die Lage nicht grad rosig. Als ich heute morgen mit René Schweizer unsere Abwehrgeschütze kontrollierte, schauten wir lange ins grünende, blühende Land, und jeder empfand von neuem eine heisse Liebe aufsteigen für unsere Heimat. Siehst Du, wir sind ja alle noch so jung, und keiner möchte ans Sterben denken. Doch über unserer Generation hängt mehr oder weniger wie ein Damokles Schwert der grosse Fluch KRIEG! Schau Mueti, wir hängen ja alle mehr oder weniger an dem bisschen Leben. Und das Leben bietet uns ja so viel Schönes – und auch ich durfte ja alles erleben. Alles habe ich ja gehabt und möchte es jedoch noch weiter erleben. Sollte uns und unserer Heimat doch mal die letzte Prüfung beschieden sein, so wollen wir sie bestehen – oder in Ehren untergehen!
(9)
Alle zwei Tage fliege ich nun meine 2 stündige Grenzüberwachungspatrouille. Oft ist es kalt wie der Teufel und Schlaf gibt‘s. Weisst Du, wie wir jetzt unsere Abende verbringen? Unsere 4-5 Kameraden bummeln Abend für Abend über den kleinen Höhenzug beim Dorf und singen stundenlang. Aber noch nie ist ein Schlager gestiegen, alles sind bestandene, liebe Volkslieder, die von Liebe und Abschied erzählen. Am Morgen bei Tagesgrauen startet die erste Maschine und wenn es dunkelt, so kommt die letzte nach Hause.
Für Deine Wäschesendung empfange meinen besten Dank, ebenfalls für die begehrten Rauchstengel. Beiliegend sende ich Dir noch die Foto, die ich anlässlich meines letzten Urlaubs daheim gemacht habe. Mit unseren Urlauben ist es bis auf weiteres herzlich schlecht bestellt. Aber wer würde auch Urlaub verlangen, wenn jeder weiss, was heute für uns alle auf dem Spiele steht!?
Ich denke, dass Lillys Schulbesuch unter der jetzigen Mobilisation auch kräftig leidet und wie steht es mit Vatis Felddienst? Ich denke, dass ich diesen Monat nicht mehr heim kommen kann. Nächsten Monat, schon bald haben wir wieder Juni, wird es sicher einmal gehen. Du, ist Alfa auch mobilisiert oder darf er zu Hause bleiben, da er doch jetzt in der Kriegswirtschaft tätig ist? Unsere Einstellung diesen gegenüber, die jetzt nicht in der Uniform stecken, ist sehr gereizt. Es sollte ja keinem einfallen, je zu lästern, ich glaube, er würde niedergeschlagen.
Doch ich will mein Epistel aufhören und grüsse alle meine Lieben daheim.
Dir speziell ein inniges Müntschi
von Deinem Gusti
*
Wache, 7.7.40 17.30 (130)
Liebes Mueti,
Schon aus dem Briefkopf kannst Du meine Sonntagsbeschäftigung erkennen. Aber es ist noch nicht der dümmste Posten, den man bei uns einfahren kann. Jedenfalls habe ich so gäbig Zeit, meine Korrespondenz zu erledigen und auf was für noble Art siehst Du ja. Mir kommt es vor, wie in der seligen Stabszeit. Und doch nicht mehr ganz. Aber tauschen möchte ich nicht um vieles!
Vorgestern Abend reiste ich zwecks Urlaub für 24 Stunden nach Bern und habe zu Hause alles in bester Ordnung angetroffen und auch so wieder verlassen. Am Freitag Abend war ich mit Alfa in der Stadt, aber schon um 13.40 Uhr wieder daheim. Habe dann geschlafen bis 10.15 Uhr und war nachher beim Coiffeur. Beim „Zytglogge“ traf ich Herrn Blaser, der mich mit einer ganz sensationellen Neuigkeit überraschte. Er fragte mich, ob ich es wisse, dass Ernst schon seit 2 Monaten daheim im Bett liege? Er habe eine Lähmung, die es ihm nicht mal mehr erlaube, selbständig zu essen, von Gehen, geschweige denn Schreiben sei nicht mehr die Rede gewesen. Habe dann bei Fam. Inderbitzi „z‘Mittag gegessen, und am Nachmittag besuchte ich dann Ernst. Ich muss schon sagen, sein Anblick hat mir aufgehauen, weil aus dem einst kerngesunden Kameraden nur noch ein zitterndes Wrack übrig geblieben ist. Allerdings ist er heute wieder so weit, dass er einige Schritte gehen kann und reden kann er auch wieder ganz gut. Jedenfalls hat sein Humor nicht gelitten. Der Arzt hatte ihm vor ca. 7 Wochen ganz offen noch eine Lebensdauer von 3-4 Tagen vorausgesagt. Tag für Tag habe er dann auf den Gevatter Tod gewartet, sein Herz habe hie und da aufgehört zu schlagen, und er habe dann gedacht, dass das nun das Ende sei. Aber jedes Mal sei der Knochenschüttler wieder abgetreten und habe diesen Bissen verschmäht. Langsam sei es dann wieder besser geworden, und vor drei Wochen sei er richtig gehend neu geboren worden.
Das wäre also die grösste Neuigkeit, die mir zu Ohren gekommen ist. Ich musste mir dann noch Bethlis Stammhalter vortraben, respektiv vortragen lassen und ihn bewundern. Die jetzigen Grosseltern Blaser, der Alte vor allem, finden natürlich, dass ausser ihren eigenen Kindern noch kein so schöner Gof das Licht der Welt erblickt habe, wie jetzt Bethlis Junge. Heissen tut er Plinio. Von seiner Tessiner Abstammung zeugt aber auch grad nur sein Name. Der Junge trägt das typische Blaserkinn und die rötlichblonden Haare seiner Mutter. Ich glaube, dass der alte Blaser für diesen Knopf chneulige auf den Gurten rutschen würde. Ich musste dann unbedingt bei ihnen zum Z‘nacht bleiben, das sich der alt bewährte Hauskoch Blaser selber kochte.
Walti Ebert und Ltd. Badertscher haben ihren Urlaub in Genf und Lausanne verbracht, und gestern Abend haben wir drei uns dann im Fantasio in Biel getroffen – und zwar ohne „Mousy“. In der zweiten Morgenstunde des heutigen Sonntags sind wir dann wohlbehalten und sogar ohne angeheitert zu sein, in unserem „Sternen“ eingetroffen und haben uns dann bis 06.00h ausgeschlafen. Um 08.00h musste ich bei der Vereidigung der Ortswehr zugegen sein und wurde dabei dem ganzen Gemeinderat dieses hochwohllöblichen Grenchens vorgestellt. Kaum war dieser geierliche Akt beendet, so gefiel sich der Himmel darin, seine Schleusen zu öffnen und seinen „Seich“ abzulassen, was er bis jetzt noch nicht wieder verklemmen konnte. Bei uns wurde dieser trübe Sonntag zum Selbststudium, d.h. bei uns, sich aufs Ohr legen, verwendet.
Habt Ihr heute morgen am Radio die Fahnenübergabe an die Fliegertruppe mitgehört? Endlich, bereits am Ende dieses „Feldzuges“, erhalten auch wir eine Fahne. In Bern muss heute anlässlich dieses Ereignisses anständig gefestet worden sein! Wir an der Front haben aber davon nichts gemerkt.
Ah, noch etwas: nämlich das, dass unser Captain für ca. 3 Wochen zu einer Erholungskur auf den Beatenberg geschickt wurde. Es hiess, dass seine Nerven durch den langen Dienst erheblich gelitten hätten und dringend der Schonung bedürften. Na, das kann jeder sagen. Du, die neue Uniform hat ganz toll eingeschlagen bei den Fliegeroffizieren. Fast jeder zeigt sich nur noch mit Kravatte im Ausgang. Meine abgeänderte Uniform habe ich noch nicht erhalten, hoffe aber auf Lieferung in der künftigen Woche.
Und nun noch besten Dank für Euren Kartengruss, der mir gezeigt hat, dass Ihr Euer Reiseziel gut erreicht habt.
Und nun hoffe ich wieder auf etwas besseres Wetter, denn zum Fliegen ist es so nicht interessant. In der Hoffnung, dass Ihr es Euch gut gehen lässt, verbleibe ich mit
den herzlichsten Grüssen
Dein Gusti
PS Wäsche folgt Mitte nächster Woche.
(10)
*
Tagebuch von Lilly, Ferien in Serneus, 8. Juli 1940 (131)
Offenbar hatte es im Bad Serneus Einquartierungen von Soldaten und am Abend wurde getanzt, und ich war wieder einmal sofort verliebt. Eintrag: Die Soldaten sind fort. Bis jetzt kamen sie jeden Abend zum Tanzen, einer kam nur zweimal, doch ich bin grenzenlos verliebt. Es kamen gestern Offiziere und doch holte ich IHN bei der Damenwahl. Doch warum hat er mir beim Abschied noch die Hand gegeben? Nun ist er weg! Ob ich ihn in meinem Leben noch einmal sehen werde, weiss ich nicht, aber der gestrige Abend war der schönste!!!
*
Bern, den 10. Januar 1941
Was ich da geschrieben habe, ist ein BLOEDSINN!!!!
*
Feld, 10.8.40 16.00 (132)
Mein liebes Mueti,
Herzlichen Dank für alle Sendungen dieser Woche. Über den Flecken in meinem Hemd bin ich mir auch im Unklaren. Doch besser als ein Bein gebrochen.
Du, diese Woche war wieder so nach meinem Geschmack. Dienstag und Mittwoch am Morgen Akrobatiktraining und nachmittags Baden in der Aare bei 20 Grad Wärme des Wassers. Donnerstag „Beobachterschaukeln“ und Baden. Gestern Freitag flogen wir ganz gemütlich nach Payerne und warfen dort unsere Bomben in den See. Sicher hat es etlichen Fischen das Leben gekostet, doch ist es mir lieber, wenn diese starben als ich, denn mir gefällt der Dienst letztlich in diesem Sinne ganz gut. Schon um 16.00h waren wir wieder in Payerne und bald darauf tollten wir wieder wie die Buben an unserem heimatlichen Aarestrand. Für heute wäre das Strandbad Biel auf dem Programm gestanden, leider schiffte es diesen Morgen nach Kräften, und unser Programm fiel elegantestens ins Wasser. Also haben wir bis jetzt geturnt, und anschliessend gab es Zeit zum Retablieren, was ich benutzte, um Dir wieder einen Wochenbericht zu senden. Und nun werde ich mich aufs Ohr legen bis 17.30h.
Herzliche Grüße Gusti
*
Tagebuch von Lilly: Bern, den 13. September 1940 (133)
Schon so lange bin ich nun wieder hier, und eben jetzt las ich das Gekritzel aus den Ferien. Ich kann gar nicht begreifen, dass ich das gewesen bin, die das geschrieben hat. Heute lächle ich ziemlich spöttisch darüber. Aber eben, es gibt ja Stunden, wo der Mensch verrückt ist! Ich wundere mich auch, dass das das einzig Wichtige aus fünf Wochen Ferien sein soll.
Aber nun bin ich wieder in Bern, und ich habe nicht viel Zeit, zurück zu denken.
Gusti hat zwei Monate Urlaub und geht ans Technikum Burgdorf. Morgen kommt Vati auf Besuch. Mir scheint es fast, als hätte ich Angst, das hinzuschreiben, was mich drängt. Heinz hat eine neue Freundin gefunden. Nun, ich versuche mir einzureden:
Was ist denn schon dabei, das geht dich doch nichts an? Aber die Eifersucht plagt mich. Es könnte ja alles anders sein. Ich meinte, ihn vergessen zu haben, aber die erste Liebe ist wohl doch die Grösste!! Ich kenne seine neue Freundin, sie ist sehr hübsch mit blonden Zöpfen, viel hübscher als ich. Und ich dummes Huhn meinte immer noch, dass alles wieder gut werden könne. Ach, ich bin ja so wankelmütig. Kann ich anders sein? Jetzt finde ich „Pi“ wieder ganz nett. Bis in zwei Wochen ist es wieder ein anderer. Ich schäme mich. Aber ich kann es nicht ändern. Vielleicht kommt das Glück einmal auch zu mir!
Es fängt an, Herbst zu werden. Kaum merkt man es, die Bäume stehen noch grün da und sind voller Früchte und doch fällt schon manchmal ein dürres Blatt leise zu Boden. Doch spürt man es, der Sommer ist vorbei. Nur nicht traurig werden. Es nützt ja nichts.
*
Tagebuch von Lilly: Advent Sonntagabend, 1. Dezember 1940 (134)
Fast kann ich es nicht glauben, dass alles schon vorbei ist. Ach, es war einfach unbeschreiblich – mein erster Gymerball!!!! Ach, ich muss von vorne beginnen. Also letzten Montag kam Edi Buser (der Bub schon von der Karl Staufferstrasse) mich fragen, für den Gymerball im „Sternen“ in Muri. Ich kann es nicht beschreiben, wie mir zu Mute war, als ich die Erlaubnis dazu erhielt. Die ganze Woche musste ich dieses Glück herumtragen und gestern, ja gestern kam der grosse Moment. Um halb acht läutete es, und Edi kam mich abholen. Mir war es so sonderbar, es war ein wenig Angst, war es ja das erste Mal, dass ich mit einem Knaben alleine fortging, dann die Freude, die Erwartung, oh, es war soooo schön!! Ich trug mein weisses Kleidchen mit roter Schleife. Zwei echte Rosen als Schmuck. Das Herz klopfte zum Zerspringen, als ich mit ihm auf die Strasse trat. Wir fuhren mit dem Autobus bis auf den Helvetiaplatz und dann gingen wir zum Muribähnli. Es wimmelte von Pärchen, die aufs Züglein warteten. Edi stellte mich seinen Kameraden vor, einige kannte ich schon. Um 8 Uhr fuhren wir ab. Im „Sternen“ hatten wir einen Tisch, der für die Rovergruppe besetzt war, zu der auch Edi gehört. Schon den ersten Tanz machten wir zusammen, es ging wunderbar. Edi tanzt ganz gut, und was mich besonders freut, dass er auch sehr gern Walzer tanzt. In der Tombola gewann ich einen Fahrplan und einen silbernen Zuckerstreulöffel. Ich habe riesige Freude an den Dingen, sind es doch Andenken an diesen unvergesslichen Abend. Viel zu schnell war alles vorbei, draussen war es beissend kalt, und der Schnee war eine Eiskruste auf der Strasse. Dazu noch die Verdunkelung. Edi begleitete mich natürlich nach Hause. Etwas beklemmend war es doch, so morgens um halb drei mit einem im Grunde genommen fremden Menschen durch die dunkle, eiskalte Winternacht zu gehen. Aber Edi ist ja Pfadfinder, und man braucht keine Angst zu haben. Ich meine es noch jetzt zu spüren, wie er mich sanft am Arm nahm bei einer besonders gefährlichen Stelle auf der Strasse, nicht aufdringlich, nein scheu und zurückhaltend – nur wie ein Pfadfinder, der seine Hilfe anbietet. Der Abschied vor dem Haus war freundlich, ja herzlich aber auch gar nichts mehr! Ach ja zu Edi habe ich Vertrauen, das ist ein Kamerad! Jetzt ist es Sonntag, und alles ist vorbei. Eine ganze Woche habe ich mich darauf gefreut und so schnell geht das Schöne vorüber. Vor mir auf dem Tisch stehen die beiden roten Rosen, sie beginnen schon zu welken, und doch, die Erinnerung bleibt. Morgen beginnt die Schule wieder, und ich darf so oft ich will, an diesen schönen Abend zurück denken. Es war ja sooooooooo schön!!!
Feld, 21.12.1940 (135)
Mein liebes Mueti,
Besten Dank für Hosen, Schuhe und Wäsche, habe alles erhalten. Gestern morgen war ich wieder in Belp, hatte aber in Bern nur knapp 10 Min. Aufenthalt. Morgen früh ab ins Hallenbad und nachmittags wieder in Belp. Abends jedoch muss ich um 18.30h wieder hier sein. Sonntags bin ich Tages-Offizier und am Heiligabend wahrscheinlich auf der Wache. Ich denke, dass ich in dieser Nacht einen längeren Brief an ein gewisses „herzkrankes“ Mueti vom Stapel lasse. Sicher werde ich an diesem – seit etlichen Monaten nicht verdunkelten – Abend viel in Gedanken bei meinen Lieben an der Tillierstrasse weilen. Einer meiner Weihnachtswünsche ist es, dass sich mein Mueti und ich wieder so gut verstehen wie vor eh und je. Und sicher wird es dazu kommen, denn dafür werden Elsbeth und ich gerne besorgt sein. Auch möchte mein Mädeli Dir mit seiner Liebe alles zurückgeben, was es Dir in der Form Deines Jungen genommen hat.
Bitte lege beiliegendes Buch für Lilly auf den Staub‘schen Gabentisch. Ich werde am Samstag in 8 Tagen heimkommen, muss aber am Neujahr mit dem ersten Zug wieder einrücken.
Viele liebe Grüße und einen herzlichen Kuss
von Deinem Gusti
*
Sonntagabend, 22.12.1940 (136) (Brief aus dem Aktivdienst)
Mein liebstes Mueti,
So, nun habe ich mal Zeit und Gelegenheit, mich brieflich mit Dir zu unterhalten.
Habe, wie bekannt, das schöne Amt des Tagesoffiziers und kann mich daher heute morgen nicht wie die andern Kameraden aufs Ohr legen, sondern darf meine Zeit entweder in den Kantonnementen der Mannschaft oder hier im Kp. Büro zum Nutzen und Frommen der Kompanie verbringen. Als erstes habe ich heute morgen einen ellenlangen Bart eingefangen, den abzuhauen ich vermutlich längere Zeit brauche. Um 15.20h rasselte mein Wecker, aber aufgestanden bin ich trotzdem nicht – nein, neu eingeschlafen. Und als ich das 2. Mal wach wurde, war es bereits 05.30h Ich nichts wie los in die Hosen und im Laufschritt ins Büro, wo mich der Hauptmann höchst eigenhändig und ungnädig empfing. Zugegeben, dass ich einen Fehler begangen habe --- und so werde ich halt eine diesbezügliche Strafe mit einem korrekten „zu Befehl“ quittieren. Wie mich der Captain strafen will, weiss ich noch nicht. Vermutlich hat er drei verschiedene Möglichkeiten: Er kann mir den nächsten Urlaub entziehen, er kann mir einen Arrest dazu diktieren oder er kann mir für viele Tage das Amt des Tagesoff. aufbrummen. Aber, mache er was er für gut findet, denn Mensch ärgere Dich nicht!! Kommt ja doch alles in die gleiche Scheisse. Weisst Du, so wie der Dienst jetzt ist, da muss man schon noch sein letztes Fünckchen Begeisterung zusammenklauben, um nicht aus der Haut zu fahren! Geflogen wird überhaupt nicht mehr. Von oben erhalten wir Befehle, die einen toll machen könnten, über das Tragen der Mützen und Abändern der Mäntel ganz zu schweigen. Aber was macht schon das alles aus? Man sagt „zu Befehl!“ und führt eben diesen Befehl aus, dafür ist man ja im Dienst und hat sich in bald 1000 Diensttagen auch eine kleinere oder grössere Portion Disziplin angeeignet. Nur finde ich es sauglatt, dass mir immer kurz vor Weihnachten ein Blödsinn passieren muss.
Ja, Weihnachten, bereits das zweite Mal stehen wir nun mit mächtig kalten Füssen auf unseren Posten und sehen zu, wieviele so verdammte Krüppel und nicht im Militär zu gebrauchende daheim im warmen Nest feiern können. Daheim …. ich weiss ja, dass ich noch ein solches habe, wenn schon das Stimmungsbarometer mehr als genug auf Sturm und Gewitter steht. Einmal scheint trotz allem wieder die Sonne. Schau, Mueti, ich möchte ja in vielen Beziehungen noch ganz Dein Bueb sein und bleiben. Grad jetzt, wo ich mein Mädeli habe, treten sicher noch viele Fragen auf, die ich mit Dir besprechen möchte und zu denen Du mir sicher am besten antworten kannst. Ich möchte nur eines von Dir, nämlich das, dass Du nicht das Gefühl hast, Du seiest jetzt für nichts mehr da; meine Liebe gehöre nun einzig und restlos allein meinem Elsbeth. Schau, Mueti, sicher gibt es zweierlei Liebe, die man fein säuberlich voneinander trennen muss, sicher ist die erste die, die ein Junge seiner Mutter entgegen bringt, jahrelang und sicher immerwährend. Später tritt dann die Änderung ein, dass man sein Mueti immer noch gern hat und es verehren kann, darf und soll. Was aber die Liebe im landläufigen Sinn anbetrifft, so ist plötzlich eine andere Frau da, die diese für sich in Anspruch nimmt. Ich weiss ja, dass ich mächtig über die Schnur gehauen habe, jahrelang über den Hag gefressen und gewildert habe. Vor zwei Jahren hing ich an Ruth und wenn e i n m a l mich mein Gewissen plagt, dann ist es das, wenn ich daran denke, dass ich nicht einmal in Ruth‘s Todesnacht treu gewesen bin. Oft hat mich ja zwar mein Gewissen nicht ruhelos gemacht wegen anderen. Und nun ist seit zwei Monaten eben der Umstand eingetreten, dass ich mein Elsbeth habe lieben gelernt und es wirklich gern habe. Immer mehr sehe ich, dass ich von diesem Mädeli nicht mehr loskomme, dass ich es von Woche zu Woche lieber bekomme. Dabei darfst Du aber ja nicht denken, dass ich Dich nur eine Spur weniger lieb habe als früher. In seinem letzten Brief schrieb mir Elsbeth, dass es noch einen Weihnachtswunsch habe, nämlich den, dass es Dich ebenso gern haben dürfe wie mich! Gern möchte es Dir durch seine Liebe zu Dir zurückgeben, was es Dir genommen habe, und es habe ihm wehgetan, als Du letzte Woche so abwesend und kühl gewesen seist. Letzten Freitag sei es direkt glücklich nach dem Singen nach Hause gegangen, denn Du habest es wieder freundlich begrüsst. Und ich bin überzeugt, dass Du an meinem Mädeli ebensoviel Freude haben kannst, wie ich.
(11)
Und nun habe ich wieder zu tun, muss in allen Kantonnementen zum Rechten sehen und noch eine kleinere Inspektion über persönliche Ausrüstung der Mannschaft unternehmen. Bald ist auch dieser Morgen wieder vorbei und in 5 Stunden kommt ja mein Christkindelein zu mir! Ich hoffe nur, dass ich dann nicht zu viel weg bin als Tagesoff.
Noch einmal wünsche ich allen recht frohe Festtage und seid doch zufrieden miteinander und nimm viele liebe Grüße und einen
herzlichen Kuss von Deinem Gusti
*
Auf der Wache, 6.1.1941 20.45 (137)
Mein liebes Mueti,
So, nun sollst auch Du wieder einmal einen Schreibebrief von Deinem ewigen Soldaten erhalten. Wie Du aus dem Datum siehst, stecke ich in Amt und Würde eines Wachkommandanten, nicht grad mit riesiger Begeisterung, aber immerhin doch so grosser, dass ich trotz beissender Kälte meine 2-3 Kontrollrunden abtippeln werde.
Wie ich letzte Woche der Meinung war, dass ich jetzt in Payerne sei, stimmt es also nicht, da in Payerne nicht Demonstration ist, mussten die „Jungen Piloten“ antreten. Wir „Alten“ gehen später. Am Donnerstag ist es jetzt genau e i n e n Monat, seit dem ich das letzte Mal in der Luft war. Hast also ganze dreissig Tage aus dem Grunde ruhig schlafen können. Und nun will ich auch Dir etwas sagen, was Dich vielleicht etwas beruhigt. Ich habe meinen Traum, Jagdflieger zu werden, definitiv und offiziell begraben! Nächstens wäre es nun d o c h dazu gekommen, und ich habe meinem Häuptling erklärt, dass ich n i c h t wolle. Zwei Gründe sind es, die mich zu diesem Entschluss bewogen haben: Erstens weiss ich, dass ich dadurch meinem Mädeli einen Angstfaktor abnehme, und zweitens will ich „Der Chly“ meinen treuen Walti Ebert nicht als Beobachter verlieren. Mueti, Du weisst ja genau, dass meine einzige grosse Leidenschaft immer das Fliegen war, dass ich, wie alle meine Kameraden, nur davon träumte, in einer Jagdmaschine hinter einem Gegner einher zu rasen. Ich glaube, um d a s zu erreichen, hätte ich trotz allem die Freundschaft mit Walti geopfert. Ich glaubte auch nie, dass irgendeine Frau mitbestimmend sein könnte in meinen fliegerisch ehrgeizigen Plänen. Heute ist dem aber doch so. Ich glaube, dass dieses Verzichten auf die Jagdfliegerei die grösste Liebesbezeugung ist, die ich meinem Elsbeth bis jetzt erwiesen habe. Ich tue es gern, denn ich habe mein Mädeli lieb. Glaube mir Mueti, ich weiss, wer neben Dir auch mal den Namen „Frau Staub“ trägt! Jener Kuss in der Sylvesternacht um 24.00 Uhr – vor unseren Eltern gegeben – hat für uns Junge und vielleicht für Euch ebenfalls, mehr bedeutet, als 100 andere vor oder nachher. Und ich hoffe nur, dass du uns zu unserem Glück DEINEN Segen gibst!, denn ich habe in dunkler Erinnerung einen Spruch, der lautet: Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, der Mutter Fluch….
Im übrigen darf ich ruhig sagen, dass der Jahreswechsel 1940/41 der glücklichste war, den ich bis heute erleben durfte. Nur das Einrücken mit dem Zug 06.39h hat mir nicht gerade eingeleuchtet, aber was tut man nicht alles im Dienst.
Nächsten Samstag komme ich in Urlaub bis Montag, können dann noch über etliches plaudern.
Bis dahin nimm die herzlichsten Grüße und einen lieben Kuss
von Deinem Gusti
*
Tagebuch von Lilly, 9.2.1941 (138)
Nur nicht weinen! … wenn es schon würgt und weh tut! Wieder kommt die gleiche Frage, die ich mir schon so oft gestellt habe? Warum können wir nicht glücklich sein? Gestern hatte ich Geburtstag, ja schon 16 Jahre bin ich auf der Welt. So viel kam gestern auf einmal. Am Morgen begann der Tag mit bösen Worten. Mueti hat mir nicht gratuliert. Herunterschlucken, nichts dergleichen tun. Am Nachmittag wurde die Stimmung etwas besser. Um 5 Uhr hatte ich Vortragsübung am Konsi. Es ist mir wieder einmal nicht so gelungen, wie ich möchte. Am Abend ging Mueti mit Frau Buser ins Theater. Büsu hat mich an einen Klassenabend eingeladen. Ich muss ehrlich sagen, ich habe mich nicht gefreut. Um 8 Uhr holte er mich ab, und wir gingen dann ins „Schwyzerstärn“-Heim. Es war grossartig, wie sie alles eingerichtet hatten. Ein bäumiges Orchester, fröhliche Gesichter, Überraschungen, alles wie gemacht, um fröhlich zu sein. Was war mit mir? Gewiss, ich tanzte und zwar mit Büsu sehr gut. Hie und da vergass ich sogar, dass ich ja nicht wie andere sein durfte und ich lachte und hatte Freude. Kann ich etwas dafür, dass es Momente gab, da mich das Tanzen, die Leute, der Cigarettenrauch einfach anekelten?! Edi kam mit mir hinaus an die frische Luft und das tat gut. Wir tanzten bis am Morgen um 3 Uhr. Das also war mein 16. Geburtstag. Viele Glückwünsche von Büsus Kameraden, sie ahnten alle nicht, wie einsam ich unter ihnen war! Es tönt doch, wie wenn ich nur zuzugreifen brauchte, um glücklich zu sein. Das Furchtbarste ist, ich kann mir selbst nicht helfen. Ich habe nur einen Wunsch: EINSCHLAFEN und nicht mehr erwachen. Ist das eine Sünde, mit 16 Jahren. Ich bin so müde und habe Angst vor etwas, das ich nicht kenne. Edi beunruhigt mich. Oft ist er mir direkt zuwider und dann habe ich wieder Momente, wo ich wünsche, nur bei ihm zu sein – irgendwo geborgen. Er ist nicht wie die andern, er ist nie so fröhlich wie sie. Ich habe noch nie für einen Menschen ein solches Gefühl empfunden wie für ihn. Am Patriaabend wird er mich nach Hause bringen. Ich habe es ihm erlaubt. Warum habe ich es getan? Immer habe ich ein wenig Angst, wenn ich mit ihm fortgehe. Gestern Abend, bei der kleinsten Berührung fuhr ich erschreckt zurück. Auf dem Heimweg gab er mir nicht den Arm. Es ist gut so, ich bin ja selbständig. Die andern haben sich sicher anders benommen. Ach, manchmal habe ich einfach Lust, nichts mehr mit Knaben zu tun zu haben. Aber schliesslich muss man doch auch einen Menschen haben, dem man vertrauen kann. Andere haben liebende Eltern. Ich habe einen Bruder, der uns nicht mehr gehört. Ist er nicht die Ursache meiner Lage? Ich liebe seine Elsbeth ja auch, und ich helfe ihnen, wo ich nur kann. Er aber geht und lässt mich allein. Mueti kann und will es nicht glauben, dass „IHR“ Gusti einer andern gehören soll. Heute Nachmittag sind wir, Vati, Mueti und ich, der Aare entlang nach Muri spaziert. Die Sonne schien strahlend und der Himmel leuchtete klar blau wie im Frühling. Fast schien es, als würde es auch bei uns wieder Frühling. Mueti sprach mit uns und wir assen im Sternen z‘Vieri. Schon wollte ich wieder einmal glücklich sein!
Jetzt sitze ich da, ich sollte lernen, Geometrie, Algebra, Franz und Latein, aber ich tue nichts von allem. Ich schreibe und schlucke die Tränen hinunter. --- Sobald ich von Gusti zu sprechen anfing, bekam Mueti wieder einen „Anfall“. Ich kann es nicht anders nennen. Jetzt spricht sie wieder kein Wort mit Vati und mit mir. Darf ich deswegen verzweifeln? Wie leicht sagt sich das Wort: Kopf hoch! Und wie schwer ist es darnach zu handeln! Ich möchte so gerne glücklich sein!!!!
*
Tagebuch von Lilly, 22.2.1941 (139)
Heute bin ich glücklich. Ich habe ein Velo bekommen. Es ist kein Traum, es steht neben meinem Bett, und ich kann es greifen so oft ich will. Aber das ist noch nicht genug, ich werde Wölfliführerin! Büsu hat mich angemeldet, überhaupt ist er ein bäumiger Kamerad. Er kam heute Abend auch noch schnell das Velo anschauen. Ich bin ja so dankbar, dass ich ihn kennen gelernt habe. Er hat mich auch für nächsten Samstag an den Patriaabend eingeladen. Ich freue mich.
*
Aigle, 27.2.1941 10.08 (140)
Mein liebes Mueti,
Seit 14 Tagen mache ich nun dieses welsche Kaff unsicher, und flohne mir einen ab. Weisst du, mit dem Zimmer habe ich es dann schon wieder ganz gross getroffen. Herr und Frau Grimm machen mir das Leben zu einer wahren Freude. Behandelt werde ich wie ein eigener „Sohn“. In meinem eigentlichen Zimmer bin ich nur zum Schlafen, den Rest der Zeit verbringe ich bei Radio und guten Büchern auf der Couch bei der Cheminee-Ecke. Und einen mächtigen Freund habe ich in der Gestalt von klein Fredy gewonnen, dem 16 Monate alten herzigen Sohn der Familie. So einen Buben möchte ich auch einmal mein eigen nennen. Du siehst also, dass es mir auch in der ausgesprochenen welschen Schweiz nicht schlecht geht und ich immer wieder Leute finde, die es gut mit mir meinen.
Das alles wäre recht und gut, ich könnte ja heute der glücklichste Mensch im ganzen Militärdienst sein, wenn nicht unser verdammt getrübtes Familienverhältnis und Dein mir so offenes Verachtungsgefühl meinem Mädeli gegenüber nicht wäre. Schau Mueti, ich habe mir schon vieles bieten lassen in dieser Hinsicht, was Du mir aber an bewusstem Sonntag an den Kopf geworfen hast, das brachte den Kübel zum Überlaufen. Als Du erklärtest, Du schämest Dich, meine Mutter zu sein und zeigest Dich nicht mehr mit mir auf der Strasse, da habe ich mir halt gesagt: Also nicht und begann ganz offensichtlich, mich nicht mehr um Dich zu kümmern. Mit anderen Worten, Du hast mich verachten wollen, und ich habe daraus ganz einfach die Konsequenzen gezogen. Im Grunde genommen, wusste ich genau, dass ich Dir damit immer noch weh tat, aber ich fragte mich auch, WER von uns beiden in diesem Streit mehr zu leiden hatte? Du weisst ganz genau, dass ich sicher immer zu Dir gestanden habe, sei es in Familienzwisten oder sonstigen Anlässen. Und nun ist noch eine neue, junge Frau in mein Leben getreten, die ich bereits ebenso lieb habe wie meine eigene Mutter …...aber sicher nicht in diesem Sinn. Schau Mueti, Du hast Angst, dass mich Elsbeth ganz von Dir wegnehme. Aber ich frage mich? Kann eine junge Frau denn die rein spezielle Liebe ihres Mannes zu seiner eigenen Mutter wegnehmen? Ich glaube kaum. Du musst doch den Unterschied besser erkennen zwischen diesen beiden Gefühlen zu zwei verschiedenen Frauen. Schau, ich habe Dir das zwar schon einmal gesagt, dass ich Dich als mein Mueti nie verlieren möchte, dazu habe ich Dich zu gern. Nur möchte ich eines erreichen, nämlich das, dass Du meinem Elsbeth gegenüber eine andere Gesinnung einnehmen möchtest. Sieh, es nützt doch nichts, die Zukunft kannst Du damit nicht mehr ändern! Und ist es in dem Moment nicht besser, man könne herzlich miteinander verkehren, als immer auf gegenseitigem „Qui vive“? zu leben? Mueti, kannst Du nicht versuchen, Deine Hassgefühle Elsbeth gegenüber zu unterdrücken? Ich bin überzeugt, dass wir es doch so schön haben können untereinander, auch im Sommer, wenn Vati wieder fort ist. Können wir nicht versuchen, wieder gut miteinander auszukommen, denn der gegenwärtige Kriegszustand in unserer Familie ist unhaltbar. Unsere ganze Familie leidet darunter, nicht nur Du selber, sondern auch Vati, Lilly und zuletzt auch ich. Auch an Elsbeth geht das alles nicht ganz spurlos vorüber --- und trotz allem hat es Dich auch gern.
So, nun will ich mein Epistel schliessen in der Hoffnung, dass Du auch ein Einsehen hast mit Dir selber und Dir bewusst bist, dass wir zwei Jungen gerne helfen, den häuslichen Frieden wieder herzustellen und zu bewahren.
Am nächsten Samstag komme ich nach Hause und hoffe, dass ich bis Dienstagmorgen auch mal in ruhigem Ton über alles mit Dir „brichten“ kann, was uns heute am meisten beschäftigt.
Bis dahin verbleibe ich mit den herzlichsten Grüssen
Dein Gusti
*
Aigle, 4.3.1941 10.15 (141)
Mein liebes Mueti,
Und schon wäre ich wieder in meinem Arbeitsfeld angelangt, wo ich bereits mit dem kleinen Fredy fast eine Stunde spaziert bin. Der Kleine ist einfach reizend und lieb, gerade so einen Jungen, wie ich ihn mir einmal wünsche. Hier unten scheint wieder strahlende Sonne und herrscht eine angenehme Wärme. Jedenfalls erwies sich der Mantel als ein unnötiges Requisit. Ab Mittag habe ich wieder Dienst und ab morgen für 18 Stunden frei. Ich weiss noch nicht, was ich mit dieser Zeit anfange.
Doch nun zu dem verbrachten Urlaub. Mueti, DER war wieder einmal richtig! Schon seit langer Zeit bin ich nicht mehr so glücklich aus einem Urlaub eingerückt. Schau, so ist es schön zu Hause. Wir haben es am Sonntag wieder gesehen, dass wir es schön haben können und wollen uns Mühe geben, diese Harmonie nicht wieder zu zerstören. Wir Jungen wissen auch, was wir der älteren Generation noch schuldig sind und werden uns dem gemäss benehmen. Sieh, es braucht doch gar nicht viel, um miteinander gut auszukommen. Ein bisschen gegenseitiges Verstehen und Ruhe können Wunder wirken. Als ich am Samstag heim kam, da hatte ich sofort das Gefühl, dass ich nun mit meinem Mueti wieder in Ruhe reden könne. Und jene Stunde, die wir vor dem Nachtessen miteinander verplaudert haben, hat uns sicher näher gebracht, als noch einige Wochen oder noch länger gegenseitiger Krach. Schau, als Du dann am Sonntag noch mit meinem Mädeli so lieb wie noch selten warst, da musste ich mir sagen, dass wir, glaube ich, über den bösesten Hoger hinweg sind. Noch gestern Abend hat mir Elsbeth gesagt, dass es Dich sicher gern haben könne und dass Ihr beiden Frauen Euch sicher noch nötig habt. Elsbeth wird nun in Zukunft gewiss mehr zu Dir kommen, nur war es eben schwer, das bewusste Türchen zum Schatzkämmerchen meines Muetis zu finden! Ich glaube aber, dass wir es heute gefunden haben. Du sagtest, dass Du von jetzt an nur noch in den Erinnerungen leben werdest. Blödsinn so etwas! Du hast mit uns noch Jahre vor Dir, die Dir sicher noch mehr bieten werden als Deine heutigen Erinnerungen. Lilly kommt jetzt auch in ein Alter, in dem sie eventuell noch vernünftiger wird (vielleicht auch das Gegenteil), und ich bin gottlob auch über meine „Torenbuben-Jahre“ hinaus. Ich weiss ganz genau, was ich heute zu tun habe und auch tun werde. Und von gegenseitigem Verlieren darfst Du auch nicht reden, denn das stimmt ein für alle Male nicht! Im Gegenteil, Du hast mich nicht verloren, sondern Elsbeth möchte selber auch noch einen kleinen Platz in Deinem Herzen finden, nicht allein nur in meinem. Und ich glaube nicht, dass Du ihm denselben verwehren wirst. Mir ist es, als müsstest Du es trotz allem fühlen, dass ich Dich immer noch gern habe. Meine Liebe zu Elsbeth hat an meiner Zuneigung und Verehrung zu Dir sicher nichts geändert. Und nun will ich stoppen, wollte eigentlich gar nicht so viel schreiben gleich am ersten Tag, aber nun ist es geschehen und reut mich nicht. Du sollst nur wissen, dass heute wieder ein glücklicher Junge Dienst tut -------trotz etlichen Kilometern Entfernung.
Für alles meinen herzlichsten Dank und tausend liebe Grüße
von Deinem grossen Bueb Gusti
(12)
*
Lt.Staub Gust. Cer 10B Büro, 7.3.1941 14.08 (142)
Mein liebes Mueti,
Nun sollst Du wieder Deinen obligaten Samstagbrief erhalten. Viel Neues ist allerdings nicht zu berichten. Alles geht seinen gewohnten Gang. Arbeit ist bereits keine vorhanden, also schlafe ich mich des Morgens aus und heute Nachmittag habe ich nun Dienst. Habe mich also im Büro hinter mein Tischli geklemmt und die Schreibmaschine von Herrn Grimm in Behandlung genommen. Kenne den Apparat noch nicht ganz, bitte also eventuell vorkommende Fehler zu entschuldigen.
Heute bläst bei uns ein Föhn, der alles mitnehmen will. Allerdings ist dazu stahlblauer Himmel, und es herrscht eine frühlingshafte Wärme. Man könnte es sich direkt im Freien wohl sein lassen. Aber eben, leider habe ich nun Dienst bis Sonntagabend. Morgen Abend ist im Hotel Viktoria grosser Ball, und man hat bereits angefragt, ob die Fliegeroffiziere auch erscheinen werden. Wir sind vom Chef der Ziviltelefonzentrale und einigen anderen Grössen der Stadt eingeladen. Leider werde ich der einzige sein, denn Oblt. Tondeur ist gestern für 14 Tage in den Urlaub gestartet und Oblt. De Valliere geht zu seiner Frau nach Lausanne. Da bin ich nun wieder alleiniger Herr und Meister und werde demgemäss über meine Zeit verfügen. Gestern Abend habe ich von 20.00 bis 22.40 h mit Frau Grimm in der Stube geplaudert und zusammen haben wir den Gesängen des BM (Berner Männerchor) gelauscht. Du denkst wohl, ich werde doch langsam häuslich gesinnt, was nicht mal ganz falsch ist. Oft habe ich gestern Abend an zwei ganz bestimmte zwei Frauen im Berner Stadttheater gedacht, und den Wunsch gehabt, auch dort zu sein. Aber da ist leider nichts zu machen. Muss halt mein Mädeli auch hie und da der Obhut meiner Mutter überlassen. Aber geschehe nichts Böseres. Ich kann es dann ja noch lange genug für mich allein haben. Schau Mueti, im Gegenteil, mich freut es, wenn Ihr zwei auch gut miteinander auskommt. In Deinem Brief von gestern schreibst Du, dass halt der Preis für mich ein grosser sei. Elsbeth wird ihn aber gern bezahlen. Sicher wird es Dich mit seiner Zuneigung um vieles entschädigen. Ich habe im Sinn, Elsbeth für nächsten Samstag zu mir einzuladen und werde einen diesbezüglichen Fragebrief nächster Woche an Frau Feuz starten. Ich möchte mein Mädeli gerne den „Aiglern“ zeigen, denn die finden mich immer fast zu seriös! Ich hoffe, Du werdest auch nicht böse werden deswegen.
Du, ich habe anders gestaunt, als ich Violett Dupraz wieder zu Gesicht bekam! (Anmerkung von Lilly: Diese Person war mein Kindermädchen an der Aegertenstrasse. Sie hatte uns damals schnell und für mich unverständlich verlassen…) Das hat eine „Fluh“ gegeben! Immer zeigen sich aber noch Spuren vergangener Schönheit, aber nur im Gesicht. Lustig war‘s schon beim Nachtessen am Tisch, als ich mich nach besagter Dame erkundigte. Herr Grimm, an und für sich schon eine „Gemütsmoore“ begann sogleich zu grinsen und ebenfalls Madame schwang sich zu einem Lächeln auf. Grimm erklärte mir dann, dass dieses Meitschi vor Jahren das ganze Gebiet um Bex und Aigle verrückt gemacht habe und sozusagen alles „drüber“ sei, als das Tram nicht ----- Aber eben, die Zeiten ändern sich. Auch ich wurde gebührend bestaunt und meine Fliegeruniform bewundert. Violette machte die Bemerkung, dass man halt immer älter werde, man sehe es jetzt au petit Gusteli de Berne. Werde nun die Einladung, hie und da zum Essen zu erscheinen, nicht in den Wind schlagen und mich auch dort häuslich niederlassen.
Und nun habe ich die Zeit im Büro satt, gehe jetzt in das Tea Room, um mir dort einen Kaffee zu genehmigen.
Ich wünsche Euch allen recht guten Sonntag und verbleibe mit den
herzlichsten Grüssen
Dein Gusti
*
Tagebuch von Lilly, Dienstag, 17. März 1940 (143)
Ich war mit Edi am Patriaabend, und es war schön. Er hat mich heimbegleitet. Das sind nun schon fast drei Wochen her und seiher kam er nie mehr zu uns. Nun habe ich doch fast Herzklopfen, wenn es läutet, immer umsonst. Ist jetzt das Liebe? Wenn es so ist, dann ist Liebe nichts Schönes. Wenn ich doch nur selbst aus mir klug würde!! In der Schule bin ich so schlecht wie noch nie. Nun bin ich nur noch eine Woche im Pro-Gymnasium.
Ich werde am Palmsonntag konfirmiert. Ob mir Edi wohl schreibt? Es ist so seltsam, bei allem, was ich mache denke ich: Was würde Edi dazu sagen? Nächsten Samstag und Sonntag gehe ich noch einmal skifahren und zwar zu Agnes Kar nach Zweisimmen.
(13)
*
Büro Service de Reparage et de Signalisation d‘Avions, 20.3.41 (144)
Mein liebes Mueti,
Habe heute morgen das Waschsäckli erhalten. Weiss der Teufel, auch mir kommt der Aufenthalt in Bern viel zu kurz vor. Im Grunde genommen war ich ja gar nicht zu Hause. Auf der Fahrt hierher war es langweilig und kalt. Dafür herrscht jetzt wieder strahlendes Frühlingswetter und ich denke, dass Lilly und Elsbeth nächsten Sonntag ein herrliches Weekend erleben werden. Ich möchte tatsächlich auch mitkommen. Aber heute in vier Wochen bin ich ja auch wieder zu Hause, und ich freue mich darauf. Dienst ist ja recht und gut, aber man sollte zum mindesten auf einem Fliegerstützpunkt sein und nicht in einem Keller im Welschland. Aber überhaupt habe ich langsam restlos genug vom Uniformtragen und freue mich darauf, mein „Sternenkleid“ wenigstens für einige Zeit mit der Zivilschale zu tauschen. Und ich garantiere Dir, wir werden es zusammen schön haben!
Bis Samstag bin ich nun wieder alleiniger Chef und habe demgemäss keine freie Zeit. Und nun sei herzlich gegrüsst und nimm ein festes Müntschi
von Deinem Gusti
*
Schweiz. Armee, Service de Reparage et Signalisation d‘Avions
Im Keller, 9.4.1941 20.45 145
Habe um 20.00h den Dienst angetreten und mich jetzt vor der beissenden Kälte in die Wärme des Kellers verzogen. Arbeit ist keine vorhanden, Zeit für ins Bett ist es auch noch nicht. Also habe ich mich hinter den Bundesblock geklemmt und will versuchen, die Eindrücke und Erlebnisse der letzten Zeit niederzuschreiben. Also angefangen bei meiner Heimkehr in den Urlaub: Befund: Gut, wäre nicht das verd. Telefon gewesen. Ich muss sagen, dass Lillys Konfirmationsfest sehr nett war. Mueti hat sich eine riesige Mühe gegeben, mir meinen Urlaub so nett wie möglich zu gestalten. Am Sonntagabend haben Elsbeth und ich zueinander gesagt, dass Mueti wieder mächtig über seine Kräfte gehaushaltet hat. Trotz allem war es nett, nur in der Kirche habe ich mich ganz mächtig gelangweilt. Auf alle Fälle war es wieder für lange Zeit das letzte Mal, dass ich einem solchen Gebäude einen Besuch abgestattet habe. Meine Einstellung kennt Ihr ja.
Am Montag kam ich dann ziemlich wütend hier an und musste sofort hören, dass der Herr Kommandant heute nicht komme. Ihr könnt euch meinen lieblichen Gemütszustand vor Augen führen und aus meinem Munde träufelte nicht eitel „Honig“ rein!! Habe dann um Mittag den Dienst übernommen und ihn bis 20.00h durchgeführt. Gestern Dienstag ist nun der Herr Hauptmann gekommen und hat seine Inspektion durchgeführt. Ich habe ihm dann beiläufig meinen Austritt aus diesem Verein in die Hand gedrückt. Heute hatte ich nun dienstfrei bis jetzt. Was machen? Der Tag war schön, die Sonne strahlte, wie einst im Mai, aber eine ekelhafte Bise pfiff um alle Ecken. Ich habe mir mein Stahlrösslein aus der Garage genommen und bin nach Bex pedalet. Bei Frau Büthberger musste ich mir einen Dreier Burgunder schenken lassen. Auch versprach ich, Euch herzlich grüssen zu lassen. Von da an gings fröhlich strampelnd weiter nach Monthey, in irgend einem Bistro habe ich mich nach Charly Deillon erkundigt und konnte erfahren, dass er in der „Produits Chimique“ arbeite. Also nichts wie los und dort mal den Portier vorgeknöpft. Besagter Herr war sehr freundlich (ob das wohl die Uniform ausmachte?) denn sonst sind die Werkzerberusse alles andere als zuvorkommend. Selbstverständlich könne man Monsieur Deillon rufen und schon stand einige Minuten später ein Mann in blauen Überkleidern, Dächlikappe und schwarzen Händen vor mir: Charly! Er hat mich sofort erkannt und war direkt gerührt, mich zu sehen. Auch Mr. Deillon Père kam, um mich zu begrüssen. Nun wird Charly nächsten Samstagabend rasch zu mir kommen. Ich verabschiedete mich in Monthey und radelte der Rhône entlang nach Hause.
So, das wäre mein Tätigkeitsbericht. Ich hoffe, dass Mueti wieder zwäg ist, wünsche Euch noch recht schöne Festtage und verbleibe mit den herzlichsten Grüssen und dem Mueti einen Kuss
Euer Gusti
N.B. Charly lässt auch grüssen.
*
Tagebuch von Lilly, Karfreitag, 11.4.1941 (146)
Ich ging dann nicht skifahren und es ist gut so. Ich habe viel erlebt, da ist vor allem die „Konfirmation“. Ich kann nicht darüber schreiben, aber es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht (Zwischenbemerkung 6.6.2012: Andreas, mein Mann wurde gleichzeitig auch bei Pfr. Oettli konfirmiert).
Die Geschenke will ich gar nicht aufzählen. Jetzt bin ich wunschlos glücklich. Von Elsbeth habe ich einen schönen, silbernen Armreif erhalten. Habe ich das alles verdient? Ich muss ehrlich sagen. Nein! Büsu hat mir Nelken geschenkt.
Heute ist Karfreitag, und ich nahm zum ersten Mal am Abendmahl teil. Das Symbol ist ja sehr schön, aber ich bin vielleicht noch nicht reif dafür. Die Predigt von Herrn Pfr. Oetli war sehr gut. Es ist wahr, Karfreitag ist der einzige Festtag, den wir nicht „verunstalten“. Denn sonst sind meistens die Geschenke die Hauptsache und nicht mehr der Sinn.
Nun sollte ich doch noch über den Schulabschluss schreiben. An der Schlussfeier spielte ich in der Aula Chopin und mit Hans Heinz Schneeberger und mit Dora Vivaldi einen Satz aus dem Mozart Violinkonzert Nr. 15. Am Freitagabend hatten wir den Klassenabend im Nählhölzli. Ich fürchte mich ein wenig vor dem Gymnasium. Schon jetzt denke ich an den lieben Proger und an die Lehrer, die ich gern hatte. Die Zeit geht vorwärts und viel Neues wartet auf mich. Immer höre ich im Kopf Schneebergers Geige mit der Melodie des Mozartkonzertes. Wir spielen nächste Woche wieder zusammen im Schweizerhof. Zur Konfirmation bekamen wir alle einen Spruch aus der Bibel, ich hätte mir gewünscht, denjenigen zu erhalten, den meine Eltern oft zusammen sangen, nämlich „Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens schenken.“ Mein Spruch lautet: „Es gibt keinen Grund ausser dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“.
*
Büro, 16.4.1941 14.30 (147)
Mein liebes Mueti,
Beiliegend alle meine schmutzige Wäsche. Zu senden brauchst Du mir nichts mehr Neues. Nur bitte bis Samstag die grünen Hemden bereit halten, damit ich mich zu bewusstem Galaabend sauber anziehen kann. Neues ist nichts zu berichten. Bin nur froh, dass ich diesen Dienst hier unten bald quittieren kann!
Herzliche Grüße und auf Wiedersehen am nächsten Samstag
Dein Gusti
*
Gasthaus „Kreuz“ 30.4.1941 19.20 (148)
Mein liebes Mueti,
Vor ein paar Stunden sind wir wieder glücklich bei strömendem Regen von Utzenstorf hierher geflogen und bachnass gelandet, vor Müdigkeit (Tagwacht 04.00h) kann ich kaum mehr die Augen offen halten und werde mich so rasch wie möglich ins Bett verziehen. Vorher aber sollst du noch Deinen Geburtstagsbrief erhalten. Lang wird er nicht werden, eben aus dem oben genannten Grund. Im übrigen hoffe ich, dass ich nächsten Sonntag daheim bin und wenn es auch bloss für 2 Tage Urlaub ist. Mein grosses Urlaubsgesuch ist immer noch unterwegs. Antwort habe ich bis dahin noch keine erhalten. Selbst Elsbeth muss heute auf einen Brief länger warten als sonst. Ich möchte schlafen, schlafen!
(14)
Zu Deinem Geburtstag kann ich Dir nur eines wünschen: recht baldige Besserung Deiner leider zu schwachen Nerven!! auch wünsche ich Dir, dass Du Deine mir gegenüber ausgesprochene Angst los wirst. Du weisst, dass Du dazu keinen Grund hast. Ich werde mir Mühe geben, Dir das Gegenteil zu beweisen und wir werden es in diesem Sinne schön haben.
Mit lieben Grüssen und einem Müntschi
verbleibt Dein Gusti
*
ANMERKUNG 11.6.2012
Das war der letzte Geburtstagsbrief an die Mutter. Im nächsten Jahr lebte Gusti nicht mehr.
*
(15)
4 Tage Ferien! Territet; 14.-18.7.1941
(16)
Dübendorf, 30.7.1941 12.35 (149)
Mein liebes Mueti,
Heute morgen erste Flüge auf „Morane“ …, das ist ein anderes Klima, als auf unserer alten Maschine!
Möchte Dir nur das mitteilen, dass es mir prima geht. Immer ist es noch sehr heiß, aber das moralische und das körperliche Befinden ist ganz gross. Ich hoffe, dass Ihr das von Euch auch sagen könnt und verbleibe mit den herzlichsten Grüssen und einem lieben Kuss
Dein Gusti
*
Thun, 5.12.1941 (150)
Mein liebes Mueti,
Viel Neues gibt es ja aus meinem Exil nicht zu berichten, aber trotzdem sollst Du aufs Wochenende Deinen kurzen Bericht erhalten. Also, dem eigentlichen Kern des Übels, dem Mund, ging es gar nicht schlecht und der Onkel Doktor ist sogar mächtig zufrieden mit dem Fortschritt der Besserung. Zur allgemeinen Kräftigung muss ich nun alle Mittag zum Essen einen Tropfen Roten inhalieren, was mich gar nicht ausgesprochen wild macht. Heute habe ich nun einige Zeit Ausgang und werde diesen gerade benützen, um einige Weihnachtseinkäufe zu unternehmen. Ich hoffe nun bestimmt, dass mich der Colonel Mitte nächster Woche springen lässt und ich meinen Schichtbetrieb wieder aufnehmen kann. So, ich will mich nun wieder einmal in meine bessere Uniform stürzen und mich in die Stadt wagen. Sollte irgend etwas Wichtiges sein, so werde ich anläuten. Bis auf weiteres also herzliche Grüße und schönen Sonntag.
Euer Gusti
(17)
*
Bemerkung von Lilly vom 11.6.2012
Das war der letzte Brief meines Bruders.
Das letzte Lebenszeichen war am Abend des 16. Dezember 1941 ein Telefon, wo Gusti meldete, dass er am 17. heimkommen und gerne Leberplätzli zum z‘Nacht hätte.----
Am 17. am Vormittag ist er abgestürzt.
*
(18)
*
(151)
T o d e s a n z e i g e
Bern, Januar 1942
Tillierstrasse 3
P.P.
Am 17. Dezember vorigen Jahres wurde uns durch tragischen Flugunfall, unser einziger Sohn, Bruder und Neffe
G u s t a v S t a u b
stud.tech.
Als Militärpilot der Fl.-Kp. 12 entrissen.
Ein freudiger und opfermutiger Anhänger des Militär- und Flugwesens hat sein junges Leben dem so geliebten Vaterlande zum Opfer gebracht.
Eine warme Welle herzlichster Anteilnahme hat uns Hinterbliebene sowohl in den ersten Tagen des Schreckens, wie der bangen Wochen des Wartens, umgeben. Wir danken Ihnen allen für dieses wohltuende Mittragen.
Glücklich das Land inmitten des Weltenbrandes, das dem einzelnen Gefallenen noch solche Ehrungen erweisen darf, wie sie unserem lieben Verstorbenen anlässlich der militärischen und zivilen Abdankung vom 20. dies zuteil wurden.
Wir verbeugen uns in Demut vor dem Schicksal.
M. und G. Staub-Siegrist
Lilly Staub
*
(19) Ehrensalve-
(20) Abdankung im Burgerspital Bern.
(21)

Tagebuch von Lilly Zimmerli 1938-1944
*
Mög‘ Deiner Jugend Sonnenschein Dein Lebtag Dir beschieden sein!
Dies wünscht Dir zu Weihnachten 1938
Dein Bruder Gusti.
*
Grindelwald, 26. 12. 1938
Nun bin ich also in Grindelwald. Bin gut gereist. In Interlaken bin ich zwar am falschen Ort ausgestiegen, aber den rechten Zug habe ich gleichwohl noch erwischt. Morgen soll ich also auch am Skiunterricht teilnehmen dürfen. Dabei werde ich mir schwer wichtig vorkommen. Ich freue mich natürlich ganz verrückt. Aber nun sollte ich eigentlich schlafen. Bis um 9 Uhr will ich aber noch lesen. - Es war wirklich ein guter Gedanke von Gusti, mir ein Tagebuch zu schenken. Ihm darf ich jetzt alles anvertrauen, was mich bedrückt oder beglückt.
*
Grindelwald, 27. 12. 1938
Das war ein herrlicher Tag! Am Morgen um 09.00 Uhr begann der Skiunterricht. Wir haben schon tüchtig geübt fürs erste Examen. Um 10.00 Uhr sind Vreni und ich auf Entdeckungsreisen gegangen. Ein gemütliches Gefühl ist es schon nicht, auf einem gefrorenen Bach zu stehen und weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. Gegen Abend fuhren wir ins Dorf. Wir durften unsere Schlitten an ein Fuhrwerk anhängen und so ging es in schneller Fahrt nach unten.
Ganz eigentümlich wird einem zu Mute so nahe den Bergen. Fast drohend steht jetzt das Wetterhorn hinter mir. Ich muss mich zuerst wieder daran gewöhnen. Ich habe ein wenig Heimweh. Gusti würde sagen, Du hast einen Ast. Das stimmt.
*
Grindelwald, 28. 12. 1938
Heute hat es den ganzen Tag geschneit. Ich habe von zu Hause ein Paket erwartet, doch leider ist keines gekommen. Wir haben Neujahrskarten geschrieben. So gerne möchte ich Heinz auch schreiben, aber Mueti würde es wohl nicht erlauben. Also lass ich es bleiben. - Nun bin ich aber sehr müde und jetzt gibt es bald Lichterlöschen bei mir.
*
Grindelwald, 29. 12. 1938
Heute sind wir auf der kleinen Scheidegg gewesen. Grossartig! Habe von zu Hause einen Brief bekommen. Mueti schreibt, dass sie am Silvester nicht ins Kasino gehen wegen dem Kostenpunkt. Nun mache ich mir ein Gewissen, dass ich auf die Scheidegg gefahren bin. Aber ich kann es selber bezahlen. 6 Fr. Es langt gerade. Jetzt gehe ich ins Bett. - Müde
*
Grindelwald, 30. 12. 1938
Nun ist endlich ein Paket gekommen. Auch von Martina habe ich einen Brief erhalten. Mit Ruth Mühlemann komme ich jetzt ganz gut aus. Wir sind heute zusammen im Dorf gewesen. Da haben wir Berner Pfadfinder getroffen. Ich habe aber keinen gekannt. Es ist noch nicht 9 Uhr, aber schon alle Gäste stecken im Bett.
*
Grindelwald, 1. Januar 1939
Sylvester – Neujahrs
Jetzt ist es genau Mitternacht und ein paar Minuten. Ich sitze auf dem Bettrand und warte auf das versprochene Telephon. Der ganze Sylvester war eine öde Sache. Beim Kerzenschein haben wir Tee getrunken und uns ein gutes neues Jahr gewünscht. Frau Ruef hat herzzerbrechend geweint. Warum kann ich mir nicht vorstellen. Ob sie es wohl in Bern lustig haben? - Die meisten Gäste sind ins Dorf gegangen. Die Zeit rückt. Schon hat ja das neue Jahr begonnen. Was es mir und meiner Familie wohl alles bringen mag? Ach, es hat ja keinen Sinn darüber nachzudenken. Wie wahr ist doch das Wort: „Der Mensch denkt und Gott lenkt!“ Ich will mit frischem Mut das 1939 beginnen. Auch beten will ich wieder. Es hilf doch über manches hinweg. -
*
Grindelwald, 1. Januar 1939
Ich bin heute nicht in die Skischule gegangen. Auch morgen habe ich es nicht im Sinn. Zuerst muss ich Bericht von zu Hause abwarten. Am Morgen habe ich sehr lange geschlafen. Bei uns im Heimetli ist jetzt Tischtennis Mode. Auch heute Abend haben wir gespielt. Jetzt haben wir uns noch dem stillen Suff ergeben. Frau Ruef hat 4 Flaschen Orangina gestiftet. Diese haben wir jetzt in der Küche zum Verschwinden gebracht. Nächsten Morgen werde ich das Ausschlafen geniessen! -
*
Grindelwald, 2. Januar 1939
Endlich ist mir der Chrigeler rechts gelungen. Bin nicht in der Skischule gewesen, aber dafür habe ich geübt. Vreni Ruef ist ein komisches Möbel. Sie will nämlich kein Fleisch mehr essen. Warum, weiss sie selber nicht. Heute Abend hatten wir es recht gemütlich. Herr Kägi (Lehrer) hat auf dem Klavier Lumpenlieder gespielt. Ich habe etwas vernommen. Das Dienstmädchen hier im Heimetli war nämlich früher einmal bei Schenks. Es kennt Heinz und die beiden andern also gut. Nun kann ich gut mit ihm über Heinz sprechen. Es merkt ja doch nichts! Zum Glück.
*
Grindelwald, 3. Januar 1939
Heute habe ich einen Brief von daheim erhalten. Mueti schreibt, dass sie mich schon morgen, Mittwoch, in Bern erwarten. Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Ich habe telefoniert und nun darf ich noch bis Samstag oder Sonntag bleiben.
*
Grindelwald, 5. Januar 1939
Gestern hatte ich keine Tinte im Füller. Vreni, Frau Ruef und Ruth haben das Examen für den schwarzen G gemacht. Ich habe Jacques Blanc getroffen. Sind zusammen ins Dorf gefahren. Heute hat Frau Ruef zur Feier des Tages uns alle eingeladen ins Wolter. Nachher sind wir per Pelzkutsche ins Heimetli gefahren. Alles hat Frau Ruef bezahlt. Nur weil sie das Examen bestanden hat. Mir hat sie einen blanken Fünfliber geschenkt. Herr und Frau Kägi sind heute abgereist.
*
Grindelwald, 6. Januar 1939
Mueti hat mir ein Paket geschickt. Beiliegend fand ich einen Brief von Margrit Kägi aus Zürich. Erich lässt mich auch grüssen. Ob er mich wohl noch nicht vergessen hat? Mir liegt ja nichts mehr an ihm. - In diesen Ferien habe ich sehr schöne Lederarbeiten gemacht. Wir wollten morgen auf die grosse Scheidegg gehen. Nun ist es aber zu gefährlich (Lawinen).
*
Grindelwald, 7. Januar 1939
Nun bin ich den letzten Tag in Grindelwald. Morgen geht es nach Hause. Ich freue mich auch wieder, nach Bern zu reisen. Vreni hat heute einen Brief bekommen von ihrem Freund. Ruth eine Karte. Nur ich bekomme nichts. Warum wohl nicht? Wenn ich ganz ehrlich sein soll, so habe ich von Heinz eine Karte erwartet, aber man kann sich eben täuschen! Deswegen lasse ich mir keine grauen Haare wachsen.
*
Bern, 9. Januar 1939
Nun bin ich wieder in Bern. Gut heimgereist. Heute Abend habe ich etwas Schreckliches vernommen. Mueti hat mir erzählt, dass Ruth Tanner gestorben ist. Wie furchtbar das für Gusti und für uns alle ist, lässt sich gar nicht beschreiben. Armer Gusti! Immer hat er Unglück. Ich bin ganz aus dem Häuschen.
*
Bern, 10. Januar 1939
Ich bin schon im Bett. Gusti ist mit Mueti im Theater in der Traviata. Gusti sieht schlecht aus. Man merkt es immer, wenn er an Ruth denkt. Morgen kommt Frau Bleuer heim aus Zürich. Ich kann das Ganze kaum fassen. Wie schnell doch Glück und Unglück wechseln. Wie schön war es an Weihnachten, als Gusti das Paket von Ruth bekam. Nun fragen wir wieder: „Warum“ musste das geschehen? Ich kann nicht mehr denken. Es ist zu traurig. Weinen muss ich.
*
Donnerstag, 12. Januar 1939
Es ist schon 11 Uhr. Soeben bin ich aus dem Abonnementskonzert zurückgekehrt. Frau Kuhn hat mich eingeladen. - Gusti ist hässig mit mir. Seit seine „Ruth“ gestorben ist, habe ich ihn nie mehr fröhlich gesehen. Schwer lastet dieses Unglück auf uns allen. Ich möchte ihn so gerne trösten. Aber wie? - In der Schule geht wieder alles den alten Gang. Nun muss ich aber schlafen. Morgen gibts einen strengen Tag.
*
Freitag, 13. Januar 1939
Heute hatten wir eine Franzprobe. Ich hoffe auf eine gute Note. Am Nachmittag haben wir den armen Otz wieder bös geärgert. Martin und ich mussten dann zur Strafe die Zimmerordnung übernehmen. Was schadets! Ich komme mir komisch vor, weil ich immer an Heinz denke. Wieso nur? Ich habe dieses Gefühl noch nie gekannt. Vielleicht werde ich es Mueti nächstens einmal sagen, wie es steht. Helfen kann es ja zwar auch nicht. Nun fange ich an zu stürmen. Es ist Zeit, dass ich schlafe.
*
Sonntag, 15. Januar 1939
Gestern bin ich mit Daysi im Aschenbrödel gewesen. Am Abend sind Schmids zu Besuch gekommen. Roland ist noch ganz nett gewesen. Aber ein Schminggel ist er doch! Heute hatte ich Kinderlehre. Da ist mir ein komischer Gedanke gekommen beim Beten. Warum senken wir immer die Köpfe, wenn wir beten? Wir haben doch nichts getan, dass wir die Köpfe senken müssen! Also mein Grundsatz ist: „Kopf hoch!“ - Am Nachmittag hat uns Tante Gritli eingeladen auf die Ka We De. Roland Schmid war auch da. Der hat wieder zünftig aufgeschnitten. Jetzt haben wir im Stübli über die Welt gesprochen. Für mich ist es einfach ein grosses Rätsel. Es hat ja auch gar keinen Sinn darüber nachzudenken, sonst wird man ganz verrückt.
*
Donnerstag, 19. Januar 1939
Nun habe ich schon lang nicht mehr eingeschrieben. Die Tage verlaufen ja wieder alle gleich. Heute Abend war noch Fräulein Herz auf Besuch bei uns. Gusti ist wieder etwas netter mit mir. Jetzt ist er ja nicht mehr lange zu Hause. Dann muss er wieder ins Militär. Wir wollen alle hoffen, dass ihm nichts zustösst beim Fliegen! Vor mir habe ich jetzt das Buch: Madame Curie. Es ist sehr interessant – Mueti hat mich heute Abend gerühmt. Es findet, dass ich mich im neuen Jahr gebessert habe. Das kann schon stimmen. Grössten Teils habe ich das Martina zu verdanken. Ja, eine treue Freundin ist viel wert.
*
Samstag, 21. Januar 1939
Mueti hat wieder einmal einen Anfall. Ich weiss mir bald nicht mehr zu helfen. Soeben stöhnt sie wieder: Oh Gott! Ich soll mir ja nichts anmerken lassen. Gusti hat mich rührend getröstet. Auch er hatte ja in seiner Jungend das gleiche durchgemacht wie ich. Bis jetzt habe ich mich noch nicht abfinden können damit, Mueti sei nicht ganz normal. Aber ich glaube, ich komme noch dazu. Mueti behauptet momentan, sie schreibe Gusti nie mehr, er sei für sie erledigt. Immerzu trägt sie Ruths Bild umher. Wenn ich nur jemanden hätte, der mir helfen könnte. Nun lese ich wieder bis in alle Nacht hinein, nur um das Schreckliche eine Weile zu vergessen.
*
Sonntag, 22. Januar 1939
War das wieder ein Sonntag! Mueti ist noch gleich wie gestern. Mit Gusti spricht sie überhaupt nicht mehr. Mueti nennt Gusti einen Lump (weil mein Bruder schon wieder eine neue Geliebte hatte) und das tut mir weh, tief hinein, denn ich liebe Gusti! Er ist ja selber nicht zufrieden mit sich. Also sollte man ihm helfen. Ich möchte am liebsten mit ihm gehen, ihn beschützen! Das klingt lächerlich, ein kleines Mädchen einem Mann helfen, aber es muss mir gelingen! In meinem Herzen ist alles in Aufruhr. Da heisst es, Kopf oben behalten und sich nicht unterkriegen lassen.
*
Donnerstag, 26. Januar 1939
Nun geht wieder alles im Alten. Mueti hat sich wieder gebessert. Gestern war Frau Bleuer mit dem Kleinen hier. Herziges Mädchen! Mit Martin bin ich gestern dem Waldrand entlang spaziert und habe die ersten Weidenkätzchen gefunden. Heute sind wir mit der Schule auf der Ka – We – De gewesen. - Gusti hat gepackt heute. Nun dauert es ja nicht mehr lange bis er wieder nach Dübendorf geht. - Schade! -
*
Samstag, 28. Januar 1939
Morgen fährt Gusti nach Dübendorf. Nun bin ich dann wieder allein mit Vati und Mueti. Heute Abend hatte ich einen Ast, der wird aber mit Klavierspielen vertrieben. Die „Consolations von Listz haben mir geholfen. Ich will ja nicht traurig sein, denn Gusti geht zu seinen lieben Maschinen und ist glücklich. Wie schön wäre es jetzt, wenn Ruth ihn in Zürich abholen würde! -
*
Sonntag, 29. Januar 1939
Nun ist Gusti fort! - Ich bin mit ihm am Morgen auf den Bahnhof gegangen. Beim Abschied hat mir Gusti einen Kuss auf die Lippen gedrückt! - Diesen Kuss werde ich nie vergessen! Nun weiss ich, dass ich einen Bruder habe, der mich liebt. Eigentlich sollte ich jetzt glücklich sein, aber ich habe schon Heimweh nach Gusti. Ich schlafe jetzt in seinem Zimmer. - Wir sind am Nachmittag bis nach Bümpliz spaziert. Und morgen geht das 6 Tagerennen wieder los. Mir ist ganz traurig zu Mute. Aber es wird wieder gehen. (Wechsel der Gefühle, sehr schnell!)
*
Dienstag, 31. Januar 1939
Das war ein bäumiger Tag. Der ganze Proger und Gimer hatte Sporttag. Wir fuhren bis Signau und mussten dann eine gute Stunde hinauf watscheln. Leider keine Sonne, sonst wären wir schön braun gebrannt zurückgekehrt. Unser Gimeler war noch ganz nett. Jetzt habe ich noch Gusti einen Brief geschrieben. Nun lese ich noch ein wenig und dann will sich schlafen! -
*
Mittwoch, 1. Februar 1939 (Aerger mit Schulkameraden)
Heute Morgen habe ich in der Schule den Pestalozzikalender herumgegeben und alle haben ihre Namen eingeschrieben. Alle, nur Leuenberger nicht. Ja sogar die Namen Grütter und Kohler hat er ausradiert. Prügeln könnte ich ihn! Am Nachmittag bin ich zu Martin gegangen. Ich habe das Buch "Allzeit bereit" zum Lesen mit nach Hause genommen. Schon jetzt habe ich Heimweh nach Gusti. Er hat heute einen Brief geschrieben.
*
Donnerstag, 2. Februar 1939
Das Aufsatzthema von heute hiess „Morgenstund hat Gold im Mund“. Da bin ich wohl schön abgeschifft. Bis jetzt habe ich Franzaufgaben gemacht. Ich habe richtig Angst für morgen. Aber es wird schon gehen. Es muss! Hübsche Cottillons für meinen Geburtstag habe ich auch schon angefertigt. Fräulein Herz ist noch bei Mueti auf Besuch.
*
Freitag, 3. Februar 1939
Ich bin allein zu Hause. Mueti und Vati sind im Theater. Alfa war noch schnell hier. Das war ein ganz verrückter Tag. In der Schule hatten wir nicht weniger als 3 Proben. Franz, Deutsch und Rechnen. Im Deutsch habe ich einen 3-er, Rechnen 6 und Franz weiss ich noch nicht. Agnes hat mich gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Ich habe ihr gesagt, dass mich ein herzförmiger Photorahmen freuen würde. - Jetzt habe ich noch ein wenig in den Büchern herumgestöbert. Aber nichts Rechtes gefunden. Seit einiger Zeit bin ich wieder sehr hässig. Ich weiss es ja ganz genau. Es wird wieder besser werden. Das Heimweh nach Gusti macht mich ganz verrückt! Nicht einmal schreiben tut er. Auch Heinz macht mir viel zu schaffen. Momentan ist mein armes Herz stark in Anspruch genommmen. (Pathetische Phase!)
*
Sonntag, 5. Februar 1939
Heute war ich mit Mueti im Theater. „Mademoiselle nitouche“. Das Stück ist ganz gross. Ich habe Tränen gelacht. Die Eri Lechner spielt einfach fabelhaft. Heute Abend habe ich Margrit Kägi einen Brief geschrieben. Zum ersten Mal habe ich keinen Gruß an Erich beigefügt. Was ist schuld daran? Heinz! Gestern war ich bei Agnes eingeladen. Es war ja ganz nett, aber ich hoffe, dass es bei mir noch schöner wird nächsten Mittwoch. Schon hat es 10 Uhr geschlagen. Also guet Nacht.
*
Dienstag, 7. Februar 1939
Morgen habe ich Geburtstag und zwar werde ich schon 14 Jahre alt. Heute ist mir etwas Dummes passiert. Auf ein Blatt Papier habe ich gedankenlos Heinz Schenk hingekritzelt. Vorhin hat Mueti dieses Blatt in die Finger genommen, und ich denke, sie wird es gelesen haben. Mit der Zeit wird sie es ja wohl etwa erfahren. - Ernst Blaser ist noch hier. Klecks war zum Nachtessen bei uns. Nun mache ich noch ein paar Schnellrechnungen und dann will ich schlafen.
*
Mittwoch, 8. Februar 1939
Das war ein ganz bäumiger Geburtstag. Besonders reich wurde ich diesmal mit Herzen beschenkt. Ein Photorahmen (herzförmig), ein Portemonnaie, um am Arm zu tragen und einen Amor aus Keramik, der ein Herz in seinen Händen trägt. Alle Herzen fliegen mir zu. Nur eines nicht! - Schon wollte ich verzweifeln, weil Gusti nicht geschrieben hat. Da läutete um 5 Uhr die Post und zu meiner grossen Überraschung kamen Fotografien zum Vorschein. Auch ich durfte mir eine aneignen. Daysi ist dann glücklich abgeschifft an der Prüfung in die Handelsschule. Pech! Wir haben nur noch morgen Schule und dann 3 Tage frei. Die Grippe greift so stark um sich, dass die Schulen geschlossen werden.
*
Donnerstag, 9. Februar 1939
Heinz – ! Warum bist Du so unnahbar? Lass mich doch wissen, ob Du auch so denkst wie ich. Du machst mich ganz verrückt. Ich denke an Dich, wo ich stehe und gehe. In der Schule sehe ich Dich jeden Tag; jede Pause gehe ich bei der 3 D vorbei, nur um Dich einen Augenblick sehen zu können! Ich träumte schon 2 Nächte von Dir. Heute Abend habe ich den einzigen Brief, den ich von Erich besass zerrissen. Nur wegen Dir. Soll ich es meiner Mutter eingestehen? Vielleicht. Ich will beten für Gusti und für Dich. Ich will Gott bitten, dass er mich von Dir träumen lässt. Guet Nacht.
*
Freitag, 10. Februar 1939
Wir haben also Grippeferien. Ich bin heute morgen mit Martin auf der Ka-We-De gewesen. Hansruedi Schenk war auch dort. Heinz nicht! - Ich muss wieder vernünftig werden. An ihn denken darf ich ja wohl, aber ganz den Kopf verlieren, das geht nicht. Dazu bin ich denn doch zu gescheit. Vielleicht ist es gut, dass ich jemanden so verehre, sonst würde ich mich in jeden 2. verlieben. Eines aber steht fest: die Lilly ist tapfer und lässt sich nicht verwirren. Habe noch den Hockeymatch gehört. Schweiz – Kanada. Die Schweiz hat 7:0 verloren. Pech.
*
Sonntag, 12. Februar 1939
Gusti ist gestern heimgekommen, aber heute schon wieder abgereist. Beim Abschied blieb es diesmal bei einem „Servus“ (keinen Kuss). Macht auch nichts. Ob wohl jede Schwester ihren Bruder so liebt wie ich?! Schon heute Abend habe ich ihm einen Brief geschrieben.
*
Dienstag, 14. Februar 1939
Heute habe ich einen Brief von Gusti erhalten. Ich glaube, das ist überhaupt das erste Mal, dass mir Gusti schrieb! Natürlich bin ich überglücklich. Auch Fritz hat mir geschrieben. Das ist nett, von 2 Fliegeroffizieren Korrespondenz zu erhalten. - Bin um 16.00 Uhr mit Mueti in die Stoffhalle gegangen, um Stoff für eine Bluse zu kaufen. Da hat Mueti wieder einmal bewiesen, wie „lieblich“ sie sein kann. Vor allen Leuten nannte sie mich einen Totsch. In solchen Momenten könnte ich sie hassen und ich tue es auch. Aber ich sollte es nicht mehr so tragisch nehmen. Man gewöhnt sich an alles! - Übrigens, Heinz habe ich heute nicht gesehen. Ob er wohl krank ist? Hoffentlich nicht.
*
Mittwoch, 15. Februar 1939
Am Morgen gab es heute eine Deutschprobe mit Note 4-5. Martina hatte einen 5-6er. Sie ist ja meine Freundin, aber ganz ehrlich gönnen mag ich es ihr nicht. Yvonne Grotzer mischt sich in unser Verhältnis sehr unheilsam ein. Heute Nachmittag hat sie Martina zu sich eingeladen. An unserem Mittwoch! Yvonne ist dann zu Martina gegangen. Ich nicht! Ich weiss nicht, ob es ein Fehler ist von mir, aber ich sehe in Yvonne einen Eindringling. - Dafür bin ich mit Mueti bei Frau Bleuer gewesen. Die kleine Mädi ist ein herziges Geschöpf. Ich konnte mich fast nicht mehr trennen von ihr. - Und am Abend habe ich wieder einmal Chopin gespielt. Dieser Musiker macht mich ganz verrückt. Den ganzen Tag höre ich seine Mazurken im Kopf. - Heute Heinz wieder nicht gesehen. Wenn ich den Mut dazu hätte, würde ich einen aus der 3D nach ihm fragen.
*
Samstag, 18. Februar 1939
In der Schule heisst es jetzt tüchtig schuften. Gestern hatten wir eine unvorhergesehene Geschichtsprobe. Auch eine Gogerepüetz hat nicht gefehlt. Allerdings darauf habe ich gelernt und habe mir glücklich eine 5-6 herausgeholt. Am Nachmittag habe ich dann in der Schule gefehlt, es war mir saumies. Auch heute morgen bin ich im Bett geblieben. Jetzt fühle ich mich zwar wieder vögeliwohl. Ich habe Gusti einen Brief geschrieben. Mueti meint, ich sei ärger als wenn ich in Gusti verliebt wäre. Ja, ein Mädel in meinem Alter muss sich doch verlieben und wenn es in den eigenen Bruder ist. (Übrigens Heinz habe ich gestern gesehen.) Alfa ist bei uns. Mueti hat ihm Karten gelegt. Es ist ja nur Jux, aber lustig ist es doch. Bei Alfa spielt ein Mädchen eine grosse Rolle, das wird natürlich Leni sein. Er ist nämlich ganz hin von diesem Serviermädel. Wie kann man nur!
*
Donnerstag, 23. Februar 1939
½ 9 Uhr und ich bin schon im Bett. Ich habe nämlich wahnsinnige Zahnschmerzen. Ich werde wohl doch zum Zahnarzt gehen müssen. Pech! Heute morgen hat Bundespräsident Philipp Etter eine Ansprache an die Schweizerjugend gehalten. Das Schönste daran war, dass ich nur etwa zwei Reihen hinter Heinz sass. - Von Frau Arnholz habe ich so nebenbei einen schönen Taftrock bekommen.
*
Freitag, 24. Februar 1939
Ich bin allein zu Hause. Bis jetzt habe ich gestrickt. - Seit einigen Tagen kamen in den Pausen immer Steinchen herunter und es machte den Anschein, wie wenn die mir gelten würden. Heute wollte ich einmal wissen, von wem die stammen und schaute hinauf. Direkt in Heinzens lachendes Gesicht. Na also! - Da gab es einmal Gelegenheit, einige Worte zu wechseln. Wenn es auch nur eine Neckerei war, mich hat es gefreut. Leider bin ich momentan in der Schule nicht gerade prima. Ich habe jetzt schon 2x auch im Rechnen versagt. Das muss wieder anders kommen! Noch etwas ist heute passiert, was mir Eindruck gemacht hat. Marc Hohler hat mir nach der Rechnungsstunde vorgehalten, ich schinde schwer Punkte bei Herrn Steiger. Nur weil ich geheult habe. Aber er hat ja eigentlich recht, ich will das nun nicht mehr tun!!! Und morgen kommt Gusti heim. Da muss man ja wieder fröhlich werden. Ich freue mich wahnsinnig auf morgen, trotzdem ich zum Zahnarzt muss.
*
Sonntag, 26. Februar 1939
Gusti ist wieder fort. Ach wie kurz sind doch seine Aufenthalte in Bern. Und die gelten ja nicht mehr uns! Für Gusti bedeutet Hanny Ehrbar jetzt alles. Wie ich dieses Mädchen hasse!!!! Mein geliebter Bruder hat es heute Mueti gesagt, dass er Hanny heiraten werde. !!Pfui!! So kurz nach Ruths Tod kann er schon mit einer anderen wieder karisieren. Das kann ich ihm nicht verzeihen. Ich möchte ihm noch heute einen Brief schreiben, aber es geht nicht. Ich muss zuerst ruhiger werden. So, und nun Schluss mit dem! – Mir kann es ja gleich sein, was er tut!! Ich bin glücklich, gestern hatten wir die Aufsätze zurück erhalten. Ich hatte einen Aufsatz über mich selbst geschrieben und dafür einen 6-er bekommen. Sogar vorlesen musste ich ihn. Nun haben wir 2 Tage frei, wegen den Aufnahmeexamen. Eigentlich schade, dann sehe ich Heinz sehr lange nicht. Aber um so netter ist es dann am Mittwoch! Werden wohl wieder Steinchen mich grüssen? Denn dass es ein Gruß war, das weiss ich sicher.
*
Montag, 27. Februar 1939
Ich bin heute Abend so vergnügt. Warum weiss ich zwar nicht, vielleicht weil ich mit Martin einen langen Spaziergang gemacht habe. Wie ich doch diese Ausflüge mit Martin liebe. Wir sind wieder einmal an den Sandrain gegangen. Da hat alles gewaltig geändert. Kein einziges Plätzchen fand ich mehr wie es früher war. Ach, wie herrlich war es doch, als wir Kinder das ganze Wäldchen zu unseren Spielen benutzen konnten. Ja, diese Zeiten sind vorbei.
*
Donnerstag, 2. März 1939
Unsere Prüfungsferien sind also zu Ende. Martin‘s Bruder ist nicht durchgeflogen beim Examen im Gymnasium. Die Geburtstagsfeier bei Martin war sehr nett. Wir Mädchen von der 3a gründen jetzt einen Club. Jedes trägt ein kleines rotes Herz mit einem silbernen Schlüsselchen, ungefähr so:
(1)
Heinz habe ich heute nicht gesehen. Macht auch nichts, dann halt morgen.
*
Samstag, 4. März 1939
Soeben habe ich mit Schrecken bemerkt, dass mein Tagebuch nicht verschlossen war. Ob wohl Mueti das ausgenutzt hat? - Heute haben wir die Deutschprobe zurückbekommen. Ich habe eine 2-3. Leuenberger hat einen 5-er. Da meinte er noch ganz gemütlich: Ich hätte eigentlich ganz gut eine 6 machen können. Ja, das glaube ich auch, wenn er noch mehr gespickt hätte. Ich habe ihm alle Schande gesagt, und ich glaube, es hat ihm noch ziemlich Eindruck gemacht. Ich hasse ihn ja aus ganzem Herzen, aber heute hat er mich doch gedauert. Herr Steiger hat mit ihm sehr gescholten. Man denke mit Leuenberger!
Mueti und ich sind noch schnell zu Frau Mischler gegangen. Da meinte diese zu Mueti: „Lilly ist gewiss brav. Sonst Mädchen in ihrem Alter stürmen doch immer nur von Buben.“ Ich habe mich regelrecht geschämt!! Ich verdiene doch dieses Lob gar nicht. Gegen Mueti komme ich mir so unehrlich vor. Jetzt muss es dann einmal gesagt sein wegen Heinz. Besonders weil es mit mir ja jeden Tag schlimmer wird. Ich kann die Pausen in der Schule kaum erwarten, nur weil ich ihn dann sehe. Auch weil ich jetzt weiss, dass auch ich ihm nicht gleichgültig bin
.
*
Montag, 6. März 1939
Frau Dr. Jost ist hier. Jetzt sind sie zwar alle ins Corso gegangen. Ich habe bis jetzt Aufgaben gemacht. „Wir“ haben es nämlich sau streng in der Schule. Und gleichwohl freue ich mich auf jeden neuen Schultag. Es ist nur schade, dass Heinz nicht in die Lateinabteilung kommt. Aber vielleicht ist es gut so. Herr Gott, wenn ich es doch nur sagen könnte zu Hause! Gusti hat es ja auch immer Mueti anvertraut. Ich kann einfach nicht. Es ist halt auch schön ein Geheimnis zu haben. Aber ich weiss ja, dass man das vor den Eltern nicht haben darf!
*
Mittwoch, 8. März 1939
So, der Tag wäre glücklich vorbei! Ich habe heute meinen Vortrag über unsere schweizerischen Landeskarten gehalten. Note 6. Momentan heult draussen der Wind und die Badezimmertüre klappert unaufhörlich. Diesen Wind höre ich verrückt gern. Aber noch lieber bin ich draussen, wenn es so stürmt. Regnet es noch dazu, dann peitscht der Wind einem die Regentropfen ins Gesicht und das finde ich herrlich!
Ernst Blaser war bis jetzt 10 ½ Uhr bei uns. Wir haben gejasst und ich habe 10 Rp. gewonnen.
Heute Nachmittag habe ich die Gedenkfeier für die 4 verunglückten Militaristen im Radio gehört. Wieder hat der Tod vier junge Menschen dahingerafft. Drei Leutnants und einen Wachtmeister sind in eine Lawine gekommen. Es ist ja wirklich furchtbar, wenn man sich denkt: „Ein Donnern, eine weisse Masse und dann nichts mehr.“ – Tod – Ich mag gar nicht mehr daran denken. Mueti war natürlich wieder einmal untröstlich. Aber was nützt das? Wir müssen voraus schauen!! Jetzt höre ich noch dem Winde zu, bis mich sein Heulen in den Schlaf „gesungen“ hat!
*
Donnerstag, 9. März 1939
Heute hat es wieder geschneit. Sauglatt so Mitte März! Am Morgen gab es eine Deutschpüetz. Ich weiss die Note noch nicht, aber ich habe auf alle Fälle wieder einen schönen Bruch zusammen geschrieben. Am Nachmittag hatte unsere Klasse Luftschutzübungen im alten Waisenhaus. Etwas mühsam ist es schon so mit diesen Gasmasken die Treppen hinaufzusteigen. Hoffentlich müssen wir die Masken nie gebrauchen!!
*
Samstag, 11. März 1939
Gusti ist ganz unverhofft nach Hause gekommen. Gribi und Gusti haben mich per Auto nach Muri zum Zahnarzt geführt. In der Klavierstunde hat mich Herr Girsberger gelobt. Das geschieht nämlich sehr selten. Und noch etwas: er hat mich gefragt, ob ich noch nie daran gedacht habe, mich für Musik ausbilden zu lassen. Ich habe ihm dann meine Wünsche klargelegt, dass ich Medizin studieren möchte. Das hat er mir gründlich abgeraten. Aber ich weiss wirklich bald nicht mehr, zu welchem von beiden ich mich entschliessen will. Besonders weil ich jetzt in der Schule im Deutsch 2x hintereinander in den Aufsätzen einen 6-er hatte. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Wir werden ja sehen, was aus mir noch wird.
*
Montag, 13. März 1939
Der Montag wäre vorbei! Angefangen hat er noch ganz gut. Ich durfte mein Sonntagskleid zum ersten Male in die Schule anziehen und ich habe Heinz in der Pause gesehen. Über den Mittag änderte sich die gute Lage. Vor dem Weggehen habe ich wieder einmal mit Mueti einen tüchtigen Krach gehabt. Das Ende des Liedes war: ich wurde um 4 Uhr nicht abgeholt von der Schule. Und nun die Turnstunde. Ja, da hatte ich heute entschieden Pech. Erstens hatte Frl. Küenzi eine sau- schlechte Laune und ich zum Gegensatz die beste seit langer Zeit. Das musste ja krumm heraus kommen. Zuerst hat sie mich etwa dreimal gewarnt und dann hat sie mir noch eine Strafpredigt gehalten wegen dem Schwatzen. Da ist mir etwas Dummes passiert. Ich musste nämlich lachen! Das machte sie natürlich noch wütender, und ich habe eine Strafaufgabe bekommen. Das Thema heisst: „Das Turnen und seine Werte“. Zu Hause habe ich es natürlich noch nicht gesagt. Ja nun, geschehe nichts Böseres. Eine schlechte Betragungsnote werde ich jetzt sowieso bekommen. Nun Schluss mit diesem Kapitel.
Gestern sind wir im Kursaal gewesen. Gusti hat mir 25 Rp-Stückchen bezahlt. - Am Morgen habe ich halb im Spass gesagt: „Für nächsten Sonntag sollte ich ein Paar Hauchstrümpfe haben.“ Da drückte mir Gusti einen Fünfliber in die Hand. Das ist doch fabelhaft. Ich freue mich ganz verrückt auf Samstag.
*
Dienstag, 14. März 1939
Heute hatten wir in der Pause eine bäumige Schneeballschlacht. Ich habe mir alle Mühe gegeben, Heinz zu treffen. Kohler hat mich gerühmt, ich habe mich sehr gut verteidigt, hat er gesagt. Na ja, es stimmt ja auch.
*
Mittwoch, 15. März 1939
Auch heute hat es geschneit. Am Nachmittag bin ich bei Martina gewesen. Esther Stein hat mir erzählt, dass Guggisberg aus der 3D sehr in mich verschossen sei. Da kann ich nicht helfen. Für mich ist Heinz noch jetzt der Liebste. Herr Vacanit hat bis jetzt mit mir geübt für nächsten Samstag.
*
Donnerstag, 16. März 1939
Hurra! Nun ist‘s gesagt!!! Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Also, Herr und Frau Schläfli sind bei uns auf Besuch. Vorhin sassen wir gemütlich am Tisch. Ich erzählte etwas viel von Kohler, deshalb meinte Herr Schläfli scherzhaft: „Aha Lilly, Kohler ist wohl ein kleinerer Schwarm von Dir?“ Ich verneinte und wurde dummerweise rot. Da sprach Mueti: „Ich weiss, wer dein Schwarm ist. Der kleine Schenk?“ Natürlich wusste ich, dass sie den falschen meinte. Und da hab ichs halt gesagt, dass ich nicht Hansruedi, sondern Heinz liebe!! Mueti hat nicht mehr viel gesagt. Aber die Hauptsache ist, dass sie es nun weiss. Das macht mich ganz verrückt froh!!!
*
Sonntag, 19. März 1939
Himmel, wie war das schön!! Der Ball hat also im Bellevue stattgefunden. Gusti hat mit mir getanzt. Das ist das erste Mal, dass ich mit meinem Bruder tanzen konnte. Nun muss ich noch etwas erzählen. Also: Mueti und ich sitzen auf unseren Plätzen; ich sehe, wie ein junger Herr auf uns zukommt. Da plötzlich verbeugt er sich vor mir und spricht: „Darf ich bitten?“ Oh, natürlich durfte er bitten! Das ist das erste Mal, dass mich jemand zum Tanzen engagierte. Und er hiess Heinz. Als ich das vernahm, da wurde es mir ganz warm. Ich musste an einen andern Heinz denken. Also sein ganzer Name ist Heinz Pappé. Er ist ja auch ganz nett, aber wie mein Heinz ist er nicht. Er hat übrigens noch mehr mit mir getanzt. Was man eigentlich für Blödsinn spricht beim Tanzen. Zum Beispiel:
Er: Ich kenne ihren Bruder Fräulein.
Sie: So.
Er: Ich muss Ihnen gratulieren, sie haben fabelhaft gespielt.
Sie: So finden Sie? Aber bitte sag doch nicht immer Sie zu mir. Ich heisse Lilly.
Er: Ach gerne, also Lilly.
Sie: Ja nächsten Winter werde ich dann in die Tanzstunde gehen.
Er: Ja, ich habe gedacht, Du seist mindestens schon fünf Mal gewesen, so gut tanzest Du. --- usw. Solchen Blödsinn haben wir geschwatzt, aber himmlisch war es doch!!! Und übrigens habe ich wirklich einen grossen Erfolg gehabt mit meinem Klavierspiel. Soviele Blumen habe ich bis jetzt noch nie bekommen.
Roland Schmied hat nie mit mir getanzt. Macht auch nichts. Dieser Abend war einfach gross!!!!!!
*
Montagmittag, 20. März 1939, 13.00 Uhr
Ich bin wieder einmal ganz verrückt. Wie schnell Freud und Leid wechseln, das habe ich heute wiederum neu erfahren! Ich habe wieder einmal regelrecht Krach gehabt mit meinen Alten. Wenn ein Zorn in mir aufsteigt, dann kann ich mich nicht beherrschen. - Komme ich mit einer guten Laune heim, begegnet man mir mit finsterer Miene. Vater steht in der Küche, es riecht nach angebranntem Mittagessen und Mutter liegt auf dem Ruhebett. Es ist ihr wieder einmal nicht gut. Sind das Zustände für eine gute Laune? Da werde ich halt wütend und verweigere das Essen. Das Ende vom Lied: ich werde zum Zimmer hinausgejagt. - Und nun gehe ich skifahren. Sollen die zu Hause meinetwegen machen, was sie wollen. Ich habe genug. Ach, wenn nur Gusti da wäre!!! Ich kann ja wohl Martina alles erzählen, aber verstehen tut sie mich gleichwohl nicht. Unsere Familie ist einfach aussen fix und innen nix. Gegen aussen scheint sie wunderbar, aber wie sie richtig aussieht, das wissen nur wir. Ich bin jetzt wieder ruhiger. Wenn ich so aufgebracht bin, dann gibt es nur ein Mittel, an Heinz und an Gusti zu denken!
Es ist nur gut, sind nicht alle Familien so wie die unsrige.
*
Freitag, 24. März 1939
Soeben gebadet. Ich bin allein zu Hause. Heute hatten wir unsere Schlussfeier in der französischen Kirche. Es ging alles sehr gut. Heinz stand ganz nah bei mir. Aber ich weiss selber nicht, ich habe plötzlich Angst, dass Heinz eifersüchtig ist. Er sieht halt, dass ich viele andere Knaben kenne. Aber ob er denn nichts merkt, wenn ich ihn anschaue? Dummer Heinz! Heute habe ich zum ersten Male seine wasserblauen schönen Augen entdeckt. Wie er mich anschaute! So klar und fragend.
Sylvia, Martina und ich haben eine Geheimschrift erfunden. Sie sieht so aus:
(2) Geheimschrift von Sylvia, Martina und mir.
*
Sonntag, 26. März 1939
Nun wäre der dritte Proger zu Ende. Am Samstag haben wir Abschied von unseren alten Lehrern gefeiert. Mein Zeugnis ist sehr gut. Ich glaube fast ein wenig zu gut. Gusti ist unerwartet heimgekommen. Er hat 8 Tage Ferien. Die Ferien sind ja recht schön, aber 3 Wochen Heinz nicht sehen, das ist Pech. Sylvia Oertlin kommt also nicht ins Latein. Sie geht jetzt in die 3D zu Heinz. Ich bin schwer gespannt, wie das herauskommt. Eigentlich möchte ich gerne Englisch nehmen, nur weil ich dann in die gleiche Klasse wie Heinz käme. Aber es ist doch alles eine dumme Schwärmerei von mir und später würde es mich reuen, nicht Latein genommen zu haben.
*
Mittwoch, 19. März 1939
Gestern bin ich mit Vati im Theater gewesen (Loge 6) und zwar in „Talleyrand und Napeoleon“. Es war ganz gross. Der Sohn von Herrn Moesch war auch da. Warum wurde ich denn rot, als ich ihn ansah? Ich komme gar nicht mehr aus mir selber. Jedesmal wenn ich einen hübschen Knaben sehe, so möchte ich dem gefallen, Dann muss ich mir ganz fest vornehmen, an Heinz zu denken. Das hilft. Heute bin ich mit Sylvia und Martina weit spazieren gegangen. Wir haben schon Veilchen gefunden.
*
Freitag, 31. März 1939
Gestern sind wir ebenfalls spazieren gegangen. Als ich nach Hause kam, erzählte Gusti, dass ihm ein Hund nachgelaufen sei. Das gute Tier wartete unten am Gartentor getreulich. Wir haben ihn dann zur Polizei gebracht. Hoffentlich wird er abgeholt. Gehorchen tut er aufs Wort. (Besser als ich.) Heute Nachmittag habe ich auf unserer Veranda das erste Sonnenbad genommen, trotzdem ich einen zünftigen Schnupfen pflege.
*
Samstag, 1. April 1939
(Heute habe ich ein (die Tinte ging aus)
*
Sonntag, 2. April 1939
Sonntag ist‘s! Ja, und was für einer!! Zehn Minuten vor vier: Gusti ist fort. Vati ging spazieren. Ich lese. Mutter schläft. Himmel, ist das ein Familienleben. Ich werde noch verrückt. Das halte ich einfach nicht aus. Jedes brüllt das andere an. Warum bin ich denn auf der Welt? Ich kann doch nichts dafür, dass es so ist!! Ich sehne mich nach Liebe. Wenn mir doch niemand ein liebes Wort gönnt, so ist es einfach das einzige, an Heinz zu denken. Warum verstehen sie mich zu Hause nicht? Andere Leute haben mich gern, warum daheim niemand? Oh, wenn ich nur jemanden hätte, der lieb ist mit mir. Gusti geht ja heute auch wieder nach Dübendorf. Der hat es gut, er hat ein Mädel. Aber ich? Wohl habe ich Heinz, aber an ihn darf ich ja nur im Stillen denken. Ich möchte ihm sagen, wie gern ich ihn habe. - Auch dieser Sonntag wird vorübergehen. Zum Glück!!
*
Dienstag, 4. April 1939
Das war wieder ein schöner Tag. Am morgen früh bekam ich schon 2 Briefe. Einen von Margrit Kägi aus Zürich und einen von Walter Steffen. Walter dankt mir für die Gratulation zu seiner Konfirmation. Am Schluss schreibt er. Auf Wiedersehen und freundliche Grüße von Deinem Walter Steffen.“ Hat wohl das „Dein“ etwas zu bedeuten? Manchmal habe ich plötzlich Angst, Heinz könnte mich vergessen. Er kennt doch sicher auch andere Mädels als mich. Greti Tribolet zum Beispiel? Ach Quatsch, ich mache mir ganz dumme Sorgen. Heinz muss mich gern haben. Es ist vielleicht dumm, aber ich bete auch für ihn. Der liebe Gott wird es schon richtig machen!!
*
Karfreitag, 7. April 1939
Krieg -! Dieses drohende Gespenst geht umher. Was will Italien? Albanien wird einfach überrumpelt. Das ist ja zum Verrücktwerden. Kann denn nicht jedes Land in Frieden leben? Warum muss immer Krieg sein? Was plant Hitler? Pfui Teufel, solche „Staatsmänner“ sollte man vergiften!
Soeben habe ich bemerkt, dasss ich mein rotes Herz (das Portemonnaie) nicht mehr finde. Wenn Mueti das gefunden hat und seinen Inhalt geprüft hat, dann findet es drei Dinge: Einen Kartonstreifen, darauf steht H. Schenk 3D. Ein kleines silbernes Kreuz (natürlich nicht echt), darauf eingekritzt ein H. u. 5 Rp.. Mit dem Karton ist das so: In der Handfertigkeit haben wir im Papierkorb viereckige Kartons gefunden mit Namen drauf. Da hab ich mir alle drei, die ich fand, angeeignet. Von einem habe ich mir den Namen herausgeschnitten und davon einen Anhänger angefertigt. Diesen habe ich seit gestern um den Hals getragen. Heute morgen habe ich ihn ins Portemonnaie gesteckt.
Gestern war ich bei Martina. Yvonne kam auch. Walter hat mit uns Z‘Vieri gegessen. Er war sehr nett zu mir. Manchmal hat er mich so komisch angeschaut. Ich war ziemlich verlegen. Ich war sehr froh, dass Yvonne mit ihren Spässen dafür sorgte, das Drückende der Stimmung abzulenken. Hoffentlich denkt Walter nicht, ich sei verschossen in ihn. Wenn das so wäre, dann würde ich lieber nicht mehr so viel zu Steffens gehen. Er würde mich dauern. Ich weiss, dass ich ihm gefalle, aber er darf mir nicht mehr sein, als eben der Bruder meiner Freundin. Vielleicht ist es nicht gescheit von mir gewesen, dass ich ihm zur Konfirmation geschrieben habe. Aber ich hab mir doch wirklich nichts dabei gedacht. Meine jetzige Sorge ist: Das Portemonnaie.
*
Ostern, 9. April 1989
Es ist schon 10 Uhr. Ich bin noch auf und warte auf Gusti. Er hat keinen Hausschlüssel. Gusti ist gestern heimgekommen. Heute war es ein ganz gerissener Sonntag. Am morgen ging ich mit Gusti in die Stadt. Am Nachmittag sind wir auf dem Flugplatz gewesen. Ich habe mir einmal meinen Bruder von der Nähe angesehen. Zum Nachtessen sind wir in die Schmiedstube gegangen. Bäumig. Der „Osterhase“ ist auch bei mir eingekehrt. Ich bin ja zwar schon reichlich gross, aber Freude hatte ich gleichwohl an meinem Osternest. Zwar habe ich den Tusch nicht erhalten, den ich mir gewünscht habe. Macht auch nichts. Hoffentlich kommt Gusti bald. Ich bin nämlich sehr müde. Vati ist auch noch fort. Er singt mit im „Parsifal“.
*
Montag, 10. April 1939
Auch heute war es sehr schön. Alfa ist mit uns spazieren gekommen. Gusti weiss also, dass ich in Heinz verkracht bin. Auch den Brief, den ich von Walter bekommen habe, hat er gelesen. Er hat mich wirklich in Verlegenheit gebracht, als er sagte: „Also grad mit zweien fängst Du an? Weisst Du, den möchte ich einmal schon sehen, mit dem Du‘s treibst. Hat er wenigstens auch Kasse?“ …. Gusti hat natürlich auch gemeint, es sei Hansruedi Schenk, und er war sehr erstaunt, zu vernehmen, dass es Heinz ist. Er hielt mir vor, dass Heinz ja ein Jahr jünger sei als ich. - Aber was tut das? Er ist hübsch und lieb. Was brauch ich mehr? Allerdings haben sie bei mir zu Hause Hansruedi lieber, aber ich halt nicht. Sie sollen mich nur nicht mehr lange mit Walter ärgern, sonst werde ich ernstlich bös. Ich will nicht Walter, ich will Heinz!
*
Dienstag, 11. April 1939
Frau Arnholz hat uns ins Dälhölzli eingeladen. Sie hat Raimond mitgebracht. Den habe ich mir zwar ganz anders vorgestellt. Ich war angenehm überrascht. Zwar bin ich mir sehr komisch vorgekommen, als ich allein mit ihm durch den Tierpark spazierte. Plötzlich stehen vor mir: Sylvia und Yvonne. Yvonne hat wirklich schon erstaunt dreingeschaut, als sie mich sah. Ich werde wohl morgen noch entliches zu hören bekommen. Raimond ist 14 ½ Jahre alt, sehr reich und scheint meiner Mama zu gefallen. Ja, er ist ja ganz anständig, aber nichts für mich. Ich bin wirklich sehr froh, dass bald die Schule wieder beginnt, dann sehe ich Heinz doch wieder.
(Schwärmereien)
*
Donnerstag, 13. April 1939
Greti Tribolet und Camilla Brenni sind heute mit uns gekommen. Martina hat zu viele Eier gegessen und ist jetzt krank. Wird nicht so schlimm sein. Nun weiss Greti, dass ich in Heinz Schenk verschossen bin. Ich habe so das Gefühl, dass Greti für Walter Bigler schwärmt. Henu, den kenne ich ja auch. Heute bin ich mir wie ein Affe vorgekommen, denn ich bin fast auf jeden Baum geklettert, aber mein armer Rock war zwar nicht einverstanden damit, denn er weist zwei grosse Risse auf. Wer ist wohl Schuld, der Baum oder ich? - Auf dem Heimweg sind uns zwei Knaben begegnet und die luden uns ein, mit ihnen zu spielen. Wir haben natürlich abgelehnt. - Auch Herrn Moesch mit seiner Frau haben wir getroffen. Er war überaus nett. Wirklich, einen flotten Lehrer hatten wir schon im dritten Proger. Aber es wird auch mit den neuen wieder gehen.
*
Samstag, 15. April 1939
Ich komme soeben aus dem Theater. Ich war mit Daysi und Raimond in „Rosen aus Florida“. Raimond ist nur ein halbes Jahr älter als ich? Das ist kaum möglich. Er wollte mit Daysi und mir jetzt ins Kasino. Ja, aber so was geht doch nicht!! Ich müsste mich ja schämen. Es ist gut, dass er morgen wegfährt. Der macht mich noch ganz sturm. Wenn ich dagegen Heinz anschaue. Das ist was anderes. Ich bin ganz aufgeregt. Warum? Raimond schenkt mir sein Racket. Das wird er mir schicken, aber dann ist Schluss. Raimond Richli!!!
*
Sonntag, 16. April 1939
Es war wieder einmal ein Sonntag, wo jedes das andere anbrüllt. Also, dass es so etwas gibt, das ist unerhört. Vater zankt mit Mutter. Aus lauter Wut klemmt er mir die Finger in eine Schublade. Kurz und gut, alles ging wieder einmal schief. Am Nachmittag sind wir bei Amholzens gewesen. - Am Dienstag geht es wieder in die Schule. Ich bin schwer gespannt, wie die neuen Lehrer sind. - Gusti hat gar nichts nach Hause geschrieben.
*
Montag, 17. April 1939
Martina hat mich heute zu sich eingeladen. Walter war natürlich auch da. Er kam mir so komisch vor, gar nie sieht der einem offen ins Gesicht, immer so von unten herauf. Er wird halt scheu sein. Ja, zum Glück bin ich das nicht. - Am Morgen ging ich den Stundenplan abschreiben. Ordentlich strenger als der jetzige ist er schon. Macht nichts. - Das tut gut, wieder arbeiten. Beim Faulenzen kommen einem doch nur dumme Gedanken.
*
Dienstag, 18. April 1939
Nun wäre ich also im II. Proger. Ich sitze glücklich neben Martina. Im Rechnen geht es schon ganz anders zu als bei Stigi. Da muss ich mir Mühe geben, dass ich nachkomme. In der Naturkunde haben wir Herrn Dr. Staub. Also ein Namensvetter von mir. Auf die Natere freue ich mich ganz besonders. Ich hoffe, da Aufschluss zu finden über manche Frage, die mich bedrückte. Eine dieser ist die Fortpflanzung. Da möchte ich Klarheit haben. Ich mache mir natürlich meine eigenen Gedanken, aber ob das richtig ist? Auf alle Fälle will ich !!arbeiten!!
*
Donnerstag, 20. April 1939
Heute hatte ich richtig Freude, Aufgaben zu machen. Ja, arbeiten ist schön und dabei immer an einen lieben Menschen denken, das ist herrlich. Ich bin ja jetzt jeden Tag einmal in der 3D. Ich muss doch nach Sylvia sehen. Heinz scheint schon gemerkt zu haben, dass ich nicht nur wegen Sylvia jede Pause dort stehe. Jedenfalls hat er mir heute zugenickt. Jeder neue Tag ist für mich eine Freude, und ich glaube nicht, dass es schlecht ist, jemanden gern zu haben, jedenfalls mir schadet das nicht. Ich tue ja meine Pflicht nun mit mehr Freude im Herzen, als wenn ich Heinz nicht kennen würde.
*
Sonntag, 23. April 1939
Ich bin wieder einmal allein zu Hause. Gusti ist heim gekommen und er hat 8 Tage Ferien. Ich aber muss tüchtig schaffen in der Schule. Morgen gibts einen Aufsatz: - Ich stelle mich vor - kaum glatt.
Auch die nächste Woche wird vorübergehen. Ich bin müde. Wir sind heute mit Fam. Arnholz im Wald spazieren gegangen.
Beziehung zur jüd. Fam. Arnholz
*
Dienstag, 25. April 1939
Im Deutsch habe ich schon zwei 6-er bekommen. Bei Witscheli habe ich schon jetzt Punkte. Hingegen im Franz sieht es anders aus. Ich war heute an der Tafel und habe so ziemlich nichts gekonnt und morgen gibt es eine Probe.
Auf Doris habe ich eine Sauwut. Die blöde Kuh ärgert mich immer mit einem Knaben, den ich ja gar nicht kenne. Auch Esther hält mir wieder Guggisberg vor. Alle sind verliebt in mich, nur von Heinz merke ich wieder einmal nichts. Ich begreife ihn zwar ganz gut, er kann es doch sicher gar nicht mehr glauben, dass ich ihn noch gern habe, aber wie soll ich es ihm den zu merken geben, dass er mir der Liebste ist? Brieflein schreiben, das mag ich nicht. Vielleicht habe ich Heinz gerade darum so gern, weil er so still ist und niemandem von mir erzählt. Ich möchte nur wieder einmal mit ihm reden.
Übrigens heute habe ich mit Gustis Pistole geschossen. Gar nicht schlecht. Ich finde, dass ein richtiges Mädel auch schiessen können muss. Also auch ich.
*
Donnerstag, 27. April 1939
Stress mit Mueti immer wieder.
Ich bin wieder einmal sehr in einer schlechten Stimmung. Aber nein, weinen will ich nicht. Das würde sie ja nur freuen (die Mutter). Die muss nicht manchmal sagen, nur ihr Gusti habe sie noch lieb. Sie sollte besser einmal nachdenken, wie sie etwa vor einem Monat geredet hat. Wenn sie dann wieder krank ist, dann bin ich wieder gut genug zum Helfen, aber sonst ist es ja Wurst, was in meinem Innern vorgeht. Mit Gusti kann sie glänzen. Am Sonntag geht sie mit ihm nach Menziken, und ich muss zu Hause bleiben. Sie weiss wohl nicht, dass auch ich ein Herz habe und auch gern mal ein anderes Wort hören möchte als: „Ich bin so müde. Immer arbeiten usw.“ Andere Mütter sind ganz anders. Ich komme mir wieder einmal vor wie ein überflüssiges Ding. Ich bin wieder allein. Wer versteht mich? Wem kann ich es sagen? Verbissen allem zusehen und hinunterwürgen. Nichts von dem Schmerz, der in mir tobt, merken lassen. Das ist alles, was ich kann. Nun weine ich halt doch. Ob ich will oder nicht. Soeben ist mir eine Träne auf die Hand gefallen.
Weltschmerz, Verlassenheitsgefühl.
*
Montag, 1. Mai 1939
Gestern sind also Vati und ich allein gewesen. Familie Arnholz hat uns zum Mittagessen eingeladen. Am Nachmittag haben wir das Velorennen angeschaut und am Abend gingen wir ins „Du Theatre“. Bäumig! Und nun hat die neue Woche angefangen. Die wird vorübergehn wie alle andern.
*
Donnerstag, 4. Mai 1939
Romantische Gefühle!
Wie ruhig ich nun mit Mueti über Heinz sprechen kann! Ich bin selber erstaunt über mich. Mueti erzählte mir, dass es Heinz angetroffen habe. Wir sprechen von ihm, wie wenn das überhaupt ganz selbstverständlich wäre. In der Schule fängt unser Tun allmählich auffällig zu werden. Bis jetzt wusste es ja noch niemand ausser mir und meinen Mädchen. Sprechen können wir ja nicht miteinander, aber unsere Augen verstehen sich schon. Heinz verschlingt mich förmlich mit den Augen in den Pausen. Sylvia hat mir heute erzählt, dass er unter der Tür nachgeschaut hätte, bis ich verschwunden sei. Nur nicht zu auffällig, sonst merkens die andern und dann wärs nicht mehr so schön.
*
Freitag, 5. Mai 1939
Schüchterne Annäherung!
Nun habe ich mich verraten. Es ist nämlich so: Ich sollte Eintrittskarten für den Patriaabend besorgen. Da habe ich mich entschlossen, Heinz darum zu fragen. Ich habe es Sylvia gesagt, dass ich das im Sinn habe. Heute in der 3 Uhr Pause, als ich ihn anreden sollte, da getraute ich mich plötzlich nicht mehr. Ich kam mir so dumm vor. Da konnte mich Sylvia lange schupsen und sprechen. - So, jetzt geh dann etwa! Ich kenne Dich gar nicht als solchen Feigling!“ Ich kannte mich ja selber nicht mehr. Endlich nach der Pause fasste ich mir ein Herz und ging geradewegs auf ihn zu. Er wurde verlegen und rot, und ich spürte, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich. Heinz war natürlich sehr verdutzt und wusste gar nicht, was sagen. - Die andern Knaben aus der 1D werden nun Heinz gehörig fuchsen wegen mir. Nun zeigt es sich, ob Heinz stark genug ist u. sich alles geschehen lässt, dann gut, dann werde auch ich alles ertragen, wenn ich weiss, dass er zu mir steht. Es wird ja nun auch bald in unserer Klasse bekannt werden, und das ist nicht sehr angenehm für mich. Aber ich hoffe, dass Heinz und ich so zusammenhalten werden, dass uns das dumme Geschwätz nicht auseinander bringt!!!
Billete bestellen bei Heinz für UA
*
Montag, 8. Mai 1939
Ja, mein lieber Heinz hat mir viel Sorgen gemacht. Alles liess er mir durch Sylvia sagen, als ob er plötzlich Angst hätte vor mir. Ganz ehrlich bin ich enttäuscht. Ich hätte es mir halt ganz anders vorgestellt. Mich dünkt einfach, dass es schöner war, als wir uns noch nicht so gut kannten. Da sprach man verlegen ein erstes Wort. Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr so viel an ihn zu denken. Es geht auch ohne diese Gedanken. Seit heute ist es mir, als wäre eine Spalte vor uns entstanden, die keines von beiden zu überschreiten wagt. Ich habe nur Angst, dass ich Heinz nicht mehr so gern haben kann. Das würde mich allerdings dauern. Es war doch eine schöne Zeit, als ich das erste Mal merkte, dass Heinz mich gern hatte. Ein wenig wehmütig werde ich schon, wenn ich denke, dass alles mit Heinz ein Ende nehmen könnte.
*
Donnerstag, 11. Mai 1939
Mit Heinz ist wieder alles im Alten. Ja sogar noch besser. Heute hat er mich auf der Strasse gegrüsst. Vorgestern beim Losverkaufen ist er mit dem Velo zu mir gefahren, und wir haben lange miteinander gesprochen. Er war nur scheu in der Schule wegen den andern. Und wenn sie es auch wissen, mir ist es egal. Heinz ist doch ein netter Kerl. Sein Bruder Hansruedi schaut mich allerdings in letzter Zeit etwas scheel an; er ist wohl eifersüchtig auf Heinz.
*
Sonntag, 14. Mai 1939
Ich bin also am Patria Abend gewesen. Der kleine Schenk (Hansruedi) hatte natürlich wieder eine Rolle, Heinz nicht. Überhaupt, alle haben nur Hansruedi gern und Heinz nicht. Ich habe mir fast die Augen ausgeschaut, aber ich habe ihn den ganzen Abend nicht gesehen. Am Anfang konnte ich gar nicht tanzen. Da musste ich mich wirklich fragen: bin ich denn so hässlich, dass mich keiner holt? Herr Berger hat sich dann geopfert und hat mich engagiert. Doch langsam wurde es besser. Unser lieber Stellvertreter, den wir für Herrn Steiger hatten (Herr Bieri) war reizend. Man könnte sich beinahe verlieben. Zwei Rover haben mich dann ebenfalls geholt und so wurde es gegen den Schluss noch gerissen.
Heute Nachmittag bin ich im Theater (Kleines Hofkonzert) gewesen. Als Mueti und ich in der Pause spaziert sind, wen sehe ich? Heinz, Hansruedi und Huebacher. Heinz hat mir freundlich zugenickt, die andern habe ich gar nicht angeschaut. Nun bin ich glücklich. Ich habe Heinz doch noch gesehen.
*
Mittwoch, 17. Mai 1939
Ich fürchte, dass meine Mutter und ich uns nie ganz verstehen werden. Ach, wenn doch nur Gusti zu Hause wäre. Er ist noch der einzige, der hie und da nett zu mir ist. Ich muss einfach still werden und mich damit abfinden, dass ich in unserer Familie überflüssig bin!! Aber das tut weh, sehr weh. –
*
Samstag, 20. Mai 1939
Ja, 8 Tage haben wir es ausgehalten, ohne ein Wort zu sprechen. Heute haben sie mir dann gemeinsam eine Strafpredigt gehalten. So leid es mir tut, aber sehr zu Herzen genommen habe ich mir das nicht. - Im Garten habe ich beide herrlich versohlt. Ganz leise bin ich auf den Ahornbaum gestiegen und blieb oben ganz still. Da habe ich dann erst eine Zeit tüchtig gelacht, als sie mich unten suchten. So boshaft bin ich geworden. Sprechen tu ich nur gerade das Nötigste. -
*
Mittwoch, 24. Mai 1939
Wechsel der Gefühle.
Na, zu Hause wäre die Sache wieder eingerenkt. Ich habe einen bäumigen neuen Regenmantel bekommen. In der Schule geht‘s ja ganz gut, aber im Lat. habe ich nur einen 5-6-er bekommen. Macht auch nichts.
Himmelhochjauchzend
zu Tode betrübt…..
*
Donnerstag, 25. Mai 1939
Ich habe von Gusti einen Brief bekommen. Es ist rührend, wie er mich mahnt, zu Hause lieb zu sein. Ja, ihm zuliebe will ich‘s tun! Wenn es mir auch schwer fäll; ich will's versuchen. Wenn ich meinen Bruder nicht hätte, wüsste ich manchmal nicht mehr, was anfangen. Mit allem was mich bedrückt, gehe ich zu ihm, und er tröstet und hilft, wo er kann. Warum gehe ich nicht mit meinen Freuden zu ihm? Er würde es verdienen. Ich könnte doch auch einmal mit ihm über Heinz sprechen. Würde er mich wohl auch verstehn? Ich glaube ja!! Er war ja schliesslich auch einmal das erste Mal verliebt. Und dann, was ist das mit Heinz. Man spricht ja wieder kein Wort miteinander. Aber gern habe ich ihn doch!! Ich bin ja nun so glücklich, sooo glücklich!
*
Mittwoch, 31. Mai 1939
Was habe ich alles erlebt, seit ich das letzte Mal einschrieb. Ich war in Zürich an der Landesausstellung. Das war ganz gross. Mit Gusti bin ich mit der Schwebebahn über den See gefahren und auf dem Schiff war ich auch. Allerdings haben wir noch vieles nicht gesehen. Und nun ist Vati fort. Ich bin mit Mueti allein zu Hause. 6 Wochen werden vergehn, bis ich ihn wieder sehe. In Höngg hat mir meine arme verrückte Cousine einen sehr tiefen Eindruck gemacht. Jetzt ist sie 26 jährig und hat zwei Kinder. Wie soll das werden. Ich bin gern wieder heimgekehrt, denn wenn auch hier nicht immer alles klappt, so ist es doch viel schöner als in Höngg.
*
Freitag, 2. Juni 1937
Gestern bin ich mit Mueti spazieren gegangen. Da sind wir beim Haus von Herrn Steiger vorbei gekommen. Er hat uns eingeladen zu einem Zvieri. Der gute alte „Stigi“! Ja, der muss mich wirklich sehr gern gehabt haben. Den ganzen Abend hat er immer gesagt: „Eh, das Lilly, wie han‘ig das gern g‘ha.“ Ich konnte kaum begreifen, dass er mich wirklich so lieb hat. Das tut gut, einen Menschen zu wissen, der einem liebt; wenn es auch nur ein alter Lehrer ist. Ja – und mit Heinz?! Manchmal bin ich wieder ganz verrückt, wenn ich ihn sehe, aber immer öfter verleidet mir der ganze Zauber. Ausserdem – ich kann es fast nicht sagen – fängt mir mein ärgster „Feind“ Leuenberger an zu gefallen. Aber ich schäme mich geradezu, das zu schreiben.
*
Mittwoch, 8. Juni 1939
Ja, wirklich ist das ein Blödsinn, was ich das letzte Mal einschrieb. Heute bin ich auf der Ka-We-De gewesen und zu meiner Freude waren Heinz und sein Bruder auch da. Heinz hat mich geradezu hypnotisiert und ich ihn natürlich auch. - Morgen wird es etwas absetzen in der Lateinstunde. Wir sind nämlich die ganze Klasse nicht ins Latein gegangen. Mehr als Arrest wird es wohl nicht geben. He nu, wir werden ja sehen.
*
Samstag, 10. Juni 1939
Mir ist heute Abend so eigentümlich zu Mute. Fröhlich bin ich, wenn ich an Heinz denke. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen. Im Rechnen hatte ich schon vor einer Woche einen 2-er. Den habe ich zu Hause noch nicht gesagt. Jetzt muss ich immer Angst haben, es komme aus. Das ist ein sooo drückendes Gefühl. Zum Heulen. – Heinz – Ich habe so Angst und bin doch glücklich.
*
Sonntag, 29. Juni 1939
Die Zeit geht dahin. Viel Abwechslung gibt's nicht. In der Schule bin ich ziemlich schlecht geworden. Nächstes Quartal wird's schon besser werden. - Nun bin ich ganz sicher wegen Heinz. In seinem Rechnungsbuch hat Sylvia folgendes gefunden: 3 L übereinander gemalt. Das soll Lilly bedeuten. Ich bin so froh.
*
Mittwoch, 5. Juli 1939
Ärger über Maus.
Heute habe ich mich wieder einmal tüchtig geärgert, dass ich ein Mädchen bin. Ausgerechnet heute musste ich auf das Baden verzichten. Warum? Ja, weil ich sog. „unwohl“ bin. - Blödsinn, mir ist ja so wohl als etwas. Heinz hat nämlich gefragt, ob ich heute in die Ka-We-De komme. Ich musste natürlich nein sagen. Den rechten Grund konnte ich doch unmöglich angeben. Da habe ich halt gesagt, ich müsse Tennis spielen gehen. Als ich heim ging hat er gewartet und noch einmal gefragt, ob ich nicht komme. Ich weiss, jetzt habe ich ihn schwer enttäuscht. Aber ich kann doch nichts dafür! -
Jetzt sollte ich noch Latein schuften. Fällt mir gar nicht ein. Jetzt sind ja dann bald Ferien. Mir ist die Schule zum Kotzen verleidet. Mein Zeugnis wird diesmal nicht gut ausfallen. Nicht zuletzt ist Heinz daran schuld. Das nächste „Quartal sollte ich mich schon ein wenig zusammen nehmen.
-Mit Martin habe ich heute zum 1. Mal einen kleinen Streit gehabt. Er wollte unbedingt wissen, warum ich nicht auf die Ka-We-De komme. Aber auch ihm konnte ich es nicht sagen, denn er weiss doch von allem noch nichts. Sein Bruder wollte mich übrigens an einen Tennis-Ball einladen, aber ich war noch zu jung.
*
Samstag, 8. Juli 1939;
Problem Mutter!
Oh, es ist kaum zum Aushalten. Es kann einfach nicht so weiter gehen. Meine Mutter und ich können uns einfach nicht vertragen. Gestern haben wir die Zeugnisse bekommen. Zugegeben, meines könnte besser sein, aber es ist immerhin noch eines von den Besten. Ja, da hätte jemand meine sanftmütige Mutter hören sollen. Ein Totsch, ein Haagen, eine Hochstaplerin, Aufschneider, eingebildeter Tropf und was weiss ich noch..! Das alles sagt eine Mutter ihrem Kind. Nein, das geht nicht mehr. Ich halte es nicht aus!!! Wer kann mir helfen? Morgen gehen wir zu Vati. Wie wird sie mich hier wieder ankreiden. Gewiss, ich weiss, ich bin plötzlich das schwarze Schaf der Familie. Ist es denn einem Mädchen in meinem Alter nicht zu verzeihen, wenn ich manchmal einfach nicht mehr weiter mag? Verprügeln könnte ich diese verd…. Aber nein, ich darf mich nicht so gehen lassen. - Nun ist sie zum Glück zur Tür hinaus. Nicht mehr ansehen mag ich sie, diese …. Gusti!! Gusti!! Du kommst heute heim und sie wird mich auch bei Dir verklagen. Glaub ihr nicht!!!! Noch soll ich den ganzen Sommer mit ihr leben. Das geht nicht. In solchen Verhältnissen soll mir jemand vormachen, wie man ein rechter Mensch wird. Ich kann nicht!
*
Sonntagmorgen, Juli 1939
Sommerferien in Klosters
Unterdessen ist Gras darüber gewachsen. Ich bin in Klosters und hier oben ist es sauglatt. Gestern