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Von Lilly Zimmerli Das (schwierige und schöne) Leben eines Arztehepaares in Tagebüchern und Briefen 1924 -
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Lilly Zimmerli
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1.2.
Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) / 01.11.2020 um 20.11 Uhr
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Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) / 02.11.2020 um 14.15 Uhr
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Vorwort
1.
Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935)
1.1.
Himmelreich - Name des Hauses in Luzern
1.2.
Aegertenstrasse 3 (1926 - 1927)
1.3.
Trechselstrasse 4 (1928 - 1930)
1.4.
Karl Staufferstrasse 14 (1930 - 1931)
1.5.
Schillingstrasse 15 (1932 - 1936)
1.6.
Sandrainstrasse 102 (1936 - 1938)
1.7.
Tillierstrasse 3 (1938 - 1953)
2.
Gustis Briefe (1937 - 1941)
3.
Tagebücher (1938 - 1944)
3.1.
Gedanken über Tagebuchschreiben (1944 - 1946)
3.2.
Tagebuch (1946 - 1949)
3.3.
Tagebuch (1950 - 1959)
4.
Briefe 1967 - 1979
5.
Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig
5.1.
Wieso sind wir überhaupt nach Zweisimmen gekommen?
5.2.
Mein Vorgänger Fritz Thönen und die Anfänge in der Praxis und im Spital
5.3.
Die Arbeit und meine Frau
5.4.
Die Geografie, Besuche und Unfälle
5.5.
Waffen, Selbstmorde und andere tragische Erreignisse
5.6.
Arztgehilfinnen und besondere Patienten
5.7.
Geburte
5.8.
Die Treue zu Zweisimmen und der Lohn dafür
5.9.
Was mein Glück vorübergehend trübte
5.10.
Besondere Erlebnisse und Ereignisse
5.11.
Abschied vom Spital und der Praxis
5.12.
Mission in Osteuropa 1945
5.13.
Eigener Lebenslauf
5.14.
Grabrede (Nekrolog) von Thomas
Vorwort
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  Vorwort

Nach dem wir unsere Autobiografien beendet hatten, vernahmen wir (wieder) von unseren Freunden Lilly und Kai Zimmerli, dass Lilly umfangreiche Tagebücher seit ihrem 13. Lebensjahr führte. Wir baten Lilly,sie uns zum Lesen zu geben. Nach dem Tod von Kai erfüllte Lilly unseren Wunsch und schickte sie sie uns zusammen mit den Briefen von ihrem Bruder Gusti und den Aufzeichnungen von Kai. Silvia schrieb sie in Word um. Ich besorgte die Edition und stattete sie mit Fotos aus mithilfe der Internet-Plattform «meet-my-life», auf Wunsch von Lillly in der der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raum.

Die aussergewöhnlich ehrlichen Tagebücher, die auch den seelischen Zustand genau und feinfühlig beschreiben, die Briefe und Aufzeichnungen werden den Nachkommen helfen, nicht nur ihre Ahnen, aber auch sich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen. Sie haben auch eine enorme historische Bedeutung, besonders für die Geschichte der Medizin, da sie zeigen, wie sie am Anfang des schwierigen Umbruchs war von einer autoritativen «der Götter im Weiss» in eine paritative der gleichwertigen Partner, die immer noch nicht abgeschlossen ist.

Diese ausgezeichneten, literarisch wertvollen Aufzeichnungen sind sehr interessant. Es freut uns, dass wir beim Erhalten dieses Schatzes helfen konnten.

Silvia und Peter Marko

Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935)
Seite 1
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1.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935)

 
(1)

 


Es gibt schon Momente, in denen man sich sehnt, zu jemandem sagen zu können: „Weisst du noch, damals, als wir Kinder waren“? Das aber werde ich niemals mehr sagen können: Mein einziger Bruder, meine Eltern, die einzige Tante – alle sind sie tot.

Da begannen die Häuser, in denen ich gelebt habe, plötzlich zu mir zu sprechen. Ich kehrte in Gedanken zu ihnen zurück, Erinnerungen lebten auf, farbig und deutlich, besonders, als mein Traum, meine Hoffnung, im „letzten“ Haus mein Alter verbringen zu können, auch ausgeträumt war – das Haus wurde an fremde Menschen verkauft.  

Ich bin jedoch kein einsamer Mensch – sehr geborgen bei einem mich liebenden Mann, Mutter von vier erwachsenen Kindern, mehrfache Grossmutter, einmal Aerztin gewesen, dann nur noch ganz im Hintergrund der Praxis meines Mannes eine bessere Sekretärin, Haushälterin, Betreuerin der Schwiegermutter …. Und doch lebe ich oft in der Vergangenheit, kehre zurück in die Häuser, in die Zeit, die mich geprägt hat, so wie ich heute bin.

Himmelreich - Name des Hauses in Luzern
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1.1.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Himmelreich - Name des Hauses in Luzern.

Man hat mir oft erzählt, dass ich an einem Sonntagmorgen, einem kalten Wintertag, am 8.2.1925 mich gemeldet habe. Mein Vater war noch im Frack, eben von einem Fest des Gesangvereins nach Hause gekommen, als er von meiner Mutter gleich wieder weggeschickt wurde, um die Hebamme zu holen. Dick und dunkelhäutig habe ich das Licht der Welt erblickt. 

Man hat mir auch erzählt, dass meine Grossmutter, die in der Familie lebte, über die Neuigkeit, dass noch ein Kind erwartet wurde, nicht erfreut gewesen sei. Den Stubenwagen, für das zu kommende Kind hübsch hergerichtet, soll sie mit einem Fusstritt die Treppe hinunter gestossen haben.

Für sie mochte die Familie eben vollständig gewesen sein, so wie sie war: Sie, meine Mutter, mein Vater und der heiß geliebte siebenjährige Enkel Gusti, mein Bruder. In Winterthur war diese Gemeinschaft gegründet worden, eine kleine Familie, in der sie sehr viel zu sagen hatte. Meine Mutter wurde mit vier Jahren Halbwaise, ihre Mutter führte ein Handarbeitsgeschäft allein, und umsorgte ihr einziges Kind, wie mir scheint, mit ebensolcher Strenge, wie mit besitzergreifender Liebe. Es scheint selbstverständlich, dass sie im jungen Haushalt aufgenommen wurde.

Mein Vater, Geometer, war oft beruflich abwesend – und die beiden Frauen, beide mit Eifer handarbeitend und den Knaben hütend, kaum je getrennt, mochten die Abwesenheit des Mannes gar nicht so sehr bedauert haben.

Mein Bruder soll enttäuscht gewesen sein, weil er nach meiner Geburt ein Keckern hörte und glaubte, es sei ein kleines Schaf geboren worden, anstatt das versprochene kleine Geschwister.Seinen ersten Schreibkünsten zufolge, den Buchstaben L I L I, sei ich dann getauft worden. Er verlangte auch von seiner Lehrerin, dass die ganze Klasse frei bekomme, um seine kleine Schwester zu feiern.
Dass mein Geburtsort „Himmelreich“ hiess, die Erwähnung der Sonntagsglocken, beides hatte in mir früh den Gedanken geweckt, ich sei wohl ein besonders glücklicher Mensch.

Mein Vater bekam die Stelle als Geometer der Eidgenössischen Landestopographie in Bern und die ganze Familie zog 1926 in das Haus Aegertenstrasse.

Aegertenstrasse 3 (1926 - 1927)
Seite 3
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1.2.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Aegertenstrasse 3 (1926 - 1927).

Kirchenfeld, ein Name, der für mich Heimat bedeutet. Die erste bewusste Erinnerung an ein Riegelhaus in einem grossen Garten.


(1) Haus Aegertenstrasse.

Haus Aegertenstrasse.

Ein Zimmer mit einem Zeichentisch und zwischen Schrank und Tisch eine Nische für den Puppenwagen – der jetzt in unserem grossen Estrich steht – ein Museumsstück, mit auf- und abklappbarem Verdeck, schwarz, und in vier Federn aufgehängt, ein hölzerner Kasten im Blechgestell auf Gummirädern. Am Verdeck klemmen sich heute die Grosskinder die Finger ein, so wie ich es damals tat.

Ein Gefühl von Düsterheit, Trauer und dennoch Geborgenheit, eine alte Frau geistert durch diese Erinnerungen, meine Grossmutter. Sie war depressiv, sprach tagelang kein Wort, zu den Mahlzeiten nur aus ihrem Zimmer kommend und ein Geldstück neben ihren Teller legend – das hat man mir erzählt.

Ich sehe mich aber deutlich mit Finken in den Händen vor einer geschlossenen Tür stehend, ich wollte der Grossmutter wie jeden Morgen die Hausschuhe bringen, sie war aber in der Nacht gestorben.

Eine weitere Erinnerung:

Mein Bruder sollte mich mitnehmen zum Schlitteln, und ich fror.
Neben dem Turnplatz unter der Kirchfeldbrücke, auf dem steilen Hang, musste ich immer wieder hinauf stolpern, mich dann festhalten und hinunter sausen- ob ich fror oder nicht.
Der Graus, wenn zu Hause die erstarrten Finger aufzutauen begannen, und der Schmerz nicht enden wollte…
Wie ungern hat mich wohl der grosse Bruder mitgeschleppt?


(2) Mit Puppe "Mööggu".

Mit Puppe "Mööggu".

Trost brachte mir sicher meine Puppe Mööggu“, ein hässliches Ding mit einem Plastikkopf und einem Stoffkörper. Wenn man es vom Sitzen zum Liegen brachte, gab es muhende, klagende Töne von sich. Es klagte für mich aber nicht lange, denn es wurde von meinem Bruder als Zielscheibe für das neue Flobert-Gewehr benutzt. Mir blieben als Erinnerung nur seine Glasaugen, die ich lange hütete.

Damals muss noch ein junges Mädchen aus dem Welschland bei uns gelebt haben, sie hiess Violette, und ich lernte von ihr meine ersten Brocken Französisch schon früh! Es waren die Worte „attention aux automobiles“ – wie viele mag es damals gegeben haben auf der ruhigen Strasse, auf die man hätte aufpassen sollen? Brachte Violette mich zu Bett, tätschelte sie mein damals wohl molliges Hinterteil und rühmte: „Comme un petit pain au lait“ – als ich viele Jahre später erfuhr, was ein richtiges „pain au lait“ ist, war ich sehr stolz.


(3)

 

Violette verschwand plötzlich aus meinem Leben, wann und warum weiss ich nicht. – Die Zeit in jenem Haus war zu Ende.


(4)

 


(5)

 

 

 

 

Trechselstrasse 4 (1928 - 1930)
Seite 4
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1.3.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Trechselstrasse 4 (1928 - 1930).


(1) Trechselstrasse 4.

Ganz nahe stand das hübsche Eckhaus mit einer grossen Terrasse und einer bunten Sonnenstore an der Trechselstrasse. Daran erinnere ich mich nun schon ganz genau. Hier kam der Grossvater Staub aus Zürich oft zu Besuch – ein selten lächelnder Mann mit einem dunklen Mantel, mit einem Krempenhut und einem Stock mit Silbergriff – und mit einer seltsamen Sprache: „Züritüütsch“.

Mein Vater hat ja auch immer Zürichdeutsch gesprochen und sich nie an den Berner Dialekt gewöhnt, doch tönte es bei ihm viel weicher, und er verstand das Berndeutsch, während der Grossvater behauptete, nicht zu wissen, was ein „Zibelechueche sei, und das Gebäck „“Bölewähe“ nannte. Auch das „Hemmli“ verachtete er und nannte es „Hämp“.

Beim Spazieren musste man ihm immer die Hand geben, und er hielt die kleine Kinderhand mit festem Griff. Er führte uns mit Vorliebe in das nahe gelegene „Dählhölzli“, den Tierpark, wo man Tauben füttern konnte und auf einer Schaukel neben dem Bach sich auf und hinunter wiegen lassen durfte. Heute steht auf dem Platz, wo eine Vogelvoliere stand, ein Kinderspielplatz – und unsere Kinder wurden auch wieder von ihrem Grossvater oft dorthin geführt.

Zu Hause setzte sich der Grossvater oft wichtig an den Stubentisch, zog ernst eine Dose Schnupftabak aus der Tasche und breitete ein grosses, rotes, gemustertes Taschentuch auf dem Tisch aus. Gebannt sahen mein Bruder und ich, wie er etwas grausig Braunes in den Zwischenraum zwischen Daumen und Zeigefinger legte, es zur Nase führte und mit abwesendem Blick wartete, bis es wirkte. Dann brach ein Urlaut aus seiner Nase, und ein glückliches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

Ich wurde oft fotografiert von meinem Vater, so auch auf einem Schaukelpferd auf der grossen Terrasse, auch auf einem Gartentisch in einem weissen Flanellkleid mit einer runden Stickerei, und natürlich mit meiner damaligen und jahrelang gleich bleibenden Pony-Fransenfrisur, die ich sehr hasste, ohne mich dagegen wehren zu können. Angeblich stand sie mir sehr gut.

Der Bruder lud oft Schul- oder Pfadfinderkameraden zu sich nach Hause ein, die dann auf der Terrasse Würfelspiele spielten.
Oft mag ich wohl die acht Jahre älteren Knaben geärgert haben - immerhin machte ich mich wichtig, weil ich auf Befehl melden konnte, bei welcher Zahl die Zeiger der Stubenuhr standen, worauf die gescheiten Knaben dann erkannten, wie viel Uhr es war.


(2) Mit Ruthli und Trudi.

Mit Ruthli und Trudi.

Im Nachbarhaus wohnten zwei Schwestern, das Ruthli und das Trudi Züllig. Ich sehe sie in Erinnerung immer in weissen Strümpfen und sauberen Schürzen. Ich war gerne im Nachbarhaus, es gab da vier junge süsse Katzen, die man ganz vorsichtig anfassen durfte.

Vor dem Haus gab es ein Trottoir, man konnte so in Sicherheit um den ganzen Häuserblock herumfahren mit dem Kindervelo, nur verlassen durfte man es nie, weil es gefährlich war.

Auf diesem Trottoir machte ich eine wichtige Erfahrung: Im Garten hatte ich schöne Steine gesammelt, grosse Kiesel, zwei davon trug ich lange herum. Ich versuchte einmal auf dem Trottoir vor der Haustür den einen mit dem anderen zu zerschlagen. Er sprang aber weg und blieb ganz. So prägte sich mir ganz deutlich der Begriff „hart“ ein, sowie das Gefühl von Trauer und gleichzeitig Dankbarkeit….

Traurig war meine Mutter oft. Sie schien viel von einem Buch zu halten, das stets auf ihrem Nachttisch lag, in einer gestickten Hülle mit einem rosa Seidenfutter. Es war sehr angenehm in die Hand zu nehmen und schien ihr Trost zu geben. Es muss sich um ein Lehrbuch der „Christian Science“ gehandelt haben, denn Mutter war dieser Wissenschaft richtiggehend verfallen.

Wir Kinder gingen in die Sonntagsschule in jenes Gebäude am Helvetiaplatz, vor dessen Eingang immer eine rote Lampe brannte und wo das Licht im Innern immer geheimnisvoll schien.


(3) Mit Grossvater und Gusti.

Mit Grossvater und Gusti.

Die braunen Saftspritzer waren ein Ärgernis für meine Mutter. Im grossen Bart von Grossvater sah man immer Spuren – es roch eigenartig, wohl nach Tabak. Er kannte auch wunderbare Lieder, ich kenne noch das „Schön ist ein Zylinderhut, wenn man ihn besitzen tut“, oder: „Jupeidi und Jupeida, Schnaps isch guet für d‘Cholera...“. Er sang jeweils laut und dröhnend. Meine Mutter mochte ihn aber trotzdem gern. Er ging auch mit ihr auf eine Schweizerreise, auch mit dem Dampfschiff, wie sie uns erzählte.

In einem Restaurant verkündete er laut, das Menü passe ihm nicht, als es „Laitue braise“ gab, da er zu Hause auch angebrannten Lattich essen könne. –

Später erfuhr ich, dass er gerne Schreiner geworden wäre, doch habe er den Bauernhof, das Mettli, in Thalwil übernehmen müssen, weil sein einziger Bruder Walter zu schwächlich gewesen sei.

Nun, das Schreinern hat er aber nie ganz aufgegeben, so lebt noch heute ein weisses hübsches Puppenbett, das ich zu Weihnachten erhalten habe. Ja, Weihnachten, da ist mir ein Fest besonders in Erinnerung.


(4) Mit Gusti.

Mit Gusti.

Mein Bruder wartete auf ein grosses, vom Grossvater versprochenes Geschenk – er hoffte auf ein Fahrrad. Die Spannung war gross, als es läutete und an der Türe eine grosse Kiste abgegeben wurde, ungefähr mit den Massen, die einem Fahrrad hätte entsprechen können. Holzwolle füllte bald das Treppenhaus, und zum Vorschein kamen: Wunderschön verpackte Äpfel!!!!

Mit Schmunzeln nahm der Grossvater den mühsam gestotterten Dank des Enkels entgegen, wanderte dann mit demselben in den Keller, wo das Fahrrad unverhüllt und glänzend wartete.

Vater war durch seinen Beruf oft weit weg, und Mutter viel mit uns zwei Kindern allein. Gab es Schwierigkeiten, musste man Frau Käsermann, die Besitzerin eines kleinen Kolonialwarenladens an der Aegertenstrasse benachrichtigen, die konnte dann „gut denken“ für uns.

Das sind meine religiösen Eindrücke aus jener Zeit. Besonders eindrücklich, als ich rückwärts vom Fenstersims auf den Stubenboden fiel und einen heftigen Schmerz im rechten Arm verspürte. Mutter rannte zu Frau Käsermann und war überzeugt, dass es mir nun nicht mehr weh tue…

An der Ecke Aegertenstrasse – Trechselstrasse stand eine grosse, grau-braune Holzkiste mit einem schrägen Deckel, gefüllt mit Sand, um bei Frost die glatte Strasse damit zu enteisen. Man konnte darauf klettern, und ein schwerer Gusseisenhenkel liess sich auf dem Deckel hin- und herbewegen. Allzu mühelos offenbar, denn er fiel einmal mit dem ganzen Gewicht auf meinen rechten Vorderarm, genau auf die Stelle, die schon im Sommer so geschmerzt hatte. Nun aber war es Winter, und mein Vater zu Hause, und Mutter durfte nicht zu Frau Käsermann eilen, sondern man brachte mich sogleich zu Dr. v. Grenus, dem Chirurgen an der Marienstrasse, der gleich mit mir ins Salemspital fuhr und den Arm röntgen liess. – Er war gebrochen. Dem Vater wurde erklärt, dass im Röntgenbild bereits eine schlecht verheilte Bruchstelle zu erkennen sei, die Folge einer unbehandelten Fraktur vom Fenstersturz im Sommer. Die Sache wurde eingerenkt, und es blieb kein Schaden. Eine Narkose, ein zu kleines Spitalbett im Salem, eine unruhige Nacht blieben in Erinnerung – aber auch, dass Mutter die ganze Nacht bei mir blieb und mich lieb hatte.

Die Sonntagsschule im Haus mit dem Licht und die Begegnungen mit Frau Käsermann hörten aber plötzlich auf.

Mein grosses Glück war ein grosser, weisser Teddybär mit einer roten Schleife um den Hals. Er spielte aber eine traurige Rolle. Meine Mutter erzählte, dass unsere Hausmeisterin, die man nur ganz selten sah, und die oft in einer Anstalt interniert war, sich grauenhaft vor meinem Bären fürchtete. Die Stimmung in diesem Haus wurde düster, die Frau schrie oft laut auf der Terrasse, wenn ich im Garten spielte. War das der Grund, warum uns die Wohnung gekündigt wurde? Ein Verlassen dieses Hauses empfand ich schon als traurig und unverständlich.


(5) Mit Blumenstrauss.

Mit Blumenstrauss.

Das Kirchenfeld verschwand, und das Burgernziel tauchte auf.
*

(6)

 


(7)

 

 

Karl Staufferstrasse 14 (1930 - 1931)
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1.4.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Karl Staufferstrasse 14 (1930 - 1931).


(1) Karl Staufferstrasse 14.

Karl Staufferstrasse 14.

Ein Reihenhaus, eine Wohnung im ersten Stock. Die Welt wird weiter bestehen, und neue Menschen tauchen aus der Erinnerung auf.

Das gemeinsame Schlafzimmer für meinen Bruder und mich war lang und eher schmal, das Bett mit herunterklappbaren Vorderteil, an dem man sich die Finger einklemmen konnte, stand beim Fenster. Auf dem Gitterbett sitzend, sinnend in die Ferne schauend, wurde ich in einem Barchentpyjama fotografiert – ich fand mich sehr schön auf diesem Bild.


(2) Lilly mit Barchentpyjama.

Lilly mit Barchentpyjama.

 

Die Augen meines "Mööggu" hatten sogar diesen Umzug überlebt, sie waren eine Art Talisman für mich. Mein Bruder war ein ängstlicher Knabe, er verlangte immer, dass ich nachsah, ob nachts die Wohnungstür geschlossen war. Zwar liebte er Geschichten von Verbrechern, versteckte sich auch unter meinem Bett und zog mich plötzlich an meinen Beinen, wenn ich einsteigen wollte, allein im Keller Kohlen zu holen wagte er aber nachts nicht. Er erlaubte mir dann grosszügig, voraus zu gehen und unten das Licht anzuzünden, was mich mit Stolz erfüllte, da ich eben gerade bis zum Lichtschalter langen mochte.
Am Abend erfand er ein Ritual, das sich immer wiederholte. Ich sollte im Finstern starr auf das Fenster sehen, unbeweglich, ohne zu blinzeln, dann würde ich Farben sehen, und wenn ich lange genug aushalte, sogar die Augen der toten Grossmutter.

Der Tod spielte bei ihm in dieser Zeit wohl eine grosse Rolle. Mit dem Steinbaukasten, dessen schwere Teile hart in der Hand lagen und aus grauen und roten, eckigen und runden Steinen bestand, mit denen schon unser Vater als Kind gespielt hatte (und der noch heute vollständig besteht) spielten wir "Friedhof". Mein Name wurde feierlich auf ein viereckiges Stück geschrieben, und schon mit einem Kreuz versehen. Ich liebte dieses Spiel nicht sehr. Viel besser gefielen mir die bunten Lehmstangen, aus denen man Menschlein, Früchte oder Gemüse formen konnte und "Verkäuferlis" spielen. Alles zusammengeknetet wurde es aber dann zu einer unansehnlichen Masse von einem schmutzigen Grau, durch das sich noch einzelne bunte Streifen wanden. Das klebte nicht nur an den Schuhen, sondern auch auf dem Teppich und wurde von der Mutter ärgerlich weggeräumt.

Der Bruder ging in das Polygymnasium am Waisenhausplatz, und er trug die blaue Mütze mit dem roten Strich im Rand mit Stolz bei jeder Gelegenheit, auch bei den obligatorischen Sonntagsspaziergängen mit Vater und Mutter. Man wanderte in den Rosengarten, ins "Waldheim" bei Ostermundigen, die Muriallee entlang bis in den "Sternen", der Gurten war ein beliebtes Ziel, und immer gab es irgendwo dann einen Sirup zu trinken. Weder meine Kinder noch die Grosskinder konnten sich das wohl noch vorstellen. Mein Bruder hatte viele Freundinnen, die ihn jeweils abholen kamen zum Schlittschuhlaufen, und die mich dann ohne grosse Begeisterung mitnehmen mussten. Die Kufenschlittschuhe wurden mit einem Lederriemen zusammengebunden und über die Schulter getragen. Zum Anschrauben an die hohen Schuhe brauchte man einen Schlüssel, den hängte man sich mit einer Schnur um den Hals.

Das "Egelmösli", ein flacher, grosser Tümpel zwischen den Wiesen fror im Winter meistens zu. Am Rande gab es eine Holztreppe, auf die setzte man sich und das Anschrauben der nicht sehr scharf geschliffenen Schlittschuhe begann, wenn der Schlüssel passte! Mein Bruder fuhr dann elegant davon, oft mit einem Mädchen mit vorn gekreuzten Armen, und ich stolperte mehr als ich glitt auf den Innenkanten meiner Schuhe hinterher - zwar hob ich hinten ein Bein etwas hoch und glaubte fest daran, nun Eiskunst zu laufen, man nannte diese Figur, wenn sie jemand korrekt ausführte, das "Fliegerlein".

Spielen im Frühling und Sommer war schön. Vor dem Haus auf dem Trottoir durfte man mit Kreide "Himmel und Hölle" zeichnen. Ein Stein musste auf die nummerierten Felder geworfen werden, und hüpfend, bald auf einem, dann auf beiden Beinen, musste er aufhoben werden, wobei keine Linie mit dem Fuss berührt werden durfte, sonst landete man in der "Hölle", also wieder am Anfang. Die Grossen spielten ein Ballspiel auf der Strasse vor dem Haus, da durften die Kleinen nicht mitmachen. Kaum ein Auto störte, höchstens ein unwillig läutender Velofahrer fuhr dazwischen und verscheuchte die Kinderschar. Ein kleiner, älterer Bub half jeweils mit, er wohnte gleich um die Ecke an der Wernerstrasse. Er sollte später in meinem Leben eine liebe Rolle spielen, lebte auch bei unserem nächsten Wohnort wieder nur ein paar Häuser von uns entfernt - und wurde der Pate unseres jüngsten Kindes --- aber so weit bin ich noch lange nicht.

Ein Nachbarkind beeindruckte mich tief. Es trug immer ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand, war sehr scheu - und durfte um vier Uhr ein Stück Schachtelkäse essen, ohne Brot!

Eines Tages tauchte in unserer gutbürgerlichen Familie ein Polizist in Uniform auf. Hatten es wohl die Nachbarn gesehen? Auf dem Heimweg hatten mein Bruder und sein Kollege es gewagt, mit Kreide Figuren auf eine Hauswand an der Thunstrasse zu zeichen!
Also eigentliche Vorläufer heutiger "Sprayer". --- Ich zitterte um den Bruder, glaubte, der Polizist werde ihn gleich mitnehmen. So schlimm war es aber nicht. Die beiden Buben, der andere war der Sohn eines Gymerlehrers, wurden ermahnt, solches nie wieder zu tun und mussten dann mit einem Zuber Seifenwasser und einer Bürste die Hauswand putzen gehen.

Meine erste Liebe galt dem Werner, dem ein Jahr jüngeren Knaben der Hausmeisterin. Er wohnte im Parterre und war mir ein ergebener Verehrer. Wir badeten zusammen in einem Blechzuber im Garten, im Wasser schwammen leere, grüne Flaschen, um die Sonnenstrahlen besser auszunützen.


(3) Lilly badet.

Lilly badet.

Ich erfuhr die erste zärtliche Zuneigung, indem Werner fragte, ob er mir den Bauch tätscheln dürfte. - Er durfte, ich fand es sehr angenehm.  

Seine grössere Schwester hiess Lotti, sie spielte wunderschön Krankenschwester, und wir durften mithelfen, die Puppen zu pflegen. Oft setzte sie uns aber auch in den Puppenwagen und erklärte, wir seien Patienten. Sie starb grässlich, auf dem Schulweg, von einem schleudernden Lastwagen gegen die Mauer gedrückt. 

Als ich die Masern bekam, durfte mich der Werner nicht besuchen. Aber er stellte frische Himbeeren in einem kleinen Teller vor die Wohnungstüre.  

Ich hatte noch eine andere Freundin, das Hanneli Gerber, die Milchhändlerstochter von der Thunstrasse, ein sehr scheues Mädchen, das sich vor meinem Bruder sehr fürchtete. Es kam nie in unsere Wohnung, ohne vorher zu läuten und zu fragen, ob der Bub da sei. War er zu Hause, rannte es schnell weg. Bei Hanneli zu Hause roch es immer nach Käse, aber ich war gerne dort, obschon mich sein Vater sehr beleidigt hatte, weil er auf einer Zeichnung von mir nicht erkannt hatte, dass es Kühe auf der Wiese waren. Hanneli verschwand aus meinem Leben, es starb früh an Leukämie. 

Ein Mädchen, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, machte mir sehr Eindruck, weil es mir im Schlafzimmer seiner Mutter zeigte, wie man sich das Gesicht pudert, und wo man das Parfum hinstreichen musste. Wahrscheinlich taten wir zu viel des Guten, denn meine Mutter liess mich nicht mehr dorthin gehen. Wahrscheinlich hätte ich noch manch anderes lernen können. Einen Vater schien es dort nicht zu geben. 

Die Nachbarn im Haus zur Linken liebte ich. Es waren sehr ernste Leute, und im Gang stand eine seltsame Figur auf dem Schrank, ein Frauenkopf mit einem sonderbaren, nach hinten ragenden Hut und einem schönen Gesicht – mein erster Eindruck von ägyptischer Kultur, die Nofretete. 

Im Stockwerk über uns hausten Herr und Frau Oppliger. Ich glaube, Herr O. war Altstoffhändler, schien mir sehr reich, denn er besass ein Auto mit einem Verdeck, das geöffnet werden konnte. Sie hatten keine Kinder, aber einen Hund, der „Ari“ hiess, ein grosses, schwarzes Tier, das ich zwar nicht fürchtete, aber auch nicht liebte, weil es mich ekelte mit seinen ganz kurzen borstigen Haaren und einem plumpen Stummelschwanz. Frau Oppliger schenkte mir meinen ersten Schmuck – einen dicken Jadereifen, den ich bis über den Oberarm hinaufschieben konnte, und der auch dort noch viel zu weit war.
Ich hütete ihn zusammen mit den Glasaugen der Puppe. 

Rechts neben uns wohnte die Familie Maurer. Sie besassen eine Auswindmaschine, ein kupfernes, rundes Ding, einen Kessel, in den man die nasse Wäsche einfüllen konnte, und der sich dann rasend schnell zu drehen begann, so schnell, dass man die Wäsche nicht mehr sehen konnte, und wir glaubten, sie sei nun „gefressen“ worden!

Der Hansli, der Bub dieser Familie kam mit mir in den Kindergarten – und er wurde „mein erster Ehemann“, wie auf dem Bild zu sehen ist. Einträchtig wanderten wir zusammen zur „Tante“ Bion, wie die Kindergärtnerin hiess, durch Schrebergärten bis weiter als das Säuglingsheim an der Brunnadernstrasse.


(4) Mit Hansli, meinem ersten "Ehemann" .

Mit Hansli, meinem ersten "Ehemann" .

Frau Bion liess uns basteln und singen, und sie hatte vier junge, ganz kleine Hunde, die man auf den Tisch nehmen, sie streicheln und ans Gesicht drücken durfte.

Im Kindergarten wurde mir zum ersten Mal die Rolle des Schneewittchens zugeteilt, wohl meiner dunklen Haare wegen. Später „missbrauchte“ man mich noch öfters für diese Rolle, so auch getanzt bei Frau Sauerbeck, der Rhythmiklehrerin an der Viktoriastrasse.

Meine Lieblingszwerge waren: Peter Friedli und Peter Ganz – der eine wurde psychiatrisch deformierter Allgemeinpraktiker, der andere Gynäkologe – .In diese Kindergartenzeit fällt das erste Bewusstsein eines seelischen, quälenden Schmerzes. Hier erfuhr ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas Schlechtes getan zu haben und das Erleben der Scham. Tagelang war ich völlig verstört, konnte kaum essen, verbarg das Gesicht so oft ich konnte, in dem violett geblumten und gemusterten Kissen auf dem Rohrsessel im Gang, bis Mutter endlich erfuhr, was mit mir los war. Wie oft musste sie fragen: „Was hesch ou, Chind?“ bis es schluchzend herauskam: „I ha drum em Hansli Murer gseit, är syg e dumme Cheib!!“ – Ein Schimpfwort, das mir das Grässlichste schien, besonders, da wir ja ein paar Tage zuvor Hochzeit gefeiert hatten! Hansli mit Strohhut und ich in einem gelb karierten Kleid und Schleier. Ich glaube kaum, dass eines unserer Kinder aus diesem Grund Seelenqualen ausgestanden hätte.

Mein Märchenprinz scheint auf dem Bild nicht sehr glücklich zu sein, sein Name war, so weit ich mich erinnere, "Bubi Streit".


(5) Mein Märcheprinz.

Mein Märcheprinz.

Wie ein Wort doch wirken kann! So auch „Kindergarten“, wie die Gedanken zu stürmen beginnen, voraus, rückwärts, sich stauend, strudelnd. „Kindergarten“, da taucht auch ein Gefühl von Scham auf, eine Qual, beschämt zu sein, ohne zu wissen warum. So hatte mich Mutter ernst ermahnt zu gestehen, was auf dem Heimweg vom Kindergarten geschehen sei, da die Mutter eines Knaben sich beklagt hätte, er würde „sein Fudi plagen“. Ich erinnerte mich wohl, dass zwei Kinder auf dem Heimweg sich in einem Schrebergartenhäuschen, an dem wir vorbeikamen, nackt ausziehen wollten, ich aber in Panik davon gerannt war, und nun nicht wusste, worum es gegangen war. Erste Erfahrungen hatte ich also keine sammeln können.

Ich habe auch weder meinen Bruder noch meinen Vater je nackt gesehen. Der Bruder war so prüde, dass er sogar auf dem Damm der „Broye“, wo wir in der La Sauge in den Ferien waren, mir befahl, auf der anderen Seite zu baden, weil er die Badehosen vergessen hatte!! 

Dieses würgende Nichtwissen mit der Ahnung von etwas Verbotenem und das Gefühl der Schuld dabei – das habe ich später oft erlebt – immer im Zusammenhang mit einem Vorwurf meiner Mutter, die ich trotzdem bewunderte, und die ich gerne glücklich gemacht hätte. 

Ich habe aber auch bewussten Trotz in diesem Alter erlebt, besonders deutlich, als mein Vater mir gebot, einen zu Boden gefallenen Brief wieder aufzuheben, ich mich aber einfach weigerte, dies zu tun. Endlich drohte mein Vater mit einer körperlichen Strafe – so weit war es also mit mir gekommen! Es sind die einzigen Schläge meines Vaters, die mir in Erinnerung blieben, bis zu jenem Tag, mehr als zwanzig Jahre später, als ich eine Strafpredigt meiner Eltern mit der Bemerkung: „Seid ihr jetzt bald fertig?“ quittierte, und meine letzte körperliche Strafe in Form einer saftigen Ohrfeige erhielt.

Vor Weihnachten wurde es um meine Mutter geheimnisvoll. Eines Morgens hingen an der Schnur auf der Terrasse ganz kleine Puppenhemden und Kleidchen, und Mutter überzeugte mich, dass das Christkind sie dort zum Trocknen aufgehängt habe. Bügelte meine Mutter, sass ich voller Angst auf dem Schemel neben dem Tisch. Ich konnte es nicht ertragen, wenn eine Falte im Stoff unter das Bügeleisen gelangte, weil ich fühlte, wie das Leintuch den heissen Schmerz unter dem Eisen erlitt… 

Eine Wonne war aber die Tretmaschine mit dem braun lackierten Holzdeckel, der abgehoben werden konnte, und der, umgekehrt auf dem Boden eine herrliche Sitzgelegenheit bot zum Zuschauen, wenn Mutter eifrig den Tritt mit dem Fuss bewegte, und das Rad in Schwung brachte. Auf dem Mittelteil des Gusseisengestells prangte ein Muster, golden und geheimnisvoll. Das Muster war aber ein Wort, das erste, das ich lesen lernte: SINGER – Vorläufer von SALZ, MEHL, ZUCKER, die nächste Wonne des Lesenlernens, in der Küche, auf den Kacheln der Vorratsschubladen im Gestell – meine Kinder spielten später stundenlang damit „Verkäuferlis“.

Löste man den Riemen vom Rad der Tretmaschine, konnte man Eisenbahn spielen und den Tritt ganz schnell hinauf und hinunter bewegen. Mit dem Riemen war es lustiger, nur musste man dann halt manchmal einen eingeklemmten Finger in Kauf nehmen. 

Mit Werner dufte ich nicht nur im Garten spielen, er kam auch mit, um die Väter abzuholen. Wir wanderten dann Hand in Hand die Thunstrasse entlang bis zum Thunplatz beim grossen Brunnen. Aus der Mauer plätscherte ein dünner Wasserstrahl aus der Figur eines Löwenkopfes. Ganz kühn fanden wir uns, wenn wir auf der vorgespannten Kette des Wasserspiels turnten. Die Väter tauchten aus der Kirchenfeldstrasse auf, die Landestopografie war damals im Amt für Mass und Gewicht untergebracht. 

Werktags assen wir in der Küche, nur am Sonntag in meinem Lieblingszimmer. Dort gab es ein heiß geliebtes Möbel, den Diwan in der Ess–Wohnstube, darauf eine Plüschdecke, und ein ganzer Berg von weichen Kissen, gehäkelt, gestickt, gestrickt und aus Seide, man konnte sich einnisten und ganz versinken darin, und das Bild an der Wand dahinter bestaunen: Konstantinopel im Abendsonnenschein, schimmernd und immer wieder in einem anderen Farbton, je nachdem wie das Licht der Lampe darauf fiel. Die Decke war eine Erinnerung an Vaters Aufenthalt in der Türkei, wo er als junger Geometer 1914 Strassen bis nach Russland vermessen half. Namen wie „Erzerum“ und Trapezun“ tönten für uns wie aus dem Märchen. Wir lernten auch ein paar Worte Türkisch, so konnte ich bis auf zehn zählen, und wusste, dass „Ekmek“ Brot hiess. Ich liebte es, mich in diesen „orientalischen Teil“ unserer sonst eher nüchternen und immer sehr gut aufgeräumten Wohnung zurückzuziehen.

In diesem Zimmer stand eben auch das Klavier. Ein brauner Kasten, links und rechts an der Vorderseite stets blank polierte Kerzenhalter, die man hin- und herdrehen konnte. Es gab auch drei Fusspedale, zu denen hinunter die Füsse aber noch nicht reichten, wenn ich auf dem drehbaren Klavierstuhl sass. Am Sonntag nach der Sonntagsschule, oder wenn Mutter aus der Predigt nach Hause kam und die Lieder aus dem Kirchengesangsbuch spielte, versuchte ich oft die Melodien mit einem Finger nachzuspielen. Mein Klavierspiel begeisterte aber nicht alle, besonders nicht die Hausmeisterin, die sich erkundigte, wie lange die Klimperei noch dauere … Meine Eltern schienen aber von meinem Talent überzeugt, und ich durfte im Alter von fünf Jahren Klavierstunden nehmen. 

Es erschien ein Fräulein Scheurer – sie heiratete später einen Zahnarzt Dr. Roth, der mir später viel Kummer bereiten wird – was ich zum Glück noch nicht wusste, denn ich schlug mir die Zähne ja erst zehn Jahre später ein. Ich bewunderte und liebte diese Lehrerin sehr. An die erste Lektion erinnere ich mich sehr deutlich. Mit beiden Händen durfte ich in Oktaven die Tonleiter spielen, von einem „C“ zum anderen, ganz langsam, und dazu begleitete mich die Lehrerin mit einer Melodie von tiefen Tönen, das gab mir den Eindruck, schon vierhändig spielen zu können. An der Hochzeitsfeier der Lehrerin durfte ich dann vorspielen, in einem rosa Kleid und mit schwarzen Lackschuhen… 

Wenn Vater zu Hause war, wollte er uns oft eine Freude machen – nicht immer kam es gut heraus. Einmal beschrieb er mir die Freuden des Kasperlitheaters und versprach mir, zusammen eine Vorführung in einem Raum über dem Kornhauskeller zu besuchen. Erwartungsfroh stiegen wir die Treppen hinauf, es war merkwürdig still – weil die Vorstellung halt schon lange angefangen hatte. Wir setzten uns beide auf die Treppe, und ich weinte vor Enttäuschung. Vater putzte mir die Nase – er hatte immer ein grosses, gut riechendes Taschentuch bei sich, und tröstete mich mit dem Versprechen auf heisse Marroni, die es im Winter in den Gassen zu kaufen gab. Er streckte den Papiersack mit den heissen Kastanien in seinen Mantelsack, ich streckte meine kleine Hand daneben und hatte herrlich warm. Zu Hause erklärte ich der Mutter, ich hätte es gar nicht bedauert, keine Plätze mehr erhalten zu haben – ich wollte meinen Vater immer ein wenig schützen vor den spöttischen Bemerkungen meiner Mutter. Man hatte immer den Eindruck, sie wolle Vater spüren lassen, so etwas dummes könne nur ihm passieren. – Ja, eben auch, als er mit meinem Bruder und mir Skifahren und Schlitteln gehen wollte auf das „Chuderhüsi“, dann aber mit uns nach Bolligen fuhr, anstatt den Zug nach Bowil zu besteigen, so dass weit und breit kein Weg auf das „Chuderhüsi“ führte!! 

Welche Wonne, wenn der Vater sich rasierte! Ein Tuch um den Hals gebunden zum Schutz des Hemdes, gab ihm ein leicht krankes und schwaches Aussehen. Umso tapferer wirkte er mit dem scharfen, aufklappbaren Rasiermesser, das gemessen und rhythmisch, an einem Lederriemen auf und ab geführt wurde, um noch ganz scharf geschliffen zu werden. Der Schaum wurde in einem kleinen metallenen Becken mit einem weichen Pinsel geschlagen – und wenn das Gesicht des Vaters weiss leuchtete und ich ihn staunend betrachtete, bekam ich jedes Mal einen Schaumtupfer auf die Nase, das Kinn und auf beide Wangen. 

Zu den geheiligten Dingen von Vater gehörte das Schnauzscherchen, ein kleines, zartes Ding, das wunderbar schnitt, und das man nie vom Toilettentisch wegnehmen durfte. Vater konnte sich damit die kleinen Haare, die ihm aus der Nase wuchsen, wegschneiden. Wehe, wenn wir es entwendeten, um Bilder aus den Zeitungen auszuschneiden oder wenn Mutter es sogar wagte, uns die Fingernägel damit zu schneiden. – Ich halte es noch heute, mehr als fünfzig Jahre später, als Andenken an meinen Vater in Ehren. 

Stolz war ich, dass wir schon ein Telefon besassen, dessen Nummer ich noch heute weiss: „Christoph 5768“. Es wurde eingerichtet für meine Mutter, damit sie mit dem so oft abwesenden Vater telefonieren konnte. 

Mutter liebte Schmuck, vor allem Ohrringe, und ich fand die grossen, schwarzen Onyxtropfen in Gold gefasst wunderbar – und Mutter sehr tapfer, dass sie sich Löcher in die Ohrläppchen machen liess, und diese recht schweren Schmuckstücke ertrug. Manchmal roch sie wunderbar, dann, wenn sie mit Vater ausging. Wohin kann ich mich nicht erinnern, wohl aber in ein Konzert oder ins Theater. Sie hatte lange schmale Hände und schön geformte Fingernägel. (Was ich beides leider nicht geerbt habe). Vor dem Ausgehen wurden die Nägel leicht gepudert und dann mit einem länglichen schmalen Holzgestell, mit Leder überzogen, so lange poliert, bis sie schön glänzten. Für das Kämmen brauchte Mutter immer viel Zeit, und sie putzte sich die Zähne nach jedem Essen, was ich übertrieben fand. 

Eine grosse Angst erlebte ich an einem Winterabend. Es muss schon dämmrig gewesen sein, als mich Mutter in den kleinen Spezereiladen am Ende der Häuserreihe schickte, um eine Flasche Öl zu kaufen. Warum sie mir auf der Treppe aus den Händen fiel, weiss ich nicht, aber das klebrige Öl rann über Hände und Kleid, und auf der Treppe klebten auch die schmierigen Scherben. Vor Entsetzen weinend rannte ich nach Hause, gefasst auf eine schreckliche Strafe. Kann es eine grössere Erlösung geben, als die, welche ich nun erlebte, als meine Mutter, nur tröstend, mich in die Arme nahm? Ein solches Gefühl von Geborgenheit habe ich erst wieder erlebt, als ich meinen Mann kennen lernte, der mir in einer aussichtslosen Situation gebot, mich ruhig hinzulegen und zu warten, bis er wiederkomme, und der dann alles für mich geregelt hatte. – Doch das geschah so viel später – beinahe in einem anderen Leben… 

Ich brauchte das Geborgensein in meiner Kindheit so sehr!


(6) Mit Mutter und Gusti.

Mit Mutter und Gusti.

Mein Vater war im Sommer monatelang weg, im Tessin, in Graubünden, wo immer es eben den Geometer brauchte.  

Die Mutter weinte viel, und dann erschien oft eine Ärztin, Frl. Dr. Martha Hostettler, die dann mit ruhiger, etwas heiserer Stimme (vom Rauchen!) meine Mutter zu beruhigen wusste, wenn sie wieder einmal drohte, man werde sie bald in der Aare finden, oder sie wolle den Gashahn aufdrehen. Es waren Tage, an denen das Gesicht der Mutter unnatürlich gerötet war und hässliche Flecken auf den Wangen erschienen. Sie machte dann Lehmwickel und sah erschreckend aus unter dem grauen Dreck! Man musste dann ganz ruhig sein und durfte sie nicht stören.

In guten Zeiten sang sie viel mit uns und im Herbst, wenn der Vater wieder zu Hause war, verging kaum ein Tag ohne Gesang. Mutters schöne Altstimme, mit Vaters klarem Tenor im Duett, begleitet von meiner Mutter am Klavier, schien mir wunderbar. Und wenn nach einem heftigen Wortwechsel zwischen meinen Eltern – das kam recht oft vor, denn meine Mutter war sehr impulsiv – am Abend „Ich wollt meine Liebe ergösse sich all in ein einziges Wort“ im Duett ertönte, oder „Wohin habt ihr ihn getragen, wohin?“, dann fühlte ich mich in der Musik geborgen. 

Mutter strickte viel, und ich war das beliebteste Opfer für ihre Werke. Ich sehe noch das braun-rosa Strickkleid, gestreift, mit passender Mütze, einen gestrickten Unterrock darunter, gestrickte Strümpfe, und sogar eine Mütze – der Kunst meiner Mutter hilflos ausgeliefert…. 

Um meine Gesundheit schienen die Eltern sehr besorgt. Ich muss ein sehr schlankes, oft hustendes kleines Kind gewesen sein. Für Wochen fuhr meine Mutter mit mir in die Praxis von Frl. Dr. Hofstetter an die Optingenstrasse, wo ich dann mit nacktem Oberkörper, mit einer schwarzen Brille vor einen seltsam knisternden Apparat sitzen musste. Es roch so eigenartig, man sagte, nach Ozon, und das Ganze hiess „Bestrahlen“ und sollte die Sonne ersetzen, und gut sein für die Gesundheit, wie auch der immer wiederkehrende Lebertran, vor dem es mich noch heute graust. Wohl auch für meine Gesundheit, aber dies nun auch zu meiner Freude, durfte ich in die Rhythmikstunden zu Frau Sauerbeck gehen. Die grünen, kurzen Pumphosen schlotterten um meine dünnen Beine, und auf Fotos sieht das dürre kleine Wesen nicht sehr anmutig aus.


(7) Lilly (links) in der Rhythmikstunde

Lilly (links) in der Rhythmikstunde

An den Weihnachtsfeiern des „Berner Männerchors“, in welchem mein Vater ein eifriger Mitsänger war, wurden von uns Kindern Reigen und Märchen getanzt, natürlich auch wieder das Schneewittchen. Mir wurde es in dem Sarg langweilig, und mit Entsetzen bemerkte meine Mutter, wie ich mit beiden Beinen zappelte, und sie in die Höhe streckte, als ich doch noch von den Zwergen beweint wurde. 

In regelmässigen Zeitabständen aber roch Mutter sehr unangenehm nach Fisch, es war ein Geruch, den ich hasste, und den ich bald in Zusammenhang brachte mit weissen Trikotschläuchen in Fischform, die zum Trocknen an der Wäscheleine hingen, und die „Damenbinden“ hiessen. Ich wusste nicht, was das Wort bedeutete, fand es aber schrecklich und war immer froh, wenn sie wieder verschwanden! 

Sonntag: Das war nicht nur Sonntagsschule und Singen, das war auch: Battistschürze und weisse Strümpfe und Lackschuhe. Oft durfte ich aber die kleine Küchenschürze anziehen, die meine Mutter für mich genäht hatte, und in der Küche helfen. Mein erstes Werk der Kochkunst war das Plätzli salzen und mit Mehl bestäuben. Zum Dessert brachte Vater am Sonntag oft so genannte „20er Stückli“ nach Hause, meist sehr süsse Stücke mit Schokolade oder Creme gefüllt. Mutters selbstgemachte Caramelcreme blieb mir auch in Erinnerung. – Es gab da immer einen spannenden Moment, wenn der braungebrannte Zucker „abgelöscht“ wurde und dann ganz hart und klebrig in der Pfanne blieb, bis er sich in der Flüssigkeit auflöste. 

Herrliche Sommervergnügen gab es an der Aare. Die seichten Nebenarme des Flusses in der Elfenau wurden so warm, dass das Baden auch für kleine Kinder lustig und ungefährlich war. Zu Hause wurden weisse Kissenanzüge eingepackt, am Ufer im Schilf öffnete man alle Knöpfe und hielt den Anzug weit offen, drehte sich ganz schnell im Kreis, d.h. Mutter tat das. Die Luft blähte die Kissen auf, die man dann ganz schnell zubinden und sofort auf das Wasser legen musste. Auf diesen Luftkissen konnte man dann wohlig auf dem Wasser liegen, bis die Luft entwich und das Vergnügen zu Ende war. 

Einmal verloren wir den Wohnungsschlüssel im Sumpf. Es war Sonntag und wir lehnten an der sonnenwarmen Hauswand und warteten auf den Spengler, der die Wohnungstür öffnen musste. Ein unheimliches Gefühl, so ausgeschlossen zu sein…. 

An der Ecke Brunnadern – Thunstrasse gab es ein grosses Gemüsegeschäft – und hie und da durften wir dort Bananen kaufen. Man schälte sie fast ehrfürchtig und genoss es, die weiche Schale sorgfältig herunterzuziehen. Ob man der Bananen wegen auch den einzigen Sohn des Gemüsehändlers, den Hansli Berger, ehrfürchtig betrachtete, wenn er im Garten spielte? Wir andern Kinder vom Quartier standen oft vor seinem Gartentor – der Hansli durfte nie mit uns spielen! 

Sehr befreundet waren meine Eltern mit einer Familie Wildberger. Herr Wildberger war ein Kollege aus der Landestopographie. Sie kamen viel zu Besuch, oder wir spazierten zusammen am Sonntagnachmittag. Sie hatten ein einziges Kind, den „Miggeli“, ganz dick und rund, vier Jahre jünger als ich. Ich durfte seinen Kinderwagen stossen und ihn zu Hause auf den Schoss nehmen. Später bewunderte er mich und soll gesagt haben: „on s‘aime, nous deux!“


(8) Mit "Miggeli"

Mit "Miggeli"

Schon als kleines Kind machte er weise Sprüche. Aus dem dicken Knaben wurde ein Ingenieur, ein Freund meines Schwagers Reini, leider blieb er ledig, und seine herzensgute Maman konnte keine Enkelkinder verwöhnen!

Tante „Toneli“, wie Frau Wildberger liebevoll genannt wurde, war eine charmante Frau. Sie sprach französisch, war klein und rund und hatte braune Zapfenlocken. Noch im hohen Alter waren die Haare gefärbt und immer noch lockig. Sie war sehr komisch, wenn sie sich Mühe gab, Deutsch zu sprechen, besonders, wenn sie das „H“ am falschen Ort mit Stolz gebrauchte, wie: Der Hapfel, aber dann auch das „Aus“ anstatt Haus. Mich lehrte sie das erste französische Liedchen: „Petit enfant, déjà la brume, autour de la maison s‘étend… il faut dormir, quand vient la lune, petit enfant, petit enfant.“ Oder: „Pernette, Pernette va dire au bon dieu qu‘il fasse beaux temps demain!“

Sie machte auch das beste Fondue weit und breit, und mancher Sonntag endete bei der Familie Wildberger, in einer Stube voll Rauch mit Geruch nach Käse. Herr Wildberger rauchte pausenlos Zigaretten und machte uns grossen Eindruck, indem er eine Zigarette gleich an der zu Ende gehenden anzündete… 

In diesen Jahren von 1927 – 1931 verbrachten wir die Ferien oft im Tessin. So auch einmal Osterferien in Astano, wo es an Ostern verschneite Palmen gab im Park, und man die Nester im Schnee suchen durfte. Die Wirtefamilie hiess Schmiedhauser, und eine ihrer Töchter, die Mathilde heiratete später einen Sohn von Bundesrat Motta und wohnte in Bern an der Aegertenstrasse, und wir waren stolz, dass sie uns oft zum Tee einlud. 

Im Herbst besuchten wir Vater in Gudo und durften uns im Rebberg unter die Trauben setzen und so viel essen, wie wir wollten. In Ambri – Piotta weinte ich eine Nacht lang wegen Ohrenschmerzen. War es die Folge einer Dummheit? Am Tag vorher hatte ich meinen Kopf zwischen die Gitterstäbe der Terrasse gesteckt und ihn dann erst nicht mehr zurückziehen können. Ein Spengler erlöste mich aus der unangenehmen Lage. Noch jetzt, wenn ich den Namen „Ambri – Piotta“ höre, kommen mir das Geländer und das Ohrenweh in den Sinn – und nicht der Eishockeyclub…. 

Ich habe meine Mutter immer bewundert, dass sie in einer fremden Sprache reden konnte und sofort Kontakt hatte zu allen Menschen. Später merkte ich, dass sie viele Fehler machte, aber immer eine Gabe hatte, durch geeigneten Tonfall oder eine originelle Wendung den Eindruck zu machen, die Sprache zu beherrschen. Mit ihrer Sprache konnte sie uns immer überraschen. Sie konnte mühelos rückwärts reden – und aus Zeitungsinseraten ein so gekonntes Durcheinander erzählen, dass dann auch meine Freundinnen, noch im Gymnasium, Tränen lachen mussten. Sie erfand auch Geschichten und konnte den Tonfall der Stimme den Personen anpassen, von denen sie redete. Sicher wäre sie eine gute Schauspielerin geworden!! 

In gewissen Zeiten aber war sie depressiv, und es war schaurig, wenn sie wieder drohte, den Gashahn zu öffnen oder in die Aare zu springen. 

Sommerferien in Plan – Seugez, oberhalb Bex, in einem alten Holzhaus mit einer Laube ringsherum. Mein Bruder spielte dort Gespenst, eingehüllt in ein weisses Leintuch und mit grässlicher Stimme. 

Vater fotografierte gern und oft, so auch mich, in einer Pose auf einem abgesägten Baumstamm, beide Arme erhoben – und ich fand es grässlich, in gestrickten Unterhosen mit nacktem Oberkörper Modell stehen zu müssen, ich wurde auch dementsprechend von meinem Bruder ausgelacht.


(9) Lilly in gestrickten Unterhosen.

Lilly in gestrickten Unterhosen.

Hier wurde ich auch für mein ganzes Leben vom Rauchen entwöhnt, bevor ich den Genuss kennen gelernt hätte.

Ich liebte es in einer Hängematte unter den Bäumen zu liegen – und mein Bruder, damals zwölfjährig hatte eben die Zigaretten entdeckt. So erklärte er mir liebevoll, wie man den Rauch einziehen müsse, schaukelte dazu heftig die Hängematte, und mir scheint, ich spüre noch heute die Übelkeit, die in Wogen über mich kam. Geraucht habe ich später nie… 

Der Wald war voller Beeren im Herbst. Die ganze Familie machte sich früh am Morgen bereit, um Brombeeren zu suchen. Die Arme wurden mit Zeitungen dick umwickelt, um sich vor den Stacheln zu schützen, Kopftücher leuchteten bunt, und die Beerenkessel wurden mit Schnüren um den Leib gebunden, die ganze Gesellschaft fotografiert. Ich wartete gespannt auf den Aufbruch – da wurden mir die Zeitungen wieder abgenommen, das Kesseli weggestellt, weil Mutter plötzlich fand, es sei zu anstrengend für mich, und ich bliebe besser bei der alten Grossmutter auf der Ferme zurück. Von den Beeren, die man mir am Abend zurückbrachte, ass ich keine – und man fand, ich sei ein undankbares Kind.

Meinen Vater durfte ich begleiten bei den Vermessungsarbeiten in der Umgebung. Wir sammelten Pilze und Walderdbeeren – und Vater verstand es, einen hübschen Strauss von reifen Erdbeeren zu binden, den man vorsichtig tragen musste, um ihn am Abend der Mutter nach Hause zu bringen. Immer wurden wir ermahnt, lieb zu sein zur Mutter, sie schien viel kränklich, klagte oft über „Magenkrisen“. Was ihr eigentlich fehlte, wusste ich nicht, das Wort „Nerven“ wurde viel gebraucht. 

Zärtlich sah ich Vater eigentlich nie zu Mutter, nur immer sehr um ihr Wohlergehen und die Gesundheit besorgt. Ihre Wünsche wurden, wenn immer möglich erfüllt. So bekam sie auch einen Fuchspelz, von einem Tier, das ein Messgehilfe meines Vaters erlegt hatte. Ich mochte das weiche Pelzding nicht, mit der harten Schnauze und den hängenden Pfoten hing es gefährlich um den Hals der Mutter. Die schwarzen Knöpfe an Stelle der Augen wirkten böse. 

Es wurden nun viele heimliche Gespräche geführt zwischen meinen Eltern, ich schnappte das eine oder andere auf, es schien um einen Wohnungswechsel zu gehen. Ich musste versprechen, mit niemandem darüber zu reden – jedoch schon damals war ich sehr gesprächig und machte mich wohl auch gerne wichtig. Dem Hansli Maurer erzählte ich, wir hätten eine ganz grosse Wohnung in Aussicht – und oh Schreck, uns wurde dann gekündigt. Wohl kaum auf meine Aussage hin, aber ich hatte doch Angst, daran schuld zu sein. 

Durch unsere Strasse fuhr ein eigenartiges Auto, fast wie ein fahrender Verkäuferliladen. Vater verbot uns aber dort hinzugehen, das Auto komme von der „Migros“ und sei für ärmere Leute, die dort billige Lebensmittel kaufen könnten. Als Beamter fand er dies unter seiner Würde. 

Das war der Beginn des „Migros – Zeitalters“. 

Spannend war es, wenn jemand rief: „Der Zeppelin, der Zeppelin“ und dann die grosse, graue Wurst über den Häusern schwebte, und man sogar den Korb darunter ganz gut erkennen konnte. Fast jedes Kind hatte ein Modell dieses Luftschiffes, und auch bei uns hing eines aus Karton im Gang. 

War mein Bruder guter Laune, durfte ich hinten auf dem Gepäckträger seines Fahrrades mitfahren. Warum mir eines Tages die verrückte Idee kam, meinen Regenschirm während der Fahrt hinten zwischen die Speichen zu stecken, weiss ich nicht – die Folgen waren aber unangenehm. Wir stürzten – und mein Bruder riss sich die Hand auf, und musste sie bei Dr. Lütschg, der gleich an der Ecke unserer Strasse wohnte, nähen lassen. Mein Knie war aufgeschürft, was aber nicht schlimm war. Für lange Zeit war es vorbei mit dem Vergnügen.

In der „La Sauge am Broyekanal kannten meine Eltern die Wirtsleute, auch eine Familie Staub, aus der Gegend der Heimat meines Vaters am Zürichsee, aber nicht verwandt. Sie führten dort eine Landwirtschaft und einen Gasthof, wo wir die Sommerferien verbrachten. Man wurde vom Knecht Juli in Ins abgeholt mit einem Pferdefuhrwerk, oder man musste zu Fuss über das grosse Moos wandern, was mir nicht sonderlich gefiel, so dass ich einmal meine Schuhe in das Feld neben der Strasse warf und barfuss weiterging.


(10) Am Fluss.

Am Fluss.

Dem Damm entlang wanderte man zum See, am anderen Ufer sahen wir die Strafgefangenen von Witzwil, die dort den Abfall aus den Städten erlesen mussten. Es schien ihnen aber nichts auszumachen, denn sie sangen oft und durften rauchen. Wir schwammen oft durch die Seerosen ans andere Ufer und brachten ihnen Zigaretten. Im Schlafzimmer des alten Hauses nisteten Schwalben, die flogen dann am Abend ein und aus, wenn ich schon ins Bett gehen musste. Der Knecht Juli liess uns auf den Pferden reiten, und es roch herrlich nach feuchtem Schilf, Mohr und Pferdemist. In der Ebene sah man grosse Torfhaufen schön aufgeschichtet. Es wäre herrlich gewesen, wenn man nicht so viele Fische hätte essen müssen! 

Nach diesen Ferien wurde es plötzlich war, dass wir die Karl Staufferstrasse verlassen würden. Am Zügeltag durfte ich wieder bei meinem Bruder hinten auf dem Velo sitzen, es ging über den Thunplatz die Kirchenfeldstrasse hinunter – und auf dieser Fahrt gelang mir zum ersten Mal ein Pfiff. Ich hatte das schon lange vergeblich versucht, und nun war ich sehr stolz auf diesen doch sehr mageren Klang. 

Zwar zogen wir wieder in das Kirchenfeld – aber Wernerli und Hansli, Peter Friedli und Peter Ganz verschwanden aus meinem Leben – und ich vermisste sie sehr. Doch nun begann ja bald die Schule. 

Sowohl Peter Friedli, als auch Peter Ganz tauchten dann wieder auf beim Gymnasium und während des Medizinstudiums.
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Schillingstrasse 15 (1932 - 1936)
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1.5.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Schillingstrasse 15 (1932 - 1936).


(1) Schillingstrasse 15. 1932 - 1936.

Schillingstrasse 15. 1932 - 1936.

In einem Eckhaus im dritten Stock zogen wir ein.

Es lag an einer ruhigen Strasse und hatte zwei Terrassen. Diese Wohnung war für mich ein Schock! Vergebens suchte ich das Kinderzimmer – es gab keines mehr. Der Bruder logierte nun in der eigenen Mansarde – mein weisses Gitterbett mit den bergenden Seitenwänden verschwand – und ich wurde „Allgemeingut“. Man erklärte mir, dass ich nun in der Wohnstube auf dem Diwan schlafen dürfe. Das einzig Eigene war der Kindertisch und der kleine Stuhl dazu, beides wurde neben den Diwan gestellt, und zum Glück hing der bunte Seidenteppich mit den Minaretten und Moscheen von Konstatinopel dahinter an der Wand. 

Bis zu meinem 16. Altersjahr hatte ich nie mehr ein eigenes Zimmer. Dann aber hätte ich lieber keines bekommen, denn es blieb für mich das Zimmer meines Bruders, der mit 24 Jahren als Flieger abstürzte.

Da, ohne mein Kinderbett, ohne den Bruder im gleichen Zimmer, begann ich nachts zu wandeln. Ich erinnerte mich nicht mehr, wo ich war und erwachte mehrmals klein zusammengerollt und mit der Tischdecke zugedeckt auf meinem Kindertisch.

Ich hasste diese Wohnung und vermisste auch meine Spielgefährten von der Karl Staufferstrasse.

Die zwei Kinder im Erdgeschoss waren viel älter als ich und zudem wohnten sie in ihrem eigenen Haus. Sie hiessen Therese und Ruth Stettler, und das Haus gehörte ihren Eltern.
Wohl zum Trost erhielt ich eine grosse, schöne Puppe mit weichem Stoffkörper und bunten Kleidern. Ich liebte und pflegte sie bald gleich innig wie meinen Teddybär mit der roten Schleife.

Eigentlich war ich nie ohne Puppen, ich lebte mit ihnen wie mit lebendigen Geschöpfen. Ich hätte gerne ein Haustier gehabt, aber der Hausherr erlaubte es nicht – und meine Mutter war wohl auch nicht traurig deswegen. Es hätte ja ihren sehr peinlich sauberen Haushalt vielleicht aus dem Gleichgewicht gebracht….

Mein Bruder richtete auf einer Terrasse ein Vivarium ein und suchte im Tierpark eine Blindschleiche, die aber nicht sehr lang bei uns blieb. In seiner Mansarde, wo ich ihn immer gerne besuchte, hing eine ausgediente Glühbirne am Fenster, mit Wasser gefüllt, und stolz erklärte er mir, das sei sein Barometer. Bei schönem Wetter flossen die Tropfen schneller aus der kleinen Öffnung als bei schlechtem. Er kam mir sehr gescheit vor.


(2) Erstklässlerin.

Erstklässlerin.

Nun ging ich in die erste Klasse im Kirchenfeldschulhaus zu Frl. Aebersold, die ich sehr liebte. Sie schenkte uns nicht nur die Freude am Lesen und Schreiben, sondern turnte auch mit uns, wobei wir immer darauf warteten, dass sie sich bückte, weil dann ihre gestrickten, langen und wollenen, violetten Unterhosen zum Vorschein kamen. Diese Lehrerin und meine Eltern waren überzeugt, ich sei ein intelligentes Kind – ich glaubte es auch… Obschon ich nun in die Schule ging, erfüllte sich die Hoffnung nicht, meinen verhassten Pagenschnitt endlich loszuwerden und wie die anderen einen Scheitel und eine Haarspange zu tragen. Meine Mutter fand, es stehe mir so am besten und sie liebte ein hübsches Kind …

Das Klavierspiel, nun bei einer anderen Lehrerin, Frl. Yvonne Frei an der Thunstrasse, machte mir Freude. Bald hatte ich gemerkt, dass ich dem Geschirrabtrocknen in der Küche entgehen konnte, wenn ich behauptete, üben zu müssen.

An einem Frühsommermorgen umarmte meine Mutter meinen Bruder und mich und sprach pathetisch – aber so redete sie ja oft – und wir waren es gewohnt: „Kinder, eure Mutter muss heute unter das Messer!“ Das ging nun auch uns, an theatralische Szenen gewohnt, nahe, und ich war entsetzt, sah ich doch den Grund nicht, warum von meiner Mutter etwas abgeschnitten werden sollte. Mein Bruder, sich an meinem Schrecken erfreuend, zeigte stumm mit der Hand quer zum Hals, was mich in Verzweiflung stürzte. Mein Entsetzten liess etwas nach, als man mir erklärte, dass im Bauch der Mutter ein Gewächs den Platz für wichtige Organe verdränge, und dass meine Mutter nach der Operation äusserlich nicht verändert sein werde, was mich beruhigte, denn ich fand sie immer sehr schön, besonders wenn sie die langen Onyxohrgehänge trug.

Es erschien dann eine Haushälterin, ein in der Erinnerung wohl noch kleineres Wesen, als es wirklich war. Mit ihr verbindet sich für mich der Begriff „weich“, mollig und freundlich – und wenn sie mich am Abend in die Arme nahm, sie tat es immer vor dem Zubettgehen, war kein Druck zu spüren, nichts Forderndes, wie das jeweils bei einer Umarmung meiner Mutter über mich strömte – nur so eine wohlige Zärtlichkeit. Ihre Hände waren seidig fein, obschon sie alle Hausarbeiten ohne Handschuhe verrichtete, was ihrem Geheimrezept zu verdanken war, das sie mir dann doch verriet: Sie wusch die Hände mehrmals am Tag – ich tat das zwar auch – doch liess sie den Seifenschaum nach längerem Reiben und Massieren der Hände in die Haut einziehen, ohne ihn abzuwaschen.

Dass mein Bruder diese Vorteile nicht zu schätzen wusste, und der Mutter klagte, diese Sophie hätte jeden Tag nur Kartoffeln gekocht, konnte ich nicht verstehen. Als die Sophie einige Tage frei erhielt, quartierte man mich bei Bekannten an der Thunstrasse ein, bei einer Familie Haynard. Die Dame war sehr nett, wir wurden oft mit Mutter dort zum Tee eingeladen und ich durfte dann wählen, ob ich lieber Honig oder Konfitüre, Schokolade oder Tee, ob ein Stück Zucker oder zwei haben möchte … Fast wie im Märchen vom Schlaraffenland…

Nur, dass ich über Mittag schlafen sollte wie ein kleines Kind, gefiel mir gar nicht…, und an dem Tag, an dem ich auch noch mein erstes Schulzeugnis erhalten hatte mit lauter Einsen, riss ich aus. Aus dem Fenster des Hochparterres, ein Sprung in den Garten, sogar in den Finken, schien mir ungefährlich, und ich nahm den Weg zum Feldeggspital unter die Füsse. Dieses lag ganz am Ende der Stadt, der Bahnhofsplatz drohte riesig, und der Schanzenstutz schien endlos – und so ganz sicher war ich auch nicht mehr, in welcher Strasse das Spital stand … Inzwischen war mein Verschwinden bemerkt worden, der Vater in der Landestopografie unterrichtet, und Vorbereitungen für eine polizeiliche Suchaktion eingeleitet – da tauchte ich müde und verschwitzt, aber glücklich im Feldeggspital auf, der Mutter stolz das gute Zeugnis entgegenstreckend. Das brachte mir wieder eine sehr enge, durch die Angst noch etwas festere und publikumswirksamere Umarmung ein, sahen doch die Krankenschwestern mit Rührung zu, wie eine Mutter sich über ein wieder gefundenes Kind freut! Für die Rückkehr der Mutter wurden die Türen bekränzt und mein Bruder hatte ein grosses „Willkommen“ – Plakat gezeichnet.

Ich muss wohl ein vorwitziges Kind gewesen sein, denn ich erinnere mich an den Krankenbesuch bei der Hausmeisterstochter, die das Bein gebrochen hatte. Ich durfte ihr Blumen bringen, und ich übergab sie mit folgenden Worten: „Geduld bringt Rosen aber zuerst Knöpfe“.

Einmal, als wir im Garten spielten, und meine Mutter mir über die Terrassse hinunter rief, eine Bekannte von uns sei gestorben, erklärte ich, ich würde gerade ohnmächtig … ich fand es übrigens sehr unpassend, eine solche Meldung laut in den Garten zu rufen.

Ich fand nun noch oft etwas unpassend, was meine Mutter machte. Einmal gingen wir wieder, wie oft nach dem Einkaufen in der Stadt zum „Gfeller-Rindlisbacher“, einer Teewirtschaft mit guten Stückli. Da lag auf einem Sitz neben unserem Tisch ein Damenregenschirm, den Mutter dann seelenruhig in ihre Tasche steckte, auch als ich sie auf ihren Irrtum aufmerksam machte.

Mein Bruder ging nun in das Gymnasium und hatte einen sehr kurzen Schulweg. Es schien ihm aber nicht zu gefallen, denn oft gab es laute Gespräche zwischen ihm und Vater, wenn die Noten nicht den Erwartungen der Eltern entsprachen.

Ein Frühlingsabend leuchtete aus der Erinnerung auf: Ich hüpfte mit meinem Bruder hinüber zur Bäckerei „Rätz“ und fühlte mich glücklich – und traurig zugleich. Eine Amsel sang, wie wohl schon oft vorher; aber jetzt, gerade jetzt an dieser Strassenecke und mit meinem Bruder nahe bei mir, bemerkte ich zum ersten Mal den süssen Ton, die weiche Melodie. Dieses Gefühl empfand wohl 30 Jahre später mein ältester Sohn, der 6 Jahre alt war, als er beim Abendrot an meiner Hand über die Kirchenfeldbrücke wanderte und ausrief: „Oh Mami, mir isch, wie wenn i öppis wett, aber i weiss nid was!“ Weltschmerz, wie schön kann das sein, und wie glücklich Menschen, die ihn empfinden können….

Diese süsse, etwas ängstliche Wehmut empfand ich auch bewusst an einem warmen Sommerabend, als die Spielkameraden in den Häusern verschwunden waren und ich allein in der Dämmerung mit dem Springseil um die eben angezündete Strassenlaterne hüpfte und auf den Ruf der Mutter wartete, die mich nach Hause rief. Ich fühlte mich auf geheimnisvolle Weise verloren und wusste doch, dass ich schon bald zu Hause geborgen sein würde.

Ich war ein „Heimwehkind“. Das empfand ich besonders tief, als man mich nach gemeinsamen Familienferien in Spiez – wir hatten eine Ferienwohnung bei einer Familie Kräuchi gemietet – dort zurückliess. Ich wollte unbedingt das Kissen behalten, das meine Mutter im Bett gehabt hatte, weil es noch nach ihr roch, und ich so wohlig traurig dort hinein weinen konnte. Nach 2 Tagen habe man mich aber heimholen müssen...

Einmal hatte mir Mutter in jenen Ferien einen Koffer in die Hand gedrückt und erklärt, ich solle weggehen, sie habe mich nicht mehr lieb, weil ich ungehorsam gewesen sei. Entsetzt und verängstigt wanderte ich zu Frau Kräuchi und bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen. Sie erklärte mir dann aber, dass wenn meine Mutter mich nicht mehr wolle, sie mich auch nicht aufnehmen dürfe. Sie schaute aber doch in den Koffer, der leer war, worauf sie mich tröstete und sagte, der Mutter sei es sicher nicht ernst gewesen mit der Drohung, sonst hätte sie mir doch Kleider mitgegeben.

Auch in Grindelwald hatte ich Heimweh, wo ich bei Lehrer Studer bleiben sollte in den Winterferien. Gleich am ersten Abend fiel ich vor der Haustüre auf dem eisigen Boden um und schlug das Knie auf dem „Scharreisen“ etwas auf. Ich muss sehr geweint haben, und der alte Lehrer verblüffte mich mit seiner Menschenkenntnis als er sagte: „Das ist wohl mehr Heimweh als Schmerz“. Wie der mich sofort begriffen hatte!

Ein weiteres Erschrecken erlebte ich, als meine Mutter von einem „fremden“ Mann geküsst wurde. Sie hatte wieder, wie jedes Jahr, bei der Weihnachtsfeier des Männerchors mitgeholfen und erhielt am Ende der Vorstellung zum Dank eine Blumenvase mit Blumen von Herrn Locher, dem Präsidenten, überreicht. Dies vor dem Vorhang – und dann hinter dem Vorhang hatte er sie geküsst! Ich fand das abscheulich – sie wohl nicht! Die grosse Vase habe ich immer sehr ungern auf unserem Tisch gesehen. Und als die junge Katze sie umstürzte und sie zerbrach, war ich sehr glücklich und Mutter war wütend.

Bekamen wir Besuch, oft vom Grossvater aus Zürich, musste ich im Schlafzimmer meiner Eltern schlafen, und zwar im „Spalt“ zwischen beiden Betten. Wohl stopfte man Kissen in die Mitte zwischen den elterlichen Matratzen, aber es war doch ungemütlich, so im Niemandsland. Ich rutschte dann jeweils lieber auf Vaters Seite. Am Morgen setzte er mich auf seine hochgezogenen Knie, wie auf einen Berg, und ich liess mich dann plötzlich dazwischen plumpsen, das genoss ich sehr. Ich bewunderte und bestaunte meinen Vater auch, weil er am Morgen turnte, und zwar mit lustigen Geräten. Er hob ganz schwere Hanteln hoch und zog lange Gummischnüre, die an Handgriffen angemacht waren, auseinander. Das Ding hiess wohl „Expander“.

Über den Betten meiner Eltern hing ein Bild: „Des Hauses Sonnenschein“, ein Vater hebt ein zappelndes, lachendes Kind in die Höhe, und die Mutter strahlt beide an. So hätte ich es auch gerne gesehen…

Ich beneidete auch Pierette Bubois, die Tochter des Tanz- und Tennislehrers, weil sie mit ihrer Mutter oft innig verschlungen spazierte. Frau Dubois war leicht gehbehindert und Pierette schien sie zu stützen. Ich hätte es aber nicht gewagt, meine Mutter so um den Leib zu halten beim Spazieren. Ich wollte immer Zärtlichkeit, aber nie so, dass der andere mich zu sehr drückte, lieber distanziert.

Ganz ist die Zärtlichkeit, wie ich sie erwartete, erst in Erfüllung gegangen bei meinem Mann – keine Angst, Geborgenheit. Es brauchte Geduld und viel Liebe – aber so weit vorauseilen will ich nicht.

Meine Mutter strahlte eigentlich nie richtig, wenn, dann nur in Gesellschaft mit fremden Leuten. Sie konnte nach einem fröhlichen Besuch bei Freunden nach Hause kommen und plötzlich sehr wortkarg sein. Ich fand später den Ausspruch einer Nachbarin sehr treffend: „Sie ist wie ein Geldstück mit einer goldenen und einer rostigen Seite. Hie und da hat man das Glück, die goldene oben zu finden.“

Ein Weihnachtsfest blieb in besonderer Erinnerung:

Neben dem Weihnachtsbaum sass auf dem Lehnstuhl mein geliebter Teddybär – eingekleidet in grosse, graue „Pumphosen“, so sahen damals die Skihosen aus – und einer karierten Stoffjacke. Beide Stücke hatte meine Mutter genäht aus einem so genannten Überzieher, einem alten Wintermantel meines Vaters. Es war ein Skikleid für mich, und ich trug es stolz, auch in den Winterferien, die ich bei einer Krämersfrau im Grund bei Gstaad verbringen durfte. Mein Bruder wurde etwas weiter hinten im Tal bei einem Lehrer einquartiert. Gstaad war damals noch ein kaum bekannter Winterkurort, das Palace – Hotel wurde von allen bestaunt, ebenso die wenigen, mit Pelzen ausgefütterten Pferdeschlitten, in denen mondäne Damen und Herren vorbeifuhren.

Mutter hatte eine Freundin, die eine wunderbar helle Sopranstimme besass – und wenn sie lachte, begann sie mit ganz hellen, hohen Tönen, die dann gegen tiefere perlten, wie ein froher Gesang. Ich liebte es, sie lachen zu hören; sie lachte auch dann noch gerne, als sie schon schwer krank war. Man nannte es „Blutzersetzung“, und an ihrem Rücken entstand ein grosses, rotes Loch. Warum war ich wohl einmal beim Verbinden dabei? Sie starb zu Hause – und ihr Mann heiratete bald darauf die Pflegerin; ich fand das traurig.

An der gleichen Strasse wohnte ein zartes Kind, die Yvette, die Tochter eines Geometers. Plötzlich verschwand sie, man habe sie in eine Klosterschule in Frankreich zur Ausbildung geschickt. Sie durfte nur französisch sprechen. Ich fand es schrecklich, dass ein Kind von zu Hause weggehen musste, und als ein Jahr später Yvette starb, hasste ich ihre Eltern. Konnte man an Heimweh sterben? (Sie starb an einer Leukämie.)

In der Schule fand ich eine gute Freundin, Lilly Blanc. Sie spielte auch noch mit Puppen und hasste Schneeballschlachten ebenso wie wilde Spiele in der Pause.
*

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Sandrainstrasse 102 (1936 - 1938)
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1.6.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Sandrainstrasse 102 (1936 - 1938).


(1)
Welche Wonne, nach dem Reihenhaus an der Schillingstrasse, in das freistehende Haus in einem Garten, im Winkel zwischen Landoltstrasse und Sandrainstrasse, zu ziehen. Wir wohnten nur zwei Jahre hier im ersten Stock und von der grossen Terrasse hatte man einerseits einen Blick auf den Gurten und auf der Nordseite auf die Stadt Bern. Aus dem Taubenhaus in einer Gartenecke tönte das heimelige Gurren; ich durfte die Tiere füttern, die Hausmeisterin, eine gemütliche, dicke alte Dame erlaubte mir auch die kleinen Taubeneier aus den Nestern zu nehmen.


(2) Sandrainstrasse.

Sandrainstrasse.

Das Hausmeisterehepaar war in meinen Augen alt und ihre auch schon ältlich wirkende Tochter war dick und gutmütig. Sie schenkte mir ein fast leeres Parfumfläschchen und der Duft von „Quelques Fleurs „von Houbigands“ schien mir viel angenehmer als das langweilige „4711“, das meine Mutter benutzte, und von dem sie jeweils ein paar Tropfen in ein frisches Taschentuch gab – ja man hatte damals noch Stofftaschentücher und nicht die faserigen Tempo-Papiertücher, die keinen rechten Schnupfen mehr überstehen.

Mit diesem Umzug bin ich von dem „Wohnzimmerkind“ zur „Salondame“ geworden. Ein eigenes Zimmer hatte ich wieder nicht, denn wir hatten zwar nun eine grössere Wohnung, der Bruder konnte sich wieder in der grossen Mansarde gemütlich einrichten. Doch hatten wir nun ein Zimmer mit schönen Möbeln, ein Sofa, das zum Bett improvisiert wurde und das Klavier stand darin, mein Trost! Ich spielte nun sehr viel Klavier, denn ich konnte bei einer diplomierten Klavierlehrerin Stunden nehmen. Ich schien schnell Fortschritte gemacht zu haben. Die Lehrerin wohnte an der Thunstrasse, und nach der Schule am Montag ging ich direkt zu Fräulein Frey. Bei schönem Wetter brachte mir die Mutter ein Picknick, das wir dann zusammen im nahen Dählhölzliwald assen.

Auf der anderen Seite der Strasse, hinter einer hohen Mauer standen zwei grosse Ulmen und dahinter der Bauernhof. Wie gerne hüpfte ich jeweils nach der Schule hinüber zur gleichaltrigen Tochter, die gleich wie ich noch mit Puppen spielte. Wir machten Wanderungen bis an die Aare hinunter mit unseren Puppenwagen, und vor der Schule stellte ich die „Kinder“ in den Bettchen auf die Terrasse, wenn es schönes Wetter war. Oh, wie habe ich diese Wohnung geliebt! 

Die Bäuerin war immer sehr ruhig. Sie gab mir in ihrem Gemüsegarten ein kleines Stück Land und liess mich Ringelblumen pflanzen. Noch heute, wenn ich diese Blumen rieche, kommt jene Zeit zurück. 

Der Bauer machte mir jedoch Angst, er sprach fast nie, stellte das Radio sofort ab, wenn die brüllende Stimme begann. Er war es, der dem angriffslustigen Gockel den Kopf abschlug, und ich geriet in Panik, weil der Körper ohne Kopf weiter flatterte. Im Stall gab es ein neugeborenes Kälbchen, es war nass und blutig, die Kuh bekam Wein zu trinken. Die beiden Bauernkinder fanden das alles normal. Meine Mutter sah es nicht gerne, wenn ich dann etwas nach Stall roch. Auch da erlebte ich ganz neue Erfahrungen. Ich war gebannt, zu sehen, wo die Milch herkommt und war entsetzt, als ich zusah, wie der Muni die Kuh besprang. Die Bauernfreundin erklärte mir dann, dass es bei den Menschen auch so sei, dass die Frau abliege und der Mann sich auf sie lege und dann bekomme sie ein Kind. Das gab mir sehr zu denken, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass auch mein Bruder und ich auf diese Weise entstanden waren. --- 

Das grosse Glück kam auch aus dem Bauernhaus, ich durfte eine kleine, junge, weisse Katze behalten, und sie durfte sogar auf meiner Bettdecke schlafen. Sie begleitete mich jeweils auf dem Schulweg bis zum „Marzili Brüggli“ und kehrte selber wieder um. Ich rannte von der Schule schnell wieder nach Hause, um sie zu füttern. Mit ihrem schneeweissen Fell, einem grünen und einem blauen Auge, war sie eine rechte Schönheit und wurde heiß geliebt. Leider dauerte diese wunderschöne Zeit nicht lange. Das Leid war gross, als sie unter ein Auto geriet und noch so jung starb. Sie wurde von meinem Bruder gleich begraben. Sie erhielt ein schönes Grab neben dem Bienenhaus beim Bauerngarten. Nun hatte ich schon zwei Stückchen Erde, die ich bepflanzen konnte. Nach ihrem Tod fand ich noch viele weisse Katzenhaare, die ich in einer kleinen Schachtel in der Tasche herumtrug. 

Wie verschieden war doch das Leben auf der andern Seite der Strasse, dort wo der Bauernhof stand und das schöne alte Herrenhaus, bewohnt von einer Familie von Steiger und einem gütigen älteren Herrn mit einer weiten schwarzen Pelerine. Er wurde von uns jeweils etwas ängstlich begrüsst, zeigte uns aber hie und da schöne Blumenbilder. Ich erfuhr, dass er der Maler war, der ein Buch mit Blumenmärchen illustriert hatte und Herr Kreydorf hiess. 

Im Obstgarten beim Bauernhaus wuchsen herrliche Äpfel, Birnen und Kirschen. Gab es zu Hause einmal eine Banane oder eine Orange, war das ein Erlebnis. Mein Vater hatte eine eigene Art, die Orange zu schälen. Mit dem Messer ritzte er die Schale so, dass er dann die Teile wie Blätter einer Blume herunterziehen konnte und die Frucht bewundert wurde, bevor man sie in Schnitze teilte und ass. Wenn der Vater zu Hause war, beschäftigte er sich viel mit uns. Er liess uns den Zirkel benützen, zeigte, wie aus übereinander gelegten Kreisen neue Muster entstanden. 

Ich war ein lebhaftes Kind, das nie lange still sein konnte, ausser beim Klavierspielen. In der Schule machten wir im Turnen Gleichgewichtsübungen. Zu Hause erweiterte ich die Versuche, so stützte ich mich auf einem Taburett mit beiden Händen auf, streckte beide Beine über die Horizontale und schaukelte hin und her – leider dann nicht mehr im Gleichgewicht, sodass ich unsanft mit dem Gesicht nach vorne auf die Kante des grossen Gusseisenofens in der Küche prallte. Ein Knacken, ein Schmerz und mein erst recht ausgewachsener vorderer Schneidezahn war gebrochen. Wohin sofort zum Zahnarzt? Nun kam mir wieder das Haus meiner ersten Klavierlehrerin in Muri in Erinnerung, der Mann war ja Zahnarzt. Er war ein Sängerkollege meines Vaters, und er hatte in Muri seine Praxis. Oft machte ich dann die komplizierte Reise dorthin. Zuerst ins Kirchenfeld über die Marzilibrücke, hinauf zum Helvetiaplatz, wo das blaue Muribähnli zur Station „Egghölzli“ fuhr, dann der Marsch zum Haus des Zahnarztes und schlussendlich wieder zurück. Heute würde man den Zahn wieder einsetzen, damals wurde gleich auch die Wurzel entfernt und ein Kunstzahn an einer Spange an den hintersten Zähnen befestigt. Es sah grässlich aus, war unbequem und störte mich beim Sprechen. Ich gewöhnte mir an, nur noch mit der Hand vor dem Mund zu lachen. Wie schrecklich war es, als mich meine Mutter deswegen vor allen Leuten auslachte und verspottete. Die Mutter wurde mir jetzt oft fremd. Sie begann auch, mich vor Bekannten eingebildet und hochnäsig zu nennen, ja sie nannte mich sogar Totsch vor meiner besten Freundin.

Später erhielt ich dann eine Art Stiftzahn, der aber nie richtig an seinem Ort blieb und der ihn oft im ungemütlichsten Moment verliess, was viel Ärger bereitete, blieb er doch etwa im Pausenbrot stecken oder einmal bei einer Schneeballschlacht auf dem Pausenplatz suchte er das Weite – was dann zum friedlichen Suchen beider Parteien führte, sozusagen als „Friedensstifter“!

Ein zweiter Unfall war viel gefährlicher. Bei einer Schulfreundin übten wir auf einer Teppichklopfstange direkt neben einem rostigen Zaun mit spitzen Eisenenden den Umschlag. Mit Schuss drehten wir uns in den Kniekehlen – da rammte ich das linke Bein in eine Zaunspitze, vom Einstich in der Wade bis neben dem Kniegelenk blieb ich im wahrsten Sinne des Wortes aufgespiesst. Die Freundin rannte schreiend davon, und ich zog das Bein selber wieder heraus. Blutend schleppte ich mich zur Wohnung der Freundin. Man liess den Familiendoktor kommen, der mir mit einem von Jod getränkten Wattestab den ganzen Wundkanal ausputzte. Dieser Schmerz war so heftig, dass ich ohnmächtig wurde. - Man brachte mich nach Hause, spritzte Tetanusserum, und ich musste still halten, aber dann schlief ich vor Erschöpfung ein. Mein Bein schwoll in den nächsten Tagen stark an. Zum Verbandwechsel erschien jeden Tag die Hebamme von Wabern. Eine Infektion wurde dadurch vermieden. Meine Schulfreundinnen erfanden dazu die Geschichte: „Verunglückte Prinzessin, die nur verletzt wurde“, besuchten mich mit Blumen und Schokolade sowie brachten mir ein Poesiealbum mit herrlichen Sprüchen wie: „Schmerzt Dich das harte Wort: Du musst! So macht nur eins dich still, das schöne Wort: Ich will“. Oder: Kurz und gut, mein Wunsch ist klein, Lilly soll recht glücklich sein.“ 

Bald rutschte ich dann auf dem Hinterteil in der Wohnung herum, die Hausaufgaben wurden mir gebracht. Vom Unfall blieb kein Schaden, man sieht nur noch heute, nach mehr als 70 Jahren, zwei Narben, eine am linken Unterschenkel, die andere neben dem linken Kniegelenk. - Trost konnte mir die Katze nun ja leider auch nicht mehr spenden. 

*

In Erinnerung bleiben die Reden eines brüllenden Mannes aus dem Radio, den wir damals kauften. Hitler hielt seine Ansprachen, was uns Kinder zum Lachen reizte und was wir später zu fürchten begannen als unsere Freunde, die jüdische Familie Arnholz, in Panik gerieten. Der Mann war Direktor des Mode- und Stoffgeschäftes „Stoffhalle“. Sie waren entsetzt, als sie hörten, dass ich gerne die Reden eines brüllenden Mannes am Radio bei den Hausmeisterleuten hörte. Später sprachen auch meine Eltern über diesen gewissen Herrn Hitler, der ein gefährlicher Mensch sei und der die Juden aus Deutschland vertreiben wolle, sie verhafte und sogar umbringe. Ich konnte das nicht begreifen, waren doch unsere Freunde die Familie Arnholz auch Juden. Ihre Angst wurde mir aber bewusst, als sie meinen erst 19 jährigen Bruder baten, ihre einzige Tochter zu heiraten und ihm eine grosse Geldsumme boten. Er konnte das aber nicht annehmen – und Daysi heiratete dann einen andern Schweizer, war aber so unglücklich, dass sie sich das Leben nahm.

Ach, ich fand mich immer hässlicher mit der Spange im Mund, an der der „verlorene“ Zahn die grosse Schaufel vorn angemacht war und die an den Stockzähnen festhielt.

Ich wuchs auch schnell, wurde dünn und formlos und beneidete meine Kameradinnen mit fraulichen Rundungen. 

Das „Bettenmachen“ war damals eine zeitraubende Angelegenheit: Duvet, Kissen, Wolldecke, Oberleintuch, Unterleintuch Molton raus, alles zum Auslüften auf dem Fenstersims ausgebreitet, die Rosshaarmatratze gewendet, damit sie gleichmässig belastet wurde. Diese musste auch von Zeit zu Zeit zum Sattler gebracht werden, damit er die Matratze öffnete, den Inhalt auseinander zupfte und durchlüftete und wieder zunähte. Wieviel einfacher ist es heute mit den Schwedenduvets und den angenehmeren und praktischeren Matratzen. Es lebe das „ Nordische Schlafen“ heute. 

Auch ein besonderes Erlebnis war die grosse Wäsche!

Heute ist es diesbezüglich auch einfacher als damals. Am Vorabend erschien jeweils eine dicke Frau und weichte die Wäsche getrennt in Koch- und Buntwäsche in einem grossen Zuber in einer „Lauge“ ein. Am nächsten Tag erschien sie wieder sehr früh, heizte den grossen Kessel ein und bald verschwand alles im Dampf. Mit einer grossen Holzkelle wurden die Wäschestücke aus der Lauge in das kochende Wasser gezügelt. Auf dem Waschbrett wurde sie gerieben und geschlagen. Die hitzebeständige Wäsche wurde auch noch im grossen Kessel gekocht, mit der Kelle in ein Gefäss mit klarem Wasser gegeben und durchgespült und schlussendlich in die Auswinde gegeben. Zum Znüni gab es Wurst und Brot. 

Immer noch machten wir fast jeden Sonntag einen Familienausflug. Oft ein Stück mit der Bahn, nach Vechigen und dann zu Fuss zum Bauernhof der Familie Studer oder wir spazierten auf den Gurten oder nach Muri der Aare entlang. 

In diesem Haus musste ich mich entscheiden, ob ich die Sekundarschule oder das Progymnasium besuchen wollte. Es gab nun heftige Diskussionen mit den Eltern und dem Bruder, der sich weigerte, eine Wiederholdung der Tertia im Gymnasium zu machen. Er ging dann in die Lehrwerkstätte, um eine Lehre als Mechaniker zu machen. Nach ein paar Monaten wollte er dann aber zurück ins Gymnasium, was der Vater aber nicht erlaubte. Nach Abschluss der Lehre besuchte er das Technikum in Burgdorf. Zum Trost durfte er das Segelfliegen lernen. Oft am Sonntag spazierten wir zum Belpmoos und bewunderten seine ersten „Hüpfversuche“. Das Segelflugzeug wurde von einem aufgebockten Auto aus hochgezogen und flog dann einige Meter weit, landete nicht allzuweit vom Start. Ich bewunderte den Mut meines Bruders! Fliegen blieb seine Leidenschaft – bis zu seinem Absturz 1941 als Militärpilot. 

Wohl weil ein Studium für meinen Bruder nun nicht mehr aktuell war, fanden meine Eltern, ein Mädchen sollte sowieso lieber einen „praktischen“ Weg wählen und die Sekundarschule besuchen. Ich hatte ja auch immer mehr Zeit mit Klavierspielen zugebracht und machte am Konservatorium Fortschritte, spielte bei Matinéeaufführungen im Theater, an der Jubiläumsfeier der Landestopographie im Bellevue, begleitete Sänger etc. Also ging ich tapfer in die Mädchensekundarschule im Monbijou und fühlte mich eigentlich wohl. 

Dann aber häuften sich wieder ungute Dinge. Mein Bruder verletzte sich schwer mit einer Bohrmaschine, die ihm die linke Hand durchbohrte und mein Vater hatte in den Bergen einen Unfall mit den Folgen eines Leberrisses, darauf folgte ein Spitalaufenthalt in Disentis. 

In der Schule wurde es mir oft langweilig und die Klassenlehrerin sprach mit meinen Eltern, sie sollten mir doch ein Studium ermöglichen. Nicht mit grosser Begeisterung erklärten sie sich einverstanden, mich im Progymnasium anzumelden. Es blieb nicht viel Zeit, um mich auf diesen Tag vorzubereiten, und so war ich dann in der Mathematik so miserabel, dass der Rektor mich kommen liess und mir den Vorschlag machte, ein Jahr zu repetieren. Es hat sich gelohnt, es machte mir Freude, in diese Schule zu gehen. Bald spielte ich auch hier wieder Klavier an Schlussfeiern, begleitete den schon damals vielversprechenden Geiger Hans Heinz Schneeberger und erreichte sogar in Mathematik gute Noten bei dem alten, lieben Mathe-Lehrer. In dieser Zeit machte ich auch mit bei den Pfadfinderinnen. 

Die Stimmung meiner Mutter wechselte oft sehr schnell. So erklärte sie am 24. Dezember, es gebe dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum, weil mein Bruder und ich nicht folgsam gewesen seien. Welche Enttäuschung! Da spazierte mein Vater mit uns zu einer Gärtnerei, wir fanden dort einen kleinen, schön gewachsenen Baum. Zu Hause schmückten wir ihn mit roten Kerzen und Äpfeln – Weihnachtsschmuck fanden wir keinen – Mutter setzte sich dann doch zu uns und wir sangen Weihnachtslieder. 

Schon nach zwei Jahren zogen wir wieder um. Was wird das Leben an der Tillierstrasse bringen? Ich werde ja dort leben bis zu meiner Verheiratung, 18 Jahre später. Und freute ich mich, das Haus am Sandrain zu verlassen? Niemand fragte mich, ein Kind hat ja ungefragt dahin zu ziehen, wo die Eltern hin möchten. Halb war ich traurig, halb freute ich mich. Wir kehrten wieder heim ins „Kirchenfeld“. Da begann eine ganz prägende Zeit meiner Jugend. In diesem Haus wurde ich erwachsen. Progymnasium, Konservatorium, Gymnasium. Tod meines Bruders. Kriegszeit. Verdunkelung Landdienst. Erste Liebe, Freundschaften, Hausbälle, Pfadfinderzeit, Wölfliführerin, Matura und wieder ein neuer Lebensabschnitt: das Medizinstudium.


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Tillierstrasse 3 (1938 - 1953)
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1.7.  Häuser - Erinnerungen einer Kindheit (1925 - 1935) – Tillierstrasse 3 (1938 - 1953).

Es war wie eine Heimkehr, wieder im Kirchenfeld zu wohnen; nach dem „Abstecher“ zwei Jahre Karl Staufferstr. - Schillingstr. - Sandrain – nun in einem Reihen-Eckhaus an der Tillierstrasse. Ein Haus mit ringsum drei Terrassen, eine langgestreckt gegen Süden mit einer lauschigen Ecke und einem Nektarinenstrauch, eine kleine „Spielzeugterrasse“ gross genug für den Puppenwagen und dann die wohnliche, mit Reben bewachsene gegen die Strasse. Man sah von da zur Bushaltestelle und sah die Besuche von weitem kommen.

Die Wohnung hatte nun vier Zimmer und eine Mansarde, doch wohnte ich immer noch als Allgemeingut in der Wohnstube. Mein Bruder hatte die Ausbildung an der Lehrwerkstatt beendet, wohnte während der Woche in einem Zimmer in Burgdorf, hatte aber auch jetzt noch sein eigenes Zimmer zu Hause. Hatte ich mich eigentlich nie gefragt, warum ich nie ein eigenes Zimmer, einen eigenen Schreibtisch, eine eigene Kommode besass? Aber ich hatte ja wieder das Klavier neben dem Bett – und ein Büchergestell über dem Bett mit einer Serie blau gebundener Werke verschiedener Schriftsteller. Niemand fragte, ob die Literatur für mich geeignet sei, ich erinnere mich an „Quo vadis?“ und „die sexuelle Frage“ von A. Forel. 

Nun, meine Sekundarschulzeit war zu Ende, ich durfte nun ins Progymnasium, da mein Bruder das Technikum in Burgdorf besuchte. Der Übertritt von der reinen Mädchenschule zu dem gemischten „Proger“ war ein Erlebnis. In dieser Zeit spielte ich viel Klavier, durfte im Konservatorium Stunden nehmen, begleitete einen Sänger an einer Feier der L T, wo mein Vater arbeitete, spielte bei den Berner Singbuben und begleitete H.H. Schneeberger in der Französischen Kirche. Ich war so eine Art „Wunderkind“, hatte selber aber nie das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ein Foto von mir war beim Musikhaus Kronenplatz ausgestellt, und die Mitschüler gingen es lachend betrachten. 

Das Verhältnis zu meiner Mutter begann schwierig zu werden. Ich liebte sie zwar sehr, hätte sie gerne oft umarmt, aber nicht so demonstrativ und hart. Ja, und da hatte ich auch meine erste Liebe, den Heinz, ein schüchterner, blonder Knabe der Parallelklasse. Lange hütete ich das „Geheimnis“ - er wartete jeweils in der Pause, bis ich vom Klassenzimmer herauskam, er besuchte mich beim Los-Verkauf und fragte, ob ich viel verkauft habe, er begleitete mich zum Schwimmen in der Ka-We-De und sass vor mir im Singunterricht. Von diesem Gefühl konnte ich im Tagebuch schreiben, das mir mein Bruder zu Weihnachten geschenkt hatte.

Ausschnitte aus dem Tagebuch:

„Ich komme mir so komisch vor, weil ich immer an Heinz denke. Warum nur? Ich habe dieses Gefühl noch nie gekannt. Vielleicht werde ich es nächstens einmal sagen, wie es steht. Helfen kann es ja zwar auch nicht. Nun fange ich an müde zu werden. Es ist Zeit, dass ich schlafe!“ 

Das Verhältnis meines Bruders zu unserer Mutter war ungewöhnlich tief. Ich erinnere mich an Sommerferien in Schuls, wo Gusti zwischen Rekruten- und U.Off.-Schule als Messgehilfe bei unserem Vater arbeiten konnte. Ein Gespräch zwischen Mutter und Vater blieb mir geheimnisvoll in Erinnerung. Mein Bruder soll mit der Tochter der Ferienwohnungsvermieter ein „Verhältnis“ gehabt haben, d.h. er habe mit ihr im Zelt geschlafen. - Ich sah darin nichts Schreckliches, Mutter und Vater waren aber „entsetzt“!!

Siehe Brief v. 6.6.1937, ebenfalls v.11.7.37, weitere Briefe bis 17.10.1937. 

In der dritten Klasse wechselte ich wieder den Klavierlehrer. Ich durfte nun zu Herrn Willy Girsberger am Konservatorium. Vortragsübungen liebte ich. Man lobte mein Spiel, und ich übte mit Freude. Bald liess sich Vater lieber von mir begleiten als von Mutter. Jetzt begleitete ich an Familienabenden des Berner Männerchors auch Gesangssolisten, und bei einem Konzert der Berner Singbuben in der Franziskus Kirche spielte ich eine Mozart Sonate. 

Die Tagebücher wurden in dieser Wohnung geschrieben. Siehe Kapitel 3-3.3.
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Gustis Briefe (1937 - 1941)
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2.  Gustis Briefe (1937 - 1941)

 

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Dübendorf, 17. 3. 1937 (1)

Meine Lieben, 

Vaters Brief habe ich gestern mit Freude erhalten. Getrübt wurde diese Freude aber von der Nachricht vom Tod von Herrn Rudin. Sehr tragisch ist ferner noch, dass die Beerdigung ausgerechnet auf den 15. Geburtstag von Hanny fällt.

Doch nun etwas anderes. Über die Prüfungsergebnisse bin ich gerade gar nicht erstaunt. Die Hauptsache ist mir, dass ich bestanden habe. Nur die Noten der Theorie will ich noch gerne wissen. Doch damit LÄDERE basta! Den Gips werde ich mir so bald als möglich holen.

Mein ganz grosses Ideal ist und wird das Militär bleiben.

Exerzieren und technischer Dienst wechseln so schön ab, dass die Tage nur so fliegen, ja, einfach schön, und der Gusti lernt in diversen Lagen die Zähne zusammen zu beissen und durchzuhalten. Und das ist es, was mir so gefällt. War jetzt zwei Tage mit meiner Gruppe allein, da unser Korpis wegen Befehlsverweigerung drei Tage „Scharfen“ eingefahren hat. Doch ging es auch ohne ihn prima. Meine diversen „Krankheiten“ sind langsam am Verduften - und eben ist Rapport.

Dem Müeti ein Müntschi und sonst allen guet Nacht.

Gusti

Dübendorf, 17.3.1937 (2) 

Soeben eine halbe Stunde „Pfusen“.

Bin bei Kp.3,1.Zug. Kommandant Imhof. Wurde beim technischen Dienst Corp- Stellvertreter. Bis jetzt alles im Butter. Dienst schön. - Viel Blödsinn, z.B. „Corp. FI-R. Staub muess ga schiffe - 

Bitte Hemden Socken und Handtücher (aber plötzlich). 

Gusti


(2) Vor dem "Pfusen" in einer späteren Zeit.

Vor dem "Pfusen" in einer späteren Zeit.

 *

 Dübendorf, 17.3.1937 (3) 

Meine Lieben, 

Eben habe ich Zeit, Euch einige Worte zu schreiben. Also, bis jetzt ist alles in schönster Butter. Ich bin in Kp.3., Zug 1, Gruppe 1. Nebenbei von der ganzen Kp. der 2. Grösste. Oberleutnant Imhof ist Kp.Kommandant. Schon in Zürich fragte er nach Rekrut Staub. Und bis jetzt fragte er mich bereits zweimal, wie es mir gehe. Na, danke bis jetzt prima. Im techn. Dienst bei Kp Matter – einem Berner Segelflieger bin ich Kp.Stellvertreter. Unsere Devise der 6 Berner lautet: „Es isch ja ne Sport wie jede andere.“ 

So, heute hatten wir Ausgang bis 21.30, aber schon um 20.30 stecken wir in unserem Schlag und verziehen uns schon bald ins Nest. Zuerst Planken – „Du Aetti: jä so --“. Also wie gesagt, der Dienst ist interessant. 

Bitte Nastücher, Hemden und Socken, sowie noch ein Paar Hosenträger, aber möglichst plötzlich! Für Handtücher wäre ich auch noch dankbar. 

Empfangt nun noch die herzlichsten Grüße und fürs Mueti ein Müntschi von Eurem

Fliegerrekrut Gusti

Adresse: Fl.Rekr.Staub Gusti Fl.R.S. 1/37 Dübendorf

Komp. 3,1.Zug 

Dübendorf, 21.3.1937 (4) 

Meine Lieben, 

Eben haben wir ein bäumiges Mittagessen inhaliert und haben jetzt wieder einmal ein bisschen Zeit. Ja goppel auch mit Ruhezeit stets mies, immer angespannt von morgens 05.30-22.00.

Heute morgen Duschen und Impfen. Mich haben sie noch einmal drangenommen.

Doch hantli habe ich den Dreck wieder ausgedrückt und abgeputzt. Diesen Morgen Lebenslauf schreiben. Für Reverenz über Vater habe ich Herrn Zoelli L R angegeben. Gestern Abend war ich schnell bei Trudel, traf aber nur seine Frau. Bin jetzt nach Ostern bei ihnen eingeladen. Zigaretten rauchte ich letzte Woche kein ganzes Päckli, keine Zeit---

Aber alle Abende stecken wir Berner in der Soldatenstube bei Most und Güetzi.

Bis jetzt habe ich für andere Zwecke noch kein Geld gebraucht, ausser noch für diverse militärische Artikel.

Morgen fasse ich neue Marschschuhe, die alten haben mich über dem Rist zu stark gedrückt. Also, wie gesagt, mir gefällt der Dienst, wenn schon bis jetzt drei Tage lang Schnee und Regen fällt, also richtig gehend Sauwetter. Das will aber nichts heissen, denn im Kaput und Helm ist man gäbig am Schärme. Nur putzen, nicht pützelen am Abend, dass es eine Freude ist. Mir kann es gleich sein, es ist ein Sport wie jeder andere auch. Mutters 2 Säckli und Hosenträger habe ich erhalten, jedoch ein bisschen enttäuscht war ich, als ich darin ausser dem Verlangten weder einen anständigen Brief, noch Zigaretten oder eine Schokolade fand. Also bitte denkt daran, dass ich in unserer Gruppe der einzige bin, der bis jetzt keinen Bissen von zu Hause bekam.

Mit meinen Korporalen komme ich bis jetzt ganz gut aus. Während dem Dienst sind sie saustreng, nebenbei aber alles Gemütsathleten und heute glücklicherweise alle heiser. Ich spüre im Hals nicht das geringste, trotz stetem Brüllen. Denn d a s kann ich. In 10 Minuten beginnt der Krieg mit den Planken wieder und diese Woche Zimmertour. - Wischen, was ein grosser Seich ist und ich besonders gern tue.

Und nun denn, Mueti, ein Müntschi und dem Rest herzliche Grüße

vom Gusti. 


(3)

 

Dübendorf, 9.4.1937 (5), Montag 12.35 Uhr 

Meine Lieben, 

Mittagsruhe. Heute das erste Mal nicht genug zu essen. Also ab in die Pinte und noch Rösti und Kaffee. Nun bin ich restlos pleite, habe kein Geld mehr. Nächsten Sonntag schon um 09.00 Abtreten und den ganzen Tag Ausgang. Werde wieder nach Zürich gehen. Von Mix und Dres Dübi erhielt ich einen langen Brief aus Adelboden. Es soll schön sein auf den Skis, aber hetzen können sie mich nicht, denn mir gefällt der „Krieg“. Wenn nur mein linker Fuss ein bisschen besser mitmachen würde. Am Morgen beim Antreten Laufschritt in den Marschschuhen, ca. 2 km. Nach 30 Minuten Arbeit wieder der alte Schmerz, aber umbiegen können sie mich nicht. 

Ausgang haben am Abend nur die, die den ganzen Tag mit Willen und Schneid ihr Tagewerk zu Ende brachten. Die „Faulen“ dürfen noch speziell exerzieren. Ich hatte noch jedes Mal Ausgang. Soeben Ruhe vorbei, doch ich habe meine Schuhe schon angezogen, mir pressiert es nicht so wie dem Korpis. 

Heute Arbeit und Schlauch bis zum Verrecken, abends noch Ausmarsch auf den Wangenberg. 

Gusti

*

Samstagabend 16.30 Uhr (ohne Datum) (6) 

Meine Lieben, 

Heute hat es mich überschlagen. Bei der Inspektion durch Magron ging noch alles gut. Nachher beim Turnen wurde mir trümmlig. Kp. Spörnli (der meinige, ein saunetter Kerl) merkte es, und ich durfte austreten und abliegen. Da habe ich mich so geschämt, dass ich den Kopf ins Gras drückte und weinte. Oblt. Imhof nahm mir dann die Hand wie ein Vater und meinte, das könne jedem passieren. Überhaupt ist er nett zu mir. Bis jetzt ist meine Qualifikation sehr gut und ich glaube, dass dieser Schwächeanfall nichts zu sagen hat. Habe überhaupt Halsweh und Schnupfen wie toll. Sehe kaum zu den Augen hinaus. Der Arzt behauptet zwar das Gegenteil, doch hören U.O. und Off. nicht viel auf ihn, fertiger Dubel ---. 

Empfanget nun die besten Grüße von Gusti.

Dübendorf (7) 

Meine Lieben, 

Habe soeben das Wäschsäckli erhalten und danke noch für den langen Brief von Mueti. Mir geht`s wieder richtig gut, dafür hat es heute wieder einen anderen Berner überhauen. Nächsten Samstag ist Urlaub, und ich werde natürlich meine schönen Patten in Bern spazieren führen. Jetzt freue ich mich recht auf den „Grossen“. Die letzte und diese Woche waren so verreckt streng, dass es mir manchmal richtig stank, und ich in Versuchung kam, die ganze Eidgenossenschaft solle mir am „A“ läcken… 

Von Eurem lieben Kartengruss wurde ich zuerst ein wenig falsch, besonders über die Glückwunschkarte. 

Von Ernst Wüthrich habe ich ein grosses Paket mit Fresswaren erhalten, und den Bericht, dass Schär in Bern in verschiedenen Kreisen mächtig an Punkten verloren habe. 

Zu Lillys Erfolg möchte ich gratulieren, doch soll sie sich nun nur nicht zu stark fühlen! (Es handelte sich um das Klavierspielen am Berner Männerchor Familienabend.)  

An Wäsche habe ich nun genug, und nun will ich noch 15 Min. pfusen und schliesse meinen Bericht mit den herzlichsten Grüssen an alle. 

P.S. Oblt. Imhof liess mich bis jetzt noch nicht fliegen. Ich glaube, er will mir einen prächtigen Überlandflug reservieren, und zwar mit ihm. Er ist schwer nett mit mir, nur als Kommandant im Morgenturnen ein Ekel (Laufschritt wie verrückt). 

*

Dübendorf, 18.4.1937 (8) 

Meine Lieben, 

Heute Sonntagnachmittag mit Kameraden in Züri am Sechseläuten. War ganz gemütlich. Dito der Tanz in der Sihlporte. Doch schon um 20.00 war ich wieder in der Kaserne. Heute Abend, d.h. Nacht, kriegt unser Ekel der Gruppe Schär, auf den Ranzen mit den Centurond mit Bewilligung des Korporals. - Mir gefällt der Dienst und schön ist es. Gestern hatten wir von 07.30 bis 13.00 Uhr bei strömendem Regen Zeltbau. 

Für Muetis Dessert bin ich sehr dankbar, es war fein. Von Fam. Rätz erhielt ich ein ganz grosses Fresspäckli. Ich werde noch schriftlich danken, doch vorerst durch Mueti mündlich. Für Nastücher wäre ich dankbar. Nächste Woche beginnt die Schildwache. 

PS. Für das Geld von allen meinen besten Dank. Jetzt guet Nacht und herzl. Gruß

Gusti

*

Dübendorf, 22.4.1937 (9) 

Meine Lieben, 

Mittagspause, die ich dazu benütze, Euch rasch, rasch etwas zu prichten. Stehe jetzt vor zwei harten Stunden, in denen ich mich bis zum Äussersten anstrengen werde. Erste Siebung der Off.Aspiranten. Alle Aspiranten müssen vor Oberstleutn. Magron und dem ganzen Rösslispiel ihre militärischen Kenntnisse auspacken und diverse Liegen und Gewehr-Griffe klopfen. Doch es wird wohl gehen, denn übermorgen ist ja Samstag, an dem ich aber erst gegen Abend in Bern ankommen werde, da Abtreten am Mittag und Verbindung in Zürich erst 15.36.  

22.4. abends 21.50 

M.L.Türgg vorbei. Musste vor dem Oberst den Gewehrverschluss demontieren. Das erste Mal in der R.S. verreckte mir die Montage. Doch meine Achtungsstellung hat ihm eingeleuchtet. Zum Schluss meinte er, ich sei also weiter vorgesehen, meine Einberufung in die UO zu erhalten. Zum Schluss musste ich die ganze Bande in Marschkolonne sammeln, abmelden und ins Kanti führen. Juhee! Der Dienst ist schön. Morgen wird‘s bös: Frühturnen und Zeltbau bis 22 Uhr.

*

Dübendorf, 26.4.1937 (10) abends 21.55 

Meine Lieben, 

Schon hocke ich wieder in meinem Nest daheim auf dem Flugplatz Dübendorf. Die meisten Kameraden haben Heimweh nach dem Schatz, was mir Gott sei Dank abgeht. Und morgen wird wieder mutig und mit Speuz und Freude losgetürggt.

Eben machte Oblt. Imhof Rapport. Richtete ihm einen Gruß von Vater aus. Er dankte dafür und lässt Vater ebenso grüssen. Habe mir noch ein Nachtessen inhaliert.  

Herzliche Grüße

Gusti

*

Dübendorf, 28.4.1937 (11) 

Meine Lieben, 

Schon wieder zwei Tage, die verflucht streng waren, vorbei. Gestern war es saumässig. Am Morgen Turnen wie wild, am Nachmittag Exerzier-Schlauch, wie der Teufel. Manchmal trappten wir bald auf die Lunge. Der ganze Türgg fand noch im Kaputt statt. Heute gings wieder besser. Sogar mein Husten hat sich verzogen dank Muetis Tabletten. Morgen früh beginnt das Wettschiessen für das Schützenabzeichen. Hoffentlich!!!!! Allerdings sind die Anforderungen hoch, sauhoch sogar. In die Verlegung geht es also nach St. Gallen, d.h. in die Nähe davon. 

Und nun guet Nacht, herzliche Grüße

Euer Gusti

Dübendorf, 30. April 1937 (12) 

Meine Lieben,  

Heute morgen machte ich mit Imhof einen ganz bäumigen Flug von 35 Minuten über Rapperswil das Lindtthal „z‘düruff, den Bergen zu und zurück nach Zürich, Züriberg, Zoo bis hier. Mir gab es wieder neuen Mut, weiter zu türggen, um selbst einmal am Steuer einer solchen Maschine zu sitzen und in der Luft herum zu gondeln. 

Muetis Geburtstag habe ich trotzdem nicht vergessen und wünsche ihm fürs neue Jahr gute Gesundheit und viele frohe „glückliche“ Stunden. 

Gestern Nacht, d.h. „nächti“ hat Schär nun seine Tracht Prügel eingefahren. Dazu wurde ihm sein Nest auf den Grind gestellt, und die Planke hinunter gerissen. Auch schön. Dito Fl.Rk. Waldhard ging es so. 

Morgen haben wir den ganzen Tag Zeltbau und abends sehr wahrscheinlich Alarm.

Am Sonntag gehe ich nach Züri, vielleicht zu Farners. 

Gestern mussten wir noch ein Nachtessen kaufen, d.h. es gab nicht genug bei der

Pension „Minger“. 

Und nun allen recht schönen Sonntag und empfanget die herzlichsten Grüße vom Gusti 

P.S. Schreibe im Nest liegend daher das Gekafel!

*

Dübendorf, 1. Mai 1937 (13) 

Meine Lieben, 

Socken, Unterhosen und Abtrocktücher muss ich plötzlich haben. Im Übrigen ist alles in Ordnung. Am Montag Nacht beginnt der Wachtdienst vor den Zelten. Heute gab es „Aff“ Gewehr und Ausgangstenue-Inspektion. Volle 7 Minuten stand die 3. Kp., d.h. wir in Achtungsstellung vor den Obersten. Auch schön. 

Muetis liebes Sonntagspäckli habe ich mit grosser Freude erhalten. 

Am Dienstag geht ein Detachement mit den besten der KP per Camion nach dem neuen Stausee, dem Sihlwerk. Ich bin auch dabei.

*

Dienstag, 2. Mai 1937  (13a)

Mit dem Helm im Arm habe ich ca. 2 Stunden geschlafen. Heute Dienstag um 04.00 Tagwacht. Und Abfahrt zwei Stunden lang per Camion nach Einsiedeln am Sihlsee. Brandbomben-Abwürfe und Häusersprengungen. War ganz gerissen, nur hat es den ganzen Tag geseicht, was es herunter mochte und gefroren haben wir wie die Schneider.

Nun geht es bald in die Verlegung. Nächsten Sonntag per Auto in die Nähe von St. Gallen, nach WINKELN. 8 Tage später nach Altenrhein und dann geht‘s noch eine Woche und in 8 Wochen hoffe ich, Korporal zu sein! 

Auf Deine liebe Frage, ob ich Geld brauche, kann ich Dir die erfreuliche Nachricht machen, dass ich vorläufig keines brauche. Unsere Sonntagsausgänge sind ziemlich zu Ende, und während der Woche sind auch die Ausgänge am Abend zurückgeschraubt. 

Weisst Du, Mueti, so auf der Wache, während der Patrouille auf dem sicheren Flugplatz liegt in jedem Gang eine ganze Welt von Zwecklosigkeit. Dann kommen ganz automatisch Gedanken über tiefe Dinge und man hat Zeit, in aller Ruhe sich mit sich selber und mit seinen Fehlern abzugeben. Ich habe mir jedenfalls auf dieser Wache vieles vorgenommen. 

Von Chur erhielt ich von Greta Conzett einen Korb für den Pfaderabend. Der Korb war begleitet von 2 Salsitz. Na schade, aber ich gehe doch am 29. Mai an den Abend.

Nun wünsche ich Dir gute Besserung von Deinem Husten.

Erhalte ein herzliches Müntschi vom Gusti --- Gruß an alle.


Dübendorf, den 4.5.1937, abends 21.15 (14) 

Mein liebes Mueti, 

So, nun will ich Dir wieder einmal erzählen, wie es uns so geht. Am Sonntag war ich bei Familie Farner in Züri und fand Herr und Frau als ganz liebe Leutchen. Nach dem Mittagessen, das ich natürlich bei ihnen ass (Spargeln), setzte man mich in einen Fauteuil, liess mich 5 Min. allein, und schon war Gusti in den Jagdgründen, d.h. er schlief wie ein Stock den ganzen Nachmittag bis abends 18.00!!

Bemerkungen von Lilly:(15)

Zweisimmen, 26.4.2011, finde ich in meinem Tagebuch einen Eintrag, dem ich entnehme, dass mein Bruder offenbar mit der Tochter des Vermieters der Ferienwohnung ein Verhältnis hatte. Meine Mutter machte eine Szene, weil Gusti mit der Meni im Zelt geschlafen hatte. Mein Bruder war zwischen der R.S. und der Unteroff.Schule als Messgehilfe meines Vaters tätig, der in diesem Sommer von Schuls aus als Geometer arbeitete. Der Brief meines Bruders vom 6.6.37 nimmt Bezug zu dem Vorfall.

Schuls, den 6.6.1937, abends 20.00 (16) 

Liebes Mueti,

Nach schöner Reise bin ich also am Donnerstag hier angelangt. Am Mittwoch noch Regen bis Chur. Also blieb ich dort bei Conzetts. Am Abend pilgerte ich zu Hausers (Götti und Gotte von Lilly).

Donnerstagmorgen um 06.00 Uhr war Tagwacht, da Maiensäss-Aufzug der Schüler, den ich als alter Churer nicht verpassen durfte. Mittags rutschte ich dann bei schönstem Wetter Richtung Engadin.

Weisst Du, eine wunderschöne Fahrt ist das schon.

In Schuls angekommen suchte ich gleich die Handlung Büchele, diese befindet sich mitten in Unter-Schuls, ca. 20 Minuten (wenn man bummelt) vom Bahnhof. Familie Büchele empfing mich aufs Herzlichste, und ich habe den Eindruck, dass es sehr nette Leute sind. Unsere Küche ist sehr sauber mit „Holzherd“. Das Holz steht alle Tage frisch drin. Das sind die dienstbaren Hände der Familie Büchele. Unser Schlafzimmer ist eine heimelige Bude, ganz mit Holz getäfert. Die letzten zwei Tage war schönstes Wetter und mich hat es schon gäbig verbrannt. Heute Sonntag schiffts allerdings schon seit dem Morgen, und es scheint, der Regen wolle auch morgen nicht nachlassen. Mit Alois (Messgehilfe und Faktotum meines Vaters) habe ich mich ganz gut angefreundet. Er ist ein netter Typ. Gestern waren wir beide bis 23.00 im Dorf. Ebenso mit dem jungen Büchele komme ich ganz gut aus. Das wäre im Moment alles, was Schuls und Umgebung betrifft. Zu bemerken sind die schön geputzten Waldwege, die alle 50 Meter ein Bänkli aufweisen. 

Für das Aufgebot meinen besten Dank. Gehen wir also doch nach Dübendorf. Henu sode! Vati ist am Radio in der Stube Bücheles und lässt Euch auch herzlich grüssen.

Herzliche Grüße, Euer Gusti

Lasse alle Bekannte grüssen, auch „Tante Gritli“.

(Bemerkung von Lilly:Tante Gritli ist die Wirtin in Bern, die ein Restaurant führt und die den Soldaten immer etwas Gutes vorsetzt.)

Schuls, 13.6.37 (17) 

Dear Mother, 

Da wir wieder einmal Sonntag haben, setze ich mich auf das Bänkli vor das Haus und gebe Rapport über die letzte Woche. 

Vorerst Deinen Brief und die Karte haben wir erhalten, besten Dank! Dass ich in Bern den Blumentürgg verpasst habe, ist mir mehr oder weniger recht. Weisst Du, hier oben ist es einfach ganz gross. Den ganzen Tag strahlende Sonne und wirklich tiefblauer Himmel. Dazu die Wälder, die einen so starken Duft ausströmen, dass man es manchmal im Dorf selbst riecht. Für Spaziergänge auf „gstrählten und frisierten“ Wägli einzig. Letzten Donnerstag machten wir während der Arbeit einen Besuch in den Trinkhallen von Schuls. Eisenwasser, Schwefelwasser und noch eines, alle versuchten wir gratis. Vati und ich glauben bestimmt, dass ein Ferienaufenthalt für Dich hier oben wirklich nur von Gutem sein kann. Auch Lilly wird in der prima Luft und an dieser Sonne sicher schwarz wie ein Neger. Ich für mich bin ganz prima zwäg.

Weisst Du, den Brenner am Buckel habe ich auch überstanden.

Für den langen 16 wöchigen „Krieg“ in Dübendorf bin ich dann also wieder in Hochform. Es fällt ja dann die Entscheidung, ob der Gusti Offizier wird. Doch es muss gehen, ich werde mein Letztes einsetzen, um mein Ziel zu erreichen.  

Morgen geht‘s mit Ätti und Alois in die Dislokation. Mit Zelt und unserer ganzen Bagage steigen wir in die Höhe. Vorerst streifen wir für 8 Tage die Zivilisation ab. Acht Tage fern vom Dorf werden wir wieder leben wie die Räuber, auch schön. Wenn das Wetter anhält, so ist der Piz Lischanna fällig. Juhee Berge, ich möchte auch singen: Die Berge sind meine Heimat, in den Bergen bin ich zu Haus. 

Von Gutz aus Zürich erhielt ich einen Brief. Er schreibt, dass sein Studium sau streng sei und er ebenfalls lieber in den Höger herumklettern möchte. Am 16. zieht auch er wieder in den Krieg, nach Andermatt. Freiwillig macht er seinen ersten Wiederholungskurs. Also scheint auch ihm das Militär zu gefallen. 

In Chur war es ganz nett. Selbst bei Hausers gab es einen ganz gemütlichen Abend. Auch Frau Jecklin im Laden lässt Dich herzlich grüssen. 

Du fragst, wie Greta Conzett beurteilt worden sei. Ich kann nur so viel sagen, dass Greta nie mein Ideal werden kann, denn mit „Gi“ kann sie nicht im Entferntesten konkurrieren. Und Du kennst ja meine Schwäche. Besser als Greta gefällt mir schon Anneli. Doch auch das kommt nicht in die engere Wohl. Ueberhaupt habe ich jetzt dann fast vier Monate meinen Kopf anders zu gebrauchen. 

Und nun denke ich, es sei für heute genug, d.h. das nächste Mal in 8 Tagen das Weitere. 

Empfange nun die lieben Grüße, dito Lilly 

Von Gusti

*

Dübendorf, 11.7.1937 (18) 

Liebes Mueti, 

Schon gestern Abend gab es um 16.30 Abtreten. Wir gingen prompt nach Zürich. Zuerst in ein Kino „REX“. Dann bei Tanti in Höngg. Habe den ganzen Sonntag geschlafen und gegessen. Heute mussten wir zum ersten Mal die Handschuhe tragen. Meine Häntsche“ von Bern waren nicht diensttauglich. Kostenpunkt Fr. 4.90. Bis jetzt war der Betrieb ganz gerissen. Ab morgen bin ich Zimmerchef, bis gestern war ich Gruppenführer. Das Wetter war bis jetzt ganz gross, nicht allzu heiß, überhaupt schön. Ihr werdet nun wohl in Schuls stecken. Hoffe, dass Ihr gut gereist seid. Hat Euch Meni abgeholt? 

Du Mueti, ich habe eine Bitte an Dich, bitte schau, dass Du mit Meni gut auskommst, denn das Mädel hat Dich gern, denn ich habe ihm von Dir nur Gutes und Liebes erzählt. Wenn ich Dir weh getan habe, dann bitte Verzeih! Dass Meni und ich einander liebten, darin sehe ich nichts Schlechtes. 

Dass ich Vaters Vertrauen missbraucht hätte, war ich mir nie bewusst, denn ich sagte Vater immer, wo ich gewesen sei. Ja, es stimmt, ich kam viel spät nach Hause. Du schreibst, ich hätte das Glück gehabt, „leichte“ Mädchen kennenzulernen. Bitte, bezeichne mein Meni nie so! Mit diesem Ausdruck hast Du mir sehr weh getan. Denn Meni liebt mich rein und aufrichtig. Später werde ich Dir einmal die Briefe zum Lesen geben, doch jetzt kann ich es noch nicht. Bis jetzt war ich aufrichtig zu Dir und möchte es auch in Zukunft sein. Bis jetzt warst Du trotz allem meine liebste Freundin, und ich möchte, dass unser Verhältnis als Mutter und Sohn durch diese Affäre nicht getrübt wird, denn ich habe Dich ja so lieb, glaub mir Mueti!!! 

Eines kann ich Dir vorläufig nicht erfüllen, mit Meni zu brechen, das bringe ich bis auf weiteres nicht übers Herz, denn ich habe Meni gern. Das sei ein Geständnis, das ich Dir als Mutter trotz allem sagen muss. Also tue mir den Gefallen, bitte, sei mit Meni nett. Denn Meni hat Heimweh nach mir und es schrieb mir, es freue sich, Dich kennen und schätzen zu lernen. Also bitte zerreisse unser Verhältnis zueinander nicht zu brüsk. Ich werde Meni wieder schreiben, und ihm ganz langsam, tropfenweise beibringen, dass es nicht gehen soll. Für Eure Ferien wünsche ich Euch schönes Wetter und gute Gesundheit. Mueti, bitte sage Vater, dass ich es bedaure, dass ich sein Vertrauen missbraucht haben soll, doch war ich immer der Meinung, er wisse alles. 

Und jetzt werde ich wieder krampfen, dass die Schwarten krachen. Körperlich war ich schon lange nicht mehr so gut beieinander. Und überhaupt bin ich momentan froh, dass ich den straffen Disziplinbetrieb mitmachen kann. Dabei kann ich alles am besten vergessen. Und nun erhalte die besten Grüße – und trotzdem Du mir den „ehrlichen“ Mutterkuss nicht mehr gabst, ein herzlicher Kuss. 

Gusti

Lasse alle Bekannten grüssen.

Dübendorf, 20. Juli 1937 (19) 

Mein liebes Mueti, 

Ich bin Wachkommandant-Stellvertreter. Alle Kameraden, die nicht eben Wache stehen, schlafen, einschliesslich des Leutnants. Vorgesehen war ja, dass wir heute Dienstag nach Kloten versetzt werden sollten. Was zum grössten Teil auch geschah, doch hiess es gestern plötzlich, aus jeder Klasse sollen die zwei Besten abkommandiert werden, damit die vielen fremden Flugzeuge bewacht werden können. Und stellt Euch vor „i c h“ war auch bei den Auserwählten wie Theo Ludwig. Sulzer Mäni stinkts bös. Gestern wollte ihn der Hauptmann prompt nach Hause schicken wegen Unfähigkeit. Mit mir sind alle zufrieden. Ich gebe mir auch alle Mühe, dass sie es merken. Meine Qualifikation lautet bis jetzt auf gut – sehr gut. Anmerkung von Hpt. Troller: gibt sich sehr Mühe. So sind wir also auf Wacht abkommandiert bis nächsten Donnerstag und kommen in dieser Zeit nicht einmal aus den „Tschopen“, geschweige denn aus den Hosen. Von Schuhe ausziehen keine Rede. Nicht einmal der Leutnant darf den Rock ausziehen. Zu tun haben wir wenig. Je zwei stehen zwei Stunden und dann haben wir wieder vier Stunden zum Schlafen oder Lesen oder Schreiben. Kein Exerzieren, rein gar nichts. Ich stehe Tag und Nacht bis Donnerstag immer von 5-7 und 11-1 Uhr vor der Halle der Italiener. D a s sind Maschinen im Wert von ca. 3 Millionen Schweizerfranken. Man hat so mitten in der Nacht, wenn man d a r a n denkt, ein Gefühl, dass man jetzt erst als v o l l angesehen werde. Und denkt Euch, alle Offiziere grüssen u n s, als Ehrenwache zuerst, auch die Ausländer. Heute photographierte ich einen aus der Tschechoslowakei. So ist der Dienst schön, aber man wird trotzdem müde. Man merkt es an meiner Schrift, denn jetzt könnte ich schlafen, darf aber nicht. Aber ich wache ja gerne, denn ich bin doch Schweizersoldat und die hohen ausländischen Offiziere sollen von unserer Fliegertruppe eine gute Erinnerung mit nach Hause nehmen. Denn PFLICHTTREUE ist unser höchstes Ideal, und ich werde das Vertrauen, das meine Vorgesetzten mir entgegenbringen nicht missbrauchen. Denn unser Wachdienst ist hier EHRENSACHE. 

Apropo, wie geht es Euch? Mir persönlich prima, bis auf den leichten „Pfnüsel“, den ich mir letzte Nacht holte. Hat es bei Euch auch so tief hinab geschneit? Hier war letzte Woche ganz respektabel kalt, so dass wir zweimal mit dem Mantel ausrückten. 

Du Mueti, nach stunden- und tagelanger strengsten Prüfung meiner selbst, sehe ich ein, dass Du mit Deiner Einstellung zu Meni doch recht hast. Ich gebe mir Mühe, den Verkehr mit M e n i selbst brieflich wieder auf gescheitere Gedanken zu bringen. Es ist ja gut für Dich und das Mädel, dass es jetzt im Engadinerhof ist, und dort hoffentlich viel zu tun hat. Bitte unterrichte auch Vater in diesem Sinne, und wenn ich ihm, allerdings unbewusst, weh getan habe, so bitte ich ihn um Verzeihung! 

Doch eben ist mein Leutnant erwacht und so habe ich jetzt Zeit, ein bisschen zu pfusen. 

Empfange also herzlichste Grüße und einen Kuss von

Deinem Gusti

Dem Rest der Familie natürlich auch meine besten Grüße – aber ich habe ja an Dich geschrieben. Gusti

Kloten, Samstagabend 22.10, 31. Juli 1937 (20) 

Meine Lieben, 

Auch ich habe krampfhaft auf Post gewartet. Heute Abend erhielt ich endlich von Mueti ein 1. August-Päckli. Meinen besten Dank dafür. Die Fotos haben mich riesig gefreut und wieder auch betrübt, indem sie in mir die schönsten Erinnerungen in den Sinn rufen. An mein ziviles, privates Leben zu denken, habe ich richtig keine Zeit, denn unser Dienst war ohnmächtig streng in den letzten 14 Tagen. Die Verlegung nach Kloten scheisst mich bös an! Das ganze Flugmeeting brachte uns nur böse, harte Tage. Seit 14 Tagen stehen wir nun alle drei Tage Wache. Dabei traf mich Wacht-Stellvertretung. In dieser Nacht habe ich drei Stunden, in einer anderen sage und schreibe 1/12 Std. geschlafen. Dabei den ganzen Tag durch strengen Dienst. Heute massen unsere Offiziere die Spitzenleistungen der Mannschaften. Da hiess es wieder einmal, das Letzte aus sich herauszugeben. Am Morgen, kurz nach 04.00 Uhr gabs Alarm. In sieben Minuten war die ganze Bande marschbereit. Dann gings ab per Topo-Karte stundenlang im Gelände herumstreifen. D a s war noch ein gemütlicher Bummel. Doch 5 km vor Kloten weg im Wald hiess es: Einrücken ins Kantonnoment. Der beste dürfe ca. 37 Minuten brauchen. Wir 46 Mann zogen los, mit Helm und Gewehr Laufschritt und wieder Laufschritt, bis man fast die Lungen auskotzte. Durch dick und dünn ging es direkt ins Kanti. Mit letzten Kräften über den Drahtzaun beim Platz. Zuletzt stellte es sich heraus, dass der Letzte ganze 31 Minuten gebraucht hatte Ich wurde mit ca. 26 Minuten guter 13., d.h. wir, die Spitzengruppe lief gemeinsam ein. Dann Duschen und nachmittags wieder in Dübendorf Pikett sitzen. Der Abendausgang wurde auf ein Minimum beschränkt und dazu zwei Sonntage Dienst. In 8 Tagen ist ja Gott sei Dank die U.O. fertig, und wir werden entlassen. Nach Hause und rasch, rasch in Zivilkleidern über Sonntag. Und schlafen, schlafen. Noch einen Nachteil hat das Meeting, man braucht Geld, eine Saumenge Geld. Was man alles versäuft in dieser Hitze und Glacé sowie Eiscrème herunterschlingt, ist aschgrau. Auch das Rauchen kommt nicht zu kurz. 

Von Meni habe ich noch keinen Bericht auf meinen Brief bekommen. Doch hoffe ich, es werde sich auch damit abfinden, so wie ich es auch muss. Den Tag durch habe ich keine Zeit, nachts schlafe ich, nur auf den endlosen Nachtwachen, da habe ich manchmal Heimweh, dass es mich fast übernimmt. - Doch Schwamm darüber, ich hoffe, ihr habt noch zwei recht schöne Wochen und empfangt die herzlichsten Grüße von

Gusti

Morgen 1. August stehen wir Wache, daher ein besonderes „Prosit“!

Lasst mir alle grüssen und Vaters „Kapitlete“ habe ich mir zu Herzen genommen.

Sonntag, 1. August 1937, morgens 10.30 (21) 

Habe bis 06.30 ganz bäumig geschlafen. Dann Tagwache und bei strömendem Regen auf dem Flugplatz Kloten, wo wir 20 Flugzeuge startbereit machten. Dieser 1. August ist ein fertiger Seich. Nicht einmal Ausgang, nur Wachdienst. Heute Nacht stehen wir auch wieder Wache. Wieder Stunden, die nicht vorbeigehen wollen. Und ich habe ganz leicht Heimweh. Auch ich möchte wieder einmal so einen Feiertag mit allen meinen Lieben verbringen. Doch ich bin eben im Dienst, und da haben private Wünsche nichts zu bedeuten. 

Du Mueti, die Wäsche schicke ich Dir im Laufe der Woche. Wenn wir wieder nach Dübendorf ziehen, so ca. Mittwoch. Hier in Kloten haben wir kein Kästli oder Schrank, sondern müssen unseren Bettel im Waschsäckli verstauen. Da hat es saubere Socken und frische Hemden in schönster Harmonie. Bitte sende mir im Laufe dieser Woche noch Unterhosen und Frottiertüchli, Socken und ca. zwei Hemden. 

So, nun rauche ich noch eine Zigarette und um 11.00 Uhr hält uns unser Schulkommandant eine schöne Augustrede, wir wieder im Helm und Kaputt (da Regen) samt Gewehr stehend, dürfen sie anhören. 

Und nun wünsche ich Euch noch die schönsten Tage und allseits gute Besserung.

Herzliche Grüße vom Gusti 

Werde noch E. Blaser schreiben, damit ich nächsten Samstag gratis Mittagessen kann.

Machts gut!

Dübendorf, 13.8.1937   (22)

Mein liebes Mueti, 

So, rasch will ich Dir e chli prichten. Deinen Brief habe ich mit grosser Freude erhalten. Ebenso die 10 Stutz. Das war Rettung in letzter Minute, denn ich war richtig „stier“. Zu Eurer Lischanna Besteigung meine herzlichsten Glückwünsche.

Du kannst jetzt vielleicht begreifen, warum ich den Bergen verfallen bin. Kannst Du Dir etwas Schöneres vorstellen, als ein prächtiger Sonnenuntergang vor einer Hütte oder ein Aufgang auf einem Gipfel? Wenn ich morgen in 8 Tagen frei habe, werde ich Deinem Wunsche, nach Bern zu kommen, gerne Folge leisten. Ich glaube auch, dass wir zwei einander ziemlich viel zu sagen haben. Was Du aus dem Tagebuch erfahren hast, werde ich Dir einmal ehrlich erzählen, denn ich möchte trotz allem noch gerne Dein Bub sein. 

Weisst Du, bis jetzt gefällt mir der Dienst als Korporal. Meine Rekruten, glaube ich, werden den Namen Staub nicht so rasch vergessen. Wenn es mich ankommt, mache ich nachts um 11 Uhr noch Inspektion der Gewehre, so wie gestern Abend, und wehe dem, bei dem ich irgendwo Dreck finde. Mit so einem verfahre ich ziemlich energisch. So 20 Min. Laufschritt – der mir nichts macht – sind nicht zu viel. Fritzli Pieth habe ich in meiner technischen Gruppe, bis jetzt müssen wir beide, wenn wir einander ansehen, stets grinsen. Der Zufall ist halt doch ganz gross. 

So, jetzt hörte ich, auf dem Nest liegend und rauchend, auf. Noch ¼ Std. Radio, denn wir U.O. haben uns einen gemietet, der läuft nun, von morgens bis gegen Mitternacht.

Und nun herzliche Grüße und auf Wiedersehen 

Euer Gusti 

Für Lillys Edelweiss besten Dank, kann sie allerdings hier nicht gebrauchen. Der kleinen und der grossen Bergsteigerin meine herzliche Gratulation. Gusti

Dübendorf, 6.9.1937 (23) 

My loveliest Mother, 

So, ich stecke wieder ganz fest in meinem Element, dem Dienst. Gestern hatten wir eine bäumige Nachtfahrt hierher. Alles verlief glatt und ohne jede Panne erreichten wir unser Dübendorf. 

Weisst Du, ich ging restlos unbefriedigt von Bern weg. Ich wollte Dir doch so viel sagen und Dich noch fragen. Du, seit gestern stiegen mir Zweifel hoch wegen Meni. Ich hätte Dir doch so gerne offen gesagt, wie Meni meine Geliebte wurde, und was ich moralisch empfunden habe, als ich die erste Frau ganz besass. Zum Teil machte ich mir Vorwürfe, die ich dann aber mit aller so genannter „Gesellschaftsmoral“ auf einen Haufen warf. Ich suchte mich damit zu entschuldigen, man sei nur e i n m a l 20 jährig und jung. Dabei glaube ich, dass mir mein Erlebnis in Schuls nichts geschadet hat. Ich sehe jetzt wieder vieles mit andern Augen und verstehe manches, was mir vor einem halben Jahr noch nicht in den Kopf wollte. Also noch einmal, Mueti sei mir bitte nicht böse! 

Du, heute Nachmittag gegen fünf stand die Fahne in Dübendorf wieder einmal zum 5. Mal in diesem Jahr auf Halbmast. Leutnant B., der diesen Frühling bei uns den Leutnant abverdiente, ist tödlich abgestürzt. Schade um den guten Kerl, denn er war ein prima Militär und Offizier. Doch das ist eben Fliegerschicksal. 

So nun ist in 10 Minuten Lichterlöschen. Ich muss für heute stoppen und grüsse und küsse Dich von Herzen.

Dein Gusti

 *

Rümlang, den 8.10.1937 (24) 

Mein liebes Mueti, 

Endlich finde ich einmal Zeit, Dir einige Zeilen zu schreiben. Seit letzten Montag stecken wir in diesem Negerdorf und haben Kämpfe wie toll. Du, so gearbeitet habe ich mein Leben lang noch nie. Am Abend sind wir müde und dreckig wie die Schweine und vor 21.00 gibt es selten Abtreten. Dann halten wir noch einen kleinen Sausertrunk ab und verziehen uns in die Bundesfedern – lies „Stroh“ - im Kindergarten. Unsere Bude ist mässig bis saumässig, ... alt ist es wie der Teufel. Zum Schlafen haben wir nur e i n e Decke. Und übrigens hat es gestern und heute nur e i n m a l geregnet. Doch nehmen wir (wenigstens ich) die Sache nicht tragisch – denn heute haben wir schon Tagesbefehl Nr. 60. Und der ganze Türgg geht 76 Tage. 

So, nun will ich Dir was von Chur erzählen. Am Samstag startete ich also

Richtung Bündens Hauptstadt. Rasch ging ich zu Conzetts und nachher noch in die Stadt. Und weisst Du, wen ich an der Bahnhofstrasse getroffen habe? Ich glaubte, mich treffe der Schlag. Steht da leibhaftig M e n i vor mir. Natürlich musste ich ihr den Abend widmen. Du, ich kann mich wirklich nicht mehr begreifen, wie ich in diese Frau verliebt sein konnte. Wie brieflich, so habe ich nun auch mündlich meinen Standpunkt klargelegt. Und davon weiche ich nicht mehr ab! Sonntagabend schlief ich noch herrlich in Dübendorf in meiner Klappe – doch nur bis Montag morgen 03.00 Uhr, da gab es Tagwacht und sofort ab auf den Flugplatz Kloten. Im Morgengrauen begann ein fieberhaftes Arbeiten von U.O. wie von Rekruten. Der ganze Flugplatz musste kriegsmässig ausgebaut werden. Das gab Arbeit! Erst heute sind wir fertig geworden. Und jetzt regnet es wie mit Gelten. Am Dienstagabend war unser Zug Wache. Der Hauptwachposten mit den Zelten steht mitten im Wald. Da unser Leutnant krank ist, übertrug man mir das Kommando über unseren Zug. Ich organisierte also den ganzen Wachdienst und siehe, die Sache hat geklappt. Mich freute diese Kommandierung, zeigte es mir doch, dass man mich für fähig hält, einen Zug zu führen. Ich hoffe also, für 1938 immer noch das Beste. 

Wäsche brauche ich bis auf weiteres noch keine. Ich wünsche Euch beiden einen guten Sonntag und noch bessere Gesundheit. Gott sei Dank geht‘s mir in dieser Beziehung prima. Von Vater habe ich diese Woche einen saunetten Brief erhalten. Ich bin froh, dass ich Euch nun wieder offen in die Augen schauen darf.

Doch nun ist wieder bald 22 Uhr, und ich verziehe mich ins Stroh.

Empfange also die herzlichsten Grüße und ein Müntschi von Gusti.

Dübendorf, 14. 10. 1937 21.15 (25) 

Mein liebes, liebes Mueti, 

Jetzt haben wir wieder eine warme Bude und ein sauberes Bett. Wir sind froh, dass wir den Türgg „Rümlang“ überstanden haben. Heute, d.h. jetzt stinkts bei uns gewaltig. Von Ausgang keine Spur. Den ganzen Abend Inspektion. Zuerst bei den Rekruten, jetzt bald 21.30 bei uns U.O. 

Eben wird ein Korpis aus unserer Bude in den Arrest geführt für 10 Tage. Er wird erst am 24.10.1937 um 12 Uhr mittags entlassen. Wegen zu spätem Einrücken ins Kanti gestern Abend. Hauptmann Troller ist überhaupt heute verdammt bissig. Seit heute Nachmittag 17.15 Uhr stecken schon 5 Rekruten wegen kleinen Fehlern im Loch. Wie Du siehst, ist die Stimmung bei uns nicht sehr rosig. Da wir sogar morgen Abend keinen Ausgang haben, brauche ich vorläufig von Deinen 10 Stutz nichts. 

Jetzt kannst Du mir bitte sofort senden: Socken, Unterhosen, Hemden. Ich bin nun saumüde und muss in die Klappe. Guete Nacht, herzliche Grüße und ein Müntschi

vom Gusti

Freitagmittag: Bei uns stinks, verfluchter Schlauch!!!

Dübendorf, den 17.10.1937. Abends 20.30 (26) 

Meine Lieben, 

Eben bin ich von Züri nach Hause gekommen und möchte nun doch nicht unterlassen, Euch besonders Mueti, mit einem Päckli zu erfreuen. Euer Säckli samt Lillys Brief und süssem Inhalt habe ich dankend erhalten. Dito „Gips“ von Mueti. Zu Vatis 46. Geburtstag gratuliere ich ihm von Herzen, und hoffe, er möge noch einmal so lange leben! Denn ich habe Vater ja so nötig! Der Schuss ist dussen: Ich bin in die O.S. vorgeschlagen. Jetzt hängt das Aufgebot nur noch von Bandi ab – und ich würde es an der Zeit finden, Oberst Strüby mal auf ihn loszuhetzen. Du, ich habe eine Saufreude und bin mächtig im „Chut“. Trotzdem ich einen tollen Bart eingefangen habe, doch den lege ich am besten diesem Brief bei, könnt Euch bitte selber überzeugen. Momentan stinkt mir der Dienst gewaltig. Nicht nur mir allein, nein, allen. Eine Inspektion an der andern. Ein fertiger Seich! Doch nächsten Samstag ist der Türgg ja auch ume Egge!!! und ich freue mich wenigstens, zwei Monate Zivilist zu sein. Heute habe ich etwas läuten gehört, dass die Pilotenschule um zwei Monate verlängert werden soll. Na gut, das wäre dann vom 3. Januar 1938 bis Dezember 1938. - Bis jetzt bin ich allein im Kanti, die andern kommen erst gegen 22.30. Ich habe unser Öfeli angefeuert, und haue es jetzt in die Klappe. Bitte, mir noch ein Frottiertuch nebst vielen leeren Wäschesäckli zu senden. Ich muss doch so langsam Demobilisieren. Empfangt also noch einmal die besten Sonntagsgrüsse von mir – und das nächste Mal bringe ich sie selbst.

Euer Gusti

Dübendorf, 11. 8.1938, 21.20 (27) 

Mein liebes Mueti, 

Deinen lieben Brief habe ich erhalten. Vielen, vielen Dank. Weisst Du, Offizier zu werden ist nicht so verdammt einfach. Uns nehmen sie jedenfalls gottlos an die Leine. Ich habe einen Ast im Arsch ganz eisern, Muskelkater, dass ich kaum den Scheichen lüpfen kann. Aber das wird ja wieder vergehen, halt ein bisschen die Zähne zusammen beissen und durchhalten. Was es heisst, Schwitzen, das habe ich jetzt gelernt. Ströme fliessen schon morgens um 06.15. 

So, jetzt aber etwas anderes. Sonntags werden ca. 80% der Offiziersschüler in Dübendorf bleiben, ich auch! Dito Fritzli Pieth! Bei der Austrittsinspektion hiess es, dass Kpl Staub seine Policemütze und sein Essgeschirr schmutzig hätte. Sigs eso, mir tut es ja verreckt weh, dass ich sehr wahrscheinlich nicht heimkommen kann. Trotz allem werde ich ein Urlaubsgesuch vom Stapel lassen. Geht es, so komme ich mit Freuden, geht es nicht, bleibe ich eben hier und putze mit grosser Vehemenz meine Ausrüstung. So, das war ca. alles. Ich bin Zimmerchef und habe eben die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, meine Bande zu hüten. Heute Abend waren Fritzli Christen und ich in der Bar im „Hecht“. Es war ganz nett. Apropos, im Kasino essen wir prima bis jetzt, aber steif. Kragen bis zuoberst geschlossen – und dabei der noch höhere Aspirantenkragen. So, leb wohl mein liebes Mueti, herzliche Grüße und Küsse

Dein Gusti

Samstag, 13.8.38, 18.00 (28) 

Meine Lieben, 

Hier mein erstes Geschenksäckli an Mueti. Eben haben wir gebadet und uns angezogen. Ganztägigen Urlaub gibts nicht, erst von 11 Uhr an, so dass es mir nicht langt, heimzukommen. 

Am 29. August beginnen wir mit dem Flugdienst. Auf den freue ich mich. Morgen Sonntag sind wir noch schäbige Korporale, da e i n e r die komplette Ausrüstung noch nicht beieinander hat. 

So, bald wird gegessen, das jedenfalls ein Fest ist, denn der Frass ist prima.

Herzliche Grüße und dem Mueti einen kräftigen Kuss 

Euer Gusti

Dübendorf, 16.8.1938, 21.40 Uhr (29) 

Mein liebes Mueti, 

Deinen Brief habe ich heute Abend um 18.30 erhalten. Allerdings war er gespickt mit Vorwürfen, vo wäge nicht schreiben. Am Samstag haben wir bis 20.15 Uhr gearbeitet. Sonntags gab es um 07.00 Uhr Tagwacht und um 10.45 Abtreten. Habe dann in Höngg diniert. Nachmittags machten wir in Stiefeln und Säbel das Dorf Züri unsicher. Probierte Ruth Tanner zu treffen, aber es war niemand daheim. Abends waren wir um 22.30 im Bett. Gegen Montag gab es dann einen gottlosen Schlauch, der von mir zwar gut überstanden wurde. 

Heute allerdings war es schön. Am Morgen als einziger Krampf einen Frühlaufschritt von ca. 1,5 km. Christen Fritzli haben wir zu zweit unter die Arme genommen (Kurt Zimmer u. ich), da er uns zusammenklappte. Jedoch ans Ziel musste er. Diesen Abend war er beim Arzt. Er sagte mir, das er Angst habe, heim zu müssen. Ich hoffe, dass nicht. Nächstes Wochenende wäre ich nun bei Ruth eingeladen. Wenn wir aber am Samstag weg können, so komme ich promptestens heim. Andernfalls gehe ich nach Zürich. Hoffe zwar, dass ich in Bern debutieren kann. 

Nach dem Turnen heute Morgen gabs „Schule“ (Theorie) bis 10.15, dann ab per Camion ins Strandbad Uster bis gegen Mittag. Von 13.15 bis 14.30 war Befehl, auf dem Bett zu schlafen. Von 14.45 bis 18.30 war wieder Schule. Funktheorie! Gott sei Dank, habe ich bei den Pfadi das Morse gelernt, das kann ich jetzt brauchen. 

Ja, Lillys, d.h. meine alte Karte habe ich hier. Lilly hat doch eine neue solche. Apropos, ich dachte, dass ich Lillis Brief in meinem letzten Schreiben verdankt habe. 

Vo wäge Wäsche: Bitte Socken. So, nun wäre Rapport, guet Nacht und herzliche Grüße an beide

Gusti

Dübendorf, 19.8.1938, 22.00 Uhr (30) 

Lieber Aetti! 

Deinen Brief habe ich schweisstriefend erhalten. Du, so eine Off.Schule ist was anderes. Ganz faustdicke Sachen. Es gibt Tage, an denen man zu verrecken meint, an anderen hingegen wähnt man sich in der Sommerfrische. Heute zum Beispiel: Am Morgen gabs nettes Frühtraining per Gewehr, das war mit leerem Magen vor dem Morgenessen. Um 07.15 allerdings Morgenfrass. Ganz gross. Butter esse ich selten unter 10 Röllchen, dito löffelweise Confiture. Also punkto Essen gross. Dann gabs Theorie, genau wie am Tech., alle Stunden ein andere.!!! Um 10.15 Abfahrt ins Strandbad Uster am Greifensee bis 11.30. Dann Mittagessen mit anschliessender Bettruhe bis 14.30. (Kein Witz, sondern Tatsache)! 14.45-18.30 wieder Schule und um 19.15 abtreten. Abends hingegen nicht grad gross Ausgang, sondern Theorieaufgaben stossen. Siehst Du, auch diese Sache wäre zu überstehen. Morgen, um 13.15 Abtreten über Sonntag. Ich gehe heim zum Mueti per Stiefel und langem Säbel. 

Dir wünsche ich noch recht gutes Wetter, und hoffe doch, Dich vielleicht mal in Chur zu treffen. Bis auf weiteres alles Gute und herzliche Grüße Dein Gusti

Dübendorf, 25.8.1938. 07.50 (31) 

Meine Lieben, 

Du, Mueti, ich weiss nicht mehr, ob ich diese Woche schon geschrieben habe. Jedenfalls am Sonntagabend sind wir gut in unserem Ferienort angekommen. Am Dienstag habe ich dann Dein Säckli erhalten. Besten Dank. 

Du, nächstes Wochenende haben wir erst am Sonntag Abtreten, warum genau, wissen wir noch nicht. Ich gehe dann halt nach Züri. Eben wurde in unserer Bude beschlossen, dass die ganze Bande tanzen geht. Am nächsten Montag beginnt der Flugbetrieb.

Flugklasse Koschel: Christen-Staub, Zimmer-Brenzikofer und Sulser(einer, mit dem ich die RS gemacht habe.

Stelle Dir vor, jeder hat eine eigene Bücker zur Verfügung. Endlich scheints loszugehen. Heute ist wieder ein Ferientag!

05.30 Tagwache
06.00-06.45 Exerzieren
07.20 Morgenessen 8ich habe meine 9 Butterröllchen versorgt)
08.30-09.30 Theorie: Logikund Methodik
09.00-10.15 Schiesslehre für Fliegerabwehr
10.15-11.45 Baden im Strandbad Uster
13.00 Mittagessen
13.45-15.00 Schlafen auf den Betten
15.15-17.00 Technischer Dienst an den Flugzeugen
17.00-18.00 Militärgeographie
18.00-19.00 Funkdienst
19.30 Hauptverlesen
20.00 Obligator. Nachtessen
22.00 Zimmerverlesen
22.30 Lichterlöschen.  

Das wäre unser Betrieb für heute. Du siehst also, es wäre noch zu überstehen.

Scuol, den 01.09.1938 (32) 

Lieber Gusti, 

Wenn Du mein Schreiben empfängst aus dem Bergell, hast Du wohl die schwerste Woche in Deiner militärischen Laufbahn hinter Dir. Leicht hätte eine Woche vergehen können, bis wir zur Kenntnis dieses in der Schweiz wohl einzig da stehenden Unglücks gelangt wären; dem schlechten Wetter hatten wir es zu verdanken, dass wir am Mittwoch Rückzug blasen mussten, nach Scarl zurückkehrten, und alsdann eine erste Meldung in Form eines Sonntagsblattes in die Hände bekamen, das mir Mueti mit einigen wenigen Begleitworten zugestellt hatte. Ich kenne jene Drusberger Heuplanggen, und Felshänge, da ich die dortigen Übersichtspläne verifiziert habe und mit den Wildhütern um die Wette die wenigen, gangbaren, mit Leitern und Drahtseilen versehenen Zugänge gesucht habe. Mittwochabend habe ich dann Mueti angeläutet, und dabei vernommen, dass Du bei den Hilfsaktionen und diversen Beerdigungen beteiligt warst. Für Euch junge Draufgänger, die Ihr nun auf Tod und Leben mit Euren Maschinen verbunden werdet, war dieses Vorkommnis zweifellos eine Lektion, wie sie ernster nicht an Euch herankommen konnte. Als alter Soldat fühle ich aber gleichwohl, dass gerade die härtesten Erlebnisse den senkrechten Eidgenossen nur um so enger an seine gewählte Waffe und die Kameraden schmieden, so dass es ein eitles Unterfangen wäre, Eure Einstellung zu Eurer Waffe und dem militärischen Gedanken überhaupt beeinflussen zu wollen. 

Elterliche Mentalität und vorab mütterliche gehört freilich in solchen Unfallzeiten in ein anderes Kapitel. Da hört eben auch die beredete Kriegskunst auf, und es sprechen in stummem Schmerz die Gemüter und Leidenszeiten der Fliegermütter-Herzen von Familie zu Familie. Für Mütter gar, denen Kriegspsychose ein Fremdwort bedeutet, können solche Verluste körperlichen Zusammenbruch bedeuten, und ich verstehe vollends das Zittern und Beben jener Mütter, die, wenn auch nicht direkt betroffen, dennoch die Leidenszeiten der Fliegermütter mit wunden Herzen durchringen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass speziell auch unser Mueti dem Ansturm der Gefühle etwas unterlegen ist, nun vom Heimweh nach ihren Mannen geplagt wird, und sich nach normalem Familienleben sehnt. Ich nehme an, dass Du die erste Gelegenheit benützen werdest, um einen Bernerbesuch auszuführen. Mich selbst hält die Pflicht noch ca. bis 18. September (Bettag) hier fest. Dann werde auch ich einen Rutsch nach Bern tun, um dann, wenn es das Wetter gut meint, noch ein ruhiges Nachsömmerchen im Prättigau zu absolvieren. Ich zweifle nicht, dass nach strammem soldatischem Gesetz Eure Ausbildung schon wieder normalen Lauf genommen hat. Für mich hatten seinerzeit militärische Beerdigungen mit dem „klingenden Spiel“ immer tief symbolische Bedeutung. Nur eine knappe Spanne war dem toten Kameraden bei Trauermasch und Ehrensalve gewidmet. Schon der Rückmarsch vom Friedhof war übertönt von Klängen eines fröhlichen Heimatliedes, als wollten sie uns sagen: „Pflicht und Tat müssen im militärischen Leben den absoluten Vorrang haben.“ So werdet auch ihr Junge, werdende Schweizer Offiziere es halten und in diesem Sinne grüsse ich Dich und Deine Kameraden in familiärer und vaterländischer Herzlichkeit.

Vater

Dübendorf, 9.9.1938, 07.55 (33) 

Mein liebes Mueti, 

So bis morgen wirst Du noch eine Karte von mir aus dem Tessin erhalten. In einer Stunde starten wir zur Beerdigung von Hptm. Baccilieri in Locarno. Nur die Pilotenklasse. Ich muss schon sagen, ich freue mich auf die Reise im 1.Klass-Abteil ins Tessin. Es ist nämlich schon ziemlich lange her, seit ich das letzte Mal unten war. 

Gestern hat unser Fluglehrer, Obltn Hitz gemeint, dass er nun genug hätte, mit uns in der Luft herumzukutschieren. Wir sollen a l l e i n abhauen. So waren wir 5 die ersten der FL.OS 11/38, die allein flogen. 26 Minuten rutschte ich ganz solo in der Welt herum. Von unserer Gruppe waren immer drei Flugzeuge in der Luft unterwegs. Sau schön wars, mir hat es mächtig gefallen. Wenn man da seine Runden dreht, kann man so geruhsam seinen Kameraden von oben in die Kisten gucken. 


(4)

 

Weisst Du, Mueti, auf d e n Moment war ich seit Jahren gespannt. Stelle Dir vor, das erste Mal als Militärflieger a l l e i n in der anvertrauten Maschine zu sitzen, Vollgas zu geben und abzuhauen. Mueti, das sind Momente, die wir als junge Piloten nicht so rasch vergessen können. 

Gestern über Mittag ist Obltn Frey aus Solothurn in Ausübung eines Höhenfluges in Frauenfeld tödlich abgestürzt – und am Nachmittag flogen wir. Wir Jungen dürfen nicht nachdenken über solche Fälle und in unserem Zimmer wird das erste Gebot aufrecht erhalten: Leben, das Leben geniessen, so lange man jung ist, und es geniessen kann! Wir werden alle die an uns gestellten Aufgaben pflichtgetreu erfüllen, komme, was kommen mag. Morgen ist auch ein Tag! 

Und nun, Mueti, trotz allem sei tapfer und behalte den Kopf oben. Zeige Dich gegen allfällige Anfechtungen eben so stolz, wie ich stolz darauf bin, schweizerischer Militärflieger zu sein. 

Ich wünsche Euch einen recht netten Sonntag und grüsse Euch.

Dem Mueti einen festen Kuss – recht herzlich, Gusti

Dübendorf, 10.9.1938, 21.45 (34) 

Mein liebes Mueti, 

Hatten heute eine „nette“ Pfadfinderübung von ca. 20 km Distanz. Aber durchgehalten haben wir alle. Die Rekruten und Pilotenschule steht morgen auf Pikett, wegen der dummen Sachen in Deutschland. Wir haben Ausgang. 

Und nun will ich ins Bett, morgen ist um 05.00 Tagwacht, da einige an die Beerdigung von Oblt. Frey gehen. Ich habe genug von solchen Scherzen, und gehe über Sonntag zu Ruth nach Zürich. 

Näheres folgt im Brief am Montag.

Herzliche Grüße und Küsse Gusti

Bitte Unterhosen und Turnleibchen.

Dübendorf, 11.9.1938, 07.00 (35) 

Lieber Aetti, 

So, nun habe ich gäbig Zeit, ein kleineres Epistel ins Engadin abzulassen. Heute morgen Sonntag gabs um 05.00 Tagwache, da einige Kameraden an die Beerdigung von Oblt. Frey nach Uzwil abgefahren sind. Am Freitag war die Pilotenklasse, also wir, in Locarno, wo Hptm. Bacilieri beigesetzt wurde. Wir alle hatten Hptm Bacilieri gern gehabt, als strengen, aber gerechten Offizier und Führer, so wie als ganz gerissenen Kameraden. Am Samstag, ca. 3 Stunden vor dem Start zu seinem letzten Flug gab er uns angehenden Fliegern noch Theorie, wie wir uns bei Unfällen zu verhalten hätten, Unfälle seien zwar nicht unbedingt nötig, jedoch, wenn sie eintreffen, müsse man auch dann noch ruhig sein. Das könne halt in unserer Laufbahn einmal eintreten früher oder später, meinte Batsch achselzuckend. Einige Stunden später hat ihn sein Schicksal getroffen. 

Am Donnerstag stürzte Obltn. Frey tödlich ab und am selben Nachmittag liess uns unser Fluglehrer Obltn Hitz zum ersten Mal a l l e i n starten! Du, das war ein Moment, auf den ich nun seit dem Anfang meiner Dienstlaufbahn mit Spannung gewartet habe. Das erste Mal als „Militärflieger“ allein in meiner Maschine zu sitzen, Vollgas zu geben und einige Sekunden später --- fliegen!!! Weisst Du, das Fliegen ist trotz allem das Schönste, das ein Mensch erleben kann. Du, Aetti, ich freue mich auf unseren ersten Flug, bei dem ich DICH mal vor mir in der Maschine habe und wir abhauen können! Du sollst der erste Zivile sein, den ich mitnehmen will, mit dem möchte ich Dir dann für Vieles danken. Denn hätte ich nicht oft Deine starke Hand im Nacken gespürt, ich weiss nicht, ob ich jetzt in der Offiziersschule wäre (ich denke dabei an die schrecklichen 4 Jahre meiner Lehrzeit). Du, das war auch noch ein Höhepunkt in meinem Leben, als ich über Bern flog und das erste Mal allein in meinem „Kistli“ 1000m hoch über der „Lädere“ meine Steilkurven drehte. Damals meinte ich, es müsse mich versprengen vor Glück!!! 

Und nun wieder etwas vom Dienst. Im Grossen und Ganzen gefällt mir die Sache ja mächtig. Es gibt natürlich auch Augenblicke, wo man denkt, nun lächle mir die ganze Eidgenossenschaft am A….! Doch diese Momente sind relativ selten und dann wieder schnell vergessen. Letzten Montag hatten wir einen solch gottlosen Schlauch von einer Stunde im Wald von Dietlikon. Es gab Scherze, wie liegen auf Brombeeren und Wassergräben, sowie Knieheben im Schlamm. Aber klein kriegen haben sie mich nicht können. Gestern Samstag gab es noch eine kleinere Pfadfinderübung mit Kompass und Karte von rund 20 km in drei Stunden. Patrouillenlauf. Wir haben nicht schlecht abgeschnitten, trotzdem wir Christen Fritzli unter den Armen mitschleppten. Weisst Du, das in Dübendorf bekannte Tandem Christen – Staub war natürlich wieder zusammen. - Es ist eigentlich interessant, wie sich so Bubenbekanntschaften zu Freundschaften entwickeln können. Besonders bei zwei so verschiedenen Typen, wie wir beide. „Fritzli der Finanzkräftige, aber körperlich schwächere, und ich, der ich so in ziemlich allem eben das Gegenteil bin. Du, bis jetzt habe ich oft gemeint, dass Reichtum gleich Glück bedeute, und nur mit Geld allein der Mensch glücklich sein könne. Geld hat Fritzli, jedoch ist er zum grössten Teil unglücklich. Selbst wenn der Befehl zum Fliegen kommt, ist er oft nicht einmal recht erfreut darüber. Ich glaube, er hat Angst vor den Konsequenzen, die das Fliegen mit sich bringen kann. Bei mir ist alles eitel Freude, wenn ich starten kann, und dann da oben, etliche 100 Meter über dem ganzen Dreck – da bin ich glücklich. Ich habe schon gejauchzt wie ein Schulbub nach gut gelungenem Start. 

Apropos, Du schreibst, dass Du auf den 18. ds, mal nach Bern fahren würdest. Auch ich hätte im Sinn, wieder mal zum Mueti zu rutschen. Am Samstag fährt normalerweise unser Zug in Zürich ab um ca. 15.30. Vielleicht könnten wir uns treffen. 

Heute gehe ich nach Zürich zu Fräulein Ruth Tanner, der Schwägerin von Herrn Bleuer. Sauhübsch! Sage ich Dir gäng no, wie am 1. August 1935. 

Und nun wünsche ich Dir noch recht gutes Wetter und alles Gute, sowie herzliche Grüße

Dübendorf, 13.9.1938, 13.45. (36) 

Liebes Mueti, 

Eben habe ich Deinen Brief samt Wäschesäckli erhalten, besten Dank. Ich hoffe, Ihr habt den Sonntag ebenso nett verbracht wie ich mit Frl. Ruth Tanner in Züri. Mittagessen im Nidlebad ca. 2km unter Thalwil, dann Bummel nach Wollishofen und per Tram und Bus auf den Züriberg mit anschliessendem Spaziergang nach Trichterhauser-Mühle. Zum Abschluss des Tages wurde in der Gotthelfkeller Stammbeiz, in der Apfelkammer gespiesen. Es war eigentlich der schönste Sonntag, den ich bis jetzt in Zürich verbracht habe. 

Den Bericht von Lillys Heldentat habe ich zur Kenntnis genommen. Sauschlau! Doch warum hat man eine Veloversicherung – und zwar die der Schneiderin? Der 20km Lauf am Samstag hat bei uns keine Spuren hinterlassen. Ich bin purlimunter und fliegen tun wir bereits alle Tage allein. Gestern war ich genau 1Std.04Min. in der Luft und habe mich ganz gut gefühlt. Besonders, als ich ca. 3 Min. in gleicher Höhe mit dem Berner-Alpar Flugzeug Seite an Seite flog. Landen kann ich zwar annähernd zufrieden. Am Sonntag morgen hatten wir um 05.00 Tagwacht, um 09.00 konnten wir dann ab. In dieser Zeit zwischenhinein habe ich Vati einen Brief abgelassen, und hoffe sehr, dass wir nächsten Sonntag alle beim Mueti zu Gast sein werden. 
Und nun beginnt schon bald wieder der Flugdienst, mit vorhergehender Navigation. Ich freue mich darauf. 

Indessen herzliche Grüße und alles Gute. Gusti

*

Dübendorf, 19. 9. 1938, 20.00 (37) 

Liebes Mueti, 

Habe heute Lillys Brief erhalten, besten Dank!

Heute hatte die Flugklasse Hitz ihr grosses Erlebnis, nämlich den ersten Überlandflug mit Aussenlandung in Kloten. Jeder setzte sich in sein „Kistli“ ich in Nr. 9 und Fritzli in seine 13. Die erste Landung war von mir ein Seich, die andern 7 alle gut. Über Kloten und Rümlang frischte ich „Jugenderinnerungen“ auf. Herrgott war das schön! Nach Hause flogen wir wieder in langgezogener Staffel und grüssten in die Aussenquartiere von Züri. Jedenfalls habe ich heute über eine Stunde in der Luft gehangen. Und nun sollte ich noch inneren Dienst ablassen und Flugbuch nachtragen. Morgen ist Ausmarsch mit „Aff“, Helm und Gasmaske und um 09.45 muss ich zum Chefarzt der Fliegertruppe. Jeder Pilot und Beobachter muss wieder einmal eine Untersuchung überstehen, aber Angst habe ich keine. Denn ich fühle mich 100%-ig in Form. Heute Nacht ist sehr wahrscheinlich unser „Türgg“ fällig. Fritzli und ich erhielten jeder eine Tafel Schokolade von Mueti Schatzmann. Kaffee habe ich getrunken, so dass ich nicht schlafen kann. 


(5)

 

Und morgen Abend werde ich Dir anläuten und Dir die neuesten Nachrichten übermitteln. 

Indess alles Gute und beiden ein herzliches Müntschi

Gusti

Lillys Karte wird noch diese Woche eintreffen.

Dübendorf, 20.9.1938, 13.40 (38) 

Mein liebes Mueti, 

Seit heute morgen liegt Dein liebes Päckli auf meinem Bett, und jetzt erst hatte ich Zeit, das nette Päckli zu öffnen. Für alles herzlichen Dank! 

Heute morgen war der Betrieb aschgrau. Sie wollten uns einfach auf die Knie zwingen. Aber Nobis, ich stehe immer noch fest auf beiden Beinen. Hoffentlich fliegen wir heute wieder über Land!!!! 

Herzliche Grüße Gusti

Dübendorf, 27.9.1938, 13.50 (39) 

Mein liebes Mueti, 

Habe heute Deine prompte Sendung mit bestem Dank erhalten. Bitte verzeih, dass ich so lange nicht geschrieben habe, aber uns fehlt einfach die Zeit dazu. Habe auch sonst noch keinem Bekannten geschrieben. Überhaupt nehmen sie uns gottlos nach. Fast alle Tage wird versucht, uns restlos in die Knie zu zwingen. Aber gelingen soll es ihnen ums Verrecken nicht. Du, Mueti, jetzt trainieren wir schon Staffelfliegen, was verdammt schwer ist. Zweck dieser Übung ist der, dass wir weiter von Dübendorf weg können und den Staffelführer nicht verlieren. Letzte Woche flog ich schon zweimal allein über Eugens Gärtnerei in Höngg. Nächstens sind nun Flugplätze Frauenfeld und Altenrhein an der Reihe. Jedenfalls mussten wir schon den Kompasskurs dahin bestimmen, sowie uns die Notlandeplätze merken. Schön ist halt das Fliegen trotz allem. Gestern übten wir, wie man möglichst rasch von 500m auf ca. 200m Höhe hinunterkommt. Ganz einfach Sturzflug und Steilkurve abwärts. Die Maschine kommt dabei allerdings auf ein Tempo von rund 210 km pro Stunde, und winden tut es ganz anständig um die Ohren. 

Letzten Samstag nach dem 32km Lauf hatten wir abends Abtreten. Ich war mit Ruth in der Börsen Bar, und um 01.15 lag ich, nach 23 Stunden auf den Füssen – im Bett in Dübendorf. Sonntags war ich dann von Mittag an in Höngg, wo ich bis 18.15 geschlafen habe. Heute soll nun Verdunkelung abgehalten werden, wir machen uns jedenfalls wieder auf einen mitternachtsmässigen Türgg gefasst. Und nun warten wir wieder auf den Befehl zum Fliegen! Am Samstag soll scheints grosser Urlaub sein, und ich werde heimkommen. Aber der Samstag gehört mir. Einewäg, ob Ihr zu Hause seid oder nicht. 

Und nun sei herzlich gegrüsst und ein Müntschi vom Gusti

Dübendorf, 4.10.1938 (40) 

Mein liebes Mueti, 

Eben habe ich den Spitalbrief? beantwortet und nun will ich Dir noch rasch ein Grüsschen senden. 

Heute morgen wollten sie uns ums Verrecken in die Knie zwingen. Fast wäre es gelungen. Christen Fritzli sackte prompt ohnmächtig zusammen. Sulser von unserer Klasse kotzte wie toll nach dem zweimaligen Hindernislauf. Im Turnen gabs noch einen Dauerlauf rings um den Platz bei strömendem Regen und nur in den Turnhosen. Nun regnets wieder wie Toll, ich hoffe, dass unser angesetzter Zeltbau ins Wasser fällt. 

Indessen herzliche Grüße Dein Bub Gusti

Dübendorf, 6.10.1938 22.00 (41) 

Mein liebes Mueti, 

Eben habe ich Dein Päckli und Deine lieben Zeilen mit bestem Dank erhalten. Und nun habe ich den Gewehrgriff überstanden, da ich heute den rechten Daumen ganz gäbig verstauchte. Weh tut es ja noch ein bisschen, jedoch Zeltbau und Gewehrexerzieren sind für mich erledigt. 

Apropos wir werden sehr wahrscheinlich am Sonntag abtreten können. Da ich Deine Theaterfreude kenne, habe ich mich irgend wann vor einiger Zeit nach etwas Nützlichem umgesehen, und ich glaube, etwas Rechtes für s‘Mueti gefunden zu haben. Ich will Dir das Päckli schon früher geben, konnte es aber dann am Sonntag und Montag ganz gut verklemmen. Ich hoffe aber, dass Dir das kleine Ding etwas Freude macht. 

Geflogen sind wir diese Woche nicht, dafür nehmen sie uns anderweitig ganz nett hoch. Bitte sende nur das Säckli möglichst bald wieder – und zwar mit ärmellosem Pullover versehen, da es in Dübendorf hie und da ganz nett kalt ist. Jetzt in unserer Bude ist es gerissen, wir haben geheizt – und grosse Musik – Herz, was willst Du noch mehr. 

Und nun herzliche Grüße und einen Kuss

Dein Gusti

Für Lillys Päckli meinen herzlichsten Dank – das hat sie gut gemacht. Gusti

Dübendorf, 13.10.1938 07.35 (42) 

Mein liebes Mueti, 

In Eile rasch ein Grüsschen aus unseren „Bundesferien“. Zeit hatten wir bis jetzt aber ums Verrecken keine Minute, abends müssen wir arbeiten bis zum Lichterlöschen und den Tag durch geht‘s wie der Teufel, am Montag flogen wir einzeln nach Mollis bei Näfels. Wunderbar war‘s, so gegen die Berge zu fliegen. Gestern waren wir wieder in Frauenfeld Staffelflug zu dritt. Haben dabei in 1100m Bekanntschaft mit den Wolken gemacht, sahen den Boden hie und da nicht mehr. Da gab es halt ein kleineres Sturz-Flügchen, bis der Boden wieder zu sehen war, und nun müssen wir wieder schiessen, den ganzen morgen --- und kalt ists.

Indessen die herzlichsten Grüße Dein Gusti

Dübendorf 17.10.1938 22.20 (43) 

Mein liebes Mueti, 

Liege im Bett und habe eben noch Deinen und Vatis Brief gelesen und mir so ein bisschen meine Gedanken gemacht über mich und meine Familie. Du schreibst, dass Du ja noch eine Zeit lang Deinen Bueb hättest. Ja, noch lange sollst Du, liebes Mueti, Deinen Bub haben. Wenn ich auch hie und da ein Mädel küsse, vorläufig gehöre ich doch noch Dir! Am Samstag rutschte ich also nach Chur. Herzliche Grüße von Hausers, Conzetts, Frau Angst, Schuhmachers und Gantenbeins, sowie Fam. Pieth. In Chur haben wir so richtig gesoffen bis wir um 01.00 mit einer „Oelbirne“ ins Bett wankten. Sonntags gings weiter bei Sauser mit Fritzli und Chläusli. Habe in dem lieben, alten Städtchen ein Mädel kennengelernt – Gritli Cavelti, das sehr hübsch und nett ist. Habe oft mit ihm getanzt. Ist nur schade, dass ich nicht in Chur wohne! 

Apropos, ich habe „Gy“ auf den 16. einen Brief geschrieben. Ja, hätte ich „Gy“, dann wäre ich einmal restlos glücklich – ach, was sagen mir alle die Zofen, wenn ich die, die ich gerne habe, nicht haben kann!

18.10.1938 06.50 (44) 

Die Tagwache wäre wieder überstanden und jetzt ist‘s kalt. Um 08.00 beginnen wir mit Schiessen in Wehrlen. Vielleicht gehen wir morgen und übermorgen ins Engadin nach Zuoz und Madulein. Und nun wäre ich dafür, dass diese fünf Wochen noch rasch vorbeigehen, denn so ganz langsam kommt mir die Offiziers „S c h u l e „ auf den Magen. In 10 Tagen sollte ich neben allem andern noch einen 20 minütigen Deutschvortrag über das Höhenatmungsgerät „Munerelle“ halten bei Oblt. Frymann (einen fertigen Schulmeister). Sämtlichen Piloten hat es so den Ärmel hineingenommen. Gestern sind wir morgens und nachmittags geflogen, waren beide Male in Wil (einem kleinen Städtchen im St. Gallischen)

Und nun die herzlichsten Grüße und alles gute wünscht Dir Gusti

*

Dübendorf, 19.10.1938 21.25 (45) 

Meine Lieben, 

Juhui! Morgen, wenn Ihr diese kärglichen Zeilen erhaltet, ja dann bin ich schon über den Fluela in Samaden. Unsere Fliegerabwehr schiesst scharf im Engadin und wir Offiziers-Schüler werden dem Scherz als Schlachtenbummler mit Pistole, Kartentasche und Feldstecher beiwohnen. DAS gibt ein Fest mit Alpenchilbi in Samaden. Morgen um 06.00 mit Abfahrt per Camion: Zürich, Thalwil, Näfels, Kerenzerberg, Ragaz, Landquart, Klosters, Davos, Flüela, Zernez, Samaden,. Heimfahrt am Samstag über Julier, Lenzerheide, Chur nach Dübendorf. Post ist bis Samstag keine zu erhalten.

Und nun wünsche ich Euch viel Vergnügen und herzliche Grüße 

Gusti

Werde mir auf der Fahrt ein Auge auf Pany im Prättigau werfen. Gusti

Dübendorf, 22.10.1938 (46) 

Liebes Mueti, 

Eben über den Julier über Tiefenkastel, Lenzerheide, Chur (Rossboden) wieder halb erfroren in Dübendorf angelangt. Sollte nun etwas Hemden mit langen Ärmeln haben, Nastücher und Socken! Besten Dank für Deinen lieben Brief. Auch ich habe s‘Mueti ja im Bündnerland nicht vergessen.

Indessen herzliche Grüße an alle „Daheimgebliebenen“ Euer Gusti 

Werde in 8 Tagen noch heimkommen. Morgen muss ich nachschlafen, da in Samaden pro Nacht rund 3 Stunden geschlummert. Und in drei Wochen gehe ich noch einmal nach Chur. 

Gusti

Dübendorf, 30.10.1938 22.10 (47) 

Meine Lieben,  

Wieder gut in Dübendorf. Mueti, bitte sende mir den geliehenen Kamm (Strähl) und nochmal mit grobem Mut die drei Wochen am Grind nehmen. Es muss gut gehen!!!! 

Herzliche Grüße Gusti

Bitte Waschplätzli 31.10. 06.45 Gusti

*

Dübendorf, 30.1.1939 (48) 

Meine Lieben, 

Als erstes vielen Dank für Muetis Brief. So, wir sind zu dritt in unserer Bude. Gribi Siegfried und ich. Fritzli schläft in Zimmer 4. Ich war gestern auf Ruths Grab, das direkt nach Dübendorf schaut. Genau die Kirche sieht man. Ich habe als Leutnant wieder geweint wie ein Kind. Dann war ich bei Ruths Eltern. Ich sage Euch, der Zustand dort ist unhaltbar. Beide machen sich Vorwürfe. Ruths Wunsch war, mit mir über Sylvester und Neujahr in die Skihütte zu gehen, jedoch wagte sie es nicht, zu fragen! Sein Zimmer ist noch unberührt, in den Schränken Ruths Kleider und Wäsche, Kleider, in denen ich es gekannt habe. Aus m e i n e r Tasse mit Goldverzierung habe ich getrunken und in meinen Geschenkbecher geraucht. Nervenprobe. Mit Ruths Vater komme ich prima aus, ebenso mit der Mutter.

So, jetzt wären wir wieder im Dienst. 06.00 Tagwacht – doch bereits ist es 22.35.

Guet Nacht, alles Liebe Euer Gusti

Dübendorf, 3.2.1939 22.10 (49) 

Meine Lieben, 

So, eine Woche Pilotenschule wäre bald vorbei, wenn es „so“ weiter geht, wird dieser Pilotendienst eine schöne Zeit.

Viel zu erzählen weiss ich nicht, ausser dass ich prima zwäg bin und vorgestern wieder einmal eine „Messerschmidt“ auf dem Ranzen gelandet ist. Pilot natürlich wohlauf, hat rein nichts, Maschine zum Teil defekt. Grund: Das Fahrgestell war oben eingefroren und konnte nicht mehr herausgelassen werden.

Morgen gegen Abend Abtreten, und ich gehe vorerst wieder zu Ruth, diesmal allein. Ruths Grab schaut direkt nach Dübendorf. Die Foto der Lieben hängt über meinem Bett, und mahnt mich Tag und Nacht, rechtschaffen zu arbeiten. Ja, Ruth fehlt mir hier, und die Gedanken an Samstagen und Sonntagen sind wahnsinnig. Doch auch d a s wird vorübergehen.

So, nun gehe ich in die Klappe, viele liebe Grüße und dem Mueti einen Kuss

vom Gusti

Euch allen einen schönen Sonntagabend.

P.S. Neue Adresse: Lt.Staub Gust.Fl.-S1 (nicht mehr 39 schreiben)

Sonst alles gleich, wie sonst.

Dübendorf, 7.2.1939 17.45 (50) 

Liebes Mueti,

Da Du ja schon lange einen „Helgen“ von mir haben möchtest, hier ist er.

Bei uns ist alles in schönster Ordnung und gesund bin ich auch. Geld ist zwar fast alle – Lilly kann sich ja so einen Helgen aneignen. Auf alle Fälle wünsche ich ihr alles Gute, und viel Glück im 15. Lebensjahr! Doch nun Schluss, allseits 

herzliche Grüße und einen Kuss vom Gusti

Dübendorf, 9.2.1939 21.30 (51) 

Meine Lieben,

So, ein Grossflugtag wäre vorbei. Wir waren in 7ner Staffel in Spreitenbach und Speck. Direkt über Ruth‘s Grab donnerten wir alle im Sturzflug. Hat es uns wohl gehört? Von mir und meinen Maschinchen war es ein Gruß!


(6)

 

So, nächsten Sabatt komme ich sehr wahrscheinlich nach Hause, vielleicht gegen 18 Uhr oder noch später, je nach Flugwetter und Dienstpensum. Sende in diesem Brief neues Schlüsseli zum Wäschesack, altes Schloss ist kaputt.

Und nun hoffe ich, dass alles wohl und gesund ist so wie ich und schliesse

mit den herzlichsten Grüssen Euer Gusti

Dübendorf, 17.2.1939 21.57 (52) 

Mein liebes Mueti,

vielen Dank für Deinen lieben Brief, den ich heute Abend erhalten habe. Du kannst in allen Teilen beruhigt sein, ich bin tatsächlich prima zwäg. Heute morgen waren wir wieder in Frauenfeld, wie übrigens alle Tage. Das Kaff kenne ich jetzt dann bald von oben, ebenso den Weg über Winterthur. Nur e i n e s haben wir alle: Schlaf! Das Staffelfliegen macht müde und wir freuen uns männiglich auf den Sonntag; zum „Pfusen“. Morgen Samstag werde ich sehr wahrscheinlich in Zürich noch an die Scheuchzerstrasse gehen, und ich werde mein Möglichstes tun, um die alten Leute Tanner nach Bern zu lotsen. So, nun sollte ich noch die Geographie des Emmentals lernen, da morgen Geographie Klausur bei Oberst.Lt. Zobrist. Aber d e r erwischt mich nicht in meinem liebsten Fach ausser dem Fliegen.

Empfange nun die herzlichsten Sonntagsgrüsse und einen lieben Kuss

von Deinem Gusti

Natürlich sind in diesen Grüssen auch Aetti und Lilly eingeschlossen.

Dübendorf, 19.2.1939 22.50 (53) 

Mein liebes Mueti, 

Gott sei Dank ist wieder ein Sonntag vorbei und dass morgen die Arbeit wieder beginnt! Solche Sonntage ohne Ruth sind saumässig. Ich pflegte gestern und heute Äste wie selten. Gestern Nacht habe ich sogar wieder einmal geweint. Gestern Nachmittag war ich 2 Stunden bei Mutter Tanner. Sie ist relativ verständig, während mir der alte Herr immer weniger gefällt. Eben als ich gehen sollte, kam er nach Hause. Natürlich musste ich noch einmal hinein, ja an den Armen zog er mich mit. Und nun, stell Dir vor, der Alte hat Ruth als Leiche 6 mal fotografiert – und diese Bilder zeigte er mir, natürlich unter Tränen. Auch mich hats wieder tief erfasst. Da sah ich die liebe, tote Ruth tief in Blumen gebettet, auf der Ottomane liegend und im Sarg. Im Sarg hielt sie in den gefalteten Händen auf der Brust einen Strauss weisser Nelken. Ob es meine gewesen sind? Ich habe mich gefragt.

Habe heute in Höngg bis gegen Mittag geschlafen.

Hier hört dieser Brief auf……

Dübendorf, 22.2.1939 21.45 (54) 

Liebstes Mueti und Anverwandte,

Besten Dank für Päckli und Brief von Mueti. Au Du, ich sage Dir, DAS ist ein Dienst wie Gold. Gestern, heute morgen, alle Tage Fliegen! Heute morgen hingen wir 1 Stunde 17 Min, über den Wolken in der 7ner Staffel. Die ganze Ostschweiz lag unter der Decke – und wir sieben jungen Kerle hingen an der Sonne. Ganz gross wars! 

Jetzt was anderes: Ich komme am Samstag heim. Aus zwei Gründen. Erstens sehe ich, dass meine Züri-Aufenthalte katastrophal auf meine Nerven wirken – und DIE habe ich momentan verdammt nötig. Zweitens gibt es in Bern ausser Euch noch jemanden, der mich ein bisschen gern hat. Also! Am Sabattabend allerdings werde ich weder ins Theater noch ins Casino gehen. Was gespielt wird, wird sich zeigen. Bitte entschuldigt die Schrift, aber bis jetzt hatten wir offiziellen Schulhöck in Gala.

Gusti 

PS. Beiliegend den Schlüssel, den Du mir geschickt hast, ich brauche den nicht, da ich noch einen zweiten solchen habe.

Gruß Gusti

Dübendorf, 2.3.1939 12.07 (55) 

Meine Lieben, 

So, will rasch einige Zeilen berichten. Abends hatte ich bis jetzt keine Zeit, da Monatsabschluss der Starkontrolle gemacht werden musste. Gestern Abend war die ganze Meute im Kino „Frauen für golden Hill“. Auch den Sold gab es gestern, ganze Fr. 20.00 bleiben übrig nach Abzug des Essens und Fr. 80.00 für Versicherung. Beiliegend Quittung. Und jetzt wird Tag für Tag geflogen. Gestern den ersten Höhenflug, allein von St. Gallen, Wil, Rapperswil, Dübendorf auf 3000m über dem Boden. Sauschön wars aber kalt! Werde jetzt noch Staub in Thalwil schreiben für nächsten Sonntag.

Sollte mit der Zeit Socken haben!

Nun herzliche Grüße Euer Gusti

Dübendorf, 6.3.1939 18.10 (56) 

Servus! 

So, der Sonntag wäre wieder vorbei. Ein Wochenende wars wie Gold. Erst der fantastisch schöne Höhenalpenflug und in Züri und Thalwil wars eisern. Samstagnachmittag mit Kameraden diverse Bars unsicher gemacht, abends bis 22.00 bei Tanners. War sogar ganz nett. Die alten Leutchen umsorgten mich, als ob ich ihr Sohn wäre. Und essen und gut trinken scheint beiden zu gefallen, na ja, mir ja soweit auch. Abends 23.10 in Höngg pfusen bis 10.00 und 12.00 ab nach Thalwil. 12.30 feudales Mittagessen bei Herr Vetter und Frau Base. (Sherry Brandy, prima Wein und Rauchwaren!) Draussen Regen in Strömen und mein Mantel in Dübendorf. Vetter Staub stellte mir grossen Wagen und Chauffeur nach Dübendorf zur Verfügung. Er und seine Gemahlin kamen auch mit. 15.30 wieder auf Bellevue Platz in Züri. Da kam der grosse Moment, als ich dem netten alten Herrn die Hand zum Abschied drückte, blieb mir die Sprache weg! Ganze 50!!! Hebel liess er in meiner Obhut. Als ich mich „sträubte“, meinte er, ich solle keine Geschichte machen, so ein Leutnant könne mal einen kleinen Zuschuss zum mageren Sold gut vertragen. Im Übrigen solle ich bald wieder kommen. Ihr seht also, die Sache ist richtig! 

Traf nach 10 Min. „Gutz“ ganz per Zufall. Nachtessen im St. Peter, und dann waren wir beide, er in Zivil, in der Corso Bar. Habe zur Abwechslung einer Polin das sehr sparsame Kleid ein bisschen zerrissen beim Tanzen. Tragisch hats niemand genommen, es war zu lang. Oben spärlich und unten zu lang, dass halt mein Fuss so einen Fetzen erwischte. So, das wären meine Taten der letzten Tage. Sende nun die Fr. 50.-- heim, könnt sie vielleicht brauchen, mir langt es sonst.

Gruß Gusti

Dübendorf, 10.3.1939 12.05 (57) 

Servus! 

Sende hier meine Wäsche in der Annahme, dass zu Hause alles wohl sei, da Ihr es nicht mal mehr für nötig findet, mir auf zwei Briefe zu antworten, so habe ich das Gefühl, dass wir unter Umständen mündlich miteinander verkehren könnten. Ich komme also morgen heim, und es würde mich sehr freuen, wenn Mueti ein bisschen zu Ansichten kam, die sich sehr wahrscheinlich nur zum Teil – mit meinen eigenen decken. 

Gruß Gusti

Dübendorf, 14.3.1939 12.06 (58) 

Meine Lieben, 

Vorerst dem Mueti herzlichen Dank für seine Zeilen. Du siehst, wir sind also gut um 01.45 in Dübendorf gelandet, aber verdammt rasch war dann Morgen. Die Fahrt verlief ohne jeglichen Zwischenfall. 

Gestern herrschte Sauwetter und trotzdem Flugdienst den ganzen Tag. Ich musste einen Beobachterflug ausführen, der bei stärkstem Schneetreiben abgehalten wurde. Auch während der Schiessanflüge in 80m über dem Greifensee fegte der Schnee schön quer übers Land und Wasser. Der Platz Dübendorf lag im Schneesturm und trotzdem landete unsere Flugklasse sauber und präzis beim Landepfeil – jeder allein. 

Ja, auch ich freue mich, für nächsten Samstag, wenn schon ich ohne „avec“ erscheine. Von Nanni erhielt ich einen lieben Brief, in dem sogar wieder sehr nett von m e i n e m Mueti die Rede war, d.h. Nanni gebot mir, trotzdem es in Lausanne sei, nach Bern zu Mueti zu gehen. Mueti, ich habe Dir schon mal gesagt, dass Nanni Dich gern hat, also liegt es zum grössten Teil an Dir, dass unser schönes Verhältnis so bleibt, wie es jetzt ist. Heute morgen tippelten wir bei gröbster Bise und Schneefall 4 Stunden um Volketswil herum, zwecks Rekognoszierung des Stützpunkts. Auch nette Aufgabe des Offiziers, von dem der Soldat nichts weiss. 

So, nun Schluss und herzliche Grüße

Euer Gusti

Dübendorf, 22.3.1939 22.05 (59) 

Mein liebes Mueti, 

Herzlichen Dank für Deine lieben Zeilen! Vor allem hoffe ich, dass Du nun wieder ganz auf den Beinen seiest, so wie ich. Sieh, trotz des „schönen“ Wetters sind wir gestern und heute geflogen. Besonders heute wars ganz dick! Am Morgen Akrobatik fast bis zum Kotzen und ein Beobachterflug in die Gegend von Winterthur. Musste dort der Töss nach Pulvermagazine suchen. Dabei drückten mich ganz anständige Schneegestöber bis auf 20m über dem Boden. Gut gegangen ist es trotzdem. Am Nachmittag flogen wir per Staffel zu 7 Stück gegen Basel. Über dem Jura mussten wir umkehren, da die Windstärke doch allzu heftig wurde. Aber, trotz allem, es war schön. Wieder in Dübendorf bekam ich den Auftrag, bei Turbental 3 Brücken von oben zu zeichnen. Habe es gemacht, und musste als 3. Beobachterflug heute nachher noch bei Ingenhausen am Pfäffikersee ein altes römische Kastell aus 1000m Höhe abzeichnen. (Die schwarzen Minen sind aus), also geht‘s auch so. Du siehst also, unser Tagesprogramm war ganz gäbig voll. Doch so gefällt‘s mir doch bedeutend besser als im Theoriesaal. Heute Abend war wieder einmal offizielles Nachtessen mit abschliessendem Höck im Casino. Bier und Kirsch floss in Strömen, Habe mich allerdings um 21.15 gedrückt und nun bin ich ganz allein in unserer Villa. Da ich von Nanni ebenfalls heute einen Brief erhalten habe, so schrieb ich halt jetzt noch retour. Weiss der T…, warum ich dieses Mädel so gern habe. Ich frage mich, ob es darum ist, dass Nanni hübsch ist und gut küssen kann oder was denn los sei. Schon oft komme ich mir wie ein Luder vor, der toten Ruth gegenüber. Wenn Du wüsstest, wieviele Äste ich aus diesem Grund schon gehabt habe! Oder bin ich einfach unheimlich lebenshungrig? Das sind Fragen, die ich mir schon oft gestellt habe, und für die ich noch keine Antwort fand. Kannst Du sie mir geben? Und nun genug für heute, Erhalte die herzlichsten Grüße und ein Müntschi 

von Deinem Gusti 

Gruß an alle und bitte bald Antwort auf meine Fragen.

Dübendorf, 3.4.39 (60) 

Meine Lieben, 

Ganzer Tag Flugdienst. Schön war‘s und gäbig warm.

Bitte: Plötzlichstens meine genagelten Bergschuhe senden, da nächstens Nacht Patr.Lauf à la System „Hörnli Türgg“. Besten Dank für Wäschesäckli (ohne Begleitschreiben) 

Herzliche Grüße Euer Gusti

Sollte dann mit der Zeit neue Hemden haben, da die Aussichten auf freie Ostertage sehr gering sind.

Neuestes: Bei Entlassung der Wehrmämmer aus dem WK wurden jedem 10 Laden scharfe Munition in die Hand gedrückt, samt beinernem Totentäfeli um den Hals. Offiziere fassten 72 Schuss für Pistole. Haben heute die Deutsche Grenze von Koblenz bis Schaffhausen abgeflogen.

Dübendorf, 18.4.39 21.30 (61) 

Mein liebes Mueti, 

Vorerst besten Dank fürs Telefon. Allerdings erchlüpfte ich mächtig, denn wir besprachen gerade mit Oblt. Wagner einen 5000m Höhenflug. Düb.-Altenrhein-Basel-Dübendorf. Wenns Wetter nur einigermassen gut ist, wird gestartet. Und wir fliegen nun Jadtflugzeuge, Devoitine D-26. Nach dem hochgradig nervösen „Bücker“ ist es wie ein Lastwagen zu einem Rennauto. Aber dafür „tifiger“. Rutschen wir doch nun mit 200 km/h in der Welt herum. Du, ich habe letzte Woche rund 14 Stunden oben gehangen, und bin von Wind und Wetter ganz verbrannt. Doch dabei ist mir sauwohl. So Flieger zu sein für meine Heimat ist halt doch ganz gross, und die Fliegerei packt mich Tag für Tag stärker. Letzte Woche war von A-Z bäumig. Alle Tage 2-3 Höhenflüge. Habe mir am Dienstag morgen Chur und den Bergsturz bei Flims angesehen. Ferner beobachtete ich am Mittwoch einen riesigen Brand eines Bauernhauses am Zugersee und schlussendlich flogen wir am Donnerstag bei Nacht. Das grenzt nun allerdings an Schönheiten, wie sie nur in 1000 und eine Nacht vorkommen. Dass die Nachtfliegerei gefährlich sein soll, glaube ich nun nicht mehr. Am Samstag „Pro-Aero-Flug“ in 7ner Staffel über Dübendorf-Zürich-Baden-Frick-Schwyz-Liestal-Olten-Aarau-Bremgarten-Zug-Schwyz-Brunnen-Altdorf-Glarus-Weesen-Lachen-Wädenswil-Dübendorf. Dies alles in einem Flug. (Lilly soll sich die Strecke mal auf der Karte ansehen). Das macht ca. 350 km in 2h 52 Sek.! Und nun wollen wir hoffen, dass das Wetter morgen gut ist, denn wir wollen FLIEGEN!! 

Ich muss um Entschuldigung bitten, ich habe nicht geschrieben letzte Woche; war aber der Meinung, dass ich Muetis Brief verdankte. Aber alle Abende war etwas los – und Höhenflüge machen müde. 

Und nun hoffe ich, dass sich Muetis Nerven – die keine sind – wieder erholen, und schliesse 

Mit herzlichen Grüssen

Euer Gusti

*

Dübendorf, 1.5.1939 22.00 (62) 

Mein liebes Mueti, 

Natürlich gut wieder in Dübendorf gelandet. Das Beste: Heute morgen, als ich dem Kondukteur das Billet nach Menziken zeigte, um nach Aarau zu rutschen, lies schütteln, fragte er: „Diräkt?“, als ob ich noch in den diversen Käffern einen Frühschoppen tränke! Von Aarau, wo ich 4 Min. Aufenthalt hatte, nach Zürich habe ich herrlich geschlafen. Um 10 Uhr in Dübendorf, wo ich Wohnungswechsel hatte.

Neue Adresse: Lt St., Düb. CASINO Zimmer 12.

Nur zu zweit, mit Siegfried. Die Bude ist ebenso hübsch, und noch neuere Betten mit neuen Matratzen. Wie ich heute schlafen werde!!!!

Heute waren wir den ganzen Nachmittag in Olten, d.h. auf dem Flugplatz Menzikon sah ich aber, dass der Weg übers Moos führte.

Ich hoffe, dass Du noch schöne Stunden in Deiner so lieben Heimat verbracht hast und schliesse

mit den herzlichsten Grüssen

Dein Gusti

PS: Von Nanni habe ich schon einen Brief erhalten. Es ist halt doch ein liebes Mädeli!

Dübendorf, 6.5.1939 13.20 (63) 

Meine Lieben, 

Bleibe bis gegen Abend hier, da die Moneten verdammt knapp geworden sind. Aber bis am Mittwoch geht es noch. Tag für Tag waren wir jetzt oben – schöne Zeit, so eine Fliegerschule! Es ist nur schade, dass das Fliegen auf Devoitine D27 auch schon bald fertig ist. Bald schon kommen die schweren Beobachterflugzeuge dran. Die Beoabachter kommen am Montag. Am Dienstag fliegen wir bei schönem Wetter einzeln die Strecke: Düb-Illanuz-Thun-Lausanne-Genf-Basel-Düb., rund 630km. So werden wir wieder einen gäbigen „Bitz“ unseres Ländli sehen. 

Beiliegend einige Photos. Bitte n i c h t weggeben oder einkleben! 

Herzliche Grüße und alles Gute! Gusti

Dübendorf, 15.5.1939 20.17 (64) 

Mein Liebes Mueti, 

Besten Dank für Wäsche und süsse Zugabe. Natürlich wieder gut in Dübendorf angekommen und um 22.15 im Bett. 

Du, Mueti, ich bin ziemlich restlos glücklich. Meine Jugendträume, Offizier und Flieger zu werden, sind in Erfüllung gegangen – und dazu habe ich noch ein Mädeli, das mich gern hat. Ja, Mueti, ich will alles tun, um mich der jungen Liebe von Nanni würdig zu erweisen. Doch vorerst war heute wieder mal Nicht-Flugdienst. Mir persönlich war es noch gleich. Plagt mich doch den ganzen Tag gleichmässiges Bauchweh mit kötzerischem Gefühl und Durchfall wie Bergluft verbunden. Jetzt werde ich noch einen Wermuth trinken, und in 1/4 h bin ich im Bett. 

Guet Nacht und herzliche Grüße von Deinem Gusti.

Dübendorf, 17.5.1939 18.00 (65) 

Mein liebes Mueti, 

Vielen Dank für Deinen lieben Brief! Ja, mir geht‘s wieder gut. Allerdings blieb ich den ganzen Dienstag im Bett und habe richtig ausgeschlafen. In der Nacht vom Montag auf den Dienstag ging ich fünf Mal auf den Lokus. Doch jetzt ist alles in bester Ordnung. Heute sind wir wieder (endlich!) geflogen und diese Nacht werden 30 km getippelt über das Züri Oberland. Dafür werden wir morgen schlafen, und am Nachmittag werde ich vermutlich in Nesslau abgeladen und kann mit meiner Patrouille den Steiss beginnen. Vielleicht schlage ich bei Göldis Alarm. 

Jetzt aber Schluss. Herzliche Grüße und ein Müntschi Gusti

Mittwoch, 17.5.1939 (66) Bemerkungen von Lilly 

Ich fürchte, dass meine Mutter und ich uns nie ganz verstehen werden. Ach, wenn doch nur Gusti zu Hause wäre! Er ist noch der einzige, der hie und da nett zu mir ist. Ich muss einfach still werden und mich damit abfinden, dass ich in unserer Familie überflüssig bin.

Ich habe mich versteckt und bin ganz still geblieben, als sie mich suchten.

Aber das tut weh, sehr weh!

Samstag, 20.5.1939 

Ja, drei Tage haben wir es ausgehalten ohne ein Wort zu sprechen. Heute haben sie mir dann gemeinsam eine Strafpredigt gehalten. So leid es mir tut, aber sehr zu Herzen genommen, habe ich mir das nicht. Im Garten habe ich mich auf dem Ahornbaum versteckt, und ich blieb ganz still, als sie mich suchten. Ja, so boshaft bin ich geworden. Sprechen tue ich nur gerade das Nötigste.

Dübendorf, 22.5.1939 (67) 

Mein liebes Mueti, 

Vielen Dank für Deinen so lieben, langen Brief! Ich sehe daraus, dass es bei Staubs zu Hause wieder einmal s e h r freundlich aussieht. Ja, ich werde meiner „lieben“ Schwester einen Schreibebrief abgehen lassen und versuchen, ihr Diverses klar zu machen. Du, am Samstag morgen hast Du sicher an den Himmel geschaut – so um 10.15, als ich mit meiner 3er Patrouille mit Vollgas eine Steilkurve über dem Kirchenfeld drehte! Um 09.20 versuchte ich Dir anzuläuten, doch war niemand zu Hause. Bei dichtestem Dreck stach ich dann 15 Min. später mit meinen beiden Kameraden unter dröhnendem Motorengeheul über des netten Obersten Haus in Menziken. Direkt einen Tiefangriff führte ich gegen seine Fabrik aus. Doch reklamieren kann er nicht, denn die Regenwolken hingen bis auf 20 Meter über dem Boden. Und gut heimgekommen sind wir trotzdem. Am Nachmittag war ich an der „Landi“, ja, die Schweiz kann stolz sein auf dieses Werk!! und wir können stolz sein, Schweizer zu sein. Abends traf ich dann Nanni samt ganzer Familie im Vergnügungspalais. Zwar waren uns nur kurze Minuten des Alleinseins beschieden, doch ich bin ja glücklich. Schon um Mitternacht war ich in Höngg im Bett und habe dann den ganzen, verregneten Sonntag geschlafen.

In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag war Patrouillenlauf im Hörnligebiet, und heute stellte es sich heraus, dass unsere Patrouille das beste Marschresultat erzielte. Unser Tagewerk von heute bestand darin, dass wir regelrecht die Zeit tot schlugen. Von Fliegen natürlich keine Rede, da der Platz Dübendorf wieder dem Bodensee ähnlich sieht. 

So, nun gute Nacht. Herzliche Grüße und ein Müntschi vom Gusti

Gruß an alle

*

Dübendorf, 24.5.1939 (68) 

Servus Lilly, 

Vorerst besten Dank für Deinen Brief. Sieht Du, es freut mich ja, dass Du mit Deinen Sorgen zu „Brüetsch“ kommst. Du beweist genau, dass ich bis jetzt immer bemüht war, Deine Klagen zu begreifen. Auch ich hatte diese Zeiten durchzumachen, denn so mit 14-16 Jahren war ich Mueti und Vater gegenüber ein richtiger Flegel. Bei einem Mädchen kann man diese Benennung nicht gut anwenden, doch Du wirst meine Bemerkung verstehen. 

Versuch doch einmal Mueti etwas besser zu verstehen. Schau, unser Mueti ist die patenteste Frau, die existiert. Du klagst mir, dass Dich niemand in unserer Familie gern habe. Das stimmt nun glattweg nicht. Vater und Mutter haben Dich sehr lieb und beide wollen gewiss nur das Beste für Dich. Und wirklich zu beklagen hast Du Dich nicht. Wenn Du wirklich studieren willst, so nehmen unsere Eltern wieder ungeheure Lasten auf sich. Sie tun dies auch alles für mich, schon daraus kannst Du sehen, dass die Liebe unserer Eltern gleichseitig verteilt ist. Was Mueti am meisten unglücklich macht, ist das, dass Du durchs Band weg kein Interesse für ihre Arbeit an den Tag legst. Versuch doch nur einmal die Kleinigkeit, nur EINE Woche lang ohne ein Wort zu verlieren, aber mit freundlichem Gesicht, ein Abtrocktüchli in die Hand zu nehmen und rasch und freudig zu helfen. Du wirst sehen, es wird Wunder wirken! Mueti ist ja mit wenigem zufrieden. So, nun aber Schluss mit meinem Epistel! 

Morgen Donnerstag werden wir sehr wahrscheinlich in Genf Mittag essen. Unser 600km Flug ist fällig. Heute flogen wir den ganzen Tag Akrobatik. Hui, das pfiff wieder gäbig um die Nase. Im Rückenflug mit Looping vorwärts und all den schönen Sachen. 

Und nun hoffe ich, dass für Euer Besuch an der „Landi“ schönes Wetter herrscht.

Und es grüsst Dich herzlich Dein Bruder Gusti

Dübendorf, 25.5.1939 12.36 (69) 

Liebes Mueti, 

Vielen Dank für Deinen lieben Brief! Gestern habe ich Lilly nun geantwortet, und ich hoffe, dass meine Zeilen selbst „ihr“ einigen Eindruck hinterlassen. 

Und nun möchte ich Dich bitten, mir ein Säckli mit Hemden (ein weisses und Socken zu senden. 

Samstag haben wir bis 17.00 Uhr Dienst, und ich werde gegen 18 Uhr in Zürich sein. Als Familientreffpunkt möchte ich das Bahnhofbuffet II. Kl. vorschlagen und zwar ab 18 Uhr. Vielleicht kannst Du mir Eure genaue Ankunft noch mitteilen. Das Wetter pfui Teufel! Wir alle sind fast am Verrückt werden, und unsere Laune sinkt von Tag zu Tag tiefer. 

Also auf baldiges Wiedersehen und herzliche Grüße Gusti 

P.S. Bitte Dienst- und Schiessbüechli nicht vergessen!

Dübendorf, 6.6.1939 12.25 (70) 

Mein liebes Mueti, 

So, zwei schöne, aber heisse Tage wären vorbei. Gestern besuchten wir die Saurerwerke in Arbon von Altenrhein aus und heute morgen war unsere 7ner Staffel „daheim“, d.h. auf dem Belpmoos. Ziemlich genau um 11 Uhr überflogen wir in 1000m Höhe die KWD. Leider hatte ich keine Zeit, Dir zu telefonieren. Nachmittags gabs einen kurzen 5000m Flug nach Schaffhausen und sonst noch eine Landung in Dübendorf. Und morgen, um 07.00, kommt der grosse Moment, wo uns jungen Piloten unsere Beobachter Kameraden das erste Mal anvertraut werden. Also wieder einen Schritt weiter – und die Verantwortung wächst damit. Bis jetzt trug ich nur meine eigene Haut zu Markte, doch von morgen an wären es zwei, die ins Gras beissen könnten bei einer Saulandung. Aber wir werden unsere Fokker so zart und fein wieder zu Erde zurückführen, wie ….äh, eben wie man eine Frau berührt. Ein besserer Vergleich fällt mir jetzt im Moment nicht ein. 

Anmerkung L. Zimmerli: hier endet dieser Brief, d.h. ich finde keine Fortsetzung.. (17.5.2012)

 *

Dübendorf, 9.6.1939, nach Mitternacht. (71) 

Liebes Mueti, 

Komme soeben von einem ganz netten Abend im Heim von Oblt. Wagner nach Hause und will nun noch in Eile meine Wäsche absenden. Werde Dir dann meine Adresse von Lausanne raschestens zukommen lassen. War heute um 10.30h über Bern, kam von Luzern her über Eiger, Mönch, Jungfrau, Thun wieder nach Dübendorf. Beobachterfunk-Flug auf 4800 m und zwar ¼ Std. Saukalt aber schön.

So guet Nacht, um 05.00 Uhr ist Tagwacht.

Herzl. Grüße Gusti

Thun, 19.6.1939 21.58h (72) 

Mein liebes Mueti, 

Besten Dank für Säckli und kurzen Brief.

Heute morgen also in Lausanne per Staffel gestartet und 40 Min. später kreisen wir um 09.20 über Bern. Das Kanti in Thun ist etwas besser als Lausanne. Traf hier den Leutnant Ruedi Gygax und Rekrut Burkhalter! Samstag und gestern war soweit schön, dass jedoch Nanni nicht mit auf den Gurten gebummelt ist, daran habe ich mich gestossen. Doch nun sind wir schon fast alle im Bett, auch ich will nun schlafen.

Guet Nacht und sei herzlichst gegrüsst vom Gusti.

Bitte sende ein Turnleibchen.

*

Dübendorf, 21.6.1939 12.38 (73) 

Mein liebes Mueti, 

Gestern war den ganzen Tag kein Flugdienst, da allzu „schönes“ Wetter. Heute allerdings waren wir oben. Ich kam gäbig tief über Bern Kirchenfeld. = 3 mal Gas weg und nun hat einer von unserer Schule ins Gras beissen müssen. Lt. Decombaz und Lt. Hagen (s.Bern Beob.) sind im Jura im Nebel hängen geblieben. Hagen tot, Dec. Pilot leicht verletzt. Sie haben wenigstens ihre Pflicht erfüllt, ihre Aufgabe gelöst, und das ist meiner Meinung nach die Hauptsache. 

Morgen muss unsere Staffel über dem Eidg. Schützenfest mit den Schweizerfahnen über Luzern kreisen! Trotz Hagens Tod werden wir fliegen, heute Nachmittag auch. Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen – und Du musst auch tapfer sein, Deinem Gusti passiert nichts, denn Mueti betet ja für mich.

Herzliche Grüße Gusti

Dübendorf, 29.6.1939 12.10 (74) 

Mein liebes Mueti, 

Herzlichen Dank für Deine Zeilen und das Säckli! Gestern dachte ich häufig an Deine Wäsche – und schönes, herrliches Flugwetter haben wir auch. Heute morgen kreiste ich die längste Zeit um den Säntis Gipfel und in ca. 3 Std. bin ich sehr wahrscheinlich im Bündnerland. Nächsten Samstag bin ich von 11.30 bis 12.45 im Casino und gehe mit dem Zug 13.15 nach Zürich. 

Neuigkeiten habe ich keine zu berichten ausser, dass ich munter bin wie ein Fisch im Wasser! D.h. also prima zwäg. Lilly wünsche ich gute Besserung und verbleibe  

mit den herzlichsten Grüssen Euer Gusti.

Werde mich nun auf die Suche nach Pyjama begeben. Gusti

Dübendorf, 30.6.1939 20.20 (75) 

Liebstes Mueti, 

Vielen herzlichen Dank für Deinen so lieben Brief und Päckli! Deine Zeilen habe ich eben das dritte Mal durchgelesen und finde darin Deine tiefe Liebe zu Deinem Bueb. Auch ich habe zurückgedacht um einige Jahre. So jung ich ja noch bin,
v i e l hat mir das Leben schon gebracht. Mein Jugendtraum, Flieger und Offizier zu werden, ging in Erfüllung und dass „Gy“ jetzt halt einem andern gehört, darüber werde ich mich hinwegsetzen. Momentan geniesse ich ja die Liebe eines hübschen Mädchens, und morgen werden wir beide glücklich sein.

Gestern war ich dann richtig gehend im Bündnerland und zwar über Rueras, Sedrun. Habe über dieser Gegend Erinnerungen aufgefrischt, und beinahe wieder „Äste“ bekommen. Jedenfalls grüsste ich auf dem Heimflug lange und ernsthaft das Grab meiner lieben toten Ruth, die ich, komme, was kommen möge, nie vergessen werde. Ruth war eine Frau, die ich tief liebte, und die ich jetzt noch liebe. Doch das Leben ist halt hart, und oft reisst es auseinander, was vielleicht nach menschlichem Ermessen zusammen gehörte. Doch jetzt genug der traurigen Nachgrübelei, wir sind jung, und noch ist die Welt nicht mit Brettern vernagelt.

So, nun haben wir heute Abend ein Abschiedsfest bei Oblt. Wagner.

Sei herzlich gegrüsst und geküsst

von Deinem Gusti

Dübendorf, 3.7.1939 22.10 (76) 

Mein liebes Mueti, 

So, nun geht‘s nur noch 5 Wochen, bis die so heiß ersehnte Fliegerschule auch „ume Egge“ wäre. Wir nehmen diese nicht mehr tragisch, das wurde heute Abend in Corpore beschlossen. 

Nun will ich dir noch kurz meinen Rapport des Wochenendes geben. Also, ich hatte mit Nanni abgemacht, dass wir uns um 13.30 im Bahnhof Zürich treffen wollten. Um 10 Uhr hatten wir Abtreten und um 10.30 erhielt ich telefonisch den Befehl, von Hptm Troller, dass ich sofort nach Payerne fliegen müsse, mit einem neu revidierten Fokker, also noch quasi Einfliegen. Fluchend meldete ich mich am Start, da hiess es, Lt. Brenzikofer fliege für mich. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zur angegebenen Zeit traf ich dann mein Mädel. Und es wurde ein schönes, wenn auch verregnetes Wochenende. Ja Mueti, ich war glücklich. Doch nur viel zu rasch waren diese schönen Stunden vorüber, und am Sonntagabend, um 21.20, entführte der Zug mein Nanni wieder heim und m e i n Tram rutschte um 21.25 gen Dübendorf. 

Lillys Brief samt Inhalt machte mir grosse Freude, und mit Stolz legte ich meinen Berner Bär neben das Cigaretten Etui. Vielen Dank dafür. Das Päckli aus dem Engadinerhof war von Meni. Inhalt: Beiliegende Karte und einen Strauss Alpenrosen. Von „Gy“ erhielt ich, wie jedes Jahr eine Berndeutschkarte mit Ankündigung, dass ein langer Brief folgen werde. Von Aetti erhielt ich auch eine liebe Karte mit den besten Glückwünschen. 

So das wäre in kurzen Zeilen das Neueste. Ich hoffe, dass daheim alles gesund und zwäg sei wie ich und schliesse mit den herzlichsten Grüssen und einem Müntschi. 

Dein Gusti

Dübendorf, 5.7.1939 23.50 (77) 

Liebes Mueti, 

Schon wieder muss ich Dich bitten, den Kopf oben zu behalten und stark zu sein.

Ltn. Rolaz ist heute um 16 Uhr beim Umschulen auf C35 abgestürzt. Resultat: Pilot tot (kein Beobachter), Maschine restlos hin. Doch wir sind Soldaten, und hoffentlich ist morgen Flugwetter. Am Samstag bin ich in Bern. Bitte teile mir mit, ob Ihr noch zu Hause seid. 

Herzliche Grüße – und nicht zweifeln!!!! 

von Deinem Gusti

Dübendorf, 14.7.1939 12.10 (78) 

Mein liebes Mueti, 

Besten Dank für Deine Zeilen. Am letzten Sonntag habe ich nach Eurer Abfahrt noch bis 10 Uhr geschlafen und dann Alfa angeläutet, der mich dann prompt zum Mittagessen einlud. Habe natürlich dankend angenommen. Am Nachmittag machten Alfa und ich einen Bummel der Aare entlang und im Dählhölzli Nachtessen. Nanni habe ich nicht mehr gesehen, dafür „hunderte“ von jungen Frauen, die sich badend in der Aare tummelten. Auch ich sehe ganz langsam ein, dass Nanni nicht d i e Frau ist für mich. Um 22.10 war ich dann wieder in Dübendorf. Nach Bern gehe ich erst wieder an unserem Entlassungstag, also am 5.8.. Der Dienst beginnt langsam öde zu werden, das heisst nur Theorie, da unser Flugdienstbudget zur Neige geht. 

Nun wünsche ich Euch allen recht frohen Sonntag und weiterhin viele schöne Tage. 

Gusti

Dübendorf, Sonntag, 16.7.1939 (79) 

Mein liebes Mueti, 

Gott sei Dank ist wieder ein Sonntag vorbei! Weiss der T.., aber ich habe einen ganz blödsinnigen Ast. Gestern war ich am Nachmittag auf Ruths Grab --- und lange stand ich schweigend vor diesem kleinen Fleckchen Erde, das einen mir so teuren Menschen birgt. Und immer und immer wieder stieg in mir die verdammte, quälende Frage auf: WARUM? Jetzt, wo die sorglos glückliche Zeit der Pilotenschule sich langsam dem Ende nähert, beginne ich wieder ein wenig weiter über die Nase hinaus zu denken als bis jetzt. In wenigen Monaten schon soll ich wieder die Schulbank drücken – ein mir grässlicher Gedanke. Doch auch d i e s e 1 ½ Jahre werden noch zu überstehen sein.

Du, Mueti, ich weiss, dass ich Dir in den letzten 5-6 Monaten oft weh getan habe. Ich weiss, dass Du mein Verhältnis zu Nanni nie gebilligt hast – und dass Du es nie billigen würdest. Du sagtest mir einmal vor ½ Jahr, dass du mich nicht begreifen könnest. Jetzt begreife ich DICH. Zugegeben Nanni ist hübsch, und küssen kann es auch, aber seit geraumer Zeit sind Zweifel in mir erwacht, die ich nicht einfach unterdrücken kann. Nämlich Nannis Gesundheit und seine negative Einstellung zum Sport. Immer wieder zwingen sich mir die Vergleiche auf zwischen Ruth, „Gy“ und Nanni. Und bei diesen Vergleichen kommt, bei ganz ehrlichem objektivem Beurteilen, Nanni schlecht weg. Doch, was habe ich schon von diesen Vergleichen, wo mein Ideal von Frau bisher für mich nicht zu erreichen ist? Ruth ist tot, „Gy“ mit einem Pfarrer verlobt. 

So, nun aber Halt mit diesen trüben Gedanken. Morgen beginnt ja wieder der Dienst und vielleicht (je nach Kassenstand) komme ich nächsten Sonntag zu Euch. Bitte sende mir nun auf Ende Woche Socken und bitte rasch einen Waschlappen! Und nun sei herzlich gegrüsst und erhalte ein Müntschi vom Gusti 

Lilly meinen besten Dank für den Brief, ebenso herzlich verdankt seien Deine Zeilen.

Dübendorf, 28.7.1939 22.00 (80) 

Mein liebes Mueti, 

Vorerst vielen Dank für Säckli und Brief! Wie ich aus diesem ersehen kann, seid Ihr ja vom Wettergott auch nicht grad begünstigt. Doch von heute an wird‘s besser. Gestern waren wir aber trotz Regen und Sturm in Thun und Bern und zwar per C 35. Sauschön war‘s, über dem Breitenrain und Muri waren wir wegen den Wolken sicher nicht höher als 20 Meter unten. Heute haben wir den ganzen Tag in Kloten mit den Flugzeugen geschossen und wenn Du diesen Brief erhälst, sind wir sicher schon zurück von Bellinzona, Lugano, Locarno. Ja, wenn es dann das Wetter will, so startet unsere Klasse in 10 Stunden e i n z e l n, (d.h. jede Maschine C35, also Pilot und Beobachter) fliegen auf getrennten Strecken in den Tessin. Ich über Wolfenschiessen. Die Ecke nach Klosters wäre etwas zu gewagt, da wir nur 1½ Stunden Flugdienst haben dürfen, bis wir bei Locarno landen.

Am Sonntag gehe ich noch zu Tanners.

Und jetzt aber ab ins Bett, denn morgen ist unser grosse Tag: ALPENFLUG!

Nun denn herzliche Grüße, auch an meine blonde Tanzpartnerin.

Und schönen Sonntag.

Gusti  

Dübendorf, 1.8.1939 22.20 (81) 

Meine Lieben, 

Wieder einmal 1. August, und ich habe einen Ast. War heute Abend bei Tanners zum Nachtessen eingeladen. Spiegeleier, Kartoffelsalat, Salami, Bier, Wein, Schnaps, einfach alles, was ich gerne habe, wurde aufgetragen. 

1. August!!!! Heute Offizier und Militärpilot, letztes Jahr Brevet 1 geflogen, vor zwei Jahren Unteroffiziersschule, vor drei Jahren Rekrutenaushebung, vor vier Jahren Ruth kennengelernt, doch zurückdenken hat keinen Sinn. Vorwärts!!! Am letzten Mittwoch per C35 bei Sauwetter in Thun und Bern. Donnerstag Theorie, Freitag Schiessen C35 in Kloten und Sonntag Flug über den Gotthard in den Tessin: Locarno, Lugano, Chiasso, Bellinzona. Auf dem Heimflug war ich über Klosters und habe im Tiefflug über der Vereinahütte Stilkurven gedreht. Sicher habt Ihr den verrückt gewordenen C35 gesehen, am Nachmittag 16h. Am Morgen 08.10 habe ich in Wolfenschiessen Nanni bei der Morgentoilette gestört und einige Minuten später auf dem Titlisgipfel Touristen gegrüsst. Heute waren wir wieder einmal am morgen in Altenrhein per Zehnerstaffel.


(7) Fliegerformation.

Fliegerformation.

Schön zum Ansehen, aber schwer zum Fliegen. Aber morgen ist Inspektion, durch den Waffenchef, da müssen wir Piloten zeigen, was wir können Hals und Beinbruch!

Sende Mueti hier noch mal Wäsche. Diese bleibt bitte bei Euch, nur Säckli sollte ich noch haben. So, Schluss für heute, gute Nacht und herzl. Grüße. 

Gusti

Besten Dank für die Karten.

Bern, den 6.8.1939 (82) 

Mein liebes Mueti, 

So, meine langersehnte Pilotenschule wäre glücklich zu Ende. Mit Stolz und riesiger Freude trug ich gestern meinen „Spatz“ am Ärmel und mein Militärflieger Brevet in der Tasche nach Hause. Ich bin ja so glücklich, dass ich nun endlich DAS habe, was mir seit Jahren erstrebenswert schien. Pilot bei unserer Luftwaffe, Flieger für unsere Heimat zu sein, seinen ganzen Kerl für sein Vaterland einsetzen können, das muss doch einen Jungen mit riesigem Stolz erfüllen! Es ist ja sehr zu bedauern, dass nicht alle, die wir am 30. Januar in Dübendorf zusammen kamen, mit solch freudigem Stolz zu ihren Lieben zurückkehren konnten. Doch gegen das Schicksal ist leider bis heute kein Kraut gewachsen. Uns Jungen werden ja diese gefallenen Kameraden Fingerzeige sein, und an ihren Todesstürzen wollen wir lernen – wie man es n i c h t so macht. Über den letzten Absturz an der Ibergeregg mit Lt. Real als Pilot und Lt. Wälti musst Du nicht studieren und Dir Sorgen machen. Den Piloten trifft die ganze Schuld, denn er machte seinen Eltern dort oben einen Tiefangriff vor, kam dann noch in den Nebel und brach sich an Tannen und Felsen die Flügel, Lt. Real ist unverletzt, Lt. Wälti noch im Spital, jedoch sind seine Verletzungen nicht gefährlich. Der in Vallorb mit Ltd. Hager abgestürzte Pilot Lt. Decombat kam am Freitag zu uns an den Schlussabend, allerdings den linken Arm noch im Gips, im Übrigen aber guter Dinge. 

Am Samstagmorgen führte uns Gribi per Auto über Luzern nach Hause. In Luzern musste er rasch an die Himmelreichstrasse 13, was ich benutzte, um einige Häuser weiter vorne Kochers Grüezi zu sagen. Sie lassen Euch alle herzlich grüssen. In Bern traf ich die Wohnung in schönster Ordnung. Am Abend war ich wieder Zivilist mit Krawatte und Hut. Heute war ich Gast zum Mittagessen bei Familie Inderbitzin, und Alfa, und ich verbrachten den regnerischen Sonntag im Casino bei e i n e m Bier und Musik. Heute Abend waren wir zusammen im Schwyzerhüsi am Gurten, wo es neuerdings saunett ist und sogar gute Musik gespielt wird. 

Doch nun rückts gegen Mitternacht. Ich will schliessen und wünsch Dir vor allem schleunigste Erholung von Deinem Nervenkrampf. Bitte berichte mir Deine genaue Ankunft, damit i „afe“ d‘Musig bschtelle cha… Und nun sei herzlichst gegrüsst und nimm es Müntschi von

Deinem Gusti

Natürlich sei auch der Rest der Familie gegrüsst, so wie meine Bekannten.

Utzensdorf, 28.8.1939 20 Min. nach Mitternacht (83) 

Liebstes Mueti, 

So, nun bin ich glücklich meine Stiefel und Hosen los, die ich seit Sonntagmorgen 04.30 getragen habe. Gestern Nacht bis gegen 3 Uhr gearbeitet und um 03.15 Tagwacht. Ganze dreissig Minuten lag ich in den Kleidern auf dem Bett. Heute morgen nun per Auto zuerst nach Luzern, wo auf der Allmend die Soldaten unseres Regiments einrückten. Nach dem Mittagessen hatte ich keine Zeit zum Frühstücken, ab per Töff über Sursee hierher, wo ich als erster eintraf. Hatte Glück und fand ganz flottes Zimmer bei Frau Wittwe Studer, alte, nette Dame. Mit meinen Soldaten und Vorgesetzten komme ich gut aus. Fliegen kann ich zwar nicht, ich muss den Stabsoldaten das Waffenhandwerk beibringen. Die ernsten Stunden haben nun auch uns ergriffen und mit heiligem Eifer tut jeder seine Pflicht. Es ist d o c h schön, Offizier und Soldat zu sein.

Nun will ich noch rasch 4 Stunden schlafen und seid herzlich gegrüsst von

Eurem Gusti

Adresse: Lt. Staub Stab Fl.Abt.4 Utzensdorf

Bitte keine weiteren Kleider oder Stiefel schicken.

*

Aktivdienst 1. Mobilmachungstag 2.9.39 14.03 (84) 

Mein Liebstes Mueti, 

So, nun hat sich vieles gewendet. Gestern war ich noch auf einen Sprung bei Dir, DAHEIM, und einige Stunden später wurde die Generalmobilmachung proklamiert. In unserem lieben Bernerdorf sah ich gestern und heute rührende Abschiede von Vätern, Brüdern und Söhnen. Ich bin froh, dass ich gestern meinem Schwesterchen noch einen Kuss gegeben habe, Lilly wird sich ja kräftig über seinen grossen, „bösen“ Bruder gewundert haben. Effektiv erzählen konnte ich Dir ja nie während des Telefonierens. Nun habe ich gerade einen Moment Zeit. So will ich nun doch in Form eines Briefes, den Du ja sicher aufbewahrst, kurz meine Gefühle während der Vereidigung mitteilen. 

Vor allem leide ich momentan wieder unter wahnsinnigem Heimweh nach meiner lieben, toten Ruth, ihr Foto habe ich im Zimmer aufgestellt – während ich kein einziges Bild von Nanni bei mir habe. Als ich beim feierlichen Akt der Eidabgabe als junger Offizier mit blankem Säbel und entblösstem Haupt vor meiner Truppe stand und als die laut und mit heiligem Ernst gesprochenen Worte: „ICH SCHWOERE ES!“ über den Flugplatz tönten, da wanderten meine Gedanken weit übers Bernbiet hinaus zu einem kleinen Fleckchen Heimaterde, zu jenem kleinen Platz, wo meine Ruth in ihrem letzen Schlaf liegt und nie wiederkehrt! Doch ich muss aufhören, in dieser Wunde zu grübeln, denn ich kämpfe mit Tränen, - und das darf ich doch nicht, ich bin doch Offizier meiner Soldaten, die, glaube ich, für mich durchs Feuer gingen. Doch in meinem Zimmer sieht‘s trüb aus wie seit langen Monaten nicht mehr. Jetzt, gerade jetzt hätte ich die Liebe einer Frau wie Ruth nötig gehabt, doch es wird auch ohne das gehen. Ich weiss ja, dass mein Mueti an mich denkt und Ruth als Schutzengel an meiner Seite geht und steht. Heute morgen verteilte ich an meine Soldaten die Erkennungsmarken. Ich weiss nicht, woher es kommt, dass ich plötzlich beim Verteilen der scharfen Munition und dieser Marken meine Gedanken in Worte fassen konnte. Endlich, endlich konnte ich meinen Mannen sagen, um was es gehe, und wie i c h all diese Kriegsvorbereitungen auffasse. Jedenfalls folgte eine tiefe Stille auf meine Worte und ich glaube, ein Pfaffe müsste das gleiche Gefühl nach gehaltener Predigt empfinden, wenn die „Gläubigen“ nach der Rede still die Kirche verlassen. Doch, ich will nicht spotten, meine Einstellung zur Kirche und den Pfarrern kennst Du ja. Und trotz all dem habe ich zu unserem Herrgott gebetet, dass er unsere liebe Heimat vor dem unmittelbaren Schrecken des Krieges verschone und alle meine Lieben zu Hause behüten möge! 

So, nun will ich aber schliessen, denn sonst würde ich ganz, ganz grässlich zu Fluchen beginnen, weil ich bei d e m schönen Wetter nicht am blauen Himmel hängen kann, sondern zum Bürodienst verdammt bin. Aber sicher wird später eine Versetzung zu einer fliegenden Kompanie eintreten. 

Sei indessen herzlichst gegrüsst und geküsst von Deinem Gusti. 

PS. Bitte neue Adressgebung beachten, denn es geht niemanden etwas an, WO unser Stab steht. (Wir bleiben sehr wahrscheinlich hier im Ort.) Keine Ortsbezeichnung mehr, die Post weiss, wo wir stecken. 

Lt. Staub Gust. Feldpost

Stab fl.Abt.4

Aktivdienst 4.9.1939 (85) 

Mein liebes Mueti, 

So, ein Tag wäre wieder bald vorbei, d.h. ein gewöhnlicher Zivilistentag. Ab heute ist nun meine Arbeitseinteilung folgendermassen: 

18.00-02.00 (Piket auf dem Kommandoposten)

02.00-10.00 Frei(tag)

10.00-18.00 Dienst(ag)

18.00-02.00 Frei

02.00-10.00 Dienst usw.

Sonst geht‘s mir sehr gut und dasselbe hoffe ich von Euch auch zu vernehmen. Da scheints das schöne Wetter nicht mehr abgehalten wird, bitte ich Dich, mir meinen graugrünen Gummimantel und die alte Aspirantenmütze zu senden.

Doch nun sollte ich noch Kriegskarten nachfüllen und sonst die Zeit totschlagen.

Sei bis auf weiteres herzlichst gegrüsst und geküsst von Deinem

Gusti

Auch Lilly lasse ich in diesem Sinne grüssen

Aus dem Tagebuch von Lilly, Freitag, 8. Sept. 1939 (86) 

Was alles geschehen kann in einem Monat! Nun ist es Wirklichkeit geworden, was man letzten Herbst gefürchtet hat, - KRIEG! - Auch unsere Schweiz hat mobilisiert. Gusti ist fort im Militärdienst, Vati immer noch in Graubünden. Frankreich, England und Polen gegen Hitler. Die Schulen haben wieder begonnen, nur unser Progymnasium hat noch frei. Zu allem Schweren kommt noch der Unfriede mit meiner Mutter. Ist es wohl ganz unmöglich, dass wir einmal zusammen gut auskommen? Jetzt, wo doch eines das andere so nötig hätte!! Wenn nur Gusti zu Hause wäre! ………. 

Gestern war Raimond Richli wieder da. Sein Vater kämpft mit den Franzosen, er und seine Mutter sind befreundet mit unserer bekannten Fam. Arnholz - und Raimond geht hier ins Gymnasium. Er ist oft bei uns – und eben gestern auch im Schwimmbad auf der Ka-We-De, wo er sich mit Heinz zankte. Er schmiss Heinz dann ins Wasser, was mich wütend machte, denn es ist unfair, Heinz ist ja viel kleiner und wohl schwächer!

Ich zog dann vor, zu gehen! Ich hätte wieder einen Brief von Gusti nötig!

Aber alle persönlichen Sorgen sind ja so klein gegen all das Elend, das jetzt der neue Krieg vielen Tausenden bringt!

Möge Gott unsere Schweiz beschützen!!

Sonntag, 10.9.1939 10.10 (87) 

Liebstes Mueti, 

Hier endlich die gwünschte Wäsche. Habe jetzt wieder Dienst von 13.00- morgens 01.00 Uhr. Also wieder 12 Stunden auf dem Posten. 

Herzliche Grüße Euer

Gusti

Im Feld, 12.9.1939 18.50 (88) 

Mein liebes Mueti, 

Habe vorhin eben Trainer und nette Beigabe erhalten, vielen Dank! Du, mir geht‘s prima. Ich nehme zu an Gewicht und „moralischem Halt“. Direkt neben unserem Büro habe ich einen Platz gefunden, wo ich meine Freizeit verbringe. Sehr nette Familie (mit 21 jähriger Tochter, die sich keine Illusionen macht). Jung, hübsch und weit gereist, sie sah London, Paris und steckte das ganze letzte Jahr (bis vor 8 Tagen) in Italien als Kinderfräulein und spricht nebenbei 4 Sprachen geläufig. Du siehst, selbst in diesem gottvergessenen Kaff Utzenstorf hat es noch Leute mit Bildung. Mein schwarzer Kaffee wird mir stets von Frau Kilchenmann (Mutter) serviert. Du, wenn ich das nächste Mal heimkomme, so wirst Du und ganz Bern staunen, denn nach allgemeinem Beschluss lassen sich nun in 8 Tagen alle Offiziere der FL.Abt.4 ---- den „Schnauz“ wachsen. Ich züchte mir nun ein „Flügeli“, wie es unser lieber Aetti jahrelang pflegte. Bis jetzt macht unsere Neuheit kräftig Fortschritte, männiglich hat seine helle Freude daran. Morgen, Mittwoch, habe ich ganze 24 Stunden dienstfrei. Leider muss ich aber im Kantonementrayon bleiben. So werde ich mich halt auf ein requiriertes Velo setzen und an den Emmenstrand pedalen. Werde in Begleitung die Zeit totschlagen und um 01.00 Uhr (nachts) meinen Dienst wieder aufnehmen. Werde Dir morgen Fr. 4.-- zustellen lassen. Bitte sende mir dafür 5 Päckli „North State“, ohne dieses verdammte Kraut halte ich es kaum aus. Direkt lechzend stürze ich mich auf Deine geschickten Giftnadeln. 

So, nun dauert mein Postenstehen noch bis 01.00 und dann wird wieder geschlafen.

So wünsche ich Dir und Lilly recht gutes Befinden und sende Euch jedem herzliche Grüße und je einen lieben, festen Kuss

Gusti

Im Feld, 20.9.1939 06.20 (89) 

Mein liebes Mueti, 

Seit 04.45 stehe ich wieder mit kalten Fingern auf dem Posten und denke wehmütig an ein warmes Bett zurück. Bis Mittag habe ich nun Dienst und am Nachmittag muss ich ganze drei Stunden exerzieren. 

Von Alfa erhielt ich gestern einen langen Brief. Er sass in Mörel im Wallis. Stinklangweiliges Kaff scheints. Nächstens bezieht unsere Mannschaft ihr Winter-Kantonnement und soll sich moralisch auf weitere 3-4 Monate Dienst vorbereiten. Sollte das der Fall sein, so kaufen wir Offiziere noch warme Armee- Wintermäntel und ein Paar dicke Gummistiefel. Vorläufig sollte ich nur Nastücher erhalten, mein Waschsäckli kommt später. Hoffe, dass Ihr noch einen netten Bettag miteinander verbrachtet. Von Tagesbefehlen für nächsten Sonntag habe ich noch keine Ahnung. An Nanni ist ein langer Brief am Montag abgegangen. 

Herzliche Grüße und ein Müntschi Gusti 

Habe gestern mit Oblt Mösch in Bern ein langes Telefongespräch geführt. Auch nett, die „Anrede“ Herr Kamerad, zu einem alten Lehrer!

Im Feld, 29.9.1939 10.00 (90) 

Meine Lieben, 

Jetzt ist der Moment da, wo ich recht dazu komme, Euch einige Zeilen zu schreiben. Die ganze Woche bis jetzt war verrückt. Als ich am Sonntagabend wieder ankam, hiess es, dass wir n i c h t zügeln werden. Bis Mittwochabend liess man uns bei diesem Gedanken und ganz plötzlich kam die Devise: „Morgen 28. ds. umziehen“! In einem neu renovierten Haus, direkt am Bahnhof ist nun unser Reich. Als ich dort ankam, wies man mir mein Zimmer zu. Ich war platt! Vor mir sah ich eine grosse, zweifenstrige, schön hell tapezierte Bude mit Wandschrank, aber glattweg unmöbliert. Kein Bett, kein Tisch noch sonst irgend etwas war da. Aber abends um 17. Uhr war der Schlag tipptopp in Ordnung. Habe sämtliches Mobiliar im Dorf zum Teil erbettelt, z.T. „gefunden“. Sogar einen Nachttisch samt Stehlämpchen konnte ich auftreiben. Was aber das Schönste an meiner Wohnung ist, das ist das Badezimmer mit 75l Boiler!! Ganz allein für meinen persönlichen Gebrauch. Und nun wird‘s sogar noch angenehm warm hier drin, denn die "Telefönler“ heizen wie toll, und meine moderne Etagenheizung funktioniert prima. Zivilpersonen hat es im ganzen Haus keine, alles wurde zu Büros gemacht, einzig meine Bude ist wie eine Insel im ersten Stock. Da immer, Tag und Nacht, ein Offizier hier im Kommandoposten sein muss, steckte mich der Kommandant hier herein als alleiniger Herr und Meister. Heute Abend werde ich mich im Dorf noch nach einigen Vorhängen sowie einzelnen Bildern umsehen. Ich habe das Gefühl, dass sich hier ganz angenehm überwintern liesse. Vor zwei Tagen wurde mir eine Liste betreffend Tagesoffizier in die Hand gedrückt, die gerade bis zum 24. Januar 1940 reicht. Habe auf das hin dem Technikumsdirektor einen lieben Brief vom Stapel gelassen und ihm darin mein aufrichtiges Bedauern ausgesprochen, dass ich aus triftigen Gründen am Montag nicht kommen könne. Laut dieser Tages Off.Liste soll ich dieses schöne Amt am 24. Dez.

P.S. Hier endet dieser Brief. Wo ist die Fortsetzung? (20.5.2012 L. Z.)

Im Feld, 14.10.1939 19.40 (91) 

Mein lieber Aetti, 

Beim Schreiben dieser Zeilen sitze ich immer noch in unserem bäumigen Zimmer im Kommandoposten (KP). Du siehst, dass es den goldstrotzenden, gekrönten Häuptern noch nicht so heftig pressiert, den Lt. Staub fliegen zu lassen. Mir pressierts aber umso mehr. Mueti ist weniger erbaut von diesen Plänen, besonders da wir heute wieder einen Kameraden zu Grabe getragen haben. Lt. Reber, nebenbei noch ein Tech.Kollege von mir, stürzte in der Ausführung einer Kampfübung zu Tode. Kp Kdt seiner Kp ist Hptm. Imhof, der heute in der Kirche von Belp ganz gross gesprochen hat. Doch m e i n e Versetzung ist ganz gewiss, und ich freue mich darauf! Weisst Du, Flieger zu sein, und nicht fliegen zu dürfen, das ist zum Toll werden. Lt. Zimmer von Thun hat sich vor wenigen Wochen im Dienst den Arm gebrochen, wurde entlassen und steckt jetzt am Technikum. Sie seien ganze 7 Mann in ihrem Semester. Du siehst, Armbruch, etc. braucht es, um die Uniform an den Nagel hängen zu können. 

Doch das alles ist ja gar nicht der Grund, warum ich Dir schon wieder einen Schreibebrief vom Stapel lasse. Nein, ich will Dir zu Deinem bevorstehenden 48. Geburtstag gratulieren und Dir recht viel Glück wünschen für die Zukunft. Du kennst mich, mündlich kann ich nicht danken, doch so. Habe Dank für alle Deine Mühe und Opfer, die Du das ganze letzte Jahr wieder für mich gebracht hast! 

Herzliche Grüße und „Glück auf“ Dein Gusti

Im Feld, 18.10.1939 (92) 

Mein liebes Mueti, 

Lilly wird Dir erzählt haben, dass ich es noch für kurze Zeit aus der Lateinstunde erlöst habe. Hier im KP war alles erstaunt, dass ich so rasch wieder zurück sei.

Du, es scheint, dass unsere Fliegertruppe in eine Pechsträhne gerutscht ist. Kaum liegt „Stahl“ unter der Erde, müssen wir wieder um zwei Kameraden trauern. Aber trotzdem dürfen wir nicht mutlos werden oder gar verzagen. Wir Flieger haben – wie 1 000 000 andere geschworen, unser Leib und Leben für die Heimat einzusetzen, und ich bin überzeugt, dass das jeder mit Freude und Hingebung tut. Wenn wir bedenken, dass ausserhalb unserer Grenzen täglich etliche 100 oder 1000 Soldaten für ihre Heimat sterben, so müssen wir uns glücklich schätzen, mit so wenigen Opfern auszukommen. Und das kleine Einzelschicksal eines einzelnen Menschen spielt ja gar keine Rolle, wenn durch diese Opfer die Freiheit unserer Schweiz aufrecht erhalten werden kann. 

Also wieder einmal: Kopf oben behalten!! 

Herzl. Grüße und einen Kuss Gusti

K.P. 24.10.1939 16.23 (93) 

Mein liebes Mueti, 

Du, vor allen anderen, muss ich Dir „leider“ mitteilen, dass Du mindestens die nächsten 5-6 Wochen noch ruhig schlafen kannst. Unser Nachrichten Off. Oblt. Lätsch rückte vorgestern in die Zentralschule ein und so ist der Lt. Staub zu einem schönen, verantwortungsvollen Posten nachgerückt. Aber Fliegen kommt nicht in Betracht! Doch mich freut das Zutrauen meiner Vorgesetzten besonders unter Major Vacano, dass er mir jungem Leutnant diesen Posten überträgt. Ich werde mir alle Mühe geben, diese Arbeit treu und zur Zufriedenheit meiner höher gestellten Kameraden auszuführen. Nun geht alles, was vom Regiment oder sogar von Bern kommt, zuerst durch meine ehemaligen schmutzigen Mechanikerhände – und darauf bin ich stolz! In sämtliche geheime und geheimste Befehle und Akten habe ich nun Einsicht, und es fällt mir sogar hie und da die Entscheidung zu, ob ganze Kompanien auf die Beine zu bringen sind oder nicht. Auch habe ich als erster alle Urlaubsgesuche zu prüfen und meinen Antrag auf Bewilligung oder Ablehnung derselben darauf zu vermerken. Von Faulenzen gibt‘s nun nichts mehr, denn von 06.00 bis 18.00 stecke ich nun an m e i n e m Schreibtisch, so unsere Akten, schreibe und disponiere. Auch Maschinenschreiben und sogar meine wenigen Kenntnisse in der Stenographie kommen hier wieder zu Ehren. Bei all dieser strengen Arbeit komme ich mir wieder als Offizier vor und nicht mehr als „Tschumpel“. Von Vater habe ich einen langen Sonntagsbrief erhalten, worin sogar er sich in kleineren Bedenken über die Fliegerei ergeht und mich wieder mal an meine zivile Laufbahn (Tech., etc.) erinnert. Aetti will ja nächstes Wochenende in Bern sein, und auch ich setze alles daran, um Samstag und Sonntag Urlaub zu erhalten. Wollen mal sehen, ob ich auch in dieser Beziehung durchdringen kann. Den Brief aus Dübendorf, den Du mir gestern zugestellt hast, habe ich schon lange erwartet (seit Anfang Sept.) - sehnlichst! Der Armeeflugpark (Abt. Kasse) machte mir nämlich Mitteilung, dass ihnen meine Diensteinteilung nicht bekannt sei und sich deswegen die Auszahlung meines Lohnes, resp. Trainingsentschädigung so lange verzögert habe. Ich möge bitte entschuldigen! Ja gerne, wird gemacht, und ich habe angeordnet, dass die mir zu zahlende Summe ins Feld nachgeschickt werde. Du siehst, was lange währt, kommt endlich gut. 

Meine schmutzige Wäsche werde ich Dir samt Nachschubbegehren auf Ende dieser Woche zukommen lassen und hoffe sogar auf ein Wiedersehen mit Euch in nicht allzulanger Zeit. 

Inzwischen herzliche Grüße Gusti 

Muss plötzlich schliessen, da die Postordonanz den Brief grad mitnimmt. G.

K.P. 24.10.1939 19.37 (94) 

Lieber Aetti! 

Habe gestern Deinen Brief mit bestem Dank erhalten. Wie ich leider daraus ersehen muss, beginnst selbst Du an der Fliegerei zu zweifeln. Das solltest Du nicht, denn alle die Unfälle in der letzten Zeit sind sicher nur auf eine Kette von unglücklichen Zufällen zurückzuführen. Im Übrigen wurde meine Versetzung in eine Kp wieder um gute 5-6 Wochen verschoben, denn unser Nachrichten-Offizier, Oblt. Lätsch, rückte letzten Montag in die Zentralschule ein. Auf das hin wurde dem Lt. Staub dieses schöne Amt feierlichst übergeben. In einem gewissen Sinn freut mich ja dieser Posten, zeigt es mir doch, dass meine Vorgesetzten einen nicht ganz kleinen Rest von Zu- und Vertrauen in mich setzen. Ich werde mich bemühen, dieses Vertrauen zu rechtfertigen, um meine mir noch kräftig ungewohnte Arbeit gut zu machen. Doch mit einem bisschen guten Willen wird auch d a s zu machen sein. Alle Befehle oder Akten, seien sie vom Regiment oder sogar von Bern, müssen nun zuerst durch die ehemals oft so schmutzigen Mechanikerhände – und auf das bin ich mächtig stolz. Ja, selbst alle Urlaubsgesuche müssen zuerst von mir visiert werden, bevor sie auf dem Dienstweg zum Major gelangen. Und auf alle setze ich meine Bemerkung hin, ob dienstlich ein Hinderungsgrund vorliegt oder nicht. Allerdings lernen muss ich noch, oder wieder, vieles. Du wirst Dich ja wohl leicht wundern, dass ich mit der Maschine schreibe, doch auch das gehört mal zum Rüstzeug eines Nachrichtenoffiziers. Auch die mir seinerzeit so verhasste Steno kommt nun wieder zu ihrem vollgültigen Recht. Du siehst also, dass es mit dem Faulenzen so ziemlich aus sein dürfte. Mir ist‘s auch so; denn von 06.00 an bis abends 18.00 sitze ich nun an m e i n e m Schreibtisch.

K.P. 27.10.1939 13.11 (95) 

Mein liebes Mueti! 

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Leider haben wir uns schon wieder zu stark auf meinen Bernerbesuch gefreut, aber es soll scheints nicht sein. Mein Urlaubsgesuch wurde gestern formel bewilligt und laut dem hätte ich schon am Samstagmittag abfahren können. Gestern Nacht gegen 24 Uhr mussten wir plötzlich sämtliche Beurlaubte wieder telegrafisch aufbieten. Die Gruppenbestände müssen neuerdings zu über 90% besetzt sein. Weiss der Teufel, was wieder im Tun ist, aber mir ist‘s egal. Ich tue meine Pflicht und damit ça suffit. 

Über Deinen letzten Brief habe ich mich mächtig gefreut. Es war so richtig das Schreiben einer glücklichen Mutter, die sich freut, dass es all ihren Schäfchen gut geht. Ich freue mich mit Dir, doch die verhinderten Stunden in Bern haben mich wieder mal hässig gemacht. Denn ich freute mich wirklich, die Nacht vom Samstag auf den Sonntag in meinem Bett verbringen zu können. Aber eben, so ist der Krieg, und gegen Befehle ist bis heute noch kein Kraut gewachsen! Du, für Dein Liebesgabenpaket meinen herzlichsten Dank und ein noch herzlicheres Müntschi. Das Hemmli ist richtig und ich denke, dass es mir bei noch kälteren Tagen gut meinen Korpus wärmen wird. Auch Dein Rauchergrüessli wird natürlich bestens verdankt. Dass Lilly nun wie eine Gelehrte ausschaut, kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich hoffe jedoch auch mächtig, dass ihr „Gebrüll“ nur vorübergehenden Charakter hat. Riesig gespannt bin ich ja schon, mein Nasen-Velo-bewehrtes Schwesterherz persönlich zu begutachten. 

Heute Abend werde ich etwas z‘Nacht kriegen, was Staub Güstus Gaumen noch nie gekitzelt hat. – Nämlich Schnecken. Im Laufe irgend einer Diskussion über Magenfragen (was bei uns eine grosse Rolle spielt) stellte es sich heraus, dass ich der einzige in unserem Verein sei, der noch nie diesen Götterfrass erlebt hätte. Nun setzte mein besonders väterlicher Freund Hptm. Stucky ein Schneckenfestessen im Bären an für heute Abend. Ich werde wohl in den sauren Apfel beissen müssen. Du siehst aus alle dem, dass unsere Gedanken nicht nur einseitig auf Krieg eingestellt sind. Gestern oder vorgestern habe ich Vati einen langen Brief vom Stapel gelassen, den er sehr wahrscheinlich mit nach Hause bringt.

Unsere schweren Mäntel sind nun in Arbeit und bei dem schönen Wetter wird sicher keiner wild, wenn sie bald in unserm Besitz sind. Heute Morgen um halb sechs habe ich gäbig in der Welt herumgeschnuppert, als sich mir eine ganz andere, weisse Welt enthüllte. Doch in Bern wirds ja wohl auch nicht besser sein. Will aber jetzt mein Geschreibsel abklemmen für heute, werde Dir bald weitere Berichte von der „Front“ zukommen lassen. Empfanget also meine herzlichsten Sonntagsgrüsse und lasst Euch den Feiertag nicht verdriessen durch meine Abwesenheit. 

Herzlichste

Gusti

K.P. 30.10.1939 14.34 (96) 

Mein Liebes Mueti, 

Du wirst Dich ja sicher wundern, dass ich heute schon wieder einen Brief schreibe, nachdem ich Dir gestern Abend doch noch telefonierte. Aber es geht einfach nicht anders, ich muss Dir doch noch erzählen, wie der gestrige Abend verlaufen ist. Als ich Dich am Draht verliess, machten sich meine Kameraden grad zwäg, um sich zu Ursenbachers zu begeben. Hptm. Derron wartete auf mich, um mich auch mitzunehmen. Und noch jemand hat mich schon am Nachmittag beim Kegeln eingeladen, nämlich unser Schätzeli aus der Krone. Also nahmen wir das Mädeli am Arm und zogen ins Stöckli zum Grossätti. Nebenbei bemerkt, ist das so genannte „Stöckli“ ein wunderbar eingerichtetes und ausgebautes Wohnhaus. Schlussendlich waren wir versammelt: 6 Offiziere, Frau Hubler (Wirtin zur Krone), deren Schwester, Tante Betli, Margritli (unser Schätzeli), dessen Cousine Anneli und beide im Alter von 21 Jahren, sowie zwei eingeladene Freundinnen, Marti und Hedi. Unter den Offizieren waren wir: Major Vacano, die Hauptleute Derron, Stucky, Griesshaber (Arzt), Oblt. Scheidegger, Motw.Of, und ich als Benjamin der Gesellschaft. Bald war der Grammo startbereit, und das Fest konnte beginnen. Und es gab ein Fest, von einer Fein- und Kultiviertheit, wie ich noch keines mitgemacht habe. Über all dem Trubel lag ein sehr angenehmer Ton von unaufdringlichem Wohlstand. Und noch selten sah ich einen Kreis reinsten Glücks geniessender Menschen wie gestern Abend. Rang und Altersunterschiede waren ad acta gelegt. Wir waren alles nur Kameraden im schönsten Sinne des Wortes. Unseren sonst in sich verschlossenen Kommandanten kannten wir kaum mehr. Es war das erste Mal, dass er vor uns aus sich heraustrat und uns so seinen wahren Charakter offenbarte. Hpt. Derron entwickelte sich als Innenbeleuchtungsgenie, besonders die Kerzenlicht-Stimmung in allen Räumen scheint ihm zu liegen. Aber trotz spärlichem Kerzenschimmer fanden erbitterte Kämpfe um ein besonders nettes Eggeli statt. Jedoch lebt der Mensch nicht nur von Luft und Gemütlichkeit, nein, auch der Magen kam zu seinem Recht – und wie!!! Etliche Flaschen guter, alter Eppesses mussten ihr Leben lassen und auch die Berner Zungenwurst fand begeisterte Abnehmer. Männiglich entwickelte einen ober gesunden Appetit. Ein Höhepunkt des Abends war gekommen, als es auskam, dass heute der 27. Jahrestag der Hochzeit von Herrn und Frau Hubler war. Drei brausende „Hoch“ auf die Jubilare versprengten fast das Stöckli und Mueter Hubler kam prompt das Augenwasser. 

Dass auch etliche junge und ältere Herzen Feuer fingen und sogar zum Teil verloren gingen, ist nicht zu verwundern. Margritli erklärte mir mal, vor ca. einer Woche, dass es in seinem ganzen Leben noch keinen jungen Mann geküsst hätte, und es dazu noch gar nie das Bedürfnis gehabt hätte. Unser allgemeines Urteil über dieses Mädeli lautet: Fein, gut erzogen, hübsch, sehr zurückhaltend bis stolz. Gestern Nacht nun hätte i c h das Kind küssen können, ich spürte, dass es direkt nach einem Kuss verlangte. Ich habe ja schon etliche Frauen geküsst, ohne zu überlegen und ohne sie gern zu haben. Tritt einem aber eine Frau in den Weg, die man, ich möchte fast sagen, verehrt, so fehlt einem trotz allem der Mut! Und eben so ging es mir letzte Nacht. Ich fand den Mut zur Offensive nicht, und so mussten wir beide ungeküsst schlafen gehen. Ich glaube, wir beide waren die einzigen. Doch es reut mich nicht, denn so habe ich es noch vor mir. 

Der Major hat mir die Maschine gemopst, so geht‘s halt wieder von Faust bis auf weiteres. Doch nun habe ich eine Bitte an Dich. Nächsten Freitag wird im Theater „Gräfin Maritza“ gespielt, und das möchte ich in Begleitung von Margritli geniessen. Drum möchte ich Dich höflichst fragen, ob ich das Mädchen einladen darf. Maschine kam eben retour, also weiter im Text. 

Von Nanni erhielt ich heute einen Brief, worin es erklärt, dass es auf die verlangte Unterredung verzichte, und dass es einsehe, dass es nicht die richtige Frau für mich sei. Im weiteren dankt es mir für diverse schöne Stunden, besonders erwähnte es die beiden Tage in Zürich. Zum Schluss wünscht mir Nanni noch viel Glück und alles Gute in meinem Leben. Doch noch anständig, das muss ich sagen! Trotzdem werde ich nun auf diesen Brief nicht mehr antworten. 

Was hier meinen Dienst betrifft, so verläuft alles in einem normalen Rahmen. Dass ich Augenblicklich noch ziemlich viel leere Zeit finde, das siehst Du an meinen Schreibmaschinenergüssen. Doch ich tu es gern, denn ich weiss, dass Du Dich ja immer auf Post freust. Und dann ist‘s noch ein anderer Grund, um den ich Dich ja nicht erst bitten muss, nämlich der, dass Du mir diese Grenzbesetzungsbriefe gut aufbewahrst. Sollte der Friede wieder mal ausbrechen, so werden wir die Seiten zusammenlegen und schon haben wir das schönste Fronttagebuch. Vielleicht gibt‘s einmal ein Nachschlagewerk für einen jungen Staub, der sicher seine helle Freude daran hätte. Doch das sind Utopien, vorerst stecken wir noch kräftig im Aktivdienst. 

Gestern machte mir Hptm Stucky eine Freude und gab mir zugleich eine Mahnung, indem er sagte: „Staub, du g‘fallsch mer. Blib so wi de bisch, aber tue mer d‘s Tech nid vernachlässige!“  

Doch nun glaube ich, dass es für heute wieder genug sei und schliesse mit den

herzlichsten Grüssen

Dein Gusti



Aus dem Tagebuch von Lilly, Montag, 30. Oktober 1939    (96a)

Ich bin noch einmal an der "Landi" gewesen. Der Krieg geht weiter und fängt schon an, etwas Selbstverständliches zu werden.

Und ich bin an der Beerdigung meines Cousins Ernst gewesen. Er wollte von einer Tanne Zweige holen und ist dabi tödlich gestürzt und war noch so jung, erst 12-jährig!

Für mich ist ein Wunsch in Erfüllung gegangen, ich darf zu den Pfadfinderinnen. Das hab ich meiner Freundin Martina zu verdanken.

Ja und ich werde auch wieder von Raimond und seiner Mutter verwöhnt. Er hat mich sogar an einen Klassenabend eingeladen. Das sieht Heinz nicht gern. Ich sollte eigentlich gar nicht immer an die Buben denken. So, Schluss!

Sorge macht mir auch das Latein. Wo soll das enden? Bis jetzt habe ich eine 1-2 und eine 2-!

*

K.P. 2.11.1939 (97) 

Mein liebes Mueti, 

Ich muss ja schon sagen, dass Ihr in Bern nicht gerade schreibfreudig angehaucht seid. Denn es ist jetzt schon wieder Donnerstag und von Euch vernehme ich rein grad gar nichts. Einzig von Alfa habe ich einen langen Brief erhalten und Vater Tanner stellte mir wieder Zeitungen zu. 

Bei uns passiert so zu sagen nichts, wenigstens nichts von Bedeutung. Gestern feierte unser Kronen-Margritli seinen 21. Geburtstag. Wir Offiziere stifteten ihm einen Strauss Chrisanthemen und ein Päckli Schokolade. Als Gegenleistung dafür wurden uns am Abend einige Flaschen guten, alten Weines aufgestellt. Leider wurde das nette Festchen gestört durch die Nachricht, dass es eben den Onkel des Geburtstagskindes „verjagt“ habe (entschuldige, wollte sagen, dass er gestorben sei). Doch dem armen Teufel ist es zu gönnen, denn er litt an Magenverschluss und konnte schon seit Jahren nur noch künstlich ernährt werden. Uns war er auch bekannt, denn er war der Wirt vom „Bären“ Utzenstorf. Gestern Nacht war es schon finster wie in einer Kuh, als ich gegen halb zwölf nach Hause pedalte. Grund: Verdunkelung bis am nächsten Samstag morgen. Also verdunkelten wir auch unsere Hütte und krochen verdunkelt in die Klappe. 

Pfusen konnte ich aber trotzdem wie ein Murmeli, nur allzugut; denn heute Morgen focht ich wieder einen bösen Kampf ums Dasein aus. Unser Abt. Kdt. blieb gestern den ganzen Tag im Bett, angeblich weil es ihm nicht wohl war. Mir ist‘s jetzt dann auch mal nicht gut, denn so einen Tag verschlafen, würde sicher gut tun. 

Du, Cigaretten brauchst Du mir in der nächsten Zeit keine zu senden, denn unsere En Gros Ladung ist gestern eingetroffen. So, nun aber Schluss für heute Morgen, vielleicht prichte ich am Nachmittag weiter. 

Seid alle herzlichst gegrüsst von Eurem Gusti

K.P. 3.11.1939 (98) 

Mein Liebes, 

Ich habe eben Deinen Brief samt übriger Post erhalten. Mir geht es in Sachen Minne eigentlich gut. Margritli ist gar keine Frau, um stürmisch vorgehen zu können. Ich getraute mich auch gar nicht…. Grad aus diesem Grund mahnt mich das Mädeli immer mehr an Ruth. Doch es geht mir ja gut. Wie ich erfahren habe, seid Ihr von der dreitägigen Verdunkelung verschont geblieben. Wir tappten hier schon die zweite Nacht im Finstern herum. Gestern Nacht wurde eine ganze Division verschoben – und alles durch unser Dorf. Bald nach Anbruch der Dunkelheit begann der Vorbeimarsch, stundenlang. Mir war, als erlebte ich hier etwas ganz Grosses. Dumpf dröhnten die Schritte von rund 2500 Mann mit Geschützen, Ross und Wagen durch die Nacht. Kein Wort hörte man, nur hie und da ein unterdrückter, aber dafür umso herzhafterer Fluch über den allzu anhänglichen „Verdrusskoffer“. Fragte man einen der Soldaten über ihr heutiges Ziel, so hiess es: „Weiss nid, Herr Lütnant“. So tippelten wie weiter und weiter, jeder stumm vor sich hin starrend und sicher sind alle in Gedanken zu Hause bei ihren Lieben. Manch einer wird sich auf diesen Märschen wieder fragen, ob das ums Verrecken nötig sei. Wenn er aber tags darauf wieder mit offenen, wachen Augen durch sein Ländli marschiert, so weiss jeder ganz sicher wieder, warum er sich die wunden Füsse abläuft. Weisst Du, Mueti, wir bei der Fliegertruppe wissen gar nicht, wie schön wir es eigentlich haben. Uns wird ja alles auf dem Servierbrett gebracht, und unsere Dislokationen sind Sonntagsausflüge gegen solche der Infanterie. Überhaupt ist es eine Ungerechtigkeit von vielen, dass sie meinen, der „Pinggel“ von der Infanterie sei weniger als ein Soldat der Fliegertruppe. Ich werde das jedenfalls in Zukunft heftig widerlegen!! 

Eine unerwartete Begegnung hatte ich gestern gegen Abend. Ch stand vor dem K.P. und sah dem Vorbeimarsch von einzelnen, kleinen Spähtrupps zu, die hoch zu Velo dem Gros der Truppen voranzogen. Plötzlich tönte es von der Spitze eines solchen Zuges: „Herr Lütnant, Kpl. Häusler!“ Fuhr da ein schwer beladener Korpis durch die Welt, und siehe da, es war Guido aus der Anselmstrasse. Zeit für einen Händedruck zu wechseln fanden wir nicht, ein rasch nachgerufener Gruß und „guete Dienscht“ war alles, was wir einander sagen konnten. Auch das ist wieder eine Episode, die zeigt, dass der Einzelne nur eine Figur in dem grossen Schachspiel der Grossen ist. 

Heute morgen habe ich wieder ein bisschen Mannschaftsoffizier gespielt. Um 07.00 marschierte ich mit 15 Mann ab in den Schiessstand von Utzenstorf. Dort leitete ich den ganzen Schiessbetrieb meiner 15 „Knechte“, und musste noch bald aufpassen, dass mich nur 2 bis 3 überflügelt haben. Im allgemeinen wurden prima Resultate erzielt. Nur eines war sehr uninteressant, nämlich der fusstiefe Dreck, in dem wir marschieren mussten. Dazu war es richtig nass und kalt, nettes Wetter, um sich einen anständigen „Schnuderi“ einzufahren. Mein gestern aufgetretener Husten ist von Margritli mit viel heisser Milch und Honig und noch mehr Liebe schon bereits wieder weggepflegt worden. Dazu hat mir das Strupfli noch das Rauchen für heute verboten. Und tatsächlich hat‘s der Gusti bis jetzt verklemmen können, trotzdem ich ohne meinen Sargnagel fast umstehe! Aber äbe, da chasch nüt mache. So, stopp, sei herzlich gegrüsst und ein ebenso herzliches Müntschi

vom Gusti

K.P. 5.11.1939 09.08 (99) 

Mein liebes Mueti, 

Laut Kalender ist es wieder einmal Sonntag, aber ich merke trotz allem nichts davon.

Mein Tagewerk begann um 06.15 und wird dauern bis 19.30h. Was dann heute Abend gespielt wird, weiss ich noch nicht. Jedoch bin ich sicher, dass ich heute Abend nicht wieder um 20.00 Uhr im Bett bin wie gestern. Du, das Neueste ist jetzt, dass jeder pro Monat Dienst für vier Mal 24 Std. Urlaub kriegt. Wird also im Laufe des Novembers 2 mal 2 Tage nach Hause kommen. Dafür sind die Sonntagsausgänge nur im Kantonnementsrayon gestattet. Aber auch das ist nicht mehr so bös, denn die lieben Verwandten dürfen nun ihre noch lieberen Angehörigen in Feldgrau besuchen. Drum möchte ich direkt den Vorschlag machen, dass Ihr nächsten Sonntag zu mir hierher kommt. Ich kann nicht weg von hier, denn der schöne Posten „Tages Off“ wartet wieder auf mich. Aber trotzdem könnte ich mich für einige Zeit frei machen vom Dienst. Doch über d e n Plan werden wir später noch knobeln. Ich bitte Dich, mir das Theaterprogramm für die laufende Woche zuzustellen, da ich nun doch mit Margritli nach Bern möchte. 

Du, am Freitagabend haben wir wieder einmal so richtig gelacht. Ich habe Dir ja erzählt, dass bereits eine ganze Division durch unser Dorf gezogen ist. Unser Gasthaus zur Krone war das Absteigequartier für die Offiziere der durchziehenden Stäbe und Truppeneinheiten. Abends nun, zu unserer Essenszeit, stürzte ich wie ein Wilder in die für uns Flieger reservierte Stube, riss die Türe auf und – Päng stand ich vor Oberst Div. v. Graffenried. Du, der ist noch einen ganzen Gring länger als ich! Aber sehr hantlig machte der Lt. Staub sein Mannli und schon war er wieder draussen. Ich glaube, wir haben beide grad gleich schlau in die Welt geguckt in diesem Augenblick. Im nächsten Augenblick trat ich bei der vorderen Türe in die Gaststube, wo ich bereits die Hauptleute Stucky und Grieshaber vorfand, die sich die Bäuche hielten vor Lachen. Bald darauf hiess es, die Luft in unserer Bude sei jetzt rein, also auf und in unseren eigenen Schlag. Anneli, das uns Gesellschaft leistete, nahm ich kurzer Hand samt dem Stuhl auf den Arm, und im Triumpfzug folgten die beiden „Häuptlinge“. Doch heute schien alles verrückt zu gehen, denn als unser Zügli in die Stube trat, standen wir – vor einem Obersten der Motorwägeler. Du kannst Dir unsere und seine Verblüffung ausmalen, als er, der Gold strotzende Herr Oberst und der gar dünn vergoldete Leutnant mit seiner herzigen Last auf den Armen voreinander standen. Doch der alte Herr schien noch den gesunden Sinn für Humor zu haben, denn er verstieg sich zur Bemerkung, dass er um einen solchen Preis gerne noch einmal Leutnant sein möchte. Aber ich mochte nicht tauschen mit ihm, denn ein Oberst ist halt trotz allem ein alter Mann, und ich fühle mich noch stinkjung und momentan verdammt glücklich, trotzdem ich immer noch keinen Kuss erhalten habe! Ich habe mich schon gefragt, warum ich Dir immer alles schreibe, was im Grunde genommen ja gar nicht interessant ist für Dich. Aber ich weiss, dass Du Anteil nimmst, was mich angeht. Du weisst, wann ich unglücklich bin und gibst Dir in solchen Zeiten alle Mühe, mich aufzuheitern. Also hast Du auch das Recht, zu wissen, wann ich glücklich und zufrieden bin. Von Familie Rätz habe ich gestern eine grosse Schachtel mit zwei anständigen Torten und Guetzi erhalten. Werde mich nun höflich bedanken.

Will abklemmen für heute und grüsse Euch alle von Herzen. 

Euer Gusti

K.P. 10.11.1939 18.50 (100) 

Mein liebes Mueti, 

Natürlich wieder gut an meinem „Ferienort“ angelangt. Gestern Abend gabs noch bis morgens 03.15 keine Nachtruhe. Um Mitternacht mussten von neuem alle Beurlaubten telegraphisch aufgeboten werden, dass es scheints wieder irgendwo stinkt. Nur allzu rasch war es dann Morgen und mein „Kampf“ ums Dasein wie alle Tage von neuem um 07.30 hat mein still verehrtes Mädeli noch herrlich geschlafen und seine Mutter legte ihm meine „süssen“ Grüße aus dem Urlaub aufs Kopfkissen. Mit einem lieben Blick und einem herzlichen Händedruck wurde mir später gedankt. Du, man wird eigentlich recht bescheiden, von jeder anderen Frau hätte ich zum mindesten einen Kuss verlangt. Hptm Stucky meinte, das Päckli sei ums Verrecken für ihn bestimmt, aber nobis! Er war ebenso der Getäuschte wie Du gestern. Mit unserem Plan vom schönen Familienbesuch am Sonntag in 8 Tagen wird wieder mal nichts, da wir von heute an unter ständig erhöhter Alarmbereitschaft stehen (bis auf weiteres). 

Habe heute Frau Rudin eine Karte geschrieben und bei der Unterschrift vielleicht den Fehler gemacht, dass ich anstatt „Gusti“ Ltd. Staub Gusti darunter gesetzt habe. Wenn sie sich zu stark darüber aufhält, kannst Du etwas sagen, sonst brauchtst Du nichts zu erwähnen. Wünsch Euch recht frohen Sonntag und verbleibe mit den herzlichsten Grüssen und einem Müntschi

Euer Gusti

K.P. 12.11.1939 13.10 (101) 

Mein liebes MUETI, 

Du, heute morgen war der Major so anständig und liess Lt. Schauenberger und mich ausschlafen, indem er einen andern auf das Büro setzte. Als ich endlich erwachte, so gegen 11 Uhr, waren meine von Dir geschickten Hosen schon auf dem Stuhl.

Gestern erhielt ich von Greta Conzett einen netten Brief, in dem sie mir das Datum ihrer Hochzeit angibt und mich zu diesem Fest einlädt. In einem „kurzen“ Brief von ca. 6 Seiten habe ich Greta dann klargelegt, dass es mir unmöglich sei, jetzt nach Chur zu gondeln. Ich schrieb ihr auch, dass ich sicher nicht nur wegen dem Essen gekommen wäre, trotzdem mich das auch kräftig interessiert hätte. Gretes Zukünftiger ist hilfsdienstpflichtig und dazu noch Lehrer, – pfui Teufel. Ich kann Grete nicht verstehen, aber dass die verdammte Liebe Blinde erzeugt, ist ja eine alte Tatsache. Grete hofft natürlich, dass ihr Staatskrüppel nicht einrücken muss. Eigentlich ist es ungerecht, dass so saublöde Lehrer jetzt ihren schönen Zapfen beziehen können und sogar noch heiraten, während 10‘000 andere draussen im Dreck liegen und aufpassen, dass den Herren keiner das warme Nest wegträgt: doch ich will nicht giftig werden, ändern kann ich ja doch nichts an der ganzen Chose. Du, sag mal, wer hätte das vor vielen, vielen Jahren gedacht, dass die kleine blonde Grete sich quasi unter dem Waffenschutz des freundnachbarlichen Schlingels in den Kriegshafen der Ehe begeben würde. Aber eben, man sagt, dass Gottes Wege wunderbar seien, aber noch viel rätselhafter sind die Wege, die die Menschen gehen. 

Gestern Abend war ich schon um halb 10 im Bett, da Schauenberg Ausgang hatte. Vorher erfüllte ich allerdings noch eine, mir nicht eben angenehme Aufgabe, nämlich die, den Wachtmeister für 4 Tage einzusperren. Weisst Du, irgend einen Rekruten oder Soldaten ins Loch zu stecken, macht mir fast noch Spass – aber höhere Unteroffiziere einzusperren ist immer unangenehm. Und der Grund dieser Strafe ist der, dass Wm. Pfister vorgestern Abend mit geöffnetem Waffenrock vom Major in einer Gaststube angetroffen wurde! Nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub war ich direkt deprimiert, da in unserem Stab eine Stimmung herrscht zum Kotzen. Jeder ist bissig und ödet den andern an am laufenden Band. Woran das liegt, weiss ich nicht, aber ich vermute, dass es der neuerdings beschnittene Ausgang ist. Sogar Mueter Hubler pflegt einen schauderhaften Ast, und sie klagte mir gestern ihr Leid. Die Herren Off. werden schnäderfrässig, und nichts sei mehr recht, was man den Herren auf den Tisch stelle. Im weiteren muss ihr Bueb heute Sonntag wieder einrücken, was der Mutter auch wieder fast das Herz abdrückt. Dass der Junge sich dann noch freut, wieder zu gehen, kann sie auch nicht verstehen. Du siehst also, die Muttersorgen sind nicht nur bei Staubs und Schmieds die gleichen. 

Heute Abend haben wir Offiziere unsere Mädeli zu einem gemütlichen Höck im „Bären“ eingeladen. Ich freue mich darauf, wieder einen schönen Abend zu verbringen. Das Theaterprogramm für die nächste Woche ist mässig bis saumässig. Doch ich glaube, dass ich mit Margritli auf die „Mariza“ verzichten muss und nächsten Sonntagabend mit ihm die neue Operette „Teresina“ beaugenscheinigen werde. Ich muss die Zeit, die mir noch im Stab verbleibt, ausnützen, denn wie bald stecke ich bei einer Kompanie! Lt. Christen Fritz tut seit dem 6. dies Dienst bei der Kp. 11 und Hirt Bene steckt in der Kp. 16.Überhaupt sind fast alle meine P.S.Kameraden wieder im Dienst. Doch auch ich habe ja mit heute meinen Leutnant abverdient. 

So, nun will ich ein Auge voll Schlaf nehmen. Sei herzlich gegrüsst  

von Deinem Gusti

 *

K.P. 13.11.1939 19.19 (102) 

Mein Liebes,

Bitte staune nicht, wundere Dich bloss, dass ich Dir schon wieder schreibe. Wie gesagt, ich musste nicht, aber ich habe einfach das Bedürfnis, meinem Mueti meine neuesten Erlebnisse mitzuteilen. Gestern Nachmittag, habe ich Dir von unserem geplanten Nachtessen mit anschliessendem gemütlichen Teil geplaudert. Und ich muss sagen, der Abend wurde wieder reizend. Nach mit grossem Genuss verzehrtem Rehrücken, wurde ich als Benjamin der Gesellschaft dazu bestimmt, unseren Damenflor abzuholen, was ich mit grossem Vergnügen auch tat. Um 20h war unser Kränzli beisammen und bald darauf wurde wieder getanzt. Ich denke, dass es unnötig ist, zu erwähnen, dass Margritli auch mit von der Partie war. Aber schon um 23.30h wurde das Zeichen zum Abbruch des Festes geblasen und nun folgte noch ein netter Heimbummel. Die älteren Semester mit Tante Ursenbacher und dem Herrn Major gaben die Spitze des feierlichen Zuges ab. Fast nach Alter und gegenseitiger Zuneigung geordnet folgte der Rest der Gesellschaft. Das Mädeli und ich wurden automatisch die Letzten – und es war gut so. Ich muss schon sagen, das Kind war zum Anbeissen reizend. Zu seinem schwarzen Kleidli mit strengem, weissen Kragen hatte ich ihm beim Tanzen noch ein weisses Nägeli ins Blondhaar gesteckt, wie gesagt, ich musste mich wieder höllisch zusammennehmen. Ich bin sicher, dass ich meinen Kuss haben will, aber erst, wenn ich vom Stab wegkomme. Was nach neuester Version gar nicht mehr lange gehen wird. Aber um eines bat ich das Mädeli, und das Du wurde mit einem warmen, innigen Händedruck bekräftigt. Bei all diesen kleinen Begebenheiten ist es mir, als ob ich die feine Liebe meiner toten Ruth neu erleben würde. Trotzdem ich diese Frau noch nicht geküsst habe, bin ich restlos glücklich. Hier habe ich wieder das Gefühl, dass DER Kuss als etwas fast Heiliges zu betrachten sei. Wenn ich am Abend vor meiner Abreise von hier dem Mädeli noch einen Kuss gebe, dann ist er wohl überlegt, und ist zugleich das Versprechen, dass ich wieder komme. Ich habe dann die feste Gewissheit, dass es bei mir dann nicht mehr heisst: Andere Städtchen (oder Flieger-Stütz-Punkte) andere Mädchen! Der Major eröffnete mir heute Abend beim Nachtessen, dass sobald Oblt. Lätsch zurückkomme, ich meine 7 Sachen packen könne und mir Flugplatzluft um die Nase wehen lassen dürfe. Vor einigen Wochen noch wäre ich dem Chef bei dieser Mitteilung sicher fast um den Hals gefallen; heute sage ich nur noch: „zu Befehl!“ und werde mein Bündel schnüren. Doch hoffe ich bestimmt, dass meine Versetzung erst nach nächstem Sonntag erfolgt, denn ins Theater möchte ich drum vorher noch. Und ich freue mich darauf, Dir mein mir lieb gewordenes Mädeli vorzustellen. Ich hoffe dabei, dass mein liebes Mueti nach Besichtigung des Objekts mit meinem Tun einverstanden sei, denn ich weiss noch nur zu gut, wie Du seinerzeit zur Episode Nanni eingestellt warst.

Indem ich annehme, dass Du und Lilly einen angenehmen Sonntag verbracht habt, schliesse ich mit den herzlichsten Grüssen und einem recht lieben Kuss 

Dein Gusti

*

5.12.1939 17.12 (103) 

Mein liebes Mueti, 

Welch ein Wetterumschlag! Sonntagabend noch Sternenhimmel und Aussicht auf Flugdienst, am andern Morgen Regen und alles grau in grau. Vom Fliegen keine Rede. Stundenlanges untätiges Herumsitzen im Besatzungsraum ist unsere ganze Beschäftigung. Auf dem Tagesbefehl stehen zwar stets wichtige Ausbildungsfächer für Offiziere, doch noch nie habe ich etwas davon bemerkt, ausser dem intensiven Funktraining der Beobachter. Auf die Initiative von Oblt. Tschannen (Toni) und mir hin, geben sich nun auch die Piloten dazu her, sich einen Hörer an den Kopf zu hängen und zu funken. Dass ich dadurch Lt. Christen des Nichtkönnens überführt habe, wird er mir sicher danken. Doch genug davon, nächsten Samstag ist grosser Off-Ball im „Elite“. Vermutlich melde ich mich in dem Fall freiwillig auf Wache. Lieber allein sein, als irgend einer beliebigen Frau schön tun müssen. Hoffe, dass daheim alles in Ordnung sei und grüsse herzlichst

Gusti

Wieder 100 Diensttage vorbei!

Aus Lillys Tagebuch, Donnerstag, 14.12.1939 (104) 

Mir ist heute so eigenartig zumute. Eigentlich bin ich traurig, warum weiss ich nicht. Am Samstag gibt es Zeugnisse und dann sind ja bald Ferien. Ich habe Glück, denn ich darf nach Adelboden ins Chalet. Dann macht mir auch der Raimond Sorgen. Er verwöhnt mich, ladet mich sogar ins Du Theater ein und seine Mutter schenkt mir oft Schokolade. Raimond nennt sich Raimond Richli, aber eigentlich heisst er R. Levy. Sein Vater ist in Deutschland, die Mutter hat einen Herrn Richli geheiratet und der hat Raimond adoptiert. R. macht mir immer Komplimente und sagt, ich sei hübsch. Mir ist das unheimlich. Die Gymeler sehen mir auf der Brücke auch immer nach. Doch darauf achten sollte ich mich ja nicht. Ärztin zu werden muss doch etwas Schönes sein. Frau Bleuer erwartet das zweite Kind. Das ist noch so rätselhaft, aber fragen kann ich ja niemanden. Ich lese zwar Bücher, so auch von August Forel: „Die sexuelle Frage“. Das Buch ist im Büchergestell über dem Diwan, wo ich schlafe. Es sind alle Bücher blau eingebunden mit goldigen Titeln, auch „Quo vadis“, das fand ich gut. Ich möchte so Vieles genau wissen, schliesslich bin ich ja schon bald 15 Jahre alt. Nun weiss ich auch den Grund, warum ich traurig bin. Niemand nimmt mich ernst, für alle bin ich klein und dumm, halt ein kleines Mädchen, das zur Schule geht wie viele andere auch. Das stimmt ja, aber einmal werde ich etwas sein, arbeiten, helfen. Ich will jetzt dann wieder mehr in das Tagebuch schreiben und meine Gedanken festhalten.

Aus Lillys Tagebuch, 14. Dezember 1939 (105) 

Mir ist ganz komisch zu Mute, ich bin ja glücklich, denn ich darf in den Ferien nach Adelboden in das Chalet der Pfadfinderinnen und dann freue ich mich auch, dass mich viele Gymeler freundlich grüssen. Ich glaube ich bin ziemlich hübsch – blöd das zu schreiben! Ich will doch die Schule gut beenden und einmal Ärztin werden. Es muss doch etwas Wunderbares sein, helfen zu können. Es ist noch so vieles unklar, rätselhaft. Wen kann ich fragen? Um die Sexualität gibt es so eine Geheimnistuerei. Und ich werde ja auch schon bald 15 jährig. Alle halten mich für ein kleines Mädchen und nehmen mich nicht ernst! Das bin ich ja auch, ein Mädchen, das in die Schule geht, wie viele andere auch. Aber einmal will ich etwas sein, arbeiten, ein richtiger Mensch werden! 

*

Auf Wache 22.12.1939 (106) 

Meine Lieben zu Hause Gebliebenen, 

Vor allem andern meinen herzlichsten Dank für all die lieben Weihnachtspäckli!

Ganze 7 Stück brachte mir heute der Pöstler in meine Bude. Von Daisy erhielt ich nebst dem Päckli einen lieben Brief, sowie vom Hano auch. Zwei Pakete fielen mir auf durch ihr Gewicht, das eine war Aettis Malaga und das andere kam von Bätterkinden. Dieser Begleitbrief enthielt noch weniger Worte als vor einem Jahr der Weihnachtsbrief von Ruth selig. Aber trotzdem spüre ich aus dem ganzen Päckli – es waren lauter gluschtige Früchte -, dass mich das Mädeli gern hat. In meinem grossen Haufen ausgepackter Päckli kam ich mir so glücklich vor --- ich hätte heute den ganzen Tag mit keinem Fürsten getauscht. Am Morgen hingen wir wieder ganze 49 Minuten in der Luft und für mich war der grösste Augenblick der, als aus unserer Patrouille einer nach dem andern aus ca. 500m über den Flügel abkippte, den C35 auf die Nase stellte und als Ziel den K.P. in – Bätterkinden – vor der Nase hatte. Toller Sturzflug mit darauffolgendem Wegflug im „Vol rasant“ tief über die „Krone“ in Richtung Utzenstorf, wo schon wieder ein Angriff auf den Stützpunkt der Kp.10 im Tiefflug erfolgte. Leider waren wir über dem Haus, in dem mein liebes Mädeli wohnt, wohl fast zu tief, als dass ich ruhig hätte Ausschau halten können, denn trotz allem „safety first“! Heute Abend nun traf es mich turnusgemäss als Wachtkommandant.


(8)

 

Dort fand ich die herzliche Einladung meiner H.D. Soldaten vor, mit ihnen im Bahnwärterhäuschen Weihnacht zu feiern. Als ich dann gegen 20h dorthin kam, stand ein herziges, kleines Bäumchen auf dem Tisch – und einer – der kleine Stump – raste zur Mutter in die Küche und zauberte von dort „Burebiftegg“ Cervelas gebraten her. Vorher sangen wir ganz leise zur Violinbegleitung die alten schönen Weihnachtslieder, worauf ich ein paar ganz kurze Worte an meine Soldaten richtete und allen ein recht gutes 1940 wünschte. Viele kräftige Händedrücke empfing der junge Leutnant, und mir war, als läge in jedem desselben ein starkes Versprechen. Ich glaube, dass ich heute Abend die rechten Worte gefunden habe, um den Leuten, die nun fern von ihren Lieben in einem ganz armseligen Häuschen Weihnachten feiern, den Sinn und Zweck ihres Hierseins klar zu machen. Als wir nachher noch still beisammen sassen und jeder in die Kerzenflammen starrte, beschlichen mich plötzlich eigene Gefühle. Halb war ich stolz, in diesen Zeiten meine Pflicht als Offizier und Flieger tun zu dürfen, halb war es Traurigkeit. Meine Gedanken schweiften um ein Jahr zurück in die Zeit, in der ich wähnte, glücklich zu sein. Dass dieses Glück auf so brutale Art zu Scherben ging, war Schicksal, gegen das niemand etwas kann, doch es hat keinen Zweck, in alten Wunden zu grübeln. Morgen Abend findet die gross angelegte Soldatenweihnacht für uns in der Tonhalle in Biel statt. Eingeladen sind wir durch den dortigen Frauenverein. 

Am 16. ds. stehen wir wieder Pikett, ebenfalls an Sylvester und Neujahr. Ich hoffe zwar immer noch, dass ich nächsten Donnerstag und Freitag nach Hause kann. Mittwochabend allerdings hoffe ich, bei meinem Margritli zu sein. Doch jetzt will ich mich noch ein bisschen aufs Ohr legen und versuchen, zu schlafen. 

Also noch einmal meinen herzlichsten Dank für alles und meine herzlichen Grüße

von Eurem Gusti

PS. Bitte sendet mir noch meine Pantoffeln. Dank G.

*

Daheim“, 27.12.1939 16.45 (107) 

Mein liebstes Mueti, 

Vor zwei Stunden noch fror ich ganz gottlos an die Finger, und noch jetzt in der warmen Stube beisst und krabbelt mein „Kuhnagel“ nach Noten. Schön war‘s trotzdem – auf 5200 Meter, so weit das Auge reichte, nichts als ein weisses Meer von Wolken und hoch darüber wir paar Menschlein mit unseren schwer bewaffneten Maschinen. Jetzt sitze ich daheim in einem Klubsessel, rauche ganz naturgemäss, neben mir läuft das Radio und ich lasse mir die Wärme um die Beine streichen. Nur die Feder kann ich noch nicht recht halten, da der Mittelfinger erst jetzt geruht, aufzutauen. Du, ganze 55 Min. hingen wir am Winterhimmel. Der Clou des Fluges war der supponierte Bombenangriff auf Lyssaus 5000m Ausgangsstellung. Dort Kopfstand und so s‘Loch ab bis 2000m. Der Geschwindigkeitsmesser kam nicht mehr mit, als Maximum zeigte er noch runde 600km/Stunde. Resultat davon: Der Beobachter kotzte wie toll. Mir hat‘s nichts gemacht. Diesen Monat habe ich ganze 6 Stunden Flugzeit bis jetzt, was noch einen anständigen Batzen abgibt im Januar. Habe heute Lilly einen Brief nach Adelboden geschickt, Dir sende ich beiliegend Fliegermarken für die Kleine, aufpassen, da wertvoller Viererblock mit Stempel.

Auf meinen diversen Nachtwachen ging alles in schönster Ordnung. An Weihnachten, 25. ds. wurde ich am Mittag abgelöst und ging ins Zimmer. Bei meinen Zimmerleuten musste ich mich direkt zum schwarzen Kaffee nötigen lassen, was mich aber gar nicht falsch machte. Hier unten steckten wir im dichtesten Nebel. So wurde der Vorschlag gemacht, rasch per Auto nach Magglingen, Leubringen an die Sonne zu fahren. Ich muss Dir sagen, wunderbar wars. Zum Nachtessen war ich ebenfalls Gast, und mit Herrn Weber habe ich bis Mitternacht manchen guten Tropfen hinter den Kragen gleiten lassen. Dafür war dann der andere Tag (letzten Dienstag also) Alarmtag. Von 07.00h steckten wir im Lederzeug auf dem K.P. bereit, zu starten, wenn irgend einer kommen sollte. Aber, wie vorauszusehen war, es kam keiner. Infolgedessen wurde halt auf den harten Bänken kräftig geschlafen oder gelesen, Schach gespielt oder gejasst, je nach Laune oder sonst das eine oder andere. 

Ich hoffe, dss Ihr Eure Weihnacht zu Hause einigermassen gemütlich machtet und freue mich, dass ich wenigstens über Jahresende in Bern sein kann. Auch auf den Abend des 30. in Bätterkinden freue ich mich…. 

Von Alfa habe ich gestern noch einen langen Brief und 3 Päckli Cigaretten erhalten, dito von Herrn Tanner. Dieser schickte mir so teure 2 Päckli, dass ich sie in B gegen 4 Päckli meiner gewohnten Marke umtauschte. Im ganzen erhielt ich rund 200 Cigaretten! Doch nun will ich langsam schliessen, und freue mich, aufs Wiedersehen, am nächsten Sonntagmorgen gegen 10 Uhr. 

Bis dahin mit den herzlichsten Grüssen und einem Müntschi

Dein Gusti

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Tagebuch von Lilly, Sonntag 7.1.1940 (108) 

Das erste Mal im neuen Jahr schreibe ich in das liebe Tagebuch. Ich werde auch wieder ein Jahr älter und Vieles wartet auf mich. Wenn schwere Zeiten kommen werde ich an Gutes und Schönes denken, z.B. in diesem nebligen Bern an die sonnenüberfluteten Tage in Adelboden. Wie wir warm eingepackt in Liegestühlen auf glitzernden Schneeflächen vor dem Chalet des Pfadfinderinnenheims lagen, über uns klar blauer, strahlender Himmel und rings um uns die stolzen Berge. Ach so schön war es! Beschreiben kann ich es nicht richtig, aber in Erinnerung behalten werde ich es immer. Habe ich das verdient, solch schöne Tage? Unvergesslich schön im Schnee und Sonnenschein. Wie schwer ist doch die Luft wieder hier unten. So glücklich wie in der goldigen Sonne von Adelboden kann man da unten wohl kaum sein. Sonne, nichts als Sonne. Ich bin so dankbar für alles.  

Wie manchmal musste ich mich fragen, ist denn wirklich Krieg möglich? In dieser wunderbaren Welt? Ja, kaum ist man unten, so hört man in den Radionachrichten über Greueltaten und Kriegsopfer. Muss das sein? 


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Daheim, 9.1.1940, 20.20 (109)

Mein Liebes, 

Habe soeben das Päckli und den Brief mit bestem Dank erhalten. Lilly hat mir geschrieben, dass es kräftig huste, aber das wird auch vorübergehen, wenn sogar Lt. Christen gestern wieder erschienen ist. 

Gestern Nacht war ich auf der Wache, habe also herzlich wenig geschlafen, da ich gegen Mitternacht ein kleineres Alärmchen vom Stapel liess. Das Ganze spielte sich im strömenden Regen ab. Um 06.30h Frühstück mit anschliessendem Alarm-Tag. Habe dann den ganzen Morgen recht tüchtig im Lederzeug geschlafen, als das Telefon schrillte. Fliegermeldung, Fliegermeldung, Fliegermeldung!!!! Und nicht: Fliegermeldeübung! Hei, diese Worte gaben Leben in die Bude! - Lederhaube auf, Pelzhandschuhe und Pelzfinken anlegen, letzte Instruktionen des Patr.Chefs „Vergiss de nid d‘Kanone z‘lade!! Wie hungrige Wölfe warteten wir auf das Schlusskommando: „Los und drauf!“ --- es kam nicht! Der deutsche Flieger sei schon zu weit weg. So erging es uns dreimal! Beim 4. Mal kam eine Meldung, ein feindliches Flugzeug sei über BERN!, Burgdorf, Solothurn in Richtung Olten. Diese Meldung liess unser Jagdfieber neu aufflammen. Ach, wie gerne wären wir auf das Aas los mit Kanonen und MG! Doch der Scheisskerl an verantwortlicher Kommandostelle fand wieder etwas, um uns nicht starten lassen zu müssen. Pfui Teufel, wenn DAS wieder das Volk vernimmt, da schäme ich mich direkt, Fliegeroffizier zu sein! Lieber einen HD Waffenrock tragen, von dessen Träger man nichts wirklich verlangt. Fliegeroffizier und Pilot zu sein, und den Gegner vor der Nase herumfliegen zu lassen, - pfui, zum Kotzen, lieber heimgehen! 

Doch es hat ja keinen Wert zu fluchen. Wir bleiben wieder in unserem blödsinnigen in den Tag hineinleben. 

Bin morgen Tagesoffizier und am Samstag wieder auf Pikett. Gebe Gott, dass wir doch (nur einmal!!!) losfliegen können. 

Herzlichst

Gusti

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??.1.1940 14.00 (110) 

Mein liebes Mueti, 

In einer Stunde zieht Lt. Staub wieder auf die Wache. Drum habe ich jetzt noch Zeit, um meinen persönlichen inneren Dienst zu erledigen. Rasiert wäre ich nun und die anderen Stiefel sind grad angezogen. Sogar tüchtig ausgeruht bin ich jetzt auch wieder, lag ich doch nicht ganz vergebens während 3 Tagen der letzten Woche im Bett. Husten, Halsweh und ein gottloser Schnupfen zwangen mich, mal tüchtig zu schwitzen und zu schlafen. Der Arzt verordnete mir als Schlafmittel jeden Abend eine Flasche dunkles Bier, das ich kräftig temperiert gerne zu mir nahm. Frau Weber bepflasterte meinen Hals mit „Zibeleumschlägen“ und versprach Besserung davon. Ich glaube zwar, dass mir das tüchtige Gurgeln mit „Sansilla“ mehr geholfen hat. Fieber hatte ich keines, und heute bin ich wieder zu hundert Prozent beieinander. Gestern merkte ich – zur Ausnahme – wieder nichts vom Sonntag, da unsere Patrouille wieder mal Pikett stand. Von Stehen kann zwar nicht gesprochen werden, denn den ganzen Tag verbrachten wir mit tiefem Schlafen. Passiert ist den ganzen Tag nichts und kaum ein Telefonanruf riss uns aus dem wohlverdienten Schlummer. 

Da uns neuerdings 1 Tag Urlaub pro Monat abgeschränzt wurde, verklemme ich meinen Zürcher Besuch bis auf bessere Zeiten und hoffe, dann die ganzen 3 Tage über den 27.1.40 daheim (in Züri) zu verbringen. Bitte gib mir genau Bericht, über den Scherz des B.M. am 27.ds., da ich gerne Vorbereitungen treffen möchte. 

Und nun wäre ich Dir dankbar, wenn Du mir noch Nastücher senden würdest, da diese ein begehrter Artikel geworden sind und meine Nase immer noch geruht, in weinerliche Stimmung zu verfallen. An allem andern leide ich keinen Mangel. 

Verbleibe mit den herzlichsten Grüssen an alle

Dein Gusti

Daheim“, 16.1.1940 20.05 (111) 

Mein liebes Mueti, 

Habe Deine Sendung mit bestem Dank erhalten und beeile mich, Deinen langen Brief sofort zu beantworten. 

Heute erhielt ich die Anweisung der Trainingsentschädigung für den Monat Dezember 39 lautend auf etwas mehr als Fr. 200.--. Ich werde sie Dir zustellen lassen, was drüber ist, kommt in eine „eiserne Reserve“. Ich denke, dass mit dem schon wieder etwas zu verstopfen ist. Ich hoffe natürlich inständig, dass auch in diesem Jahr unsere Flugstunden angemessen entschädigt werden und dass daher die elterliche Familie noch n i e allzu kurz gekommen ist, wirst Du dich sicher erinnern. Was meinen momentanen Sold betrifft, damit mache ich, wie es mich am besten dünkt. Das blödsinnige „Auf dem Flugplatz hocken“ ohne etwas Positives leisten zu können, macht, dass wir alle zusammen – angefangen vom Hauptmann bis zum jüngsten Leutnant – eine ganz verdammte Rasselbande geworden sind. Daher sind wir verdammt kurz angebunden punkto Vergnügungen; dass dann über Samstag und Sonntag keiner zu früh ins Bett steigt, ist klar. Du wirfst mir in Deinem Brief fast vor, dass mein Geld unberechenbar für Wein, Weib und Tanz in die Welt hinausfliege. Ja, das stimmt, aber immer noch in genau vorher bestimmter Menge, und soviel ich mich erinnere, habe ich seit meiner Unteroffiziersschule kein Geld mehr für meine persönlichen Vergnügen von daheim bezogen, ausser in der Zeit meines Technikumbesuches – und ich hoffe, dass ich auch nicht mehr „der Huufe“ von Euch verlangen muss! Werden unsere Flugstunden noch bezahlt, so kannst Du versichert sein, dass regelmässig bis auf weiteres 2 Drittel des bezogenen Betrages an Dich abgehen werden. 

Wegen Wäscheankauf meinerseits möchte ich Dir sagen, dass mir das stinkt, und ich bitte Dich, das Geschäft – aus meinem Geld bezahlt – weiter für mich zu besorgen.

In einem früheren Schreiben fragst Du nach Rechnungen von „Dick“. Alle, die ich hatte, sind bezahlt. Sie betrafen allerdings nur kleinere Beträge. Die Grossen befinden sich nicht in meinem Besitz. (Habe Dir in diesem Moment telefoniert). Wie ich meinen S 3 Sonntag verbracht habe, habe ich Dir soeben erzählt. Oberst Magron erschien plötzlich auf dem W.P. und ziemlich rasch darauf hiess es: „Alarm“! Drei Minuten später donnerten unsere Maschinen schon über den Platz in Richtung Murten. Hoch über den Wolken zogen wir vier jüngeren Flieger unseren Weg weit über unser Ländli. Weiss der Teufel, aber da oben hoch über allem Dreck und Dunst, da bin ich jedes Mal restlos glücklich. Nur möchte ich meinem Aetti mal diese Schönheiten eines ÜBER Wolken Fliegen bieten können. Das zwar lieber ohne der am 27.8. mitgeführten Kanonen- und MG Munition! Sollte der Friede irgendwann mal ausbrechen, werde ich das sofort nachholen!! Auch mein liebes Mädeli möchte ich mal mitnehmen. 

Wie ich Dir eben gesagt habe, wird mein „Margritli“ immer mehr ähnlich der lieben, toten Ruth. Mir sagt der Satz genug, den es am Anfang seines letzten Briefes setzte: Es wartet auf Deine Briefe und vergisst dabei das Antworten. Ich denke, dass ich auf meinem nächsten Urlaub am 27., 28. und 29.ds. erst am Samstagmorgen nach Hause komme, da ich am Freitagabend die Eltern Hubler persönlich noch um ihre Einwilligung zum Besuch des Berner Männerchor-Abends bitten möchte. Sehr wahrscheinlich werde ich also mein Margritli mitbringen – malgré de tous! Was die hoch wohllöbliche Bernergesellschaft sagen wird – darum foutiere ich mich. Früher wurde ja auch schon gemeckert, die Hauptsache ist die, dass ich immer noch nicht von ihr abhängig bin.

Doch nun genug für heute, bitte sei mir über meine Ausführungen nicht böse! 

Herzliche Grüße und einen Kuss

Gusti

Im Feld, 18.1.1940 (112) 

Meine Lieben, 

Habe eben Deinen Brief mit bestem Dank erhalten und beeile mich, denselben zu beantworten. Von meinem Angebot, Fr. 200.--, gehe ich ab und erhöhe dasselbe auf Fr. 300.--. Da ich doch noch etwas in meiner eisernen Reserve habe, nämlich in der von Dir geschenkten Brieftasche. Ohne weiteres nehme ich an, dass das Geld von Euch zweckmässig verwendet wird. Auch ich wäre froh, wenn die „dicke“ Angelegenheit in Ordnung käme. 

Herzliche Grüße Gusti

22.1.1940 11.23 (113) 

Meine Lieben,

So, der Sonntag wäre wieder mal glücklich vorüber. Am Samstagabend waren wir, d.h. die ganze Bande in der Stadt, aber schon um Mitternacht verzog ich mich in die Klappe. Am Sonntag (gestern) hatte ich das grosse Vergnügen, bis 06.00 h im Bett bleiben zu dürfen. Herr Oblt. Weber, mein Hausmeister, kam gestern mit einem seiner Kameraden aus der Geb.Abt.Bat.10 nach Hause, Im trauten Familienkreis haben wir drei dann am Nachmittag ganzen 10 Flaschen Bier den Garaus gemacht. Gegen Abend waren wir bei den Eltern von Frau Weber, Fam. Breguet, eingeladen zu einem Fondue. Ich muss schon sagen, so ein Fondue Frass in einem Kreis fröhlicher Menschen ist halt doch eine grosse Sache. Nachher gabs, als ausgesprochene Neuenburger Spezialität noch Salami und Brot! Später Twanner, schwarzen Kaffee und Cigarren – von der besseren Sorte! So dick und so gross! Würde der Krieg in diesem Sinne weitergeführt, mir würde es noch lange gefallen. Ihr seht also, dass mein Sonntagswerk sehr angenehm durchzuführen war. Heute fing allerdings wieder ein anderes Leben an, da unsere Kompanie am Mittwoch noch eine Inspektion durch den Rgt.Kdt. Oberst Magron bevorsteht. Alles ist plus ou moins aufgeregt, am meisten der Captain, der überall herumrast wie ein wahnsinnig gewordener Furz in der Konservendose! Ich debutiere als Zugführer, und glaube, dass viel davon abhängt, wie ich dort abschneide – so vo wäge Abverdienen in R.S. Jedenfalls wartet mir heute morgen noch gäbiger Krampf. Aber meine Leute anbrüllen und wüten wie ein Tollhäusler – nobis! Kommt nicht in Frage! Wenn der „Türgg“ verreckt, he nu so de verreckt er halt. Nur aus einem Grunde ist mir diese Inspektion „z‘wider“, nämlich wegen dem Schnee und der herrschenden Kälte. Aus Anlass dieses hohen Besuches wird natürlich jetzt nicht geflogen bis Donnerstag. Dann werden wir wieder nach Payerne rutschen und dort unsere Bleispritzen arbeiten lassen. Flugzeiten schinden, das ist jetzt Trumpf bei uns. Ich habe diesen Monat bis jetzt 8 Stunden und 42 Minuten, was wieder ein erkleckliches Sümmchen abgeben dürfte. Ich glaube, dass ich mir doch noch Ski und Hosen kaufe und dann mal den 3 tägigen Februarurlaub (mit Transportgutschein d.h. bezahlter Reise retour) in Adelboden oder Wengen geniesse, ohne vorher nach Hause zu kommen 

PS Ich finde keinen Schluss dieses Briefes. (Anmerkung Lilly 2012)

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Ende Jan./anf.Feb. 1940, Bauernhaus Mory 19.30 (114) 

Meine Lieben, 

Wie Ihr aus dem Datum ersehen könnt, stecke ich heute Abend wieder auf dem „Ehren-Posten eines Wachtkdt. Gestern Abend landete ich gesund und munter zur guten Zeit wieder „daheim“. Heute morgen, d.h. den ganzen Tag, im K.P. auf Pikett. Starten wäre heute reiner Selbstmord gewesen, da leiser Regen fiel und schon durch das bisschen Rollen vereisten die Flügel und selbst am sich rasend drehenden Propeller setzte sich das Eis sofort fest. Also haben wir unsere Maschinen wieder versorgt, und wir Piloten und „Beaugapfler“ legten uns kräftig aufs Ohr. Geschlafen habe ich heute den Tag durch rund 8 Stunden, so dass ich diese Nacht ein bisschen wachen kann. Auf dieses Wachbett zu liegen reizt mich verdammt wenig, da alles richtiggehend vor Dreck nur so starrt. Auch der Umstand, dass ich vor einer halben Stunde einem „motorisierten Brotbrösmeli“ den Garaus gemacht habe, ermuntert mich nicht heftig, mich in Morpheus Arme zu legen. Obenstehender Ausdruck heisst nämlich in der Soldatensprache: die ja so fein und zart alles zu umschreiben weiss (bitte erschreckt nicht): W a n z e n! Schon nur der Gedanke an diese lieben Biester – äh, mich beisst es schon am ganzen Körper! Ich habe so das ganz leise Gefühl, dass ich mich morgen promptestens in ein heisses Bad stürzen werde. Ich weiss nicht, ob Vati auch solche Grenzbesetzungserinnerungen mit sich herumträgt? Ich habe jedenfalls jetzt schon genug davon. Es ist wirklich Zeit, dass wir aus diesem Dreckloch herauskommen. Wäre ich nicht eben im blitzsauberen Bernerheim gewesen und hätte so frisch die „Segnungen“ des zivilen Lebens genossen, so wäre mir all der Dreck sicher nicht so aufgefallen. 

Nun noch ein kurzes Resumé über den verbrachten 3-tägigen Urlaub: Allgemeiner Eindruck gut. Der Samstag hat mir gefallen, der Abend war ganz gerissen, nicht einmal gelangweilt habe ich mich. Sonntags als Zivilist kam ich mir meistens saublöd vor. Aber „Die lustige Witwe“ hat mir gefallen. Wie ich dann am Montag wieder in mein Waffenröckli geschloffen bin, fühlte ich mich sofort viel wohler. So gut es mir auch gefallen hat bei Euch, so gerne bin ich wieder zur Truppe gegangen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich jetzt h i e r h e r gehöre und nicht ins Zivilleben! 

Heute war ich noch nicht in meinem Zimmer, so dass mein Waschsäckli immer noch im Kasten ruht. Werde es morgen absenden. 

Bis auf Weiteres alles Gute und herzliche Grüße Gusti

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Tagebuch von Lilly, Sonntag, 11. Februar 1940 (115) 

Auch wenn ich schwere Stunden erlebt habe, behalte ich den Kopf hoch. Seit gestern ist das Band der Freundschaft zwischen Sylvia und mir zerrissen. Ja, wir werden uns wieder anständig gegeneinander benehmen, aber eine Freundschaft, wie sie gewesen ist, wird und kann sie nie mehr werden. Die Aussprache mit Sylvia war gut, obwohl wir beide Tränen in den Augen hatten. Ich weiss nicht, wem es schwerer war, mir oder Sylvia. Unsere Wege werden auseinander gehen, denn sie ist neidisch auf mich. Sie wirft mir vor, ich dränge mich überall vor. Sie habe lange gekämpft gegen den Hass, der in ihr aufstieg. Ach, ich hätte Sylvia sicher noch viel helfen können, ich werde den Weg ohne sie machen. Hasse mich nur, bis Du einsiehst, dass Du mir Unrecht getan hast. Wir sind alle nicht unfehlbar, aber dass Neid eine Freundschaft in Scherben schlagen kann, das ist bitter! Wie oft ging ich Sylvia trösten, wenn sie krank war – nun hat sie mir nicht einmal mehr zum Geburtstag gratuliert. Eigentlich traure ich um zwei Freundschaften, um die von Heinz und die von Sylvia. Man verliert und gewinnt Freunde. So lernte ich Beatrice Leugger in Adelboden kennen, eine Pfadfinderin aus Basel. Sie schenkte mir das Buch „Im Lenz des Lebens“. So denke ich mir, muss es sein, eine Schwester zu haben.

14.2.1940 (116) 

Mein liebes Mueti, 

Ich habe Deine lieben Zeilen mit herzlichem Dank erhalten, und entnehme daraus, dass mein Mueti wieder mal unter Heimweh nach seinem Bueb leidet. Ich werde also machen, dass ich nächste Woche mal für zwei Tage nach Hause kommen kann. Den 3. Tag werde ich dazu brauchen, um ganz rasch mal nach Zürich zu gehen. Du, was sagst Du zu den überwiesenen Fr. 300.--? Im Ganzen erhielt ich etwas über Fr. 400.--, jedoch ist die Versicherungsprämie von Fr. 70.-- schon abgezogen. Für den Monat Februar sind die Trainingsentschädigungen verdammt klein, da ich bis jetzt ganze 40 Min. Flugzeit habe. Du, der Witz der Woche: Jeglicher Besuch von Maskenbällen war uns Offizieren, Uof. und Soldaten plötzlich vom Abd.Kdt. aus verboten. !Punkt! Aber trotz Verbot haben wir uns schadlos gehalten und über allzu viel Schlaf in den Wochenendtagen konnten wir nicht klagen. Am Montag rekognoszierten der Hpt.Mann und unsere 3 „Einsternige“ den Stützpunkt La Sagne bei La Chaux de Fonds. Mensch, das wäre anderes Klima als Biel! Bei schönstem Schneesturm trappten wir im Dorf herum – und Ltn. Ebert und ich mussten die „Hotels“ auf meinen Plänen einzeichnen. Ja, Hotel, so nennen sich die Spelunken! Auf den „Vue des Alpes“ tobte und pfiff die Bise so gottlos, dass es uns fast den Karren kehrte. Auf dem Heimweg fand der Captain, dass man in Auvernier gut Fisch esse. Also, nichts wie los, und prima war‘s! Ich kannte meinen Hptm. kaum mehr; denn schon in Neuenburg wollte er noch ins „Beau-Rivage“, konnte es dann aber bis Tüscherz verklemmen, auch in Twann wusste er ein ganz gerissenes Beizli, die „Ilge“, wo der Mönchliwy auch nicht schlecht ist. Du siehst aus all dem, dass mein Wohlbefinden auf Gut steht, und auch moralisch bin ich richtig zwäg. Habe ich doch von meinem Mädeli aus der Lenk schon zwei Briefe erhalten. 

Mit den herzlichsten Grüssen und auf baldiges Wiedersehen

Dein Gusti

16.2.1940 19.37 (117) 

Mein liebes Mueti, 

Damit Du morgen nicht vergebens in den Briefkasten schauen musst, habe ich mich hingesetzt, um Dir rasch einige Zeilen zu schreiben. Ich hoffe, dass nun Dein moralisches Gleichgewicht wieder etwas hergestellt sei und wünsche Dir gerne wieder mal eine restlos gesunde Familie. Unserem Aetti wird wieder mal ein gründliches Ausschlafen von seiner strengen Büroarbeit auch nicht grad schlecht bekommen sein, und wie ich Dich kenne, so ist er ja in besten pflegerischen Händen. Bei uns „im Felde“ geht alles tagtäglich seinen gewohnten Gang. Nein, es passiert noch viel weniger; nicht mal mehr fliegen können wir, da der Platz sich in einen Sumpf zu verwandeln pflegte und im übrigen der Wettergott Schnee und Regen „g‘heie“ lässt, dass es grad nümme schön ist. Von meinem Mädeli habe ich aus der Lenk schon zwei Briefe erhalten, und ersehe daraus, dass es dort oben Sonne und Schnee in Hülle und Fülle geniesst. 

Du, der hohe Abt. Stab zügelt scheints nächstens nach – Biel! Also scheint eine Dislokat. unsererseits in die Ostschweiz nicht mehr sehr aktuell zu sein. Wenigstens vorläufig. Die Herren vom Stab sind mir persönlich ja gut und recht, aber trotzdem für die Kp. ist es nicht vom Besten, wenn die dick Vergoldeten direkt auf ihr oben hocken, aber es wird auch so gehen. Von Entlassung oder Ablösung ist weit und breit nichts zu bemerken, so werden wir wohl den Frühling noch hier erleben. 

Mit den besten Sonntagswünschen und einem herzlichen Kuss

grüsst Dich Dein Gusti

PS. Gute Besserung allseits!

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26.2.1940 17.33 (118) 

Meine Lieben, 

Gott sei Dank, wieder ein Sonntag vorüber. Am Sonntag übernahm ich um Mittag die Flugplatzwache und bis vor einer halben Stunde kam ich nicht mehr in mein Zimmer. Den ganzen Sonntag verbrachte ich im Hangar als Wachtkommandant und feueröffnender Offizier. Erhielt am Samstag noch einen lieben Brief von meinem Mädeli und benützte die langen, freien Stunden, um in Form eines Briefes zu antworten. Heute nun war ich seit drei Wochen wieder mal in der Luft. Ganze 99 Min. hingen wir in der Luft, und Toni, Ltd. Tscharner, hat uns tüchtig gedrillt. Mein Beobachter, Oblt. Zeiger, hielt jedenfalls das ewige Drehen und Sturzfliegen nicht aus, und so opferte er sein ganzes Mittagessen den Göttern der Luft. Aber mir hat es gefallen, trotzdem der ganze Flug eine sackgrobe Angelegenheit war. Am Boden herrschte Nebel, so dass wir direkt blind landen mussten. 5 Min. vor uns versuchte ein Pilot aus Kp. 12 bei uns zu landen, gab aber den Scherz bald auf und flog, ohne den Boden berührt zu haben, wieder heimwärts. 

Für das Säckli besten Dank. Bitte für das nächste Mal Nastücher und einen Waschlappen senden. Ich hoffe, dass der Schreck vom Donnerstagabend betr. Lillys Ohnmacht ohne Folgen blieb und schliesse mit den herzlichsten Grüssen

Euer Gusti

Beiliegend Karte von „Hecht“ und Brief von Onkel Johann.

Tagebuch von Lilly: Sonntag, 10. März 1940 (119) 

Patriaabend. Ja, gestern Abend war ich im Casino am Pfaderabend. Ich muss sagen, ich bin restlos zufrieden. Nun, dass Gusti nicht kommen konnte, war Pech. In meinem langen weissen Kleid habe ich ja ganz nett ausgesehen. Mit Heinz habe ich nicht gesprochen, aber viel getanzt. Ein Gymeler hat den ganzen Abend fast nur mit mir getanzt. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn sich drei zur gleichen Zeit vor einem verbeugen und zum Tanz auffordern. Besonders hart ist es, wenn man wie ich den Tanz versprochen hat und dann lieber mit einem andern tanzen möchte. Der Gymeler dauerte mich ein wenig, denn ich mag ihn nicht besonders, auch wenn er mir liebe Sachen gesagt hat, die mir bis jetzt noch keiner gesagt hat. Warum habe ich denn doch immer mit ihm getanzt? Weil ich es nicht übers Herz gebracht habe, nein zu sagen. 

Wie anders war es doch, als mich der herzige, dunkeläugige Pfader holte. Nur zweimal gelang es ihm, mich zu engagieren, bevor der andere kam. Er geht auch in den Proger und ich mochte ihn gern, vielleicht weil er mir keine Dummen Sachen gesagt hat. Dumme Sachen nenne ich z.B. „Du bist hübsch. Du tanzest gut“. So jemanden könnte ich gern haben. Den letzten Tanz habe ich mit ihm getanzt. Den andern habe ich wohl sehr enttäuscht. Ich hoffe, dass ich ihn nie mehr sehen werde, obschon er mir den Abend schön gemacht hat. Er ist der erste, der mir gezeigt hat, dass er mich gern hat, für das bin ich ihm dankbar. Der Abend war herrlich.

Donnerstag, 14.3.40 08.10 (120) 

Meine Lieben, 

Viel habe ich nicht zu berichten. Bei uns geht alles im alten Tramp. Nur, dass es gestern den ganzen Tag und die ganze Nacht nur e i n m a l geregnet hat. Dabei versah ich letzte Nacht noch den schönen Posten des Wachkdt. War dabei nass bis auf die Haut und habe mich grad jetzt retabliert. Beiliegend eine Marke des hohen Armeestabes, die mir Mäd Loxder geschickt hat. 

Mueti, ich sollte wieder Waschlappen und Socken haben. 

Herzliche Grüße Gusti

16.3.1940 07.35 121 

Mein liebes Mueti, 

Du, am Sonnerstagabend hatte Staub Güstu wieder mal Schwein. Abends 21.30 h, als wir in der Stube sassen, wurde hier ein Sturmalarm geblasen. Meine Kameraden, die im Kino in der Stadt waren, wurden alle gefunden und per Auto direkt auf den Flugplatz geführt. Staub war nicht auffindbar und infolgedessen auch nicht auf dem Platz. Offiziell war ich halt irgendwo privat in der Stadt. Jedenfalls hat all das keine Folgen gehabt und mir rasselte doch ein ganz grosser Stein vom Herzen. Wie immer, Glück, auf das ich ja sehr weitgehend vertraue. Gestern war ich Pikett und dabei wurde uns wieder so recht bewusst, dass wir „Brätzeli Buben“ für die Katz im Dienst sind. C35 ist ja soweit ganz schön, aber Morane und Messerschmitt sind eher Maschinen. Gestern morgen fanden die schönsten Luftangriffe zwischen Deutschen und Franzosen in der Gegend von Pruntrut statt. Die Kameraden der schnellen Flugzeuge konnten aufsteigen und sahen der Scheisse von oben zu – und entsicherten Kanonen und Mg‘s. Wir C35, auch Flieger, durften am Boden bleiben, während 25 km von uns weg die schönste Kriegsfliegerei im Gange war. Die Entschuldigung auf unsere Anfrage betreffend Start war die, dass „man“ nicht unnötigerweise noch mehr Besatzungen gefährden wollte. „Schiesscheibe!“

Du, Mueti, stelle bitte Dein unsinniges Heimweh ein bisschen in eine Garage. Du weisst ja, dass ich gleichwohl immer wieder heimkomme.

Doch heute sollte ich noch rasch nach Lausanne und wünsche Euch recht guten Sonntag. 

Herzlichst grüsst Dich Dein Gusti

Feld. 20.3.40 (122) 

Mein liebstes Mueti, 

Habe gestern Deinen lieben Brief und das Päckli erhalten. Besten Dank! Dass Du ja in den Nerv eingedrungen bist, habe ich ja gemerkt, aber, dass es so bös steht, wusste ich nicht. Ich hoffe nur, dass Du letzten Sonntag eine kleine Freude hattest. Du, wenn Lilly nach hier kommt, werde ich die Gelegenheit dazu benützen, um mit meiner Schwester etliches zu bereinigen. Aus Deinen Zeilen zu schliessen, führt sie sich ja auch nett auf! Auch mit Vati werde ich wieder mal unter vier Augen reden. Du, mein Mädeli hat mich den ganzen Dienstag erwartet, doch ich konnte nicht zum Zahnarzt, da ich am selben Tag rasch nach Basel musste. Nun hat sich Margritli die nächste Woche einen ganzen Tag mit mir ausbedungen. Und gern werde ich ihm diesen Tag schenken. Und zwar werden wir uns nicht in Bätterkinden treffen. Gehe halt dann nur 2 Tage per Transportgutschein zum Skifahren. 

Wünsche Dir frohe Festtage trotz allem und verbleibe mit innigem Kuss

Dein Gusti

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Tagebuch von Lilly: Mittwoch, 10. April 1940 (123) 

Schon sind zwei Wochen Ferien vorbei. Zeugnisse hat es auch gegeben. Yvonne und Marie sind sitzen geblieben, nun sind wir nur noch 6 Mädchen. Die Kluft, die zwischen mir und Martina entstanden ist, wird immer grösser. Ich hänge noch mit grosser Liebe an Martina, aber ich spüre es, sie will nichts mehr von mir wissen. Wie sehr mich das quält, kann ich gar nicht beschreiben. Mueti hat mit Frau Steffen gesprochen und diese meint ganz bestimmt, dass wir uns wieder finden werden. Ich habe die Hoffnung ja auch noch nicht aufgegeben. Dieses Jahr wird Sylvia noch ein Hindernis sein, aber schon nächstes Jahr sind Martina und ich schon im Gymer und Sylvia noch nicht. Und wir sind doch Pfadfinderinnen, und unser Gesetzt sagt doch:

Die Pfadfinderin ist die Freundin und Schwester aller Pfadfinderinnen.

Jetzt soll ich auch den Konfirmandenunterricht besuchen. Ich fühle mich aber gar nicht reif dazu. Wenn mir jemand die Frage stellen würde, wie ich mich zur Religion stelle, so müsste ich antworten, dass ich es selber nicht weiss. Ich muss ja zweifeln an Gott, denn, wenn er doch so mächtig ist, warum lässt er es geschehen, dass sich die Völker gegenseitig vernichten. Warum lässt er einen Hitler bestehen. Will er die Menschen bestrafen? Aber warum straft er nicht die, welche Strafe verdient hätten. Wieviele sehen im Krieg die Möglichkeit, reich zu werden! 

Aber manchmal überkommt mich trotz allem ein Glücksgefühl, einfach weil ich bin. Ich bin ein Mensch, ich arbeite, ich bin etwas. Dafür muss ich doch gewiss auch wieder Gott danken. 

Man sollte wohl nicht nachdenken und einfach sagen: „Es gibt einen Gott und der macht, wie es gut ist und an ihn muss man glauben.“ Wer das kann, den bewundere ich!

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10.4.1940 21.00 (124) 

Mein einzig liebes Mueti, 

Heute Nachmittag trotz Regen und Nebel wieder „heim“ geflogen und „glücklich“ hier gelandet. Habe hier Deinen so lieben, aufmunternden Brief erhalten und spreche Dir dafür meinen innigsten Dank aus! Ja, nach allem, was ich wieder erlebt habe, braucht es festen Mut, im gleichen Schritt und Tritt zu marschieren. Ich glaube, mir hilft hier nichts, als mich n o c h fester in meine militärischen Aufgaben zu stürzen, um dadurch meine Gedanken von der geliebten Frau wenigstens für Stunden abzulenken. Morgen schon soll ich mit einer Patrouille irgendwo in der Ostschweiz zu einer Übung der xten Division eingesetzt werden und für einige Tage dort bleiben. Als noch so junger Pilot fühle ich mich fast ein wenig geehrt dadurch und habe grosse Freude mal den Kameraden von den andern Waffengattungen zeigen zu können, dass wir Flieger auch etwas leisten können. Wo wir hinkommen, und was für Aufgaben uns gestellt werden, wissen wir noch nicht, werden es aber heute Abend noch um 23.30h erfahren. Und ich verspreche Euch, d i e s e Aufgaben werden gut gelöst! Ich bin mir meiner Verantwortung über 6 junge Flieger vollauf bewusst und werde demnach vorsichtig sein. Wäre ich allein, so würde ich vor keinem Wetter umkehren. Doch auch so, sollen die hohen Herren vom Kommando zufrieden gestellt werden. 

Glück ab! Und sei herzlichst gegrüsst und geküsst von Deinem Bueb

Gusti

Heute von Frl. Dr. Hofstetter aus Ascona Karte und Cigaretten erhalten.

Tagebuch von Lilly: Sonntag, 14. April 1940 (125)

Gusti war da! Das sagt eigentlich alles. Es ist immer dasselbe, zuerst die grosse Freude, dass er da ist, dann die kleine Enttäuschung, wenn er am Nachmittag mit seinem Freund Alfa ausgeht und am Abend der herzliche Abschied. 

Und morgen beginnt wieder die Schule. Ich gehe mit gemischten Gefühlen in die Kl. A. Mir ist, als wäre es gestern gewesen, dass wir von Lehrer Mösch weg in den 2. Proger kamen. Nun gehe ich wirklich nur noch zum Lernen in die Schule. Eine Freundin habe ich keine mehr und einen Freund auch nicht. Ich werde nun allein sitzen, neben Martina will ich nicht mehr. Ich nehme mir vor, wieder mit allen freundlich zu sein und meine Noten nicht mehr zu sagen. Ach, ich möchte, es wäre alles noch wie im dritten Proger. Vielleicht ist der Verlust der Freundschaft von Sylvia und Martina eigentlich mein erster grosser Kummer, aber ohne Nutzen gehe ich auch nicht daraus hervor. Ich habe gelernt, bescheidener zu werden.

Tagebuch von Lilly, Sonntag, 28.4.1940  (126)

Ja, ich sitze allein, aber es ist gar nicht so schlimm und bis jetzt hatte ich die besten Noten der Mädchen. Aber nun, wo es in der Schule besser geht, hapert es zu Hause. Ich weiss nicht, warum ich nicht traurig und niedergeschlagen bin, wie sonst nach solchen Szenen. Allerdings so wie heute ???

Seit einiger Zeit trage ich eine Spange im Mund, um einen Zahn weiter nach hinten zu setzen. Sie stört mich beim Sprechen, und ich kann den Buchstaben „R“ nicht mehr gut sagen. Gestern Abend hat mich meine liebe, gute Mutter wahrhaftig ausgelacht und verspottet deswegen. Ich habe nicht mehr viel geantwortet, aber es hat mich tiefer getroffen, als es vielleicht sollte. Heute hat sie natürlich wieder geheult wie immer. Sonst hat mich das immer gerührt, aber heute liess mich das kühl. Nur eines tut mir leid, dass ich meinem Vater so entschieden meinen harten Kopf zeigen musste. Er verlangte, dass ich Mutter abtrocknen helfe. Da habe ich ein festes, klares Nein gesagt. Es hat wohl härter geklungen, als ich eigentlich wollte. Sprachlos vor Erstaunen blieb Vater in der Türe stehen, dann wiederholte er den Befehl und er bekam die gleiche Antwort. Wenn ich ihm auch weh getan habe, um nichts würde ich es zurück nehmen, was ich gesagt habe! Bis hier her habe ich Mutter manchmal gehasst, seit gestern habe ich das Verachten gelernt. Vielleicht ist sie zu dumm, um zu spüren, wie weh sie mir getan hat. Zum ersten Mal habe ich mich dem Vater in dieser Weise widersetzt, aber ich konnte nicht anders. Er erklärte mir dann, ich könne die Konsequenzen tragen. Jawohl, das werde ich tun.

10.5.1940 16.35 (127) 

Mein liebstes Mueti, 

Trotz der neuesten Ereignisse behalten wir den Kopf oben, und ich bitte Dich, wieder von neuem stark zu sein. Auch das wird vorübergehen. Urlaube sind natürlich jetzt Illusion und auch nicht nötig! 

Innig umarmt und küsst mein Mueti Dein Gusti.

Tagebuch von Lilly, 14. Mai 1940 (128) 

Eine unglaubliche Nacht, die ich wohl nie mehr vergessen werde! Es ist bald 11 Uhr, aber das ganze Haus ist noch wach. Vati und Herr Berger richten den Luftschutzkeller mit fieberhafter Eile fertig ein. Mueti hat Decken für Notlager nach unten getragen und sie auf den Hurden ausgebreitet. Dann auch Wasser, Cognac und Kerzen. Alles ist bereit. Was ist eigentlich vorgefallen? Gusti hat vor einer halben Stunde telefoniert, es stehe sehr schlimm. Heute ist der letzte Tag, an dem die Ausländer Waffen tragen dürfen. Frankreich hat Deutschland um Frieden gebeten.

Gestern bin ich gegen Pocken geimpft worden.

Am Nachmittag hielt ich einen Vortrag über „Louis Pasteur“. Sehr gut.

Besatzungsraum, 14.5.1940 13.55 (129) 

Mein liebes Mueti, 

Draussen wird ein herrlicher Frühlingstag abgehalten, wir Besatzungen haben Theorie. Eine Maschine hängt in der Zeit am Rhein und Beobachter und Pilot hängen mit brennenden Augen am Himmel und wachen darüber, ob ennet dem Rhein Truppen aufmarschieren. Wie allgemein bekannt, ist ja die Lage nicht grad rosig. Als ich heute morgen mit René Schweizer unsere Abwehrgeschütze kontrollierte, schauten wir lange ins grünende, blühende Land, und jeder empfand von neuem eine heisse Liebe aufsteigen für unsere Heimat. Siehst Du, wir sind ja alle noch so jung, und keiner möchte ans Sterben denken. Doch über unserer Generation hängt mehr oder weniger wie ein Damokles Schwert der grosse Fluch KRIEG! Schau Mueti, wir hängen ja alle mehr oder weniger an dem bisschen Leben. Und das Leben bietet uns ja so viel Schönes – und auch ich durfte ja alles erleben. Alles habe ich ja gehabt und möchte es jedoch noch weiter erleben. Sollte uns und unserer Heimat doch mal die letzte Prüfung beschieden sein, so wollen wir sie bestehen – oder in Ehren untergehen!


(9)

 

Alle zwei Tage fliege ich nun meine 2 stündige Grenzüberwachungspatrouille. Oft ist es kalt wie der Teufel und Schlaf gibt‘s. Weisst Du, wie wir jetzt unsere Abende verbringen? Unsere 4-5 Kameraden bummeln Abend für Abend über den kleinen Höhenzug beim Dorf und singen stundenlang. Aber noch nie ist ein Schlager gestiegen, alles sind bestandene, liebe Volkslieder, die von Liebe und Abschied erzählen. Am Morgen bei Tagesgrauen startet die erste Maschine und wenn es dunkelt, so kommt die letzte nach Hause. 

Für Deine Wäschesendung empfange meinen besten Dank, ebenfalls für die begehrten Rauchstengel. Beiliegend sende ich Dir noch die Foto, die ich anlässlich meines letzten Urlaubs daheim gemacht habe. Mit unseren Urlauben ist es bis auf weiteres herzlich schlecht bestellt. Aber wer würde auch Urlaub verlangen, wenn jeder weiss, was heute für uns alle auf dem Spiele steht!? 

Ich denke, dass Lillys Schulbesuch unter der jetzigen Mobilisation auch kräftig leidet und wie steht es mit Vatis Felddienst? Ich denke, dass ich diesen Monat nicht mehr heim kommen kann. Nächsten Monat, schon bald haben wir wieder Juni, wird es sicher einmal gehen. Du, ist Alfa auch mobilisiert oder darf er zu Hause bleiben, da er doch jetzt in der Kriegswirtschaft tätig ist? Unsere Einstellung diesen gegenüber, die jetzt nicht in der Uniform stecken, ist sehr gereizt. Es sollte ja keinem einfallen, je zu lästern, ich glaube, er würde niedergeschlagen. 

Doch ich will mein Epistel aufhören und grüsse alle meine Lieben daheim.

Dir speziell ein inniges Müntschi

von Deinem Gusti

Wache, 7.7.40 17.30 (130) 

Liebes Mueti, 

Schon aus dem Briefkopf kannst Du meine Sonntagsbeschäftigung erkennen. Aber es ist noch nicht der dümmste Posten, den man bei uns einfahren kann. Jedenfalls habe ich so gäbig Zeit, meine Korrespondenz zu erledigen und auf was für noble Art siehst Du ja. Mir kommt es vor, wie in der seligen Stabszeit. Und doch nicht mehr ganz. Aber tauschen möchte ich nicht um vieles! 

Vorgestern Abend reiste ich zwecks Urlaub für 24 Stunden nach Bern und habe zu Hause alles in bester Ordnung angetroffen und auch so wieder verlassen. Am Freitag Abend war ich mit Alfa in der Stadt, aber schon um 13.40 Uhr wieder daheim. Habe dann geschlafen bis 10.15 Uhr und war nachher beim Coiffeur. Beim „Zytglogge“ traf ich Herrn Blaser, der mich mit einer ganz sensationellen Neuigkeit überraschte. Er fragte mich, ob ich es wisse, dass Ernst schon seit 2 Monaten daheim im Bett liege? Er habe eine Lähmung, die es ihm nicht mal mehr erlaube, selbständig zu essen, von Gehen, geschweige denn Schreiben sei nicht mehr die Rede gewesen. Habe dann bei Fam. Inderbitzi „z‘Mittag gegessen, und am Nachmittag besuchte ich dann Ernst. Ich muss schon sagen, sein Anblick hat mir aufgehauen, weil aus dem einst kerngesunden Kameraden nur noch ein zitterndes Wrack übrig geblieben ist. Allerdings ist er heute wieder so weit, dass er einige Schritte gehen kann und reden kann er auch wieder ganz gut. Jedenfalls hat sein Humor nicht gelitten. Der Arzt hatte ihm vor ca. 7 Wochen ganz offen noch eine Lebensdauer von 3-4 Tagen vorausgesagt. Tag für Tag habe er dann auf den Gevatter Tod gewartet, sein Herz habe hie und da aufgehört zu schlagen, und er habe dann gedacht, dass das nun das Ende sei. Aber jedes Mal sei der Knochenschüttler wieder abgetreten und habe diesen Bissen verschmäht. Langsam sei es dann wieder besser geworden, und vor drei Wochen sei er richtig gehend neu geboren worden. 

Das wäre also die grösste Neuigkeit, die mir zu Ohren gekommen ist. Ich musste mir dann noch Bethlis Stammhalter vortraben, respektiv vortragen lassen und ihn bewundern. Die jetzigen Grosseltern Blaser, der Alte vor allem, finden natürlich, dass ausser ihren eigenen Kindern noch kein so schöner Gof das Licht der Welt erblickt habe, wie jetzt Bethlis Junge. Heissen tut er Plinio. Von seiner Tessiner Abstammung zeugt aber auch grad nur sein Name. Der Junge trägt das typische Blaserkinn und die rötlichblonden Haare seiner Mutter. Ich glaube, dass der alte Blaser für diesen Knopf chneulige auf den Gurten rutschen würde. Ich musste dann unbedingt bei ihnen zum Z‘nacht bleiben, das sich der alt bewährte Hauskoch Blaser selber kochte. 

Walti Ebert und Ltd. Badertscher haben ihren Urlaub in Genf und Lausanne verbracht, und gestern Abend haben wir drei uns dann im Fantasio in Biel getroffen – und zwar ohne „Mousy“. In der zweiten Morgenstunde des heutigen Sonntags sind wir dann wohlbehalten und sogar ohne angeheitert zu sein, in unserem „Sternen“ eingetroffen und haben uns dann bis 06.00h ausgeschlafen. Um 08.00h musste ich bei der Vereidigung der Ortswehr zugegen sein und wurde dabei dem ganzen Gemeinderat dieses hochwohllöblichen Grenchens vorgestellt. Kaum war dieser geierliche Akt beendet, so gefiel sich der Himmel darin, seine Schleusen zu öffnen und seinen „Seich“ abzulassen, was er bis jetzt noch nicht wieder verklemmen konnte. Bei uns wurde dieser trübe Sonntag zum Selbststudium, d.h. bei uns, sich aufs Ohr legen, verwendet. 

Habt Ihr heute morgen am Radio die Fahnenübergabe an die Fliegertruppe mitgehört? Endlich, bereits am Ende dieses „Feldzuges“, erhalten auch wir eine Fahne. In Bern muss heute anlässlich dieses Ereignisses anständig gefestet worden sein! Wir an der Front haben aber davon nichts gemerkt. 

Ah, noch etwas: nämlich das, dass unser Captain für ca. 3 Wochen zu einer Erholungskur auf den Beatenberg geschickt wurde. Es hiess, dass seine Nerven durch den langen Dienst erheblich gelitten hätten und dringend der Schonung bedürften. Na, das kann jeder sagen. Du, die neue Uniform hat ganz toll eingeschlagen bei den Fliegeroffizieren. Fast jeder zeigt sich nur noch mit Kravatte im Ausgang. Meine abgeänderte Uniform habe ich noch nicht erhalten, hoffe aber auf Lieferung in der künftigen Woche. 

Und nun noch besten Dank für Euren Kartengruss, der mir gezeigt hat, dass Ihr Euer Reiseziel gut erreicht habt. 

Und nun hoffe ich wieder auf etwas besseres Wetter, denn zum Fliegen ist es so nicht interessant. In der Hoffnung, dass Ihr es Euch gut gehen lässt, verbleibe ich mit

den herzlichsten Grüssen

Dein Gusti

PS Wäsche folgt Mitte nächster Woche.


(10)

 



Tagebuch von Lilly, Ferien in Serneus, 8. Juli 1940 (131) 

Offenbar hatte es im Bad Serneus Einquartierungen von Soldaten und am Abend wurde getanzt, und ich war wieder einmal sofort verliebt. Eintrag: Die Soldaten sind fort. Bis jetzt kamen sie jeden Abend zum Tanzen, einer kam nur zweimal, doch ich bin grenzenlos verliebt. Es kamen gestern Offiziere und doch holte ich IHN bei der Damenwahl. Doch warum hat er mir beim Abschied noch die Hand gegeben? Nun ist er weg! Ob ich ihn in meinem Leben noch einmal sehen werde, weiss ich nicht, aber der gestrige Abend war der schönste!!!

Bern, den 10. Januar 1941 

Was ich da geschrieben habe, ist ein BLOEDSINN!!!!

Feld, 10.8.40 16.00 (132) 

Mein liebes Mueti, 

Herzlichen Dank für alle Sendungen dieser Woche. Über den Flecken in meinem Hemd bin ich mir auch im Unklaren. Doch besser als ein Bein gebrochen.

Du, diese Woche war wieder so nach meinem Geschmack. Dienstag und Mittwoch am Morgen Akrobatiktraining und nachmittags Baden in der Aare bei 20 Grad Wärme des Wassers. Donnerstag „Beobachterschaukeln“ und Baden. Gestern Freitag flogen wir ganz gemütlich nach Payerne und warfen dort unsere Bomben in den See. Sicher hat es etlichen Fischen das Leben gekostet, doch ist es mir lieber, wenn diese starben als ich, denn mir gefällt der Dienst letztlich in diesem Sinne ganz gut. Schon um 16.00h waren wir wieder in Payerne und bald darauf tollten wir wieder wie die Buben an unserem heimatlichen Aarestrand. Für heute wäre das Strandbad Biel auf dem Programm gestanden, leider schiffte es diesen Morgen nach Kräften, und unser Programm fiel elegantestens ins Wasser. Also haben wir bis jetzt geturnt, und anschliessend gab es Zeit zum Retablieren, was ich benutzte, um Dir wieder einen Wochenbericht zu senden. Und nun werde ich mich aufs Ohr legen bis 17.30h.  

Herzliche Grüße Gusti

Tagebuch von Lilly: Bern, den 13. September 1940 (133) 

Schon so lange bin ich nun wieder hier, und eben jetzt las ich das Gekritzel aus den Ferien. Ich kann gar nicht begreifen, dass ich das gewesen bin, die das geschrieben hat. Heute lächle ich ziemlich spöttisch darüber. Aber eben, es gibt ja Stunden, wo der Mensch verrückt ist! Ich wundere mich auch, dass das das einzig Wichtige aus fünf Wochen Ferien sein soll. 

Aber nun bin ich wieder in Bern, und ich habe nicht viel Zeit, zurück zu denken.

Gusti hat zwei Monate Urlaub und geht ans Technikum Burgdorf. Morgen kommt Vati auf Besuch. Mir scheint es fast, als hätte ich Angst, das hinzuschreiben, was mich drängt. Heinz hat eine neue Freundin gefunden. Nun, ich versuche mir einzureden:

Was ist denn schon dabei, das geht dich doch nichts an? Aber die Eifersucht plagt mich. Es könnte ja alles anders sein. Ich meinte, ihn vergessen zu haben, aber die erste Liebe ist wohl doch die Grösste!! Ich kenne seine neue Freundin, sie ist sehr hübsch mit blonden Zöpfen, viel hübscher als ich. Und ich dummes Huhn meinte immer noch, dass alles wieder gut werden könne. Ach, ich bin ja so wankelmütig. Kann ich anders sein? Jetzt finde ich „Pi“ wieder ganz nett. Bis in zwei Wochen ist es wieder ein anderer. Ich schäme mich. Aber ich kann es nicht ändern. Vielleicht kommt das Glück einmal auch zu mir! 

Es fängt an, Herbst zu werden. Kaum merkt man es, die Bäume stehen noch grün da und sind voller Früchte und doch fällt schon manchmal ein dürres Blatt leise zu Boden. Doch spürt man es, der Sommer ist vorbei. Nur nicht traurig werden. Es nützt ja nichts.

Tagebuch von Lilly: Advent Sonntagabend, 1. Dezember 1940 (134) 

Fast kann ich es nicht glauben, dass alles schon vorbei ist. Ach, es war einfach unbeschreiblich – mein erster Gymerball!!!! Ach, ich muss von vorne beginnen. Also letzten Montag kam Edi Buser (der Bub schon von der Karl Staufferstrasse) mich fragen, für den Gymerball im „Sternen“ in Muri. Ich kann es nicht beschreiben, wie mir zu Mute war, als ich die Erlaubnis dazu erhielt. Die ganze Woche musste ich dieses Glück herumtragen und gestern, ja gestern kam der grosse Moment. Um halb acht läutete es, und Edi kam mich abholen. Mir war es so sonderbar, es war ein wenig Angst, war es ja das erste Mal, dass ich mit einem Knaben alleine fortging, dann die Freude, die Erwartung, oh, es war soooo schön!! Ich trug mein weisses Kleidchen mit roter Schleife. Zwei echte Rosen als Schmuck. Das Herz klopfte zum Zerspringen, als ich mit ihm auf die Strasse trat. Wir fuhren mit dem Autobus bis auf den Helvetiaplatz und dann gingen wir zum Muribähnli. Es wimmelte von Pärchen, die aufs Züglein warteten. Edi stellte mich seinen Kameraden vor, einige kannte ich schon. Um 8 Uhr fuhren wir ab. Im „Sternen“ hatten wir einen Tisch, der für die Rovergruppe besetzt war, zu der auch Edi gehört. Schon den ersten Tanz machten wir zusammen, es ging wunderbar. Edi tanzt ganz gut, und was mich besonders freut, dass er auch sehr gern Walzer tanzt. In der Tombola gewann ich einen Fahrplan und einen silbernen Zuckerstreulöffel. Ich habe riesige Freude an den Dingen, sind es doch Andenken an diesen unvergesslichen Abend. Viel zu schnell war alles vorbei, draussen war es beissend kalt, und der Schnee war eine Eiskruste auf der Strasse. Dazu noch die Verdunkelung. Edi begleitete mich natürlich nach Hause. Etwas beklemmend war es doch, so morgens um halb drei mit einem im Grunde genommen fremden Menschen durch die dunkle, eiskalte Winternacht zu gehen. Aber Edi ist ja Pfadfinder, und man braucht keine Angst zu haben. Ich meine es noch jetzt zu spüren, wie er mich sanft am Arm nahm bei einer besonders gefährlichen Stelle auf der Strasse, nicht aufdringlich, nein scheu und zurückhaltend – nur wie ein Pfadfinder, der seine Hilfe anbietet. Der Abschied vor dem Haus war freundlich, ja herzlich aber auch gar nichts mehr! Ach ja zu Edi habe ich Vertrauen, das ist ein Kamerad! Jetzt ist es Sonntag, und alles ist vorbei. Eine ganze Woche habe ich mich darauf gefreut und so schnell geht das Schöne vorüber. Vor mir auf dem Tisch stehen die beiden roten Rosen, sie beginnen schon zu welken, und doch, die Erinnerung bleibt. Morgen beginnt die Schule wieder, und ich darf so oft ich will, an diesen schönen Abend zurück denken. Es war ja sooooooooo schön!!!

 

Feld, 21.12.1940 (135) 

Mein liebes Mueti, 

Besten Dank für Hosen, Schuhe und Wäsche, habe alles erhalten. Gestern morgen war ich wieder in Belp, hatte aber in Bern nur knapp 10 Min. Aufenthalt. Morgen früh ab ins Hallenbad und nachmittags wieder in Belp. Abends jedoch muss ich um 18.30h wieder hier sein. Sonntags bin ich Tages-Offizier und am Heiligabend wahrscheinlich auf der Wache. Ich denke, dass ich in dieser Nacht einen längeren Brief an ein gewisses „herzkrankes“ Mueti vom Stapel lasse. Sicher werde ich an diesem – seit etlichen Monaten nicht verdunkelten – Abend viel in Gedanken bei meinen Lieben an der Tillierstrasse weilen. Einer meiner Weihnachtswünsche ist es, dass sich mein Mueti und ich wieder so gut verstehen wie vor eh und je. Und sicher wird es dazu kommen, denn dafür werden Elsbeth und ich gerne besorgt sein. Auch möchte mein Mädeli Dir mit seiner Liebe alles zurückgeben, was es Dir in der Form Deines Jungen genommen hat. 

Bitte lege beiliegendes Buch für Lilly auf den Staub‘schen Gabentisch. Ich werde am Samstag in 8 Tagen heimkommen, muss aber am Neujahr mit dem ersten Zug wieder einrücken. 

Viele liebe Grüße und einen herzlichen Kuss

von Deinem Gusti

Sonntagabend, 22.12.1940 (136) (Brief aus dem Aktivdienst) 

Mein liebstes Mueti, 

So, nun habe ich mal Zeit und Gelegenheit, mich brieflich mit Dir zu unterhalten.

Habe, wie bekannt, das schöne Amt des Tagesoffiziers und kann mich daher heute morgen nicht wie die andern Kameraden aufs Ohr legen, sondern darf meine Zeit entweder in den Kantonnementen der Mannschaft oder hier im Kp. Büro zum Nutzen und Frommen der Kompanie verbringen. Als erstes habe ich heute morgen einen ellenlangen Bart eingefangen, den abzuhauen ich vermutlich längere Zeit brauche. Um 15.20h rasselte mein Wecker, aber aufgestanden bin ich trotzdem nicht – nein, neu eingeschlafen. Und als ich das 2. Mal wach wurde, war es bereits 05.30h Ich nichts wie los in die Hosen und im Laufschritt ins Büro, wo mich der Hauptmann höchst eigenhändig und ungnädig empfing. Zugegeben, dass ich einen Fehler begangen habe --- und so werde ich halt eine diesbezügliche Strafe mit einem korrekten „zu Befehl“ quittieren. Wie mich der Captain strafen will, weiss ich noch nicht. Vermutlich hat er drei verschiedene Möglichkeiten: Er kann mir den nächsten Urlaub entziehen, er kann mir einen Arrest dazu diktieren oder er kann mir für viele Tage das Amt des Tagesoff. aufbrummen. Aber, mache er was er für gut findet, denn Mensch ärgere Dich nicht!! Kommt ja doch alles in die gleiche Scheisse. Weisst Du, so wie der Dienst jetzt ist, da muss man schon noch sein letztes Fünckchen Begeisterung zusammenklauben, um nicht aus der Haut zu fahren! Geflogen wird überhaupt nicht mehr. Von oben erhalten wir Befehle, die einen toll machen könnten, über das Tragen der Mützen und Abändern der Mäntel ganz zu schweigen. Aber was macht schon das alles aus? Man sagt „zu Befehl!“ und führt eben diesen Befehl aus, dafür ist man ja im Dienst und hat sich in bald 1000 Diensttagen auch eine kleinere oder grössere Portion Disziplin angeeignet. Nur finde ich es sauglatt, dass mir immer kurz vor Weihnachten ein Blödsinn passieren muss. 

Ja, Weihnachten, bereits das zweite Mal stehen wir nun mit mächtig kalten Füssen auf unseren Posten und sehen zu, wieviele so verdammte Krüppel und nicht im Militär zu gebrauchende daheim im warmen Nest feiern können. Daheim …. ich weiss ja, dass ich noch ein solches habe, wenn schon das Stimmungsbarometer mehr als genug auf Sturm und Gewitter steht. Einmal scheint trotz allem wieder die Sonne. Schau, Mueti, ich möchte ja in vielen Beziehungen noch ganz Dein Bueb sein und bleiben. Grad jetzt, wo ich mein Mädeli habe, treten sicher noch viele Fragen auf, die ich mit Dir besprechen möchte und zu denen Du mir sicher am besten antworten kannst. Ich möchte nur eines von Dir, nämlich das, dass Du nicht das Gefühl hast, Du seiest jetzt für nichts mehr da; meine Liebe gehöre nun einzig und restlos allein meinem Elsbeth. Schau, Mueti, sicher gibt es zweierlei Liebe, die man fein säuberlich voneinander trennen muss, sicher ist die erste die, die ein Junge seiner Mutter entgegen bringt, jahrelang und sicher immerwährend. Später tritt dann die Änderung ein, dass man sein Mueti immer noch gern hat und es verehren kann, darf und soll. Was aber die Liebe im landläufigen Sinn anbetrifft, so ist plötzlich eine andere Frau da, die diese für sich in Anspruch nimmt. Ich weiss ja, dass ich mächtig über die Schnur gehauen habe, jahrelang über den Hag gefressen und gewildert habe. Vor zwei Jahren hing ich an Ruth und wenn e i n m a l mich mein Gewissen plagt, dann ist es das, wenn ich daran denke, dass ich nicht einmal in Ruth‘s Todesnacht treu gewesen bin. Oft hat mich ja zwar mein Gewissen nicht ruhelos gemacht wegen anderen. Und nun ist seit zwei Monaten eben der Umstand eingetreten, dass ich mein Elsbeth habe lieben gelernt und es wirklich gern habe. Immer mehr sehe ich, dass ich von diesem Mädeli nicht mehr loskomme, dass ich es von Woche zu Woche lieber bekomme. Dabei darfst Du aber ja nicht denken, dass ich Dich nur eine Spur weniger lieb habe als früher. In seinem letzten Brief schrieb mir Elsbeth, dass es noch einen Weihnachtswunsch habe, nämlich den, dass es Dich ebenso gern haben dürfe wie mich! Gern möchte es Dir durch seine Liebe zu Dir zurückgeben, was es Dir genommen habe, und es habe ihm wehgetan, als Du letzte Woche so abwesend und kühl gewesen seist. Letzten Freitag sei es direkt glücklich nach dem Singen nach Hause gegangen, denn Du habest es wieder freundlich begrüsst. Und ich bin überzeugt, dass Du an meinem Mädeli ebensoviel Freude haben kannst, wie ich. 



(11)

 

Und nun habe ich wieder zu tun, muss in allen Kantonnementen zum Rechten sehen und noch eine kleinere Inspektion über persönliche Ausrüstung der Mannschaft unternehmen. Bald ist auch dieser Morgen wieder vorbei und in 5 Stunden kommt ja mein Christkindelein zu mir! Ich hoffe nur, dass ich dann nicht zu viel weg bin als Tagesoff. 

Noch einmal wünsche ich allen recht frohe Festtage und seid doch zufrieden miteinander und nimm viele liebe Grüße und einen 

herzlichen Kuss von Deinem Gusti

Auf der Wache, 6.1.1941 20.45 (137) 

Mein liebes Mueti, 

So, nun sollst auch Du wieder einmal einen Schreibebrief von Deinem ewigen Soldaten erhalten. Wie Du aus dem Datum siehst, stecke ich in Amt und Würde eines Wachkommandanten, nicht grad mit riesiger Begeisterung, aber immerhin doch so grosser, dass ich trotz beissender Kälte meine 2-3 Kontrollrunden abtippeln werde. 

Wie ich letzte Woche der Meinung war, dass ich jetzt in Payerne sei, stimmt es also nicht, da in Payerne nicht Demonstration ist, mussten die „Jungen Piloten“ antreten. Wir „Alten“ gehen später. Am Donnerstag ist es jetzt genau e i n e n Monat, seit dem ich das letzte Mal in der Luft war. Hast also ganze dreissig Tage aus dem Grunde ruhig schlafen können. Und nun will ich auch Dir etwas sagen, was Dich vielleicht etwas beruhigt. Ich habe meinen Traum, Jagdflieger zu werden, definitiv und offiziell begraben! Nächstens wäre es nun d o c h dazu gekommen, und ich habe meinem Häuptling erklärt, dass ich n i c h t wolle. Zwei Gründe sind es, die mich zu diesem Entschluss bewogen haben: Erstens weiss ich, dass ich dadurch meinem Mädeli einen Angstfaktor abnehme, und zweitens will ich „Der Chly“ meinen treuen Walti Ebert nicht als Beobachter verlieren. Mueti, Du weisst ja genau, dass meine einzige grosse Leidenschaft immer das Fliegen war, dass ich, wie alle meine Kameraden, nur davon träumte, in einer Jagdmaschine hinter einem Gegner einher zu rasen. Ich glaube, um d a s zu erreichen, hätte ich trotz allem die Freundschaft mit Walti geopfert. Ich glaubte auch nie, dass irgendeine Frau mitbestimmend sein könnte in meinen fliegerisch ehrgeizigen Plänen. Heute ist dem aber doch so. Ich glaube, dass dieses Verzichten auf die Jagdfliegerei die grösste Liebesbezeugung ist, die ich meinem Elsbeth bis jetzt erwiesen habe. Ich tue es gern, denn ich habe mein Mädeli lieb. Glaube mir Mueti, ich weiss, wer neben Dir auch mal den Namen „Frau Staub“ trägt! Jener Kuss in der Sylvesternacht um 24.00 Uhr – vor unseren Eltern gegeben – hat für uns Junge und vielleicht für Euch ebenfalls, mehr bedeutet, als 100 andere vor oder nachher. Und ich hoffe nur, dass du uns zu unserem Glück DEINEN Segen gibst!, denn ich habe in dunkler Erinnerung einen Spruch, der lautet: Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, der Mutter Fluch….  

Im übrigen darf ich ruhig sagen, dass der Jahreswechsel 1940/41 der glücklichste war, den ich bis heute erleben durfte. Nur das Einrücken mit dem Zug 06.39h hat mir nicht gerade eingeleuchtet, aber was tut man nicht alles im Dienst. 

Nächsten Samstag komme ich in Urlaub bis Montag, können dann noch über etliches plaudern. 

Bis dahin nimm die herzlichsten Grüße und einen lieben Kuss 

von Deinem Gusti

Tagebuch von Lilly, 9.2.1941 (138) 

Nur nicht weinen! … wenn es schon würgt und weh tut! Wieder kommt die gleiche Frage, die ich mir schon so oft gestellt habe? Warum können wir nicht glücklich sein? Gestern hatte ich Geburtstag, ja schon 16 Jahre bin ich auf der Welt. So viel kam gestern auf einmal. Am Morgen begann der Tag mit bösen Worten. Mueti hat mir nicht gratuliert. Herunterschlucken, nichts dergleichen tun. Am Nachmittag wurde die Stimmung etwas besser. Um 5 Uhr hatte ich Vortragsübung am Konsi. Es ist mir wieder einmal nicht so gelungen, wie ich möchte. Am Abend ging Mueti mit Frau Buser ins Theater. Büsu hat mich an einen Klassenabend eingeladen. Ich muss ehrlich sagen, ich habe mich nicht gefreut. Um 8 Uhr holte er mich ab, und wir gingen dann ins „Schwyzerstärn“-Heim. Es war grossartig, wie sie alles eingerichtet hatten. Ein bäumiges Orchester, fröhliche Gesichter, Überraschungen, alles wie gemacht, um fröhlich zu sein. Was war mit mir? Gewiss, ich tanzte und zwar mit Büsu sehr gut. Hie und da vergass ich sogar, dass ich ja nicht wie andere sein durfte und ich lachte und hatte Freude. Kann ich etwas dafür, dass es Momente gab, da mich das Tanzen, die Leute, der Cigarettenrauch einfach anekelten?! Edi kam mit mir hinaus an die frische Luft und das tat gut. Wir tanzten bis am Morgen um 3 Uhr. Das also war mein 16. Geburtstag. Viele Glückwünsche von Büsus Kameraden, sie ahnten alle nicht, wie einsam ich unter ihnen war! Es tönt doch, wie wenn ich nur zuzugreifen brauchte, um glücklich zu sein. Das Furchtbarste ist, ich kann mir selbst nicht helfen. Ich habe nur einen Wunsch: EINSCHLAFEN und nicht mehr erwachen. Ist das eine Sünde, mit 16 Jahren. Ich bin so müde und habe Angst vor etwas, das ich nicht kenne. Edi beunruhigt mich. Oft ist er mir direkt zuwider und dann habe ich wieder Momente, wo ich wünsche, nur bei ihm zu sein – irgendwo geborgen. Er ist nicht wie die andern, er ist nie so fröhlich wie sie. Ich habe noch nie für einen Menschen ein solches Gefühl empfunden wie für ihn. Am Patriaabend wird er mich nach Hause bringen. Ich habe es ihm erlaubt. Warum habe ich es getan? Immer habe ich ein wenig Angst, wenn ich mit ihm fortgehe. Gestern Abend, bei der kleinsten Berührung fuhr ich erschreckt zurück. Auf dem Heimweg gab er mir nicht den Arm. Es ist gut so, ich bin ja selbständig. Die andern haben sich sicher anders benommen. Ach, manchmal habe ich einfach Lust, nichts mehr mit Knaben zu tun zu haben. Aber schliesslich muss man doch auch einen Menschen haben, dem man vertrauen kann. Andere haben liebende Eltern. Ich habe einen Bruder, der uns nicht mehr gehört. Ist er nicht die Ursache meiner Lage? Ich liebe seine Elsbeth ja auch, und ich helfe ihnen, wo ich nur kann. Er aber geht und lässt mich allein. Mueti kann und will es nicht glauben, dass „IHR“ Gusti einer andern gehören soll. Heute Nachmittag sind wir, Vati, Mueti und ich, der Aare entlang nach Muri spaziert. Die Sonne schien strahlend und der Himmel leuchtete klar blau wie im Frühling. Fast schien es, als würde es auch bei uns wieder Frühling. Mueti sprach mit uns und wir assen im Sternen z‘Vieri. Schon wollte ich wieder einmal glücklich sein!  

Jetzt sitze ich da, ich sollte lernen, Geometrie, Algebra, Franz und Latein, aber ich tue nichts von allem. Ich schreibe und schlucke die Tränen hinunter. --- Sobald ich von Gusti zu sprechen anfing, bekam Mueti wieder einen „Anfall“. Ich kann es nicht anders nennen. Jetzt spricht sie wieder kein Wort mit Vati und mit mir. Darf ich deswegen verzweifeln? Wie leicht sagt sich das Wort: Kopf hoch! Und wie schwer ist es darnach zu handeln! Ich möchte so gerne glücklich sein!!!!

Tagebuch von Lilly, 22.2.1941 (139)

Heute bin ich glücklich. Ich habe ein Velo bekommen. Es ist kein Traum, es steht neben meinem Bett, und ich kann es greifen so oft ich will. Aber das ist noch nicht genug, ich werde Wölfliführerin! Büsu hat mich angemeldet, überhaupt ist er ein bäumiger Kamerad. Er kam heute Abend auch noch schnell das Velo anschauen. Ich bin ja so dankbar, dass ich ihn kennen gelernt habe. Er hat mich auch für nächsten Samstag an den Patriaabend eingeladen. Ich freue mich.

Aigle, 27.2.1941 10.08 (140) 

Mein liebes Mueti, 

Seit 14 Tagen mache ich nun dieses welsche Kaff unsicher, und flohne mir einen ab. Weisst du, mit dem Zimmer habe ich es dann schon wieder ganz gross getroffen. Herr und Frau Grimm machen mir das Leben zu einer wahren Freude. Behandelt werde ich wie ein eigener „Sohn“. In meinem eigentlichen Zimmer bin ich nur zum Schlafen, den Rest der Zeit verbringe ich bei Radio und guten Büchern auf der Couch bei der Cheminee-Ecke. Und einen mächtigen Freund habe ich in der Gestalt von klein Fredy gewonnen, dem 16 Monate alten herzigen Sohn der Familie. So einen Buben möchte ich auch einmal mein eigen nennen. Du siehst also, dass es mir auch in der ausgesprochenen welschen Schweiz nicht schlecht geht und ich immer wieder Leute finde, die es gut mit mir meinen.  

Das alles wäre recht und gut, ich könnte ja heute der glücklichste Mensch im ganzen Militärdienst sein, wenn nicht unser verdammt getrübtes Familienverhältnis und Dein mir so offenes Verachtungsgefühl meinem Mädeli gegenüber nicht wäre. Schau Mueti, ich habe mir schon vieles bieten lassen in dieser Hinsicht, was Du mir aber an bewusstem Sonntag an den Kopf geworfen hast, das brachte den Kübel zum Überlaufen. Als Du erklärtest, Du schämest Dich, meine Mutter zu sein und zeigest Dich nicht mehr mit mir auf der Strasse, da habe ich mir halt gesagt: Also nicht und begann ganz offensichtlich, mich nicht mehr um Dich zu kümmern. Mit anderen Worten, Du hast mich verachten wollen, und ich habe daraus ganz einfach die Konsequenzen gezogen. Im Grunde genommen, wusste ich genau, dass ich Dir damit immer noch weh tat, aber ich fragte mich auch, WER von uns beiden in diesem Streit mehr zu leiden hatte? Du weisst ganz genau, dass ich sicher immer zu Dir gestanden habe, sei es in Familienzwisten oder sonstigen Anlässen. Und nun ist noch eine neue, junge Frau in mein Leben getreten, die ich bereits ebenso lieb habe wie meine eigene Mutter …...aber sicher nicht in diesem Sinn. Schau Mueti, Du hast Angst, dass mich Elsbeth ganz von Dir wegnehme. Aber ich frage mich? Kann eine junge Frau denn die rein spezielle Liebe ihres Mannes zu seiner eigenen Mutter wegnehmen? Ich glaube kaum. Du musst doch den Unterschied besser erkennen zwischen diesen beiden Gefühlen zu zwei verschiedenen Frauen. Schau, ich habe Dir das zwar schon einmal gesagt, dass ich Dich als mein Mueti nie verlieren möchte, dazu habe ich Dich zu gern. Nur möchte ich eines erreichen, nämlich das, dass Du meinem Elsbeth gegenüber eine andere Gesinnung einnehmen möchtest. Sieh, es nützt doch nichts, die Zukunft kannst Du damit nicht mehr ändern! Und ist es in dem Moment nicht besser, man könne herzlich miteinander verkehren, als immer auf gegenseitigem „Qui vive“? zu leben? Mueti, kannst Du nicht versuchen, Deine Hassgefühle Elsbeth gegenüber zu unterdrücken? Ich bin überzeugt, dass wir es doch so schön haben können untereinander, auch im Sommer, wenn Vati wieder fort ist. Können wir nicht versuchen, wieder gut miteinander auszukommen, denn der gegenwärtige Kriegszustand in unserer Familie ist unhaltbar. Unsere ganze Familie leidet darunter, nicht nur Du selber, sondern auch Vati, Lilly und zuletzt auch ich. Auch an Elsbeth geht das alles nicht ganz spurlos vorüber --- und trotz allem hat es Dich auch gern. 

So, nun will ich mein Epistel schliessen in der Hoffnung, dass Du auch ein Einsehen hast mit Dir selber und Dir bewusst bist, dass wir zwei Jungen gerne helfen, den häuslichen Frieden wieder herzustellen und zu bewahren. 

Am nächsten Samstag komme ich nach Hause und hoffe, dass ich bis Dienstagmorgen auch mal in ruhigem Ton über alles mit Dir „brichten“ kann, was uns heute am meisten beschäftigt. 

Bis dahin verbleibe ich mit den herzlichsten Grüssen

Dein Gusti

Aigle, 4.3.1941 10.15 (141) 

Mein liebes Mueti, 

Und schon wäre ich wieder in meinem Arbeitsfeld angelangt, wo ich bereits mit dem kleinen Fredy fast eine Stunde spaziert bin. Der Kleine ist einfach reizend und lieb, gerade so einen Jungen, wie ich ihn mir einmal wünsche. Hier unten scheint wieder strahlende Sonne und herrscht eine angenehme Wärme. Jedenfalls erwies sich der Mantel als ein unnötiges Requisit. Ab Mittag habe ich wieder Dienst und ab morgen für 18 Stunden frei. Ich weiss noch nicht, was ich mit dieser Zeit anfange. 

Doch nun zu dem verbrachten Urlaub. Mueti, DER war wieder einmal richtig! Schon seit langer Zeit bin ich nicht mehr so glücklich aus einem Urlaub eingerückt. Schau, so ist es schön zu Hause. Wir haben es am Sonntag wieder gesehen, dass wir es schön haben können und wollen uns Mühe geben, diese Harmonie nicht wieder zu zerstören. Wir Jungen wissen auch, was wir der älteren Generation noch schuldig sind und werden uns dem gemäss benehmen. Sieh, es braucht doch gar nicht viel, um miteinander gut auszukommen. Ein bisschen gegenseitiges Verstehen und Ruhe können Wunder wirken. Als ich am Samstag heim kam, da hatte ich sofort das Gefühl, dass ich nun mit meinem Mueti wieder in Ruhe reden könne. Und jene Stunde, die wir vor dem Nachtessen miteinander verplaudert haben, hat uns sicher näher gebracht, als noch einige Wochen oder noch länger gegenseitiger Krach. Schau, als Du dann am Sonntag noch mit meinem Mädeli so lieb wie noch selten warst, da musste ich mir sagen, dass wir, glaube ich, über den bösesten Hoger hinweg sind. Noch gestern Abend hat mir Elsbeth gesagt, dass es Dich sicher gern haben könne und dass Ihr beiden Frauen Euch sicher noch nötig habt. Elsbeth wird nun in Zukunft gewiss mehr zu Dir kommen, nur war es eben schwer, das bewusste Türchen zum Schatzkämmerchen meines Muetis zu finden! Ich glaube aber, dass wir es heute gefunden haben. Du sagtest, dass Du von jetzt an nur noch in den Erinnerungen leben werdest. Blödsinn so etwas! Du hast mit uns noch Jahre vor Dir, die Dir sicher noch mehr bieten werden als Deine heutigen Erinnerungen. Lilly kommt jetzt auch in ein Alter, in dem sie eventuell noch vernünftiger wird (vielleicht auch das Gegenteil), und ich bin gottlob auch über meine „Torenbuben-Jahre“ hinaus. Ich weiss ganz genau, was ich heute zu tun habe und auch tun werde. Und von gegenseitigem Verlieren darfst Du auch nicht reden, denn das stimmt ein für alle Male nicht! Im Gegenteil, Du hast mich nicht verloren, sondern Elsbeth möchte selber auch noch einen kleinen Platz in Deinem Herzen finden, nicht allein nur in meinem. Und ich glaube nicht, dass Du ihm denselben verwehren wirst. Mir ist es, als müsstest Du es trotz allem fühlen, dass ich Dich immer noch gern habe. Meine Liebe zu Elsbeth hat an meiner Zuneigung und Verehrung zu Dir sicher nichts geändert. Und nun will ich stoppen, wollte eigentlich gar nicht so viel schreiben gleich am ersten Tag, aber nun ist es geschehen und reut mich nicht. Du sollst nur wissen, dass heute wieder ein glücklicher Junge Dienst tut -------trotz etlichen Kilometern Entfernung.

Für alles meinen herzlichsten Dank und tausend liebe Grüße

von Deinem grossen Bueb Gusti


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Lt.Staub Gust. Cer 10B Büro, 7.3.1941 14.08 (142) 

Mein liebes Mueti, 

Nun sollst Du wieder Deinen obligaten Samstagbrief erhalten. Viel Neues ist allerdings nicht zu berichten. Alles geht seinen gewohnten Gang. Arbeit ist bereits keine vorhanden, also schlafe ich mich des Morgens aus und heute Nachmittag habe ich nun Dienst. Habe mich also im Büro hinter mein Tischli geklemmt und die Schreibmaschine von Herrn Grimm in Behandlung genommen. Kenne den Apparat noch nicht ganz, bitte also eventuell vorkommende Fehler zu entschuldigen. 

Heute bläst bei uns ein Föhn, der alles mitnehmen will. Allerdings ist dazu stahlblauer Himmel, und es herrscht eine frühlingshafte Wärme. Man könnte es sich direkt im Freien wohl sein lassen. Aber eben, leider habe ich nun Dienst bis Sonntagabend. Morgen Abend ist im Hotel Viktoria grosser Ball, und man hat bereits angefragt, ob die Fliegeroffiziere auch erscheinen werden. Wir sind vom Chef der Ziviltelefonzentrale und einigen anderen Grössen der Stadt eingeladen. Leider werde ich der einzige sein, denn Oblt. Tondeur ist gestern für 14 Tage in den Urlaub gestartet und Oblt. De Valliere geht zu seiner Frau nach Lausanne. Da bin ich nun wieder alleiniger Herr und Meister und werde demgemäss über meine Zeit verfügen. Gestern Abend habe ich von 20.00 bis 22.40 h mit Frau Grimm in der Stube geplaudert und zusammen haben wir den Gesängen des BM (Berner Männerchor) gelauscht. Du denkst wohl, ich werde doch langsam häuslich gesinnt, was nicht mal ganz falsch ist. Oft habe ich gestern Abend an zwei ganz bestimmte zwei Frauen im Berner Stadttheater gedacht, und den Wunsch gehabt, auch dort zu sein. Aber da ist leider nichts zu machen. Muss halt mein Mädeli auch hie und da der Obhut meiner Mutter überlassen. Aber geschehe nichts Böseres. Ich kann es dann ja noch lange genug für mich allein haben. Schau Mueti, im Gegenteil, mich freut es, wenn Ihr zwei auch gut miteinander auskommt. In Deinem Brief von gestern schreibst Du, dass halt der Preis für mich ein grosser sei. Elsbeth wird ihn aber gern bezahlen. Sicher wird es Dich mit seiner Zuneigung um vieles entschädigen. Ich habe im Sinn, Elsbeth für nächsten Samstag zu mir einzuladen und werde einen diesbezüglichen Fragebrief nächster Woche an Frau Feuz starten. Ich möchte mein Mädeli gerne den „Aiglern“ zeigen, denn die finden mich immer fast zu seriös! Ich hoffe, Du werdest auch nicht böse werden deswegen. 

Du, ich habe anders gestaunt, als ich Violett Dupraz wieder zu Gesicht bekam! (Anmerkung von Lilly: Diese Person war mein Kindermädchen an der Aegertenstrasse. Sie hatte uns damals schnell und für mich unverständlich verlassen…) Das hat eine „Fluh“ gegeben! Immer zeigen sich aber noch Spuren vergangener Schönheit, aber nur im Gesicht. Lustig war‘s schon beim Nachtessen am Tisch, als ich mich nach besagter Dame erkundigte. Herr Grimm, an und für sich schon eine „Gemütsmoore“ begann sogleich zu grinsen und ebenfalls Madame schwang sich zu einem Lächeln auf. Grimm erklärte mir dann, dass dieses Meitschi vor Jahren das ganze Gebiet um Bex und Aigle verrückt gemacht habe und sozusagen alles „drüber“ sei, als das Tram nicht ----- Aber eben, die Zeiten ändern sich. Auch ich wurde gebührend bestaunt und meine Fliegeruniform bewundert. Violette machte die Bemerkung, dass man halt immer älter werde, man sehe es jetzt au petit Gusteli de Berne. Werde nun die Einladung, hie und da zum Essen zu erscheinen, nicht in den Wind schlagen und mich auch dort häuslich niederlassen. 

Und nun habe ich die Zeit im Büro satt, gehe jetzt in das Tea Room, um mir dort einen Kaffee zu genehmigen. 

Ich wünsche Euch allen recht guten Sonntag und verbleibe mit den

herzlichsten Grüssen

Dein Gusti

Tagebuch von Lilly, Dienstag, 17. März 1940 (143) 

Ich war mit Edi am Patriaabend, und es war schön. Er hat mich heimbegleitet. Das sind nun schon fast drei Wochen her und seiher kam er nie mehr zu uns. Nun habe ich doch fast Herzklopfen, wenn es läutet, immer umsonst. Ist jetzt das Liebe? Wenn es so ist, dann ist Liebe nichts Schönes. Wenn ich doch nur selbst aus mir klug würde!! In der Schule bin ich so schlecht wie noch nie. Nun bin ich nur noch eine Woche im Pro-Gymnasium. 

Ich werde am Palmsonntag konfirmiert. Ob mir Edi wohl schreibt? Es ist so seltsam, bei allem, was ich mache denke ich: Was würde Edi dazu sagen? Nächsten Samstag und Sonntag gehe ich noch einmal skifahren und zwar zu Agnes Kar nach Zweisimmen.


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Büro Service de Reparage et de Signalisation d‘Avions, 20.3.41 (144)

Mein liebes Mueti, 

Habe heute morgen das Waschsäckli erhalten. Weiss der Teufel, auch mir kommt der Aufenthalt in Bern viel zu kurz vor. Im Grunde genommen war ich ja gar nicht zu Hause. Auf der Fahrt hierher war es langweilig und kalt. Dafür herrscht jetzt wieder strahlendes Frühlingswetter und ich denke, dass Lilly und Elsbeth nächsten Sonntag ein herrliches Weekend erleben werden. Ich möchte tatsächlich auch mitkommen. Aber heute in vier Wochen bin ich ja auch wieder zu Hause, und ich freue mich darauf. Dienst ist ja recht und gut, aber man sollte zum mindesten auf einem Fliegerstützpunkt sein und nicht in einem Keller im Welschland. Aber überhaupt habe ich langsam restlos genug vom Uniformtragen und freue mich darauf, mein „Sternenkleid“ wenigstens für einige Zeit mit der Zivilschale zu tauschen. Und ich garantiere Dir, wir werden es zusammen schön haben! 

Bis Samstag bin ich nun wieder alleiniger Chef und habe demgemäss keine freie Zeit. Und nun sei herzlich gegrüsst und nimm ein festes Müntschi

von Deinem Gusti

Schweiz. Armee, Service de Reparage et Signalisation d‘Avions

Im Keller, 9.4.1941 20.45 145 

Habe um 20.00h den Dienst angetreten und mich jetzt vor der beissenden Kälte in die Wärme des Kellers verzogen. Arbeit ist keine vorhanden, Zeit für ins Bett ist es auch noch nicht. Also habe ich mich hinter den Bundesblock geklemmt und will versuchen, die Eindrücke und Erlebnisse der letzten Zeit niederzuschreiben. Also angefangen bei meiner Heimkehr in den Urlaub: Befund: Gut, wäre nicht das verd. Telefon gewesen. Ich muss sagen, dass Lillys Konfirmationsfest sehr nett war. Mueti hat sich eine riesige Mühe gegeben, mir meinen Urlaub so nett wie möglich zu gestalten. Am Sonntagabend haben Elsbeth und ich zueinander gesagt, dass Mueti wieder mächtig über seine Kräfte gehaushaltet hat. Trotz allem war es nett, nur in der Kirche habe ich mich ganz mächtig gelangweilt. Auf alle Fälle war es wieder für lange Zeit das letzte Mal, dass ich einem solchen Gebäude einen Besuch abgestattet habe. Meine Einstellung kennt Ihr ja. 

Am Montag kam ich dann ziemlich wütend hier an und musste sofort hören, dass der Herr Kommandant heute nicht komme. Ihr könnt euch meinen lieblichen Gemütszustand vor Augen führen und aus meinem Munde träufelte nicht eitel „Honig“ rein!! Habe dann um Mittag den Dienst übernommen und ihn bis 20.00h durchgeführt. Gestern Dienstag ist nun der Herr Hauptmann gekommen und hat seine Inspektion durchgeführt. Ich habe ihm dann beiläufig meinen Austritt aus diesem Verein in die Hand gedrückt. Heute hatte ich nun dienstfrei bis jetzt. Was machen? Der Tag war schön, die Sonne strahlte, wie einst im Mai, aber eine ekelhafte Bise pfiff um alle Ecken. Ich habe mir mein Stahlrösslein aus der Garage genommen und bin nach Bex pedalet. Bei Frau Büthberger musste ich mir einen Dreier Burgunder schenken lassen. Auch versprach ich, Euch herzlich grüssen zu lassen. Von da an gings fröhlich strampelnd weiter nach Monthey, in irgend einem Bistro habe ich mich nach Charly Deillon erkundigt und konnte erfahren, dass er in der „Produits Chimique“ arbeite. Also nichts wie los und dort mal den Portier vorgeknöpft. Besagter Herr war sehr freundlich (ob das wohl die Uniform ausmachte?) denn sonst sind die Werkzerberusse alles andere als zuvorkommend. Selbstverständlich könne man Monsieur Deillon rufen und schon stand einige Minuten später ein Mann in blauen Überkleidern, Dächlikappe und schwarzen Händen vor mir: Charly! Er hat mich sofort erkannt und war direkt gerührt, mich zu sehen. Auch Mr. Deillon Père kam, um mich zu begrüssen. Nun wird Charly nächsten Samstagabend rasch zu mir kommen. Ich verabschiedete mich in Monthey und radelte der Rhône entlang nach Hause. 

So, das wäre mein Tätigkeitsbericht. Ich hoffe, dass Mueti wieder zwäg ist, wünsche Euch noch recht schöne Festtage und verbleibe mit den herzlichsten Grüssen und dem Mueti einen Kuss

Euer Gusti

N.B. Charly lässt auch grüssen.

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Tagebuch von Lilly, Karfreitag, 11.4.1941 (146) 

Ich ging dann nicht skifahren und es ist gut so. Ich habe viel erlebt, da ist vor allem die „Konfirmation“. Ich kann nicht darüber schreiben, aber es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht (Zwischenbemerkung 6.6.2012: Andreas, mein Mann wurde gleichzeitig auch bei Pfr. Oettli konfirmiert).  

Die Geschenke will ich gar nicht aufzählen. Jetzt bin ich wunschlos glücklich. Von Elsbeth habe ich einen schönen, silbernen Armreif erhalten. Habe ich das alles verdient? Ich muss ehrlich sagen. Nein! Büsu hat mir Nelken geschenkt. 

Heute ist Karfreitag, und ich nahm zum ersten Mal am Abendmahl teil. Das Symbol ist ja sehr schön, aber ich bin vielleicht noch nicht reif dafür. Die Predigt von Herrn Pfr. Oetli war sehr gut. Es ist wahr, Karfreitag ist der einzige Festtag, den wir nicht „verunstalten“. Denn sonst sind meistens die Geschenke die Hauptsache und nicht mehr der Sinn.  

Nun sollte ich doch noch über den Schulabschluss schreiben. An der Schlussfeier spielte ich in der Aula Chopin und mit Hans Heinz Schneeberger und mit Dora Vivaldi einen Satz aus dem Mozart Violinkonzert Nr. 15. Am Freitagabend hatten wir den Klassenabend im Nählhölzli. Ich fürchte mich ein wenig vor dem Gymnasium. Schon jetzt denke ich an den lieben Proger und an die Lehrer, die ich gern hatte. Die Zeit geht vorwärts und viel Neues wartet auf mich. Immer höre ich im Kopf Schneebergers Geige mit der Melodie des Mozartkonzertes. Wir spielen nächste Woche wieder zusammen im Schweizerhof. Zur Konfirmation bekamen wir alle einen Spruch aus der Bibel, ich hätte mir gewünscht, denjenigen zu erhalten, den meine Eltern oft zusammen sangen, nämlich „Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens schenken.“ Mein Spruch lautet: „Es gibt keinen Grund ausser dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“.

*

Büro, 16.4.1941 14.30 (147) 

Mein liebes Mueti, 

Beiliegend alle meine schmutzige Wäsche. Zu senden brauchst Du mir nichts mehr Neues. Nur bitte bis Samstag die grünen Hemden bereit halten, damit ich mich zu bewusstem Galaabend sauber anziehen kann. Neues ist nichts zu berichten. Bin nur froh, dass ich diesen Dienst hier unten bald quittieren kann! 

Herzliche Grüße und auf Wiedersehen am nächsten Samstag 

Dein Gusti

Gasthaus „Kreuz“ 30.4.1941 19.20 (148) 

Mein liebes Mueti, 

Vor ein paar Stunden sind wir wieder glücklich bei strömendem Regen von Utzenstorf hierher geflogen und bachnass gelandet, vor Müdigkeit (Tagwacht 04.00h) kann ich kaum mehr die Augen offen halten und werde mich so rasch wie möglich ins Bett verziehen. Vorher aber sollst du noch Deinen Geburtstagsbrief erhalten. Lang wird er nicht werden, eben aus dem oben genannten Grund. Im übrigen hoffe ich, dass ich nächsten Sonntag daheim bin und wenn es auch bloss für 2 Tage Urlaub ist. Mein grosses Urlaubsgesuch ist immer noch unterwegs. Antwort habe ich bis dahin noch keine erhalten. Selbst Elsbeth muss heute auf einen Brief länger warten als sonst. Ich möchte schlafen, schlafen! 


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Zu Deinem Geburtstag kann ich Dir nur eines wünschen: recht baldige Besserung Deiner leider zu schwachen Nerven!! auch wünsche ich Dir, dass Du Deine mir gegenüber ausgesprochene Angst los wirst. Du weisst, dass Du dazu keinen Grund hast. Ich werde mir Mühe geben, Dir das Gegenteil zu beweisen und wir werden es in diesem Sinne schön haben. 

Mit lieben Grüssen und einem Müntschi

verbleibt Dein Gusti 

ANMERKUNG 11.6.2012

Das war der letzte Geburtstagsbrief an die Mutter. Im nächsten Jahr lebte Gusti nicht mehr.






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4 Tage Ferien! Territet; 14.-18.7.1941


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Dübendorf, 30.7.1941 12.35 (149) 

Mein liebes Mueti, 

Heute morgen erste Flüge auf „Morane“ …, das ist ein anderes Klima, als auf unserer alten Maschine! 

Möchte Dir nur das mitteilen, dass es mir prima geht. Immer ist es noch sehr heiß, aber das moralische und das körperliche Befinden ist ganz gross. Ich hoffe, dass Ihr das von Euch auch sagen könnt und verbleibe mit den herzlichsten Grüssen und einem lieben Kuss

Dein Gusti 

Thun, 5.12.1941 (150) 

Mein liebes Mueti, 

Viel Neues gibt es ja aus meinem Exil nicht zu berichten, aber trotzdem sollst Du aufs Wochenende Deinen kurzen Bericht erhalten. Also, dem eigentlichen Kern des Übels, dem Mund, ging es gar nicht schlecht und der Onkel Doktor ist sogar mächtig zufrieden mit dem Fortschritt der Besserung. Zur allgemeinen Kräftigung muss ich nun alle Mittag zum Essen einen Tropfen Roten inhalieren, was mich gar nicht ausgesprochen wild macht. Heute habe ich nun einige Zeit Ausgang und werde diesen gerade benützen, um einige Weihnachtseinkäufe zu unternehmen. Ich hoffe nun bestimmt, dass mich der Colonel Mitte nächster Woche springen lässt und ich meinen Schichtbetrieb wieder aufnehmen kann. So, ich will mich nun wieder einmal in meine bessere Uniform stürzen und mich in die Stadt wagen. Sollte irgend etwas Wichtiges sein, so werde ich anläuten. Bis auf weiteres also herzliche Grüße und schönen Sonntag. 

Euer Gusti


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Bemerkung von Lilly vom 11.6.2012 

Das war der letzte Brief meines Bruders.

Das letzte Lebenszeichen war am Abend des 16. Dezember 1941 ein Telefon, wo Gusti meldete, dass er am 17. heimkommen und gerne Leberplätzli zum z‘Nacht hätte.----

Am 17. am Vormittag ist er abgestürzt.



(18)

 

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T o d e s a n z e i g e 

Bern, Januar 1942

Tillierstrasse 3 

P.P. 

Am 17. Dezember vorigen Jahres wurde uns durch tragischen Flugunfall, unser einziger Sohn, Bruder und Neffe 

G u s t a v S t a u b

stud.tech. 

Als Militärpilot der Fl.-Kp. 12 entrissen.

Ein freudiger und opfermutiger Anhänger des Militär- und Flugwesens hat sein junges Leben dem so geliebten Vaterlande zum Opfer gebracht. 

Eine warme Welle herzlichster Anteilnahme hat uns Hinterbliebene sowohl in den ersten Tagen des Schreckens, wie der bangen Wochen des Wartens, umgeben. Wir danken Ihnen allen für dieses wohltuende Mittragen. 

Glücklich das Land inmitten des Weltenbrandes, das dem einzelnen Gefallenen noch solche Ehrungen erweisen darf, wie sie unserem lieben Verstorbenen anlässlich der militärischen und zivilen Abdankung vom 20. dies zuteil wurden. 

Wir verbeugen uns in Demut vor dem Schicksal.

M. und G. Staub-Siegrist

Lilly Staub

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(19) Ehrensalve-

Ehrensalve-



(20) Abdankung im Burgerspital Bern.

Abdankung im Burgerspital Bern.

 


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Tagebücher (1938 - 1944)
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3.  Tagebücher (1938 - 1944)

Tagebuch von Lilly Zimmerli 1938-1944

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Mög‘ Deiner Jugend Sonnenschein Dein Lebtag Dir beschieden sein!

Dies wünscht Dir zu Weihnachten 1938

Dein Bruder Gusti.



Grindelwald, 26. 12. 1938 

Nun bin ich also in Grindelwald. Bin gut gereist. In Interlaken bin ich zwar am falschen Ort ausgestiegen, aber den rechten Zug habe ich gleichwohl noch erwischt. Morgen soll ich also auch am Skiunterricht teilnehmen dürfen. Dabei werde ich mir schwer wichtig vorkommen. Ich freue mich natürlich ganz verrückt. Aber nun sollte ich eigentlich schlafen. Bis um 9 Uhr will ich aber noch lesen. - Es war wirklich ein guter Gedanke von Gusti, mir ein Tagebuch zu schenken. Ihm darf ich jetzt alles anvertrauen, was mich bedrückt oder beglückt.

*

Grindelwald, 27. 12. 1938 

Das war ein herrlicher Tag! Am Morgen um 09.00 Uhr begann der Skiunterricht. Wir haben schon tüchtig geübt fürs erste Examen. Um 10.00 Uhr sind Vreni und ich auf Entdeckungsreisen gegangen. Ein gemütliches Gefühl ist es schon nicht, auf einem gefrorenen Bach zu stehen und weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. Gegen Abend fuhren wir ins Dorf. Wir durften unsere Schlitten an ein Fuhrwerk anhängen und so ging es in schneller Fahrt nach unten. 
Ganz eigentümlich wird einem zu Mute so nahe den Bergen. Fast drohend steht jetzt das Wetterhorn hinter mir. Ich muss mich zuerst wieder daran gewöhnen. Ich habe ein wenig Heimweh. Gusti würde sagen, Du hast einen Ast. Das stimmt.

*
Grindelwald, 28. 12. 1938 

Heute hat es den ganzen Tag geschneit. Ich habe von zu Hause ein Paket erwartet, doch leider ist keines gekommen. Wir haben Neujahrskarten geschrieben. So gerne möchte ich Heinz auch schreiben, aber Mueti würde es wohl nicht erlauben. Also lass ich es bleiben. - Nun bin ich aber sehr müde und jetzt gibt es bald Lichterlöschen bei mir.

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Grindelwald, 29. 12. 1938 

Heute sind wir auf der kleinen Scheidegg gewesen. Grossartig! Habe von zu Hause einen Brief bekommen. Mueti schreibt, dass sie am Silvester nicht ins Kasino gehen wegen dem Kostenpunkt. Nun mache ich mir ein Gewissen, dass ich auf die Scheidegg gefahren bin. Aber ich kann es selber bezahlen. 6 Fr. Es langt gerade. Jetzt gehe ich ins Bett. - Müde 

*

Grindelwald, 30. 12. 1938 

Nun ist endlich ein Paket gekommen. Auch von Martina habe ich einen Brief erhalten. Mit Ruth Mühlemann komme ich jetzt ganz gut aus. Wir sind heute zusammen im Dorf gewesen. Da haben wir Berner Pfadfinder getroffen. Ich habe aber keinen gekannt. Es ist noch nicht 9 Uhr, aber schon alle Gäste stecken im Bett.

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Grindelwald, 1. Januar 1939

Sylvester – Neujahrs 
Jetzt ist es genau Mitternacht und ein paar Minuten. Ich sitze auf dem Bettrand und warte auf das versprochene Telephon. Der ganze Sylvester war eine öde Sache. Beim Kerzenschein haben wir Tee getrunken und uns ein gutes neues Jahr gewünscht. Frau Ruef hat herzzerbrechend geweint. Warum kann ich mir nicht vorstellen. Ob sie es wohl in Bern lustig haben? - Die meisten Gäste sind ins Dorf gegangen. Die Zeit rückt. Schon hat ja das neue Jahr begonnen. Was es mir und meiner Familie wohl alles bringen mag? Ach, es hat ja keinen Sinn darüber nachzudenken. Wie wahr ist doch das Wort: „Der Mensch denkt und Gott lenkt!“ Ich will mit frischem Mut das 1939 beginnen. Auch beten will ich wieder. Es hilf doch über manches hinweg. -

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Grindelwald, 1. Januar 1939

Ich bin heute nicht in die Skischule gegangen. Auch morgen habe ich es nicht im Sinn. Zuerst muss ich Bericht von zu Hause abwarten. Am Morgen habe ich sehr lange geschlafen. Bei uns im Heimetli ist jetzt Tischtennis Mode. Auch heute Abend haben wir gespielt. Jetzt haben wir uns noch dem stillen Suff ergeben. Frau Ruef hat 4 Flaschen Orangina gestiftet. Diese haben wir jetzt in der Küche zum Verschwinden gebracht. Nächsten Morgen werde ich das Ausschlafen geniessen! -

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Grindelwald, 2. Januar 1939 

Endlich ist mir der Chrigeler rechts gelungen. Bin nicht in der Skischule gewesen, aber dafür habe ich geübt. Vreni Ruef ist ein komisches Möbel. Sie will nämlich kein Fleisch mehr essen. Warum, weiss sie selber nicht. Heute Abend hatten wir es recht gemütlich. Herr Kägi (Lehrer) hat auf dem Klavier Lumpenlieder gespielt. Ich habe etwas vernommen. Das Dienstmädchen hier im Heimetli war nämlich früher einmal bei Schenks. Es kennt Heinz und die beiden andern also gut. Nun kann ich gut mit ihm über Heinz sprechen. Es merkt ja doch nichts! Zum Glück.

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Grindelwald, 3. Januar 1939 

Heute habe ich einen Brief von daheim erhalten. Mueti schreibt, dass sie mich schon morgen, Mittwoch, in Bern erwarten. Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Ich habe telefoniert und nun darf ich noch bis Samstag oder Sonntag bleiben.

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Grindelwald, 5. Januar 1939 

Gestern hatte ich keine Tinte im Füller. Vreni, Frau Ruef und Ruth haben das Examen für den schwarzen G gemacht. Ich habe Jacques Blanc getroffen. Sind zusammen ins Dorf gefahren. Heute hat Frau Ruef zur Feier des Tages uns alle eingeladen ins Wolter. Nachher sind wir per Pelzkutsche ins Heimetli gefahren. Alles hat Frau Ruef bezahlt. Nur weil sie das Examen bestanden hat. Mir hat sie einen blanken Fünfliber geschenkt. Herr und Frau Kägi sind heute abgereist.

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Grindelwald, 6. Januar 1939

Mueti hat mir ein Paket geschickt. Beiliegend fand ich einen Brief von Margrit Kägi aus Zürich. Erich lässt mich auch grüssen. Ob er mich wohl noch nicht vergessen hat? Mir liegt ja nichts mehr an ihm. - In diesen Ferien habe ich sehr schöne Lederarbeiten gemacht. Wir wollten morgen auf die grosse Scheidegg gehen. Nun ist es aber zu gefährlich (Lawinen).

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Grindelwald, 7. Januar 1939

Nun bin ich den letzten Tag in Grindelwald. Morgen geht es nach Hause. Ich freue mich auch wieder, nach Bern zu reisen. Vreni hat heute einen Brief bekommen von ihrem Freund. Ruth eine Karte. Nur ich bekomme nichts. Warum wohl nicht? Wenn ich ganz ehrlich sein soll, so habe ich von Heinz eine Karte erwartet, aber man kann sich eben täuschen! Deswegen lasse ich mir keine grauen Haare wachsen.

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Bern, 9. Januar 1939

Nun bin ich wieder in Bern. Gut heimgereist. Heute Abend habe ich etwas Schreckliches vernommen. Mueti hat mir erzählt, dass Ruth Tanner gestorben ist. Wie furchtbar das für Gusti und für uns alle ist, lässt sich gar nicht beschreiben. Armer Gusti! Immer hat er Unglück. Ich bin ganz aus dem Häuschen.

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Bern, 10. Januar 1939

Ich bin schon im Bett. Gusti ist mit Mueti im Theater in der Traviata. Gusti sieht schlecht aus. Man merkt es immer, wenn er an Ruth denkt. Morgen kommt Frau Bleuer heim aus Zürich. Ich kann das Ganze kaum fassen. Wie schnell doch Glück und Unglück wechseln. Wie schön war es an Weihnachten, als Gusti das Paket von Ruth bekam. Nun fragen wir wieder: „Warum“ musste das geschehen? Ich kann nicht mehr denken. Es ist zu traurig. Weinen muss ich.

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Donnerstag, 12. Januar 1939

Es ist schon 11 Uhr. Soeben bin ich aus dem Abonnementskonzert zurückgekehrt. Frau Kuhn hat mich eingeladen. - Gusti ist hässig mit mir. Seit seine „Ruth“ gestorben ist, habe ich ihn nie mehr fröhlich gesehen. Schwer lastet dieses Unglück auf uns allen. Ich möchte ihn so gerne trösten. Aber wie? - In der Schule geht wieder alles den alten Gang. Nun muss ich aber schlafen. Morgen gibts einen strengen Tag.

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Freitag, 13. Januar 1939

Heute hatten wir eine Franzprobe. Ich hoffe auf eine gute Note. Am Nachmittag haben wir den armen Otz wieder bös geärgert. Martin und ich mussten dann zur Strafe die Zimmerordnung übernehmen. Was schadets! Ich komme mir komisch vor, weil ich immer an Heinz denke. Wieso nur? Ich habe dieses Gefühl noch nie gekannt. Vielleicht werde ich es Mueti nächstens einmal sagen, wie es steht. Helfen kann es ja zwar auch nicht. Nun fange ich an zu stürmen. Es ist Zeit, dass ich schlafe.

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Sonntag, 15. Januar 1939

Gestern bin ich mit Daysi im Aschenbrödel gewesen. Am Abend sind Schmids zu Besuch gekommen. Roland ist noch ganz nett gewesen. Aber ein Schminggel ist er doch! Heute hatte ich Kinderlehre. Da ist mir ein komischer Gedanke gekommen beim Beten. Warum senken wir immer die Köpfe, wenn wir beten? Wir haben doch nichts getan, dass wir die Köpfe senken müssen! Also mein Grundsatz ist: „Kopf hoch!“ - Am Nachmittag hat uns Tante Gritli eingeladen auf die Ka We De. Roland Schmid war auch da. Der hat wieder zünftig aufgeschnitten. Jetzt haben wir im Stübli über die Welt gesprochen. Für mich ist es einfach ein grosses Rätsel. Es hat ja auch gar keinen Sinn darüber nachzudenken, sonst wird man ganz verrückt.

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Donnerstag, 19. Januar 1939

Nun habe ich schon lang nicht mehr eingeschrieben. Die Tage verlaufen ja wieder alle gleich. Heute Abend war noch Fräulein Herz auf Besuch bei uns. Gusti ist wieder etwas netter mit mir. Jetzt ist er ja nicht mehr lange zu Hause. Dann muss er wieder ins Militär. Wir wollen alle hoffen, dass ihm nichts zustösst beim Fliegen! Vor mir habe ich jetzt das Buch: Madame Curie. Es ist sehr interessant – Mueti hat mich heute Abend gerühmt. Es findet, dass ich mich im neuen Jahr gebessert habe. Das kann schon stimmen. Grössten Teils habe ich das Martina zu verdanken. Ja, eine treue Freundin ist viel wert.

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Samstag, 21. Januar 1939

Mueti hat wieder einmal einen Anfall. Ich weiss mir bald nicht mehr zu helfen. Soeben stöhnt sie wieder: Oh Gott! Ich soll mir ja nichts anmerken lassen. Gusti hat mich rührend getröstet. Auch er hatte ja in seiner Jungend das gleiche durchgemacht wie ich. Bis jetzt habe ich mich noch nicht abfinden können damit, Mueti sei nicht ganz normal. Aber ich glaube, ich komme noch dazu. Mueti behauptet momentan, sie schreibe Gusti nie mehr, er sei für sie erledigt. Immerzu trägt sie Ruths Bild umher. Wenn ich nur jemanden hätte, der mir helfen könnte. Nun lese ich wieder bis in alle Nacht hinein, nur um das Schreckliche eine Weile zu vergessen.

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Sonntag, 22. Januar 1939

War das wieder ein Sonntag! Mueti ist noch gleich wie gestern. Mit Gusti spricht sie überhaupt nicht mehr. Mueti nennt Gusti einen Lump (weil mein Bruder schon wieder eine neue Geliebte hatte) und das tut mir weh, tief hinein, denn ich liebe Gusti! Er ist ja selber nicht zufrieden mit sich. Also sollte man ihm helfen. Ich möchte am liebsten mit ihm gehen, ihn beschützen! Das klingt lächerlich, ein kleines Mädchen einem Mann helfen, aber es muss mir gelingen! In meinem Herzen ist alles in Aufruhr. Da heisst es, Kopf oben behalten und sich nicht unterkriegen lassen. 



Donnerstag, 26. Januar 1939

Nun geht wieder alles im Alten. Mueti hat sich wieder gebessert. Gestern war Frau Bleuer mit dem Kleinen hier. Herziges Mädchen! Mit Martin bin ich gestern dem Waldrand entlang spaziert und habe die ersten Weidenkätzchen gefunden. Heute sind wir mit der Schule auf der Ka – We – De gewesen. - Gusti hat gepackt heute. Nun dauert es ja nicht mehr lange bis er wieder nach Dübendorf geht. - Schade! -

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Samstag, 28. Januar 1939

Morgen fährt Gusti nach Dübendorf. Nun bin ich dann wieder allein mit Vati und Mueti. Heute Abend hatte ich einen Ast, der wird aber mit Klavierspielen vertrieben. Die „Consolations von Listz haben mir geholfen. Ich will ja nicht traurig sein, denn Gusti geht zu seinen lieben Maschinen und ist glücklich. Wie schön wäre es jetzt, wenn Ruth ihn in Zürich abholen würde! -

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Sonntag, 29. Januar 1939

Nun ist Gusti fort! - Ich bin mit ihm am Morgen auf den Bahnhof gegangen. Beim Abschied hat mir Gusti einen Kuss auf die Lippen gedrückt! - Diesen Kuss werde ich nie vergessen! Nun weiss ich, dass ich einen Bruder habe, der mich liebt. Eigentlich sollte ich jetzt glücklich sein, aber ich habe schon Heimweh nach Gusti. Ich schlafe jetzt in seinem Zimmer. - Wir sind am Nachmittag bis nach Bümpliz spaziert. Und morgen geht das 6 Tagerennen wieder los. Mir ist ganz traurig zu Mute. Aber es wird wieder gehen. (Wechsel der Gefühle, sehr schnell!)

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Dienstag, 31. Januar 1939

Das war ein bäumiger Tag. Der ganze Proger und Gimer hatte Sporttag. Wir fuhren bis Signau und mussten dann eine gute Stunde hinauf watscheln. Leider keine Sonne, sonst wären wir schön braun gebrannt zurückgekehrt. Unser Gimeler war noch ganz nett. Jetzt habe ich noch Gusti einen Brief geschrieben. Nun lese ich noch ein wenig und dann will sich schlafen! -

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Mittwoch, 1. Februar 1939 (Aerger mit Schulkameraden)

Heute Morgen habe ich in der Schule den Pestalozzikalender herumgegeben und alle haben ihre Namen eingeschrieben. Alle, nur Leuenberger nicht. Ja sogar die Namen Grütter und Kohler hat er ausradiert. Prügeln könnte ich ihn! Am Nachmittag bin ich zu Martin gegangen. Ich habe das Buch "Allzeit bereit" zum Lesen mit nach Hause genommen. Schon jetzt habe ich Heimweh nach Gusti. Er hat heute einen Brief geschrieben.

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Donnerstag, 2. Februar 1939

Das Aufsatzthema von heute hiess „Morgenstund hat Gold im Mund“. Da bin ich wohl schön abgeschifft. Bis jetzt habe ich Franzaufgaben gemacht. Ich habe richtig Angst für morgen. Aber es wird schon gehen. Es muss! Hübsche Cottillons für meinen Geburtstag habe ich auch schon angefertigt. Fräulein Herz ist noch bei Mueti auf Besuch.

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Freitag, 3. Februar 1939

Ich bin allein zu Hause. Mueti und Vati sind im Theater. Alfa war noch schnell hier. Das war ein ganz verrückter Tag. In der Schule hatten wir nicht weniger als 3 Proben. Franz, Deutsch und Rechnen. Im Deutsch habe ich einen 3-er, Rechnen 6 und Franz weiss ich noch nicht. Agnes hat mich gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Ich habe ihr gesagt, dass mich ein herzförmiger Photorahmen freuen würde. - Jetzt habe ich noch ein wenig in den Büchern herumgestöbert. Aber nichts Rechtes gefunden. Seit einiger Zeit bin ich wieder sehr hässig. Ich weiss es ja ganz genau. Es wird wieder besser werden. Das Heimweh nach Gusti macht mich ganz verrückt! Nicht einmal schreiben tut er. Auch Heinz macht mir viel zu schaffen. Momentan ist mein armes Herz stark in Anspruch genommmen. (Pathetische Phase!)

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Sonntag, 5. Februar 1939

Heute war ich mit Mueti im Theater. „Mademoiselle nitouche“. Das Stück ist ganz gross. Ich habe Tränen gelacht. Die Eri Lechner spielt einfach fabelhaft. Heute Abend habe ich Margrit Kägi einen Brief geschrieben. Zum ersten Mal habe ich keinen Gruß an Erich beigefügt. Was ist schuld daran? Heinz! Gestern war ich bei Agnes eingeladen. Es war ja ganz nett, aber ich hoffe, dass es bei mir noch schöner wird nächsten Mittwoch. Schon hat es 10 Uhr geschlagen. Also guet Nacht.

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Dienstag, 7. Februar 1939

Morgen habe ich Geburtstag und zwar werde ich schon 14 Jahre alt. Heute ist mir etwas Dummes passiert. Auf ein Blatt Papier habe ich gedankenlos Heinz Schenk hingekritzelt. Vorhin hat Mueti dieses Blatt in die Finger genommen, und ich denke, sie wird es gelesen haben. Mit der Zeit wird sie es ja wohl etwa erfahren. - Ernst Blaser ist noch hier. Klecks war zum Nachtessen bei uns. Nun mache ich noch ein paar Schnellrechnungen und dann will ich schlafen.

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Mittwoch, 8. Februar 1939

Das war ein ganz bäumiger Geburtstag. Besonders reich wurde ich diesmal mit Herzen beschenkt. Ein Photorahmen (herzförmig), ein Portemonnaie, um am Arm zu tragen und einen Amor aus Keramik, der ein Herz in seinen Händen trägt. Alle Herzen fliegen mir zu. Nur eines nicht! - Schon wollte ich verzweifeln, weil Gusti nicht geschrieben hat. Da läutete um 5 Uhr die Post und zu meiner grossen Überraschung kamen Fotografien zum Vorschein. Auch ich durfte mir eine aneignen. Daysi ist dann glücklich abgeschifft an der Prüfung in die Handelsschule. Pech! Wir haben nur noch morgen Schule und dann 3 Tage frei. Die Grippe greift so stark um sich, dass die Schulen geschlossen werden.

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Donnerstag, 9. Februar 1939

Heinz – ! Warum bist Du so unnahbar? Lass mich doch wissen, ob Du auch so denkst wie ich. Du machst mich ganz verrückt. Ich denke an Dich, wo ich stehe und gehe. In der Schule sehe ich Dich jeden Tag; jede Pause gehe ich bei der 3 D vorbei, nur um Dich einen Augenblick sehen zu können! Ich träumte schon 2 Nächte von Dir. Heute Abend habe ich den einzigen Brief, den ich von Erich besass zerrissen. Nur wegen Dir. Soll ich es meiner Mutter eingestehen? Vielleicht. Ich will beten für Gusti und für Dich. Ich will Gott bitten, dass er mich von Dir träumen lässt. Guet Nacht.

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Freitag, 10. Februar 1939

Wir haben also Grippeferien. Ich bin heute morgen mit Martin auf der Ka-We-De gewesen. Hansruedi Schenk war auch dort. Heinz nicht! - Ich muss wieder vernünftig werden. An ihn denken darf ich ja wohl, aber ganz den Kopf verlieren, das geht nicht. Dazu bin ich denn doch zu gescheit. Vielleicht ist es gut, dass ich jemanden so verehre, sonst würde ich mich in jeden 2. verlieben. Eines aber steht fest: die Lilly ist tapfer und lässt sich nicht verwirren. Habe noch den Hockeymatch gehört. Schweiz – Kanada. Die Schweiz hat 7:0 verloren. Pech.

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Sonntag, 12. Februar 1939

Gusti ist gestern heimgekommen, aber heute schon wieder abgereist. Beim Abschied blieb es diesmal bei einem „Servus“ (keinen Kuss). Macht auch nichts. Ob wohl jede Schwester ihren Bruder so liebt wie ich?! Schon heute Abend habe ich ihm einen Brief geschrieben.

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Dienstag, 14. Februar 1939

Heute habe ich einen Brief von Gusti erhalten. Ich glaube, das ist überhaupt das erste Mal, dass mir Gusti schrieb! Natürlich bin ich überglücklich. Auch Fritz hat mir geschrieben. Das ist nett, von 2 Fliegeroffizieren Korrespondenz zu erhalten. - Bin um 16.00 Uhr mit Mueti in die Stoffhalle gegangen, um Stoff für eine Bluse zu kaufen. Da hat Mueti wieder einmal bewiesen, wie „lieblich“ sie sein kann. Vor allen Leuten nannte sie mich einen Totsch. In solchen Momenten könnte ich sie hassen und ich tue es auch. Aber ich sollte es nicht mehr so tragisch nehmen. Man gewöhnt sich an alles! - Übrigens, Heinz habe ich heute nicht gesehen. Ob er wohl krank ist? Hoffentlich nicht.

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Mittwoch, 15. Februar 1939

Am Morgen gab es heute eine Deutschprobe mit Note 4-5. Martina hatte einen 5-6er. Sie ist ja meine Freundin, aber ganz ehrlich gönnen mag ich es ihr nicht. Yvonne Grotzer mischt sich in unser Verhältnis sehr unheilsam ein. Heute Nachmittag hat sie Martina zu sich eingeladen. An unserem Mittwoch! Yvonne ist dann zu Martina gegangen. Ich nicht! Ich weiss nicht, ob es ein Fehler ist von mir, aber ich sehe in Yvonne einen Eindringling. - Dafür bin ich mit Mueti bei Frau Bleuer gewesen. Die kleine Mädi ist ein herziges Geschöpf. Ich konnte mich fast nicht mehr trennen von ihr. - Und am Abend habe ich wieder einmal Chopin gespielt. Dieser Musiker macht mich ganz verrückt. Den ganzen Tag höre ich seine Mazurken im Kopf. - Heute Heinz wieder nicht gesehen. Wenn ich den Mut dazu hätte, würde ich einen aus der 3D nach ihm fragen.

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Samstag, 18. Februar 1939

In der Schule heisst es jetzt tüchtig schuften. Gestern hatten wir eine unvorhergesehene Geschichtsprobe. Auch eine Gogerepüetz hat nicht gefehlt. Allerdings darauf habe ich gelernt und habe mir glücklich eine 5-6 herausgeholt. Am Nachmittag habe ich dann in der Schule gefehlt, es war mir saumies. Auch heute morgen bin ich im Bett geblieben. Jetzt fühle ich mich zwar wieder vögeliwohl. Ich habe Gusti einen Brief geschrieben. Mueti meint, ich sei ärger als wenn ich in Gusti verliebt wäre. Ja, ein Mädel in meinem Alter muss sich doch verlieben und wenn es in den eigenen Bruder ist. (Übrigens Heinz habe ich gestern gesehen.) Alfa ist bei uns. Mueti hat ihm Karten gelegt. Es ist ja nur Jux, aber lustig ist es doch. Bei Alfa spielt ein Mädchen eine grosse Rolle, das wird natürlich Leni sein. Er ist nämlich ganz hin von diesem Serviermädel. Wie kann man nur!

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Donnerstag, 23. Februar 1939

½ 9 Uhr und ich bin schon im Bett. Ich habe nämlich wahnsinnige Zahnschmerzen. Ich werde wohl doch zum Zahnarzt gehen müssen. Pech! Heute morgen hat Bundespräsident Philipp Etter eine Ansprache an die Schweizerjugend gehalten. Das Schönste daran war, dass ich nur etwa zwei Reihen hinter Heinz sass. - Von Frau Arnholz habe ich so nebenbei einen schönen Taftrock bekommen.

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Freitag, 24. Februar 1939

Ich bin allein zu Hause. Bis jetzt habe ich gestrickt. - Seit einigen Tagen kamen in den Pausen immer Steinchen herunter und es machte den Anschein, wie wenn die mir gelten würden. Heute wollte ich einmal wissen, von wem die stammen und schaute hinauf. Direkt in Heinzens lachendes Gesicht. Na also! - Da gab es einmal Gelegenheit, einige Worte zu wechseln. Wenn es auch nur eine Neckerei war, mich hat es gefreut. Leider bin ich momentan in der Schule nicht gerade prima. Ich habe jetzt schon 2x auch im Rechnen versagt. Das muss wieder anders kommen! Noch etwas ist heute passiert, was mir Eindruck gemacht hat. Marc Hohler hat mir nach der Rechnungsstunde vorgehalten, ich schinde schwer Punkte bei Herrn Steiger. Nur weil ich geheult habe. Aber er hat ja eigentlich recht, ich will das nun nicht mehr tun!!! Und morgen kommt Gusti heim. Da muss man ja wieder fröhlich werden. Ich freue mich wahnsinnig auf morgen, trotzdem ich zum Zahnarzt muss.

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Sonntag, 26. Februar 1939

Gusti ist wieder fort. Ach wie kurz sind doch seine Aufenthalte in Bern. Und die gelten ja nicht mehr uns! Für Gusti bedeutet Hanny Ehrbar jetzt alles. Wie ich dieses Mädchen hasse!!!! Mein geliebter Bruder hat es heute Mueti gesagt, dass er Hanny heiraten werde. !!Pfui!! So kurz nach Ruths Tod kann er schon mit einer anderen wieder karisieren. Das kann ich ihm nicht verzeihen. Ich möchte ihm noch heute einen Brief schreiben, aber es geht nicht. Ich muss zuerst ruhiger werden. So, und nun Schluss mit dem! – Mir kann es ja gleich sein, was er tut!! Ich bin glücklich, gestern hatten wir die Aufsätze zurück erhalten. Ich hatte einen Aufsatz über mich selbst geschrieben und dafür einen 6-er bekommen. Sogar vorlesen musste ich ihn. Nun haben wir 2 Tage frei, wegen den Aufnahmeexamen. Eigentlich schade, dann sehe ich Heinz sehr lange nicht. Aber um so netter ist es dann am Mittwoch! Werden wohl wieder Steinchen mich grüssen? Denn dass es ein Gruß war, das weiss ich sicher.

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Montag, 27. Februar 1939

Ich bin heute Abend so vergnügt. Warum weiss ich zwar nicht, vielleicht weil ich mit Martin einen langen Spaziergang gemacht habe. Wie ich doch diese Ausflüge mit Martin liebe. Wir sind wieder einmal an den Sandrain gegangen. Da hat alles gewaltig geändert. Kein einziges Plätzchen fand ich mehr wie es früher war. Ach, wie herrlich war es doch, als wir Kinder das ganze Wäldchen zu unseren Spielen benutzen konnten. Ja, diese Zeiten sind vorbei.

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Donnerstag, 2. März 1939

Unsere Prüfungsferien sind also zu Ende. Martin‘s Bruder ist nicht durchgeflogen beim Examen im Gymnasium. Die Geburtstagsfeier bei Martin war sehr nett. Wir Mädchen von der 3a gründen jetzt einen Club. Jedes trägt ein kleines rotes Herz mit einem silbernen Schlüsselchen, ungefähr so: 


(1)

 

Heinz habe ich heute nicht gesehen. Macht auch nichts, dann halt morgen.

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Samstag, 4. März 1939

Soeben habe ich mit Schrecken bemerkt, dass mein Tagebuch nicht verschlossen war. Ob wohl Mueti das ausgenutzt hat? - Heute haben wir die Deutschprobe zurückbekommen. Ich habe eine 2-3. Leuenberger hat einen 5-er. Da meinte er noch ganz gemütlich: Ich hätte eigentlich ganz gut eine 6 machen können. Ja, das glaube ich auch, wenn er noch mehr gespickt hätte. Ich habe ihm alle Schande gesagt, und ich glaube, es hat ihm noch ziemlich Eindruck gemacht. Ich hasse ihn ja aus ganzem Herzen, aber heute hat er mich doch gedauert. Herr Steiger hat mit ihm sehr gescholten. Man denke mit Leuenberger!
Mueti und ich sind noch schnell zu Frau Mischler gegangen. Da meinte diese zu Mueti: „Lilly ist gewiss brav. Sonst Mädchen in ihrem Alter stürmen doch immer nur von Buben.“ Ich habe mich regelrecht geschämt!! Ich verdiene doch dieses Lob gar nicht. Gegen Mueti komme ich mir so unehrlich vor. Jetzt muss es dann einmal gesagt sein wegen Heinz. Besonders weil es mit mir ja jeden Tag schlimmer wird. Ich kann die Pausen in der Schule kaum erwarten, nur weil ich ihn dann sehe. Auch weil ich jetzt weiss, dass auch ich ihm nicht gleichgültig bin
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Montag, 6. März 1939

Frau Dr. Jost ist hier. Jetzt sind sie zwar alle ins Corso gegangen. Ich habe bis jetzt Aufgaben gemacht. „Wir“ haben es nämlich sau streng in der Schule. Und gleichwohl freue ich mich auf jeden neuen Schultag. Es ist nur schade, dass Heinz nicht in die Lateinabteilung kommt. Aber vielleicht ist es gut so. Herr Gott, wenn ich es doch nur sagen könnte zu Hause! Gusti hat es ja auch immer Mueti anvertraut. Ich kann einfach nicht. Es ist halt auch schön ein Geheimnis zu haben. Aber ich weiss ja, dass man das vor den Eltern nicht haben darf!

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Mittwoch, 8. März 1939

So, der Tag wäre glücklich vorbei! Ich habe heute meinen Vortrag über unsere schweizerischen Landeskarten gehalten. Note 6. Momentan heult draussen der Wind und die Badezimmertüre klappert unaufhörlich. Diesen Wind höre ich verrückt gern. Aber noch lieber bin ich draussen, wenn es so stürmt. Regnet es noch dazu, dann peitscht der Wind einem die Regentropfen ins Gesicht und das finde ich herrlich!
Ernst Blaser war bis jetzt 10 ½ Uhr bei uns. Wir haben gejasst und ich habe 10 Rp. gewonnen. 
Heute Nachmittag habe ich die Gedenkfeier für die 4 verunglückten Militaristen im Radio gehört. Wieder hat der Tod vier junge Menschen dahingerafft. Drei Leutnants und einen Wachtmeister sind in eine Lawine gekommen. Es ist ja wirklich furchtbar, wenn man sich denkt: „Ein Donnern, eine weisse Masse und dann nichts mehr.“ – Tod – Ich mag gar nicht mehr daran denken. Mueti war natürlich wieder einmal untröstlich. Aber was nützt das? Wir müssen voraus schauen!! Jetzt höre ich noch dem Winde zu, bis mich sein Heulen in den Schlaf „gesungen“ hat!

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Donnerstag, 9. März 1939

Heute hat es wieder geschneit. Sauglatt so Mitte März! Am Morgen gab es eine Deutschpüetz. Ich weiss die Note noch nicht, aber ich habe auf alle Fälle wieder einen schönen Bruch zusammen geschrieben. Am Nachmittag hatte unsere Klasse Luftschutzübungen im alten Waisenhaus. Etwas mühsam ist es schon so mit diesen Gasmasken die Treppen hinaufzusteigen. Hoffentlich müssen wir die Masken nie gebrauchen!!

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Samstag, 11. März 1939

Gusti ist ganz unverhofft nach Hause gekommen. Gribi und Gusti haben mich per Auto nach Muri zum Zahnarzt geführt. In der Klavierstunde hat mich Herr Girsberger gelobt. Das geschieht nämlich sehr selten. Und noch etwas: er hat mich gefragt, ob ich noch nie daran gedacht habe, mich für Musik ausbilden zu lassen. Ich habe ihm dann meine Wünsche klargelegt, dass ich Medizin studieren möchte. Das hat er mir gründlich abgeraten. Aber ich weiss wirklich bald nicht mehr, zu welchem von beiden ich mich entschliessen will. Besonders weil ich jetzt in der Schule im Deutsch 2x hintereinander in den Aufsätzen einen 6-er hatte. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Wir werden ja sehen, was aus mir noch wird.

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Montag, 13. März 1939

Der Montag wäre vorbei! Angefangen hat er noch ganz gut. Ich durfte mein Sonntagskleid zum ersten Male in die Schule anziehen und ich habe Heinz in der Pause gesehen. Über den Mittag änderte sich die gute Lage. Vor dem Weggehen habe ich wieder einmal mit Mueti einen tüchtigen Krach gehabt. Das Ende des Liedes war: ich wurde um 4 Uhr nicht abgeholt von der Schule. Und nun die Turnstunde. Ja, da hatte ich heute entschieden Pech. Erstens hatte Frl. Küenzi eine sau- schlechte Laune und ich zum Gegensatz die beste seit langer Zeit. Das musste ja krumm heraus kommen. Zuerst hat sie mich etwa dreimal gewarnt und dann hat sie mir noch eine Strafpredigt gehalten wegen dem Schwatzen. Da ist mir etwas Dummes passiert. Ich musste nämlich lachen! Das machte sie natürlich noch wütender, und ich habe eine Strafaufgabe bekommen. Das Thema heisst: „Das Turnen und seine Werte“. Zu Hause habe ich es natürlich noch nicht gesagt. Ja nun, geschehe nichts Böseres. Eine schlechte Betragungsnote werde ich jetzt sowieso bekommen. Nun Schluss mit diesem Kapitel.
Gestern sind wir im Kursaal gewesen. Gusti hat mir 25 Rp-Stückchen bezahlt. - Am Morgen habe ich halb im Spass gesagt: „Für nächsten Sonntag sollte ich ein Paar Hauchstrümpfe haben.“ Da drückte mir Gusti einen Fünfliber in die Hand. Das ist doch fabelhaft. Ich freue mich ganz verrückt auf Samstag.

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Dienstag, 14. März 1939

Heute hatten wir in der Pause eine bäumige Schneeballschlacht. Ich habe mir alle Mühe gegeben, Heinz zu treffen. Kohler hat mich gerühmt, ich habe mich sehr gut verteidigt, hat er gesagt. Na ja, es stimmt ja auch.


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Mittwoch, 15. März 1939

Auch heute hat es geschneit. Am Nachmittag bin ich bei Martina gewesen. Esther Stein hat mir erzählt, dass Guggisberg aus der 3D sehr in mich verschossen sei. Da kann ich nicht helfen. Für mich ist Heinz noch jetzt der Liebste. Herr Vacanit hat bis jetzt mit mir geübt für nächsten Samstag.

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Donnerstag, 16. März 1939

Hurra! Nun ist‘s gesagt!!! Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Also, Herr und Frau Schläfli sind bei uns auf Besuch. Vorhin sassen wir gemütlich am Tisch. Ich erzählte etwas viel von Kohler, deshalb meinte Herr Schläfli scherzhaft: „Aha Lilly, Kohler ist wohl ein kleinerer Schwarm von Dir?“ Ich verneinte und wurde dummerweise rot. Da sprach Mueti: „Ich weiss, wer dein Schwarm ist. Der kleine Schenk?“ Natürlich wusste ich, dass sie den falschen meinte. Und da hab ichs halt gesagt, dass ich nicht Hansruedi, sondern Heinz liebe!! Mueti hat nicht mehr viel gesagt. Aber die Hauptsache ist, dass sie es nun weiss. Das macht mich ganz verrückt froh!!!

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Sonntag, 19. März 1939

Himmel, wie war das schön!! Der Ball hat also im Bellevue stattgefunden. Gusti hat mit mir getanzt. Das ist das erste Mal, dass ich mit meinem Bruder tanzen konnte. Nun muss ich noch etwas erzählen. Also: Mueti und ich sitzen auf unseren Plätzen; ich sehe, wie ein junger Herr auf uns zukommt. Da plötzlich verbeugt er sich vor mir und spricht: „Darf ich bitten?“ Oh, natürlich durfte er bitten! Das ist das erste Mal, dass mich jemand zum Tanzen engagierte. Und er hiess Heinz. Als ich das vernahm, da wurde es mir ganz warm. Ich musste an einen andern Heinz denken. Also sein ganzer Name ist Heinz Pappé. Er ist ja auch ganz nett, aber wie mein Heinz ist er nicht. Er hat übrigens noch mehr mit mir getanzt. Was man eigentlich für Blödsinn spricht beim Tanzen. Zum Beispiel:

Er: Ich kenne ihren Bruder Fräulein.
Sie: So.
Er: Ich muss Ihnen gratulieren, sie haben fabelhaft gespielt.
Sie: So finden Sie? Aber bitte sag doch nicht immer Sie zu mir. Ich heisse Lilly.
Er: Ach gerne, also Lilly.
Sie: Ja nächsten Winter werde ich dann in die Tanzstunde gehen.
Er: Ja, ich habe gedacht, Du seist mindestens schon fünf Mal gewesen, so gut tanzest Du. --- usw. Solchen Blödsinn haben wir geschwatzt, aber himmlisch war es doch!!! Und übrigens habe ich wirklich einen grossen Erfolg gehabt mit meinem Klavierspiel. Soviele Blumen habe ich bis jetzt noch nie bekommen. 

Roland Schmied hat nie mit mir getanzt. Macht auch nichts. Dieser Abend war einfach gross!!!!!!

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Montagmittag, 20. März 1939, 13.00 Uhr

Ich bin wieder einmal ganz verrückt. Wie schnell Freud und Leid wechseln, das habe ich heute wiederum neu erfahren! Ich habe wieder einmal regelrecht Krach gehabt mit meinen Alten. Wenn ein Zorn in mir aufsteigt, dann kann ich mich nicht beherrschen. - Komme ich mit einer guten Laune heim, begegnet man mir mit finsterer Miene. Vater steht in der Küche, es riecht nach angebranntem Mittagessen und Mutter liegt auf dem Ruhebett. Es ist ihr wieder einmal nicht gut. Sind das Zustände für eine gute Laune? Da werde ich halt wütend und verweigere das Essen. Das Ende vom Lied: ich werde zum Zimmer hinausgejagt. - Und nun gehe ich skifahren. Sollen die zu Hause meinetwegen machen, was sie wollen. Ich habe genug. Ach, wenn nur Gusti da wäre!!! Ich kann ja wohl Martina alles erzählen, aber verstehen tut sie mich gleichwohl nicht. Unsere Familie ist einfach aussen fix und innen nix. Gegen aussen scheint sie wunderbar, aber wie sie richtig aussieht, das wissen nur wir. Ich bin jetzt wieder ruhiger. Wenn ich so aufgebracht bin, dann gibt es nur ein Mittel, an Heinz und an Gusti zu denken!
Es ist nur gut, sind nicht alle Familien so wie die unsrige.

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Freitag, 24. März 1939

Soeben gebadet. Ich bin allein zu Hause. Heute hatten wir unsere Schlussfeier in der französischen Kirche. Es ging alles sehr gut. Heinz stand ganz nah bei mir. Aber ich weiss selber nicht, ich habe plötzlich Angst, dass Heinz eifersüchtig ist. Er sieht halt, dass ich viele andere Knaben kenne. Aber ob er denn nichts merkt, wenn ich ihn anschaue? Dummer Heinz! Heute habe ich zum ersten Male seine wasserblauen schönen Augen entdeckt. Wie er mich anschaute! So klar und fragend.
Sylvia, Martina und ich haben eine Geheimschrift erfunden. Sie sieht so aus:


(2) Geheimschrift von Sylvia, Martina und mir.

Geheimschrift von Sylvia, Martina und mir.

   
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Sonntag, 26. März 1939

Nun wäre der dritte Proger zu Ende. Am Samstag haben wir Abschied von unseren alten Lehrern gefeiert. Mein Zeugnis ist sehr gut. Ich glaube fast ein wenig zu gut. Gusti ist unerwartet heimgekommen. Er hat 8 Tage Ferien. Die Ferien sind ja recht schön, aber 3 Wochen Heinz nicht sehen, das ist Pech. Sylvia Oertlin kommt also nicht ins Latein. Sie geht jetzt in die 3D zu Heinz. Ich bin schwer gespannt, wie das herauskommt. Eigentlich möchte ich gerne Englisch nehmen, nur weil ich dann in die gleiche Klasse wie Heinz käme. Aber es ist doch alles eine dumme Schwärmerei von mir und später würde es mich reuen, nicht Latein genommen zu haben.

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Mittwoch, 19. März 1939

Gestern bin ich mit Vati im Theater gewesen (Loge 6) und zwar in „Talleyrand und Napeoleon“. Es war ganz gross. Der Sohn von Herrn Moesch war auch da. Warum wurde ich denn rot, als ich ihn ansah? Ich komme gar nicht mehr aus mir selber. Jedesmal wenn ich einen hübschen Knaben sehe, so möchte ich dem gefallen, Dann muss ich mir ganz fest vornehmen, an Heinz zu denken. Das hilft. Heute bin ich mit Sylvia und Martina weit spazieren gegangen. Wir haben schon Veilchen gefunden.

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Freitag, 31. März 1939

Gestern sind wir ebenfalls spazieren gegangen. Als ich nach Hause kam, erzählte Gusti, dass ihm ein Hund nachgelaufen sei. Das gute Tier wartete unten am Gartentor getreulich. Wir haben ihn dann zur Polizei gebracht. Hoffentlich wird er abgeholt. Gehorchen tut er aufs Wort. (Besser als ich.) Heute Nachmittag habe ich auf unserer Veranda das erste Sonnenbad genommen, trotzdem ich einen zünftigen Schnupfen pflege.

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Samstag, 1. April 1939

(Heute habe ich ein (die Tinte ging aus)

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Sonntag, 2. April 1939

Sonntag ist‘s! Ja, und was für einer!! Zehn Minuten vor vier: Gusti ist fort. Vati ging spazieren. Ich lese. Mutter schläft. Himmel, ist das ein Familienleben. Ich werde noch verrückt. Das halte ich einfach nicht aus. Jedes brüllt das andere an. Warum bin ich denn auf der Welt? Ich kann doch nichts dafür, dass es so ist!! Ich sehne mich nach Liebe. Wenn mir doch niemand ein liebes Wort gönnt, so ist es einfach das einzige, an Heinz zu denken. Warum verstehen sie mich zu Hause nicht? Andere Leute haben mich gern, warum daheim niemand? Oh, wenn ich nur jemanden hätte, der lieb ist mit mir. Gusti geht ja heute auch wieder nach Dübendorf. Der hat es gut, er hat ein Mädel. Aber ich? Wohl habe ich Heinz, aber an ihn darf ich ja nur im Stillen denken. Ich möchte ihm sagen, wie gern ich ihn habe. - Auch dieser Sonntag wird vorübergehen. Zum Glück!!

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Dienstag, 4. April 1939

Das war wieder ein schöner Tag. Am morgen früh bekam ich schon 2 Briefe. Einen von Margrit Kägi aus Zürich und einen von Walter Steffen. Walter dankt mir für die Gratulation zu seiner Konfirmation. Am Schluss schreibt er. Auf Wiedersehen und freundliche Grüße von Deinem Walter Steffen.“ Hat wohl das „Dein“ etwas zu bedeuten? Manchmal habe ich plötzlich Angst, Heinz könnte mich vergessen. Er kennt doch sicher auch andere Mädels als mich. Greti Tribolet zum Beispiel? Ach Quatsch, ich mache mir ganz dumme Sorgen. Heinz muss mich gern haben. Es ist vielleicht dumm, aber ich bete auch für ihn. Der liebe Gott wird es schon richtig machen!!

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Karfreitag, 7. April 1939

Krieg -!
Dieses drohende Gespenst geht umher. Was will Italien? Albanien wird einfach überrumpelt. Das ist ja zum Verrücktwerden. Kann denn nicht jedes Land in Frieden leben? Warum muss immer Krieg sein? Was plant Hitler? Pfui Teufel, solche „Staatsmänner“ sollte man vergiften! 
Soeben habe ich bemerkt, dasss ich mein rotes Herz (das Portemonnaie) nicht mehr finde. Wenn Mueti das gefunden hat und seinen Inhalt geprüft hat, dann findet es drei Dinge: Einen Kartonstreifen, darauf steht H. Schenk 3D. Ein kleines silbernes Kreuz (natürlich nicht echt), darauf eingekritzt ein H. u. 5 Rp.. Mit dem Karton ist das so: In der Handfertigkeit haben wir im Papierkorb viereckige Kartons gefunden mit Namen drauf. Da hab ich mir alle drei, die ich fand, angeeignet. Von einem habe ich mir den Namen herausgeschnitten und davon einen Anhänger angefertigt. Diesen habe ich seit gestern um den Hals getragen. Heute morgen habe ich ihn ins Portemonnaie gesteckt. 
Gestern war ich bei Martina. Yvonne kam auch. Walter hat mit uns Z‘Vieri gegessen. Er war sehr nett zu mir. Manchmal hat er mich so komisch angeschaut. Ich war ziemlich verlegen. Ich war sehr froh, dass Yvonne mit ihren Spässen dafür sorgte, das Drückende der Stimmung abzulenken. Hoffentlich denkt Walter nicht, ich sei verschossen in ihn. Wenn das so wäre, dann würde ich lieber nicht mehr so viel zu Steffens gehen. Er würde mich dauern. Ich weiss, dass ich ihm gefalle, aber er darf mir nicht mehr sein, als eben der Bruder meiner Freundin. Vielleicht ist es nicht gescheit von mir gewesen, dass ich ihm zur Konfirmation geschrieben habe. Aber ich hab mir doch wirklich nichts dabei gedacht. Meine jetzige Sorge ist: Das Portemonnaie.

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Ostern, 9. April 1989

Es ist schon 10 Uhr. Ich bin noch auf und warte auf Gusti. Er hat keinen Hausschlüssel. Gusti ist gestern heimgekommen. Heute war es ein ganz gerissener Sonntag. Am morgen ging ich mit Gusti in die Stadt. Am Nachmittag sind wir auf dem Flugplatz gewesen. Ich habe mir einmal meinen Bruder von der Nähe angesehen. Zum Nachtessen sind wir in die Schmiedstube gegangen. Bäumig. Der „Osterhase“ ist auch bei mir eingekehrt. Ich bin ja zwar schon reichlich gross, aber Freude hatte ich gleichwohl an meinem Osternest. Zwar habe ich den Tusch nicht erhalten, den ich mir gewünscht habe. Macht auch nichts. Hoffentlich kommt Gusti bald. Ich bin nämlich sehr müde. Vati ist auch noch fort. Er singt mit im „Parsifal“.

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Montag, 10. April 1939

Auch heute war es sehr schön. Alfa ist mit uns spazieren gekommen. Gusti weiss also, dass ich in Heinz verkracht bin. Auch den Brief, den ich von Walter bekommen habe, hat er gelesen. Er hat mich wirklich in Verlegenheit gebracht, als er sagte: „Also grad mit zweien fängst Du an? Weisst Du, den möchte ich einmal schon sehen, mit dem Du‘s treibst. Hat er wenigstens auch Kasse?“ …. Gusti hat natürlich auch gemeint, es sei Hansruedi Schenk, und er war sehr erstaunt, zu vernehmen, dass es Heinz ist. Er hielt mir vor, dass Heinz ja ein Jahr jünger sei als ich. - Aber was tut das? Er ist hübsch und lieb. Was brauch ich mehr? Allerdings haben sie bei mir zu Hause Hansruedi lieber, aber ich halt nicht. Sie sollen mich nur nicht mehr lange mit Walter ärgern, sonst werde ich ernstlich bös. Ich will nicht Walter, ich will Heinz!

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Dienstag, 11. April 1939

Frau Arnholz hat uns ins Dälhölzli eingeladen. Sie hat Raimond mitgebracht. Den habe ich mir zwar ganz anders vorgestellt. Ich war angenehm überrascht. Zwar bin ich mir sehr komisch vorgekommen, als ich allein mit ihm durch den Tierpark spazierte. Plötzlich stehen vor mir: Sylvia und Yvonne. Yvonne hat wirklich schon erstaunt dreingeschaut, als sie mich sah. Ich werde wohl morgen noch entliches zu hören bekommen. Raimond ist 14 ½ Jahre alt, sehr reich und scheint meiner Mama zu gefallen. Ja, er ist ja ganz anständig, aber nichts für mich. Ich bin wirklich sehr froh, dass bald die Schule wieder beginnt, dann sehe ich Heinz doch wieder.
(Schwärmereien)

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Donnerstag, 13. April 1939

Greti Tribolet und Camilla Brenni sind heute mit uns gekommen. Martina hat zu viele Eier gegessen und ist jetzt krank. Wird nicht so schlimm sein. Nun weiss Greti, dass ich in Heinz Schenk verschossen bin. Ich habe so das Gefühl, dass Greti für Walter Bigler schwärmt. Henu, den kenne ich ja auch. Heute bin ich mir wie ein Affe vorgekommen, denn ich bin fast auf jeden Baum geklettert, aber mein armer Rock war zwar nicht einverstanden damit, denn er weist zwei grosse Risse auf. Wer ist wohl Schuld, der Baum oder ich? - Auf dem Heimweg sind uns zwei Knaben begegnet und die luden uns ein, mit ihnen zu spielen. Wir haben natürlich abgelehnt. - Auch Herrn Moesch mit seiner Frau haben wir getroffen. Er war überaus nett. Wirklich, einen flotten Lehrer hatten wir schon im dritten Proger. Aber es wird auch mit den neuen wieder gehen.

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Samstag, 15. April 1939

Ich komme soeben aus dem Theater. Ich war mit Daysi und Raimond in „Rosen aus Florida“. Raimond ist nur ein halbes Jahr älter als ich? Das ist kaum möglich. Er wollte mit Daysi und mir jetzt ins Kasino. Ja, aber so was geht doch nicht!! Ich müsste mich ja schämen. Es ist gut, dass er morgen wegfährt. Der macht mich noch ganz sturm. Wenn ich dagegen Heinz anschaue. Das ist was anderes. Ich bin ganz aufgeregt. Warum? Raimond schenkt mir sein Racket. Das wird er mir schicken, aber dann ist Schluss. Raimond Richli!!!

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Sonntag, 16. April 1939

Es war wieder einmal ein Sonntag, wo jedes das andere anbrüllt. Also, dass es so etwas gibt, das ist unerhört. Vater zankt mit Mutter. Aus lauter Wut klemmt er mir die Finger in eine Schublade. Kurz und gut, alles ging wieder einmal schief. Am Nachmittag sind wir bei Amholzens gewesen. - Am Dienstag geht es wieder in die Schule. Ich bin schwer gespannt, wie die neuen Lehrer sind. - Gusti hat gar nichts nach Hause geschrieben.

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Montag, 17. April 1939

Martina hat mich heute zu sich eingeladen. Walter war natürlich auch da. Er kam mir so komisch vor, gar nie sieht der einem offen ins Gesicht, immer so von unten herauf. Er wird halt scheu sein. Ja, zum Glück bin ich das nicht. - Am Morgen ging ich den Stundenplan abschreiben. Ordentlich strenger als der jetzige ist er schon. Macht nichts. - Das tut gut, wieder arbeiten. Beim Faulenzen kommen einem doch nur dumme Gedanken.

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Dienstag, 18. April 1939

Nun wäre ich also im II. Proger. Ich sitze glücklich neben Martina. Im Rechnen geht es schon ganz anders zu als bei Stigi. Da muss ich mir Mühe geben, dass ich nachkomme. In der Naturkunde haben wir Herrn Dr. Staub. Also ein Namensvetter von mir. Auf die Natere freue ich mich ganz besonders. Ich hoffe, da Aufschluss zu finden über manche Frage, die mich bedrückte. Eine dieser ist die Fortpflanzung. Da möchte ich Klarheit haben. Ich mache mir natürlich meine eigenen Gedanken, aber ob das richtig ist? Auf alle Fälle will ich !!arbeiten!!



Donnerstag, 20. April 1939

Heute hatte ich richtig Freude, Aufgaben zu machen. Ja, arbeiten ist schön und dabei immer an einen lieben Menschen denken, das ist herrlich. Ich bin ja jetzt jeden Tag einmal in der 3D. Ich muss doch nach Sylvia sehen. Heinz scheint schon gemerkt zu haben, dass ich nicht nur wegen Sylvia jede Pause dort stehe. Jedenfalls hat er mir heute zugenickt. Jeder neue Tag ist für mich eine Freude, und ich glaube nicht, dass es schlecht ist, jemanden gern zu haben, jedenfalls mir schadet das nicht. Ich tue ja meine Pflicht nun mit mehr Freude im Herzen, als wenn ich Heinz nicht kennen würde.

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Sonntag, 23. April 1939

Ich bin wieder einmal allein zu Hause. Gusti ist heim gekommen und er hat 8 Tage Ferien. Ich aber muss tüchtig schaffen in der Schule. Morgen gibts einen Aufsatz: - Ich stelle mich vor - kaum glatt.
Auch die nächste Woche wird vorübergehen. Ich bin müde. Wir sind heute mit Fam. Arnholz im Wald spazieren gegangen.
Beziehung zur jüd. Fam. Arnholz

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Dienstag, 25. April 1939

Im Deutsch habe ich schon zwei 6-er bekommen. Bei Witscheli habe ich schon jetzt Punkte. Hingegen im Franz sieht es anders aus. Ich war heute an der Tafel und habe so ziemlich nichts gekonnt und morgen gibt es eine Probe.
Auf Doris habe ich eine Sauwut. Die blöde Kuh ärgert mich immer mit einem Knaben, den ich ja gar nicht kenne. Auch Esther hält mir wieder Guggisberg vor. Alle sind verliebt in mich, nur von Heinz merke ich wieder einmal nichts. Ich begreife ihn zwar ganz gut, er kann es doch sicher gar nicht mehr glauben, dass ich ihn noch gern habe, aber wie soll ich es ihm den zu merken geben, dass er mir der Liebste ist? Brieflein schreiben, das mag ich nicht. Vielleicht habe ich Heinz gerade darum so gern, weil er so still ist und niemandem von mir erzählt. Ich möchte nur wieder einmal mit ihm reden.
Übrigens heute habe ich mit Gustis Pistole geschossen. Gar nicht schlecht. Ich finde, dass ein richtiges Mädel auch schiessen können muss. Also auch ich.

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Donnerstag, 27. April 1939

Stress mit Mueti immer wieder.
Ich bin wieder einmal sehr in einer schlechten Stimmung. Aber nein, weinen will ich nicht. Das würde sie ja nur freuen (die Mutter). Die muss nicht manchmal sagen, nur ihr Gusti habe sie noch lieb. Sie sollte besser einmal nachdenken, wie sie etwa vor einem Monat geredet hat. Wenn sie dann wieder krank ist, dann bin ich wieder gut genug zum Helfen, aber sonst ist es ja Wurst, was in meinem Innern vorgeht. Mit Gusti kann sie glänzen. Am Sonntag geht sie mit ihm nach Menziken, und ich muss zu Hause bleiben. Sie weiss wohl nicht, dass auch ich ein Herz habe und auch gern mal ein anderes Wort hören möchte als: „Ich bin so müde. Immer arbeiten usw.“ Andere Mütter sind ganz anders. Ich komme mir wieder einmal vor wie ein überflüssiges Ding. Ich bin wieder allein. Wer versteht mich? Wem kann ich es sagen? Verbissen allem zusehen und hinunterwürgen. Nichts von dem Schmerz, der in mir tobt, merken lassen. Das ist alles, was ich kann. Nun weine ich halt doch. Ob ich will oder nicht. Soeben ist mir eine Träne auf die Hand gefallen.
Weltschmerz, Verlassenheitsgefühl.

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Montag, 1. Mai 1939

Gestern sind also Vati und ich allein gewesen. Familie Arnholz hat uns zum Mittagessen eingeladen. Am Nachmittag haben wir das Velorennen angeschaut und am Abend gingen wir ins „Du Theatre“. Bäumig! Und nun hat die neue Woche angefangen. Die wird vorübergehn wie alle andern.

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Donnerstag, 4. Mai 1939

Romantische Gefühle!
Wie ruhig ich nun mit Mueti über Heinz sprechen kann! Ich bin selber erstaunt über mich. Mueti erzählte mir, dass es Heinz angetroffen habe. Wir sprechen von ihm, wie wenn das überhaupt ganz selbstverständlich wäre. In der Schule fängt unser Tun allmählich auffällig zu werden. Bis jetzt wusste es ja noch niemand ausser mir und meinen Mädchen. Sprechen können wir ja nicht miteinander, aber unsere Augen verstehen sich schon. Heinz verschlingt mich förmlich mit den Augen in den Pausen. Sylvia hat mir heute erzählt, dass er unter der Tür nachgeschaut hätte, bis ich verschwunden sei. Nur nicht zu auffällig, sonst merkens die andern und dann wärs nicht mehr so schön.

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Freitag, 5. Mai 1939

Schüchterne Annäherung!
Nun habe ich mich verraten. Es ist nämlich so: Ich sollte Eintrittskarten für den Patriaabend besorgen. Da habe ich mich entschlossen, Heinz darum zu fragen. Ich habe es Sylvia gesagt, dass ich das im Sinn habe. Heute in der 3 Uhr Pause, als ich ihn anreden sollte, da getraute ich mich plötzlich nicht mehr. Ich kam mir so dumm vor. Da konnte mich Sylvia lange schupsen und sprechen. - So, jetzt geh dann etwa! Ich kenne Dich gar nicht als solchen Feigling!“ Ich kannte mich ja selber nicht mehr. Endlich nach der Pause fasste ich mir ein Herz und ging geradewegs auf ihn zu. Er wurde verlegen und rot, und ich spürte, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich. Heinz war natürlich sehr verdutzt und wusste gar nicht, was sagen. - Die andern Knaben aus der 1D werden nun Heinz gehörig fuchsen wegen mir. Nun zeigt es sich, ob Heinz stark genug ist u. sich alles geschehen lässt, dann gut, dann werde auch ich alles ertragen, wenn ich weiss, dass er zu mir steht. Es wird ja nun auch bald in unserer Klasse bekannt werden, und das ist nicht sehr angenehm für mich. Aber ich hoffe, dass Heinz und ich so zusammenhalten werden, dass uns das dumme Geschwätz nicht auseinander bringt!!!
Billete bestellen bei Heinz für UA

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Montag, 8. Mai 1939

Ja, mein lieber Heinz hat mir viel Sorgen gemacht. Alles liess er mir durch Sylvia sagen, als ob er plötzlich Angst hätte vor mir. Ganz ehrlich bin ich enttäuscht. Ich hätte es mir halt ganz anders vorgestellt. Mich dünkt einfach, dass es schöner war, als wir uns noch nicht so gut kannten. Da sprach man verlegen ein erstes Wort. Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr so viel an ihn zu denken. Es geht auch ohne diese Gedanken. Seit heute ist es mir, als wäre eine Spalte vor uns entstanden, die keines von beiden zu überschreiten wagt. Ich habe nur Angst, dass ich Heinz nicht mehr so gern haben kann. Das würde mich allerdings dauern. Es war doch eine schöne Zeit, als ich das erste Mal merkte, dass Heinz mich gern hatte. Ein wenig wehmütig werde ich schon, wenn ich denke, dass alles mit Heinz ein Ende nehmen könnte.

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Donnerstag, 11. Mai 1939

Mit Heinz ist wieder alles im Alten. Ja sogar noch besser. Heute hat er mich auf der Strasse gegrüsst. Vorgestern beim Losverkaufen ist er mit dem Velo zu mir gefahren, und wir haben lange miteinander gesprochen. Er war nur scheu in der Schule wegen den andern. Und wenn sie es auch wissen, mir ist es egal. Heinz ist doch ein netter Kerl. Sein Bruder Hansruedi schaut mich allerdings in letzter Zeit etwas scheel an; er ist wohl eifersüchtig auf Heinz.

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Sonntag, 14. Mai 1939

Ich bin also am Patria Abend gewesen. Der kleine Schenk (Hansruedi) hatte natürlich wieder eine Rolle, Heinz nicht. Überhaupt, alle haben nur Hansruedi gern und Heinz nicht. Ich habe mir fast die Augen ausgeschaut, aber ich habe ihn den ganzen Abend nicht gesehen. Am Anfang konnte ich gar nicht tanzen. Da musste ich mich wirklich fragen: bin ich denn so hässlich, dass mich keiner holt? Herr Berger hat sich dann geopfert und hat mich engagiert. Doch langsam wurde es besser. Unser lieber Stellvertreter, den wir für Herrn Steiger hatten (Herr Bieri) war reizend. Man könnte sich beinahe verlieben. Zwei Rover haben mich dann ebenfalls geholt und so wurde es gegen den Schluss noch gerissen.
Heute Nachmittag bin ich im Theater (Kleines Hofkonzert) gewesen. Als Mueti und ich in der Pause spaziert sind, wen sehe ich? Heinz, Hansruedi und Huebacher. Heinz hat mir freundlich zugenickt, die andern habe ich gar nicht angeschaut. Nun bin ich glücklich. Ich habe Heinz doch noch gesehen.

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Mittwoch, 17. Mai 1939

Ich fürchte, dass meine Mutter und ich uns nie ganz verstehen werden. Ach, wenn doch nur Gusti zu Hause wäre. Er ist noch der einzige, der hie und da nett zu mir ist. Ich muss einfach still werden und mich damit abfinden, dass ich in unserer Familie überflüssig bin!! Aber das tut weh, sehr weh. –

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Samstag, 20. Mai 1939

Ja, 8 Tage haben wir es ausgehalten, ohne ein Wort zu sprechen. Heute haben sie mir dann gemeinsam eine Strafpredigt gehalten. So leid es mir tut, aber sehr zu Herzen genommen habe ich mir das nicht. - Im Garten habe ich beide herrlich versohlt. Ganz leise bin ich auf den Ahornbaum gestiegen und blieb oben ganz still. Da habe ich dann erst eine Zeit tüchtig gelacht, als sie mich unten suchten. So boshaft bin ich geworden. Sprechen tu ich nur gerade das Nötigste. -

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Mittwoch, 24. Mai 1939

Wechsel der Gefühle.

N
a, zu Hause wäre die Sache wieder eingerenkt. Ich habe einen bäumigen neuen Regenmantel bekommen. In der Schule geht‘s ja ganz gut, aber im Lat. habe ich nur einen 5-6-er bekommen. Macht auch nichts.
Himmelhochjauchzend
zu Tode betrübt…..

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Donnerstag, 25. Mai 1939

Ich habe von Gusti einen Brief bekommen. Es ist rührend, wie er mich mahnt, zu Hause lieb zu sein. Ja, ihm zuliebe will ich‘s tun! Wenn es mir auch schwer fäll; ich will's versuchen. Wenn ich meinen Bruder nicht hätte, wüsste ich manchmal nicht mehr, was anfangen. Mit allem was mich bedrückt, gehe ich zu ihm, und er tröstet und hilft, wo er kann. Warum gehe ich nicht mit meinen Freuden zu ihm? Er würde es verdienen. Ich könnte doch auch einmal mit ihm über Heinz sprechen. Würde er mich wohl auch verstehn? Ich glaube ja!! Er war ja schliesslich auch einmal das erste Mal verliebt. Und dann, was ist das mit Heinz. Man spricht ja wieder kein Wort miteinander. Aber gern habe ich ihn doch!! Ich bin ja nun so glücklich, sooo glücklich!

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Mittwoch, 31. Mai 1939

Was habe ich alles erlebt, seit ich das letzte Mal einschrieb. Ich war in Zürich an der Landesausstellung. Das war ganz gross. Mit Gusti bin ich mit der Schwebebahn über den See gefahren und auf dem Schiff war ich auch. Allerdings haben wir noch vieles nicht gesehen. Und nun ist Vati fort. Ich bin mit Mueti allein zu Hause. 6 Wochen werden vergehn, bis ich ihn wieder sehe. In Höngg hat mir meine arme verrückte Cousine einen sehr tiefen Eindruck gemacht. Jetzt ist sie 26 jährig und hat zwei Kinder. Wie soll das werden. Ich bin gern wieder heimgekehrt, denn wenn auch hier nicht immer alles klappt, so ist es doch viel schöner als in Höngg.

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Freitag, 2. Juni 1937

Gestern bin ich mit Mueti spazieren gegangen. Da sind wir beim Haus von Herrn Steiger vorbei gekommen. Er hat uns eingeladen zu einem Zvieri. Der gute alte „Stigi“! Ja, der muss mich wirklich sehr gern gehabt haben. Den ganzen Abend hat er immer gesagt: „Eh, das Lilly, wie han‘ig das gern g‘ha.“ Ich konnte kaum begreifen, dass er mich wirklich so lieb hat. Das tut gut, einen Menschen zu wissen, der einem liebt; wenn es auch nur ein alter Lehrer ist. Ja – und mit Heinz?! Manchmal bin ich wieder ganz verrückt, wenn ich ihn sehe, aber immer öfter verleidet mir der ganze Zauber. Ausserdem – ich kann es fast nicht sagen – fängt mir mein ärgster „Feind“ Leuenberger an zu gefallen. Aber ich schäme mich geradezu, das zu schreiben.

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Mittwoch, 8. Juni 1939

Ja, wirklich ist das ein Blödsinn, was ich das letzte Mal einschrieb. Heute bin ich auf der Ka-We-De gewesen und zu meiner Freude waren Heinz und sein Bruder auch da. Heinz hat mich geradezu hypnotisiert und ich ihn natürlich auch. - Morgen wird es etwas absetzen in der Lateinstunde. Wir sind nämlich die ganze Klasse nicht ins Latein gegangen. Mehr als Arrest wird es wohl nicht geben. He nu, wir werden ja sehen.

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Samstag, 10. Juni 1939

Mir ist heute Abend so eigentümlich zu Mute. Fröhlich bin ich, wenn ich an Heinz denke. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen. Im Rechnen hatte ich schon vor einer Woche einen 2-er. Den habe ich zu Hause noch nicht gesagt. Jetzt muss ich immer Angst haben, es komme aus. Das ist ein sooo drückendes Gefühl. Zum Heulen. – Heinz – Ich habe so Angst und bin doch glücklich.

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Sonntag, 29. Juni 1939

Die Zeit geht dahin. Viel Abwechslung gibt's nicht. In der Schule bin ich ziemlich schlecht geworden. Nächstes Quartal wird's schon besser werden. - Nun bin ich ganz sicher wegen Heinz. In seinem Rechnungsbuch hat Sylvia folgendes gefunden: 3 L übereinander gemalt. Das soll Lilly bedeuten. Ich bin so froh.

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Mittwoch, 5. Juli 1939

Ärger über Maus.
Heute habe ich mich wieder einmal tüchtig geärgert, dass ich ein Mädchen bin. Ausgerechnet heute musste ich auf das Baden verzichten. Warum? Ja, weil ich sog. „unwohl“ bin. - Blödsinn, mir ist ja so wohl als etwas. Heinz hat nämlich gefragt, ob ich heute in die Ka-We-De komme. Ich musste natürlich nein sagen. Den rechten Grund konnte ich doch unmöglich angeben. Da habe ich halt gesagt, ich müsse Tennis spielen gehen. Als ich heim ging hat er gewartet und noch einmal gefragt, ob ich nicht komme. Ich weiss, jetzt habe ich ihn schwer enttäuscht. Aber ich kann doch nichts dafür! -
Jetzt sollte ich noch Latein schuften. Fällt mir gar nicht ein. Jetzt sind ja dann bald Ferien. Mir ist die Schule zum Kotzen verleidet. Mein Zeugnis wird diesmal nicht gut ausfallen. Nicht zuletzt ist Heinz daran schuld. Das nächste „Quartal sollte ich mich schon ein wenig zusammen nehmen.
-Mit Martin habe ich heute zum 1. Mal einen kleinen Streit gehabt. Er wollte unbedingt wissen, warum ich nicht auf die Ka-We-De komme. Aber auch ihm konnte ich es nicht sagen, denn er weiss doch von allem noch nichts. Sein Bruder wollte mich übrigens an einen Tennis-Ball einladen, aber ich war noch zu jung.

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Samstag, 8. Juli 1939;

Problem Mutter!
Oh, es ist kaum zum Aushalten. Es kann einfach nicht so weiter gehen. Meine Mutter und ich können uns einfach nicht vertragen. Gestern haben wir die Zeugnisse bekommen. Zugegeben, meines könnte besser sein, aber es ist immerhin noch eines von den Besten. Ja, da hätte jemand meine sanftmütige Mutter hören sollen. Ein Totsch, ein Haagen, eine Hochstaplerin, Aufschneider, eingebildeter Tropf und was weiss ich noch..! Das alles sagt eine Mutter ihrem Kind. Nein, das geht nicht mehr. Ich halte es nicht aus!!! Wer kann mir helfen? Morgen gehen wir zu Vati. Wie wird sie mich hier wieder ankreiden. Gewiss, ich weiss, ich bin plötzlich das schwarze Schaf der Familie. Ist es denn einem Mädchen in meinem Alter nicht zu verzeihen, wenn ich manchmal einfach nicht mehr weiter mag? Verprügeln könnte ich diese verd…. Aber nein, ich darf mich nicht so gehen lassen. - Nun ist sie zum Glück zur Tür hinaus. Nicht mehr ansehen mag ich sie, diese …. Gusti!! Gusti!! Du kommst heute heim und sie wird mich auch bei Dir verklagen. Glaub ihr nicht!!!! Noch soll ich den ganzen Sommer mit ihr leben. Das geht nicht. In solchen Verhältnissen soll mir jemand vormachen, wie man ein rechter Mensch wird. Ich kann nicht!

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Sonntagmorgen, Juli 1939

Sommerferien in Klosters
Unterdessen ist Gras darüber gewachsen. Ich bin in Klosters und hier oben ist es sauglatt. Gestern kam Gusti. Und am Abend haben wir getanzt. So viel wie noch nie. Gusti und ich können es bäumig zusammen. Fast ohne uns zu halten haben wir getanzt. Es war herrlich!!

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Freitag, 27. Juli 1939

Bei Prof. Gartmanns Frohsinn, Wandern.
Heute waren wir in Davos und zwar mit Gartmanns. Wenn nicht Heinz wäre, ich glaube, in Johannes Gartmann würde ich mich verkrachen. Auch so habe ich ihn gern. Wir sind den ganzen Tag zusammen gegangen. Er ist ein glatter Kamerad. He, ich darf ihn ja auch gern haben! Übrigens Heinz hat mir nie geschrieben. Ob er sich nicht getraut? Morgen gehe ich in die Vereinahütte zu Vati. Jetzt bin ich sehr müde. Gartmanns kommen ihn dann in der Vereina besuchen.

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Bern, 9. August 1939

Vereina Haus
Wieder zu Hause! Schon jetzt habe ich Heimweh nach dem wunderschönen Klosters. Ach, dass alles so schnell vorübergehen musste! Diese herrlichen Ferien! Heute hat der Silvrettagletscher noch einmal zum Abschied im strahlenden Sonnenlicht geglänzt. - Leb wohl, auf Wiedersehen!! -
Wieviel hab ich erlebt. Walter Trüb war mir ein guter Ferienfreund. Ja, ich darf schon sagen, ich hatte ihn sehr lieb. Wenn ich mich langweilte, wer spielte mit mir „Pingpong“? - Walti -! Als es mir schlecht war, wer rannte so schnell als möglich , um mir Wachholder zu bringen? - Walti! - und so weiter. Ihn werde ich in guter Erinnerung behalten. Getanzt zusammen haben wir auch. Ich werde noch eine Photo von ihm und seiner Schwester Ruth bekommen. Ich will mir aber Mühe geben, ihn zu vergessen. Jetzt bin ich wieder in Bern und da ist – Heinz Schenk - .

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Bern, Freitag, 8. September 1939

Krieg!
Was alles in einem Monat geschehen kann! Nun ist es Wirklichkeit geworden, was man im letzten Herbst so gefürchtet hat. - Krieg! - Auch unsere Schweiz hat mobilisiert. Gusti ist fort und Vati immer noch in Graubünden. Frankreich, England und Polen gegen Hitler. - Die Schulen haben jetzt wieder begonnen, nur unser Progymnasium hat noch frei. Zu allem Schweren kommt noch der Unfriede mit meiner Mutter. Ist es wohl ganz und gar unmöglich, dass wir einmal zusammen gut auskommen? Jetzt, wo doch eines das andere so nötig hätte.
Wenn nur Gusti daheim wäre! Raimond Richli ist wieder da, weil sein Vater bei den Franzosen mitkämpft.
Gestern ist es in der Ka-We-De zu einem sehr unangenehmen Zwischenfall gekommen zwischen ihm und Heinz. Heinz war halt nicht zufrieden, dass Raimond und ich zusammen waren. Er hat sich sehr schlecht vertragen gegen Raimond. Das liess dieser sich halt nicht gefallen und tauchte Heinz tüchtig unter Wasser. Ich zog es dann vor, zu gehen. - Ich hätte wieder einen Brief nötig von Gusti. In meinem Innern sieht es wirklich gar nicht rosig aus. Aber alle persönlichen Sorgen sind ja so klein gegen alles Elend, das jetzt der neue Krieg vielen Tausenden bringt. Mein grösster Wunsch ist jetzt:
Gott beschütze unsere Schweiz !!

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Montag, 30. Oktober 1939

Lang, lang ist‘s her! Ja, was hat sich nicht alles geändert. Der Krieg geht weiter und fängt schon an, etwas Selbstverständliches zu sein. Ich bin noch einmal an der Landi gewesen, eine Woche vor Ernstlis Beerdigung. Mein armer Cousin ist tödlich von einer Tanne gestürzt. Mein grösster Wunsch ist in Erfüllung gegangen: Ich bin nun bei den Pfadfindern. Den habe ich wohl am meisten Gusti zu verdanken.
Warum geht Raimond nicht fort? Ich glaube, es wäre besser für beide, denn ich fange langsam an, Feuer zu fangen. Aber im Gegenteil, anstatt dass wir uns immer weniger sehen, kommen sie immer häufiger zu uns. Gestern habe ich bereits von ihm eine Einladung erhalten an den Klassenabend im Gymer. Am Mittwoch sind wir bei ihnen eingeladen. Seine Mutter hat mich riesig gern und überhäuft mich mit Schokolade. Wohl warnt mich Frau Arnholz vor ihm, aber was kann ich dafür, wenn er so nett ist mit mir? Ach und daneben Heinz in der Schule. Wie er mich dauert, der liebe Kerl. Der glaubt doch so fest an mich. Was tun? Keiner von beiden. Das wäre das Beste, aber das bringe ich mit dem besten Willen nicht fertig. Wenn ich vielleicht auch nicht sollte, aber ich freue mich doch riesig auf den Mittwoch. Wenn Heinz auch noch so nett ist, aber ich stelle mir halt vor, dass es schöner ist, einen grösseren Freund zu haben, an dem man hinaufschauen kann und nicht einen, der viel kleiner ist. So, Schluss, es wird schon gut kommen.
Sorge macht mir auch das Latein. Wo soll das enden? Bis jetzt habe ich eine 1-2 und eine 3-2. Wohl bin ich in den übrigen Fächern gut bis sehr gut, aber im Lat. darf es unmöglich so weiter gehen. Hoffentlich kann ich das nächste Mal erfreulichere Sachen eintragen von mir als heute.
Guten Mut und Zuversicht!!!

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Im November 1939

Vorgestern war „Zibelemärit“! Einfach gross. Ich bin die längste Zeit mit Heinz zusammen gewesen. Leider ist er jetzt krank. Er ist halt doch ein treuer, lieber Kerl. Heute war Gusti hier. Ich war vorhin mit ihm am Bahnhof. Wieder einen Kuss erhalten!

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Donnerstag, 14. Dezember 1939

Mir ist heute Abend sehr eigenartig zu Mute. Eigentlich bin ich traurig. Warum weiss ich nicht. Am Samstag gibt es Zeugnisse und dann sind ja bald Ferien!! Ich habe Glück, denn ich darf nach Adelboden ins Chalet. Ach Raimond geht auch nach Adelboden. Wie wird das wohl? Ich habe mir fest vorgenommen, Heinz eine Karte zu schreiben. Es ist so komisch, Raimond kenne ich doch noch nicht so lange wie Heinz und doch habe ich ihm zum Geburtstag eine Karte geschickt. Ja, ich werde älter und ich glaube fast auch schöner. Ich schreibe das nicht aus Eitelkeit, aber wie ich schon jeden morgen von den Gymelern angeschaut werde, merke ich es halt, ob ich will oder nicht. Was ich zuerst fühlte, kann ich nicht schreiben. Ich darf ja auch nicht drauf achten. Ärztin werden muss halt doch etwas Wunderbares sein. Helfen!! Frau Bleuer sieht auch wieder einer schweren Stunde entgegen. Sie erwartet das zweite Kind. Es ist mir noch so Vieles rätselhaft, aber fragen kann ich nicht. Wohl habe ich Bücher gelesen, die noch nicht für mich sind und die über allerhand Auskunft geben, aber ich möchte alles klar und verständlich wissen, ohne Geheimnistuerei. Schliesslich bin ich ja nun auch schon bald 15 Jahre alt. Nun glaube ich auch den Grund gefunden zu haben, warum ich so traurig bin. Niemand nimmt dich ernst, Lilly, du bist für alle noch klein und dumm. Leider stimmt es ja auch noch. Ich bin ein kleines Mädchen, das in die Schule geht, wie viele andere. Aber einmal werde ich etwas sein, arbeiten, helfen. Ich werde nun wieder öfter ins Tagebuch schreiben. Man hat doch oft schon seltsame Gedanken.

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Sonntag, 17. Dezember 1939

Gestern gabs Zeugnisse. Zu meiner Schande seis gesagt, so schlecht war ich noch nie. Heinz ist allerdings noch schlechter. Er hat die Promotion gefährdet. Allerdings nicht sehr erfreulich. Heute ist wieder so ein soodiger Sonntag, an dem man nichts anzufangen weiss. Am Abend gehe ich dann ins Theater. 

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Sonntag, 7. Januar 1940

Das erste Mal im neuen Jahr schreibe ich in dieses liebe Buch. Erst gestern bin ich aus meinen Winterferien in Adelboden zurückgekehrt. Ich durfte ja so herrliche Tage im Pfadfinderinnen-Chalet erleben. Habe ich das verdient, solch schöne Tage? Unvergesslich schön im Schnee und Sonnenschein. Wie schwer ist doch wieder die Luft da unten. So glücklich wie in der goldigen Höhe von Adelboden kann man da unten wohl kaum sein. Sonne, nichts als Sonne. Wie manchmal musste ich mich fragen: „Ist denn wirklich Krieg möglich? In dieser wunderbaren Welt? Ja, kaum ist man unten, so hört man Radionachrichten über Greueltaten und Kriegsopfer. Muss das sein??? Ich werde auch wieder ein Jahr älter und vieles wartet auch auf mich. Wenn schwere Zeiten kommen, dann werde ich an Gutes und Schönes denken, und es wird gewiss leichter gehen. Zum Beispiel: In diesem nebligen Bern denke ich viel an sonnenüberflutete Tage in Adelboden. Wie wir warm eingepackt in Liegestühlen auf glitzernden Schneeflächen vor dem Chalet lagen, über uns klarblauer, strahlender Himmel und rings um hohe, stolze Bergriesen. Ach, so schön war es!!!! Beschreiben kann ich es nicht. Aber in Erinnerung behalten werde ich es immer! Ich bin ja so dankbar für das alles. Morgen beginnt die Schule. Den festen Willen zu arbeiten habe ich. Gott gebe, dass ich ausführen werde, was ich mir verspreche. Frisch gestärkt beginne ich das neue Quartal. Es wird gut kommen. Ich sehe es dieses Jahr schon als Selbstverständlichkeit an, dass mir Heinz nicht geschrieben hat. Ich weiss nicht,
ist es ein Fortschritt, dass ich deswegen gar nicht traurig bin, oder nicht. Auf jeden Fall habe ich mir fest vorgenommen, mehr an strebsames Arbeiten als an Knabengeschichten zu denken. Hoffentlich gelingt es.

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Donnerstag, 18. Januar 1940

Spiel mit Gefühlen   
Die Schule mit ihren Leiden und Freuden hat begonnen. Schon lange war es mit der Freundschaft unseres Kleeblattes nicht mehr gut bestellt. Heute haben wir uns klar gesagt, was uns drückt, soll nun wieder werden wie früher. Also heute war der ganze Proger in Marani auf dem Eis. Wie immer hatte ich Pech und momentan liege ich mit schmerzendem Knie im Bett. Aber schön war es doch. Auf der Hin- und Rückfahrt sind Agnes und ich mit der II D zusammen gewesen. Nun habe ich doch die Gewissheit, einem Knaben das Herz schwer gemacht zu haben. Heinz! Im Zug ist Tschirren natürlich neben Agnes gesessen und ich dumme Gans habe erwartet, dass Heinz nun zu mir komme. Ich weiss ja nur zu gut, dass er gern gekommen wäre, aber der Mut fehlte ihm dazu. Nachdem ihm dann Tschirren lange genug erklärt hat, er soll kommen, wäre er wohl erschienen, aber da hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Nun wollte ich nicht mehr. D.h. ich tat wenigstens dergleichen und setzte eine Trauermiene auf. Es war ganz glatt, zu sehen, wie der arme Kerl sich grämte, besonders weil die andern sagten, dass ich nun böse über ihn sei. Das stimmt zwar nicht im geringsten, aber lassen wir ihn nur noch ein wenig in dem Glauben. Armer Heinz! Wenn Du wüsstest, wie sich ein Mädchen, das Dich zwar gern hat, über Dich lustig macht.

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Sonntag, 4. Februar 1940

Ein unbedachter Augenblick
zerstört oft unser ganzes Glück.

Ende der Schwärmerei von Heinz
Ja, ja ich habe einen grossen Fehler begangen. Warum ach habe ich gemeint, mit Heinz nur spielen zu können. Nun hat er gesagt, er wolle nichts mehr mit mir zu tun haben; ja der Heinz mit dem ich gemeint hatte, einmal eine schöne Freundschaft haben zu können. Aber ein Jahr lang glaubte ich, er habe mich gern und nun soll alles mit einem Schlag enden. Ich kann es noch nicht fassen, dass ich nun plötzlich Heinz nichts mehr bedeute. Ob da nicht Agnes im Spiel steht? Warum habe ich auch so abwehrend getan! Es war ja nicht so gemeint. Nun kann und will ich nichts dagegen tun. Nein, nachlaufen tu ich dem Herrn Schenk nicht und wenn ich auch im Unrecht bin. Dass gibt mir mein Trotzkopf nicht zu!!!! Nun bin ich frei. Dem Erstbesten werde ich meine Freundschaft geben und zwar recht auffällig, damit ich Heinz ärgern kann, denn dass ich das tue, wenn ich schon bald mit einem andern gehe, das weiss ich. Ich habe Momente, in denen ich ihn verachte, aber dann muss ich mich eben doch selber anklagen. Warum habe ich ihn nie ernst genommen? Warum habe ich ihn nur als Zeitvertreib angesehen? Ach, wie manchmal ist er im Sommer wegen mir auf die Ka-We-De gegangen und ich habe kalt lächelnd gesagt, ich könne nicht kommen. Jetzt ist es zu spät. Es soll mir eine gute Lehre sein. Schwermütig werde ich deswegen nicht. Er war ein netter Kerl, und ich muss mir Mühe geben, ihn zu vergessen, was mir zwar schwer fallen wird!!

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Sonntag, 11. Februar 1940

Lerne Trübes heiter tragen
und das Glück kommt unverhofft!

Noch jetzt, nachdem ich sehr schwere Stunden durchgemacht habe, behalte ich den Kopf hoch. Erst verliere ich einen Freund und seit gestern ist auch zwischen Sylvia und mir das Band der Freundschaft endgültig gerissen! Ja, wir werden uns jetzt wieder anständig gegeneinander benehmen, aber eine Freundschaft, wie sie gewesen ist, wird es und kann es nie mehr werden. Die Aussprache mit Sylvia war gut, obwohl wir beide Tränen in den Augen hatten. Ich weiss nicht, wem es schwerer war, mir oder Sylvia. Ihre und meine Wege werden auseinander gehen, denn sie ist neidisch auf mich. Sie mag mir den Vortritt, den ich überall vor ihr habe, nicht gönnen. Sie wirft mir vor, ich dränge mich überall vor. Sie habe lange gekämpft mit sich selbst gegen den Hass, der in ihr aufstieg gegen mich. Arme Sylvia! Ich glaube, ich hätte ihr noch manchmal helfen können, doch nun sieh selber, wie du fertig wirst. Ich werde meinen Weg ohne dich machen können, aber ich hoffe, dass du den Weg wieder einmal zu mir finden wirst. Hass mich nur, hass mich, bis du einsiehst, dass du mir unrecht getan hast. Der Moment wird kommen. Ich hoffe das ganz fest. Wir sind ja alle nicht unfehlbar, dass der Neid eine Freundschaft in Scherben schlagen kann, das ist bitter!! Wie oft, wenn Sylvia krank war, bin ich zu ihr gegangen und nun bin ich ihr nicht einmal so viel wert, dass sie mir zum Geburtstag gratuliert. Ja, die Bitte ist immer heiß, der Dank kalt! Doch ich will nichts Schlechtes über Sylvia schreiben. Nein, vielmehr bedauern muss ich sie. Ich trauere um zwei Freundschaften, um die von Heinz und die von Sylvia. Die alte, meine Freundin Sylvia ist tot und um Tote trauert man. Die neue Sylvia wird für mich das sein, was ich ihr bin: Nicht mehr als jedes andere Mädchen aus der Klasse. Man verliert Freunde und gewinnt neue. Eine neue und herrliche Freundschaft ist im Werden mit dem lieben Papagei (Beatrice Laenger), den ich in Adelboden kennen gelernt habe. Von ihr habe ich das Buch „Im Lenz des Lebens" zum Geburtstag bekommen. Ich habe das Gefühl, so etwa muss eine ältere Schwester sein. Alles kann ich ihr anvertrauen. Dies hilft mir etwas über den Verlust der schönen Freundschaft mit Sylvia hinweg. Am 9. März gehe ich an den Patria-Abend. Aber mit ganz anderen Gefühlen als letztes Jahr. Warum gehe ich? Nicht wegen Heinz. Oder doch, aber nur mit der Absicht, ihn zu ärgern. Hoffentlich komme ich recht viel zum Tanzen, und er sieht mich! Bis dann heisst es aber noch arbeiten und den Kopf auch noch hie und da etwas bei der Sache haben.

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Sonntag, 10. März 1940 

Patria-Abend. Ja, gestern Abend war ich im Casino am Pfadiabend. Ich muss sagen, ich bin restlos befriedigt. Nur, dass Gusti nicht kommen konnte, war Pech. Aber sonst war es ganz gerissen. In meinem langen Kleid habe ich ganz nett ausgesehen. Nur zweimal habe ich nicht getanzt. Heinz habe ich gesehen, aber gegrüsst haben wir uns nicht. Er wurde ganz weiss, als er mich tanzen sah. Nun könnte ich eigentlich mit der Rache zufrieden sein, denn ich weiss bestimmt, dass sich einer in mich verliebt hat. Ein Gymeler. Er hat den ganzen Abend fast nur mit mir getanzt. Ich habe immer extra freundlich mit ihm gesprochen, wenn wir bei Heinz vorbei gekommen sind. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn sich drei zu gleicher Zeit vor einem verbeugen, um zu tanzen. Besonders hart ist es, wenn man wie ich den Tanz versprochen hat und dann lieber mit einem anderen tanzen würde. Der arme Gymeler dauert mich eigentlich, denn ich kann nichts dafür, dass ich ihn nicht gern habe. Gewiss, er war sehr nett und hat mir liebe Sachen gesagt, die mir bis jetzt keiner gesagt hat. Warum habe ich denn immer mit ihm getanzt? Weil ich‘s nicht übers Herz brachte, ihm nein zu sagen. Wie anders war es doch, als mich der herzige dunkeläugige Pfader holte. Nur zweimal gelang es ihm, mich zu engagieren, bevor der andere kam. Beim ersten Mal hatte ich ihn gern. Er geht in den Proger. Kommt das wohl davon, weil er mir keine dummen Sachen gesagt hat? Dumme Sachen nenne ich z.B.: Du bist hübsch, du tanzest gut etc…. Ich glaube, das gibt den Ersatz für Heinz. Den letzten Tanz habe ich mit ihm getanzt. Den andern habe ich deswegen wohl sehr enttäuscht. Gesehen habe ich ihn nicht mehr. Ich hoffe auch, dass ich ihn nie mehr sehen werde. Er hat mir den Abend schön gemacht. Er ist der erste, der mir gezeigt hat, dass er mich gern hat. Für das bin ich ihm dankbar, aber mehr? – Nein!
Der Abend war herrlich. Heinz habe ich nun verschmerzt.

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Montag, 18. März 1940

Heinz bleibt sitzen! Ich habe zwar gewusst, dass er nicht hell ist, aber dass er nicht einmal promoviert wird, das ist dick! Ich bin heute Abend so unruhig. Wir hatten heute um 3 Uhr aus. Ich ging noch zu Yvonne. Die arme dauert mich. Sie ist ganz kaputt vor Angst wegen dem Zeugnis. Gestern war Gusti da. Ach alle Sätze, die ich jetzt schreibe, sind öd und leer, gerade wie es mir zu Mute ist! Es ist gut, gibt es Ferien. Jeder Schultag ist eigentlich leer, denn ich habe ja keine Freundin mehr! –
Heinz dauert mich doch, wenn ich es schon nicht zugeben will. Mich geht es ja zwar nichts mehr an, aber immerhin als ehemaliger „Schwarm“....

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Mittwoch, 10. April 1940

Ferien! Schon zwei Wochen Ferien sind vorbei! Die Zeugnisse hat es auch gegeben. Yvonne und Maria sind geflogen. Nun sind wir nur noch fünf Mädchen. Die Kluft , die zwischen Martina und mir entstanden ist, wird immer grösser. Noch hange ich mit aller Liebe an Martina, aber ich spüre es, Martina will nichts mehr von mir wissen. Wie sehr mich das quält, kann ich gar nicht beschreiben. Mueti hat mit Frau Steffen gesprochen und diese meint ganz bestimmt, dass wir uns wieder finden werden. Ach, ich habe ja die Hoffnung auch noch nicht aufgegeben. Dieses Jahr noch wird Sylvia ein Hindernis sein, aber schon nächstes Jahr sind Martina und ich dann im Gymer und Sylvia noch nicht. Noch eine Entschuldigung gibt es für Martina. Sie ist noch zu jung, um eine wahre, tiefe Freundschaft zu kennen. Hoffen wir, dass sie es lernen wird! Wir sind doch Pfadfinderinnen und unser Gesetz sagt doch:Die Pfadfinderin ist die Freundin und Schwester aller Pfadfinderinnen. Heute war Herr Pfarrer Oertli auf Besuch. Nun soll ich ja den Konfirmandenunterricht besuchen. Zwar fühle ich mich noch gar nicht reif dazu. Wenn mir jemand die Frage stellte, wie ich zur Religion stehe, ich müsste antworten: „Ich weiss es selbst nicht.“ Zweifeln muss ich eigentlich an Gott. Wenn er doch so mächtig ist, warum lässt er denn geschehen, dass sich die Völker gegenseitig vernichten? Warum hilft er den armen kleinen, tapferen Staaten nicht? Warum lässt er einen Hitler bestehen? Gewiss, er will wohl die Menschheit strafen, aber doch straft er nicht alle, die Strafe verdient hätten. Wieviele sehen im Krieg eine Möglichkeit, reich zu werden!
Ach, manchmal überkommt mich trotz allem Schweren ein Glücksgefühl, einfach weil ich – bin – ! Ich bin ein Mensch, ich arbeite, ich – bin – etwas. Dafür muss ich doch gewiss auch wieder Gott danken. Man sollte halt nicht nachdenken, sondern einfach sagen: „Es gibt einen Gott, der macht alles, was gut ist und an ihn muss man glauben!“ Den, der das kann, beneide ich.

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Sonntag, 14. April 1940

Schwierigkeiten mit Freundinnen -
Gusti war da! Das sagt eigentlich alles, Es ist immer dasselbe, zuerst die grosse Freude, dass er da ist, dann die kleine Enttäuschung, wenn er am Nachmittag mit Alfa ausgeht und dann am Abend der herzliche Abschied.  
Übermorgen beginnt die Schule wieder! Ja, ich muss schon sagen, ich gehe mit gemischten Gefühlen in die Kl. 1A. Mir ist, als wäre es erst gestern gewesen, dass wir vom Mösch weg in den 2ten kamen. Nun gehe ich wirklich nur noch zum Lernen in die Schule. Freundin habe ich keine mehr und Freund auch nicht. Ich werde jetzt wohl allein sitzen. Neben Martina will ich nicht mehr. Dann bin ich frei. Auch nehme ich mir wieder einmal etwas vor, nämlich mit allen freundlich zu sein und meine Noten nicht mehr zu sagen. Allerdings weiss ich ja noch nicht, ob ich das kann. Oh, ich möchte so gern … es wäre alles noch so wie im dritten Proger!!! Vielleicht ist der Verlust von Sylvia und Martina eigentlich mein erster wirklicher Kummer. Aber ohne Nutzen gehe ich auch nicht daraus hervor. Ich habe gelernt, bescheidener zu werden!

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ontag, 28. April 1940 
 
Zahnspange / Widerstand gegen Vater! 
Ja, ich sitze allein. Doch ist es gar nicht so schlimm wie ich gedacht habe. Bis jetzt bin ich glücklich! Denn ich hatte die besten Noten der Mädchen. Aber nun, wo es in der Schule besser geht, happert‘s ganz gewaltig zu Hause. Ich weiss selber nicht warum, dass ich nicht traurig und niedergeschlagen bin, wie immer sonst nach solchen Szenen. Allerdings so wie heute war es noch nie. Um alles zu erklären muss ich weit ausholen: Also ich habe seit letzter Woche eine Spange im Mund, um einen Zahn weiter nach hinten zu setzen. Die Spange stört mich beim Sprechen und ich kann das „r“ nicht mehr gut sagen. Gestern Abend hat mich meine „liebe, gute“ Mutter wahrhaftig ausgelacht und verspottet deswegen. Ich habe nicht viel geantwortet, aber es hat mich tiefer getroffen, als es vielleicht sollte. Heute hat sie natürlich wieder geheult wie immer. Sonst hat mich das immer gerührt, aber heute liess das mich sehr kühl. Nur eines tut mir leid, dass ich meinem Vater so entschieden meinen harten Kopf zeigen musste. Er verlangte, dass ich ihr abtrocknen solle. Da hab ich ein ganz festes, klares „Nein“ gesagt. Es hat wohl härter geklungen, als ich wollte. Sprachlos vor Erstaunen blieb er einen Moment in der Türe stehen. Dann wiederholte er den Befehl und bekam die gleiche Antwort. Wenn ich ihm auch weh getan habe, um nichts würde ich es zurücknehmen, was ich gesagt habe. Bis dahin habe ich die Mutter manchmal gehasst. Seit gestern habe ich nun auch noch das „Verachten“ gelernt. Am Schonendsten für sie ist es, wenn ich annehme, dass sie zu dumm ist, um zu spüren, wie weh sie mir getan hat. Ich habe daran gedacht, an Gusti zu schreiben, aber er würde mich diesmal nicht verstehen! Zum ersten Mal habe ich mich dem Vater in dieser Weise widersetzt, aber ich konnte nicht anders. Er sagte dann, ich könne die Konsequenzen tragen. Jawohl, ich werde es tun!!

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Pfingsten, 12. Mai 1940

Streit mit Eltern, Einsamkeit, Krieg! 
Ja, Pfingsten! Wie schön hätte es heute wieder sein können, wenn - , ja, wenn es eben nicht wäre wie es jetzt ist. Natürlich soll ich ja wieder an allem Schuld sein. Der Vorschlag für heute lautete also: Am Morgen in die Kirche, in der Stadt Mittagessen und am Nachmittag irgendwohin. So wie es ist: Die Mutter ging allein zur Kirche. Wir assen schweigend zu Hause zu Mittag und jetzt bin ich allein. Wo die Mutter ist, weiss ich nicht. Vater ist im Theater. Ein wirklich schöner Muttertag!!
Überhaupt wäre alles anders, wenn nicht wieder Mobilisation wäre. Der verdammte Hitler hat Holland und Belgien überfallen. Jetzt sind wir noch das einzige neutrale kleine Land, das nicht im Krieg ist. Das letzte Mal bei der Generalmobilmachung, als die Schule geschlossen wurde, da haben wir alle gejubelt. Vorgestern war es still, als die Meldung kam. Der Ernst der Lage ist uns Jungen eben jetzt besser bewusst. Zu all dem bin ich wieder einmal verliebt. Ich habe es ja lange nicht glauben wollen. Diesmal ist es Marc Kohler. Wie lange dauert es wohl, bis ich wieder einsehe, dass es nichts ist? Ach, vor einem Jahr, da war es schön! Da waren wir mit Gusti in Zürich an der Landi. Auch Ernstli lebte damals noch. Was ist ein Jahr? - Jetzt wäre ich im Pfingstlager mit den „Grünen“. Ach, es wäre so schön. Jetzt liege ich halt auf dem Diwan und denke von Zeit zu Zeit an Mark. Es ist zwar nicht das gleiche, wie damals, als ich Heinz liebte. Die dummen Glocken sollen doch aufhören zu läuten! Sie machen mir das Herz so schwer. Vis-à-vis bei Thommsens sind die Läden geschlossen. Die Glücklichen, sie haben es gut. Sie machen einen Pfingstausflug. Gusti war letzten Sonntag hier. Ihm könnte ich jetzt eigentlich einen Brief schreiben, aber er hat gewiss selber genug, so dass ich ihm meinen Kram nicht auch noch schreiben will.


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Dienstag, 14. Mai 1940

Eine unglaubliche Nacht, die ich wohl nie vergessen werde. Es ist bald 23.00 Uhr, aber das ganze Haus ist wach. Vati und Herr Berger richten den Luftschutzkeller mit fieberhafter Eile fertig ein. Mueti hat Decken für Notlager nach unten getragen. Wasser, Cognac und Kerzen, alles ist bereit. Was ist denn eigentlich vorgefallen? Gusti hat vor einer halben Stunde telefoniert, es stehe sehr schlimm. Heute ist der letzte Tag, an dem die Ausländer Waffen tragen dürfen. Man ist der Ansicht, Hitler lasse diese Nacht nicht ruhig vorübergehen. Basel ist interniert. Wo ist wohl Papagei? Gusti ist mutlos. Das will etwas heissen! Ich bin die einzige, die untätig im Bett liegt. Aus dem Garten herauf tönen dumpf die Spatenstiche von Vater. Mir ist eigentümlich zu Mute. Angst habe ich nicht. Komme, was kommen mag. Wenn nur Gusti da wäre. Aber das ist egoistisch gedacht. Nun stehe ich halt auch auf und höre Nachrichten. Was weiss ich wohl das nächste Mal zu berichten?

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Sonntag, 26. Mai 1940

Die Nacht ging vorbei ohne Alarm und alles ist wieder ruhig. Ruhig, das darf man eigentlich nicht sagen, wenn man an die grossen Schlachten denkt, die jetzt in Flandern wüten. In der Welt ist Unruhe und in meinem Herzen auch. Ich weiss gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Also ich habe mir etwas eingebrockt, das ich nun ausessen muss. Schon einmal habe ich ja geschrieben, dass mir Kohler nicht mehr gleichgültig sei; nun hatte ich aber einmal eine schwache Stunde, in der ich den Geburtstag von Kurt Perolini auf ein Zettelchen schrieb und dieses in mein Etui legte. Die Zeit ging vorüber, und ich dachte nicht mehr daran. Plötzlich merkte ich, dass Kohler nicht mehr der gleiche war, ja er fragte mich wörtlich: gell Staub, Du hast den „Pi“? Was sollte ich nun tun? Ich liebte Kohler, aber ich konnte doch das nicht zugeben? Da habe ich halt so geantwortet, dass man annehmen konnte, ich habe wirklich „Pi“ gern. Perolini selber glaubt es auch und er freut sich. Nun wissen es auch die Mädchen, und so werde ich mit „Pi“ zusammen genannt. Ich lasse es geschehen, denn ich kann ja nicht leugnen, weil sie seinen Zettel gefunden haben. So tue ich jetzt dergleichen und spiele die Verliebte mit „Pi“, und im Grunde denke ich an Mark Kohler. Am Samstag im Theater hat Perolini extra seinen Platz getauscht mit Steiner, um näher bei mir zu sitzen. Ich werde ja sehen, wie ich mit all dem fertig werde.

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Dienstag, 18. Juni 1940

Alle diese Dinge und doch so unwichtig gegen all das, was jetzt in der Welt geschieht. Frankreich hat Deutschland um Frieden gebeten. Gestern bin ich gegen Pocken geimpft worden. Am Nachmittag hielt ich einen Vortrag über „Louis Pasteur“. Sehr gut.

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Servens, 8. Juli 1940

Ja, ich bin hier in den Ferien und nun bin ich soooo traurig. - Die Soldaten sind fort. Bis jetzt kamen sie alle Abende zum Tanzen. Einer kam nur zweimal und doch bin ich grenzenlos verliebt. So war ich es noch nie. Es kamen gestern Offiziere und doch ging ich ihn bei der Damentour holen. Ach, warum hat er mir beim Abschied noch die Hand gegeben? Nun ist er weg! Ob ich ihn in meinem Leben noch einmal sehen werde, weiss ich nicht, aber der gestrige Abend war der schönste!!

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Bern, den 10. Januar 1941

Was ich da geschrieben habe, ist ein Blödsinn!!!

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Bern, den 13. September 1940

Schon so lange bin ich nun wieder hier und eben jetzt las ich das Gekritzel aus den Ferien. Ach wie dumm! Ich kann gar nicht begreifen, dass ich das gewesen bin, die das geschrieben hat. Heute lächle ich ziemlich spöttisch darüber. Aber eben, es gibt ja Stunden, wo der Mensch verrückt ist. Ich wundere mich auch, dass das das einzig Wichtige aus fünf Wochen Ferien sein sollte. Aber nun bin ich wieder in Bern und habe nicht viel Zeit, um zurückzudenken. Gusti hat zwei Monate Urlaub und geht ans Tech Burgdorf. Morgen kommt Vati zu Besuch. Mir scheint es fast, als hätte ich Angst, das hinzuschreiben, was mich drängt, was mich traurig macht. Also kurz gesagt: Heinz hat eine neue Freundin gefunden. Nun, ich versuche mir zuzureden: „Was ist denn schon dabei, das geht Dich doch nichts an?“ Aber die Eifersucht plagt mich. Es könnte ja alles anders sein!! Ich meinte, ihn vergessen zu haben, aber die erste Liebe ist wohl doch die grösste. Seine Freundin kenne ich, sie ist sehr hübsch mit blonden Zöpfen. Viel hübscher als ich! Und ich dummes Huhn meinte immer noch, dass alles wieder gut werden könnte. Ach, ich bin ja so wankelmütig! Kann ich anders sein? Jetzt finde ich „Pi“ wieder sehr nett, wer weiss, bis in zwei Wochen ist es ein anderer. Im Grunde genommen schäme ich mich, aber ich kann es nicht ändern!!! Vielleicht einmal kommt auch zu mir das Glück.
Es fängt an Herbst zu werden. Kaum merkt man es. Die Bäume stehen noch grün und voller Früchte da und doch fällt schon manchmal ein dürres Blatt leise zu Boden. Schon spürt man es, der Sommer ist vorbei. Nur nicht traurig werden, es nützt ja nichts. 

Frühherbst

Silberne Wolke mit goldenem Saum,
Blaues Gewölbe, rötlicher Baum,
Herbstzeitlose, fallendes Blatt,
Sommermüde, glückessatt,
Erster, schwirrender Vogelzug,
Sommerverschlafener träger Pflug,
Herdenreigen, brausender Wind,
Schimmernder Reif!……
Schlafe mein Kind!
(G. Pfander)

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Advent Sonntagabend, 1. Dezember 1940

Fast kann ich es nicht glauben, dass alles schon vorbei ist. Ach, es war einfach unbeschreiblich! Mein erster Gymerball!!!! Ach ich muss von vorne beginnen. Also letzten Montag kam Edi Buser mich , ja mich fragen, für den Gymerball in den Sternen in Muri. Ich kann es nicht beschreiben, wie mir zu Mute war, als ich die Erlaubnis dazu erhielt. Die ganze Woche musste ich dieses grosse Glück herumtragen und gestern, ja gestern kam der grosse Moment! Um halb acht läutete es und Edi kam mich abholen. Mir war es so sonderbar!! Es war ein wenig Angst, war es ja das erste Mal, dass ich mit einem Knaben ganz allein fort ging. Dann die Freude, die Erwartung, oh, es war soooo schön !!!!! Ich trug mein weisses Taftkleidchen mit roter Schleife. Zwei echte Rosen als Schmuck. Das Herz klopfte zum Zerspringen, als ich mit ihm auf die Strasse trat. Wir fuhren mit dem Autobus bis auf den Helvetiaplatz und dann gingen wir zum Muribähnlein. Es wimmelte von Pärchen, die aufs Züglein warteten. Edi stelle mich seinen Kameraden vor. Einige kannte ich schon. Um 8 Uhr fuhren wir ab. Im Sternen hatten wir einen Tisch, der für die Rovergruppe besetzt war, zu der auch Edi gehört. Schon den ersten Tanz machten wir zusammen. Es ging wunderbar. Edi tanzt ganz gut!! Und was mich besonders freut ist, dass er auch sehr gern Walzer tanzt. Von der Tombola gewann ich einen Fahrtplan und einen silbernen Zuckerstreulöffel. Ich habe riesige Freude an den Dingen. Sind es doch Andenken an diesen unvergesslichen Abend. Viel zu schnell war alles vorbei. Draussen war es beissend kalt und der Schnee war eine Eiskruste auf dem Weg. Dazu noch die Verdunkelung. Edi begleitete mich natürlich nach Hause. Etwas beklemmend war es doch so morgens um halb drei ganz allein mit einem im Grunde genommen fremden Menschen durch die dunkle, eiskalte Winternacht zu gehen. Aber Edi ist ja Pfadfinder und man braucht keine Angst zu haben!! Ich meine es noch jetzt zu spüren, wie er mich sanft am Arm nahm bei einer besonders gefährlichen Stelle auf der Strasse. Nicht aufdringlich, nein scheu und zurückhaltend. Nur ein Pfadfinder, der jemandem eine Hilfe anbietet. Der Abschied vor dem Haus war freundlich, ja herzlich, aber auch gar nichts mehr. Ach ja, zu Edi habe ich Vertrauen. Das ist ein Kamerad!! Jetzt ist es Sonntagabend und alles ist vorbei!! Eine ganze Woche habe ich mich darauf gefreut und so schnell geht das Schöne vorüber. Vor mir auf dem Tisch stehen die beiden roten Rosen. Sie beginnen schon zu welken…. Und doch, die Erinnerung bleibt!! Morgen beginnt die Schule wieder, und ich darf so oft ich will an diesen schönen Abend zurückdenken. Es war ja soooo schön!!!!!!

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Freitag, 6. Dezember 1940

Ach, ich bin so glücklich! Am Morgen schon habe ich Edi auf der Brücke gesehen. Den ganzen Abend, so von 5 Uhr an, war ich aufgeregt. Beim Tischdecken liess ich eine Tasse fallen. Sie zerbrach natürlich. Ich sagte noch: „Schimpf nicht Mueti, Scherben bringen Glück!!“ - Ich sass auf dem Diwan und las. Da läutete es. Mein Herz klopfte und ich musste mich zusammennehmen, ruhig zu bleiben. Ich hatte mich nicht getäuscht. Es war Edi. Er kam, um mir ein Photo vom Samstag zu bringen. Sie ist sehr gut. Natürlich steht sie jetzt auf dem Nachttisch, so dass ich sie immer anschauen kann. Ich bin restlos glücklich!

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Dienstag, 11.30 Uhr, 24. Dezember 1940

Soeben komme ich erst nach Hause. Wir haben im Alhambra an der Soldatenweihnacht noch einmal das Stück „Häberlis Pudi“ aufgeführt. Nachher gab es noch Kuchen und Tee und Zigaretten so viel wir wollten. Ich habe nicht geraucht. Auch Jakob Steiner hat nicht geraucht. Ich habe mit ihm um zwei Tafeln Schokolade gewettet. Er behauptet nämlich, während der ganzen Rekrutenschule nicht zu rauchen. Wenn er das fertig bringt, so bekommt er von mir die Schokolade. Ob wir das wohl bis dann nicht vergessen? – Am Freitag gehe ich nach Zweisimmen. Agnes hat mich eingeladen. Die ganze letzte Woche war ich krank. Ich habe mich erkältet bei der Aufführung in der Schulwarte. Am Freitag kam übrigens Edi zuschauen und natürlich musste ich dann nicht allein heimgehen!! Er hat meine Adresse von Zweisimmen verlangt. Wenn er mir schreibt, ist er der erste, der das tut.
Gusti schenkte mir alle Fotos und die neue Schokolade mit Luftlöchlein.

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Montag, 6. Januar 1941

Wieder in Bern! Nach 10 Tagen herrlicher Ferien in Zweisimmen bin ich wieder in Bern. Der Daumen tut mir so weh und doch hätte ich so viel zu schreiben. Heute habe ich den ganzen Tag Heimweh gehabt nach Zweisimmen und nach – Urs! - Soviel habe ich erlebt. Den ersten Kuss habe ich erhalten und zwar von Konrad Schulthess. Das ist der Cousin von Agnes. Armer Konrad! Ich kann dich ja nicht lieben, weil Dein Freund Urs Dir den Platz wegnimmt! Der gestrige Tag war der schönste. Urs und ich sind zusammen den Rinderberg hoch hinaufgestiegen mit den Skis. Ganz allein! Den Daumen habe ich mir verstaucht. Doch was tuts. Es war ja so schön!!! Ich schäme mich eigentlich Edi gegenüber. Er hat mir geschrieben und ich habe nicht geantwortet. Aber ich kann nichts dafür. Ach, warum musste Urs dazwischen kommen? Und dann Konrad! Armer Göne! Warum musstest Du Dich auch in mich verlieben? Doch sei zufrieden, Du hast mir den Ersten Kuss gegeben, und das vergesse ich nie!!!
Ich habe sooo Heimweh nach Zweisimmen!!!!

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Freitag, 10. Januar 1941

Schon wieder krank! Erst bin ich aus den Ferien zurückgekehrt, und nun habe ich schon wieder Halsgeschichten. Es ist zum Verzweifeln. Warum kann ich denn nicht gesund sein, wie die andern? Zudem kommt noch das Heimweh nach Zweisimmen und nach Urs. Jeden Morgen, wenn ich erwache, schaue ich zum Fenster hinaus, was für Wetter es sei. Heute morgen schien die Sonne und da dachte ich, wie schön es jetzt in Zweisimmen wäre!!! Wenn mir doch Urs nur eine Karte schreiben würde!
- Ich nehme Italienisch und nicht Griechisch im Gymer. Eigentlich dauert es mich ein wenig, aber dafür sitze ich jetzt dann neben Agnes.
Papagei aus Basel war hier. Er ist immer noch der gleiche geblieben. Er hat mir ein Bändchen Gedichte von Rainer Maria Rilke geschenkt. Ich kann zwar nicht viel anfangen damit. Ich verstehe diese Gedichte noch nicht.

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Sonntag, 9. Februar 1941

Lebensüberdruss, Angst
Nur nicht weinen!! Wenn es schon würgt und weh tut. Wieder kommt die gleiche Frage, die ich mir schon so oft gestellt habe: Warum können wir nicht glücklich sein? Gestern hatte ich Geburtstag. Ja, schon 16 Jahre bin ich auf der Welt! So viel kam gestern auf einmal! Am Morgen begann der Tag mit bösen Worten. Mueti hat mir nicht gratuliert. Herunterschlucken, nichts dergleichen tun! Am Nachmittag wurde die Stimmung etwas besser. Um 5 Uhr hatte ich Vortragsübung im Konsi. Es ist mir wieder einmal nicht so gelungen, wie ich möchte. Am Abend ging Mueti mit Frau Buser ins Theater. Edi hat mich an ihren Klassenabend eingeladen. Ich darf ehrlich sagen, ich habe mich nicht gefreut. Um 8 Uhr holte er mich ab, und wir gingen dann ins „Schwyzerstärnheim“. Es war grossartig wie sie alles eingerichtet hatten. Ein bäumiges Orchester, fröhliche Gesichter, Überraschungen, alles war gemacht, um vergnügt zu sein. Was war mit mir? Gewiss, ich tanzte und zwar mit Edi sehr gut. Hie und da vergass ich sogar, dass ich ja nicht wie andere sein durfte und ich lachte und hatte Freude. Kann ich etwas dafür, dass es Momente gab, da mich das Tanzen, die Leute, der Cigarettenrauch einfach anekelte?! Edi kam mit mir hinaus an die frische Luft, und das tat gut!! Wir tanzten bis am Morgen um 3 Uhr. Das also war mein 16. Geburtstag!! Viele Glückwünsche von Edis Kameraden. Alles Gute wünschten sie mir. Sie ahnten alle nicht, wie einsam ich unter ihnen war. Edi schickte mir eine nette Karte. Das tönt doch, wie wenn ich zuzugreifen brauchte, um glücklich zu sein. Das Furchtbarste ist, ich kann mir selbst nicht helfen!
Ich habe nur einen Wunsch: Einschlafen und nicht mehr erwachen. Ist das eine Sünde mit 16 Jahren? Ich bin sooo müde! Ich habe Angst vor etwas, das ich nicht kenne. Edi beunruhigt mich. Oft ist er mir direkt zuwider und dann habe ich wieder Momente, wo ich wünsche, nur bei ihm zu sein. Irgendwo geborgen. Er ist nicht wie die andern. Er kann nicht so fröhlich sein wie sie. Ich habe noch nie für einen Menschen ein solches Gefühl empfunden wie für ihn.
Am Patriaabend wird er mich nach Hause begleiten: ich habe es ihm erlaubt. Warum habe ich es getan? Immer habe ich ein wenig Angst, wenn ich neben ihm hergehe. Gestern Abend bei der kleinsten Berührung fuhr ich erschreckt zurück. Auf dem Heimweg gab er mir nicht den Arm. Es ist gut so, ich bin ja selbständig, aber die andern haben sich sicher anders benommen. Ach, ich habe manchmal Lust, einfach nichts mehr mit Knaben zu tun zu haben. Aber schliesslich muss man doch auch einen Menschen haben, dem man vertrauen kann. Andere haben liebende Eltern. Ich habe einen Bruder, der uns nicht mehr gehört. Ist er nicht die Ursache meiner Lage? Ja, ich liebe seine Elsbeth ja auch und ich helfe ihnen, wo ich nur kann. Er aber geht und lässt mich allein. Mueti kann und will es nicht glauben, dass ihr Gusti einer andern gehören soll. Heute Nachmittag sind wir, Vati, Mueti und ich, der Aare entlang über Muri spaziert. Die Sonne schien strahlend und der Himmel leuchtete klar blau wie im Frühling. Fast schien es mir, als würde es auch bei uns wieder Frühling. Mueti sprach mit uns und wir assen im „Sternen“ z‘Vieri. Schon wollte ich wieder einmal glücklich sein. 
Jetzt sitze ich da, ich wollte lernen. Geometrie, Algebra, Franz und Latein. Aber ich tue nichts von allem. Ich schreibe und schlucke die Tränen hinunter. - Sobald ich von Gusti zu sprechen anfing, bekam Mueti wieder einen Anfall, ich kann es nicht anders nennen. Jetzt spricht es wieder kein Wort mehr mit Vati und mit mir. Darf ich deswegen verzweifeln? Wie leicht sagt sich das Wort „Kopf hoch!“ und wie schwer ist es oft, danach zu handeln. Ich möchte so gern glücklich sein!

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Samstag, 22. Februar 1941 

Heute bin ich glücklich. Ich habe ein Velo bekommen. Es ist kein Traum, es steht neben meinem Bett, und ich kann es greifen, so oft ich will. Aber das ist noch nicht genug. Ich werde Wölfliführerin. Edi hat mich angemeldet. Überhaupt Edi ist ein bäumiger Kamerad. Er kam heute Abend auch schnell das Velo anschauen. Ich bin ja so dankbar, dass ich ihn kennen gelernt habe. Er hat mich auch für nächsten Samstag an den Patriaabend eingeladen. Mit so ganz anderen Gefühlen gehe ich dieses Jahr als letztes. Da war es Rache gegen Heinz. Jetzt aber ist es nichts als Freude.
Heute feierten wir den Geburtstag von Bi Pi bei den Pfadi. Es war nicht ein fröhliches Fest wie sonst, denn unser lieber Bi Pi lebt ja nicht mehr. Es wurde mir doch fast etwas traurig zu Mute, als ich die ganze grosse Pfadischar vor mir sah. Bald werde ich ja nicht mehr zu ihnen gehören.
Übrigens hat mir Urs wieder geschrieben. Ich werde wohl nicht mehr antworten. Ob es ihm wohl sehr weh tun wird? Es ist seltsam, wie schnell einem ein Mensch und noch dazu einer, den man zu lieben glaubte, entschwindet. Überhaupt: Lieben. Hab ich wohl schon einmal geliebt? Ich glaube nicht!

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Dienstag, 17. März 1941

Gerade mit der Frage, mit welcher ich das letzte Mal aufgehört habe, möchte ich nun beginnen. Ich war mit Edi am Patriaabend und es war schön, er hat mich heimbegleitet. Das sind nun bald drei Wochen her. Seither kam er nie mehr zu mir. Jeden Abend und über jeden Mittag warte ich auf ihn. Wenn es läutet bekomme ich Herzklopfen, - immer umsonst!! Ist das Liebe? Wenn es so ist, dann ist Liebe nichts Schönes. Wenn ich doch nur aus mir selber klug würde! Vielleicht bin ich ihm ja schon verleidet. Warum kommt er dann aber fast jeden Tag über die Brücke? Das ständige „an ihn denken“ macht mich ganz nervös. In der Schule bin ich so schlecht wie nie. Nun bin ich nur noch eine Woche im Progymnasium. Ich werde am Palmsonntag konfirmiert. Ob mir Edi schreiben wird? Ach, es ist zum Verrückt werden! Bei allem was ich mache, denke ich immer: Was würde Edi dazu sagen!
Nächsten Samstag und Sonntag gehe ich noch einmal Skifahren und zwar nach Zweisimmen. Ich freue mich.

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Karfreitag, 11. April 1941

Ich ging damals nicht Skifahren und es ist gut so! Wiederum habe ich sehr vieles erlebt. Da ist vor allem die Konfirmation am Palmsonntag. Darüber schreiben kann ich nicht, aber es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Die Geschenke aufzuzählen wäre unmöglich, denn so viel hatte ich erhalten wie nur möglich. Jetzt bin ich wirklich wunschlos. Ich muss mich nur fragen, ob ich das verdient habe, und ich gestehe mir selbst ein: „nein“. Das liebste Geschenk sind mir die Nelken von Edi. Jetzt muss ich aber etwas Hässliches sagen: ich bin eifersüchtig. Edi hat nämlich nicht nur mir geschrieben, sondern auch Esther Schwab. Ich weiss zwar, dass sie sich schon lange kennen und dass ihre Eltern viel miteinander verkehren, aber dennoch – ach bin ich dumm!
Heute ist Karfreitag und ich nahm gerne das erste Mal am Abendmahl teil. Das Symbol ist ja sehr schön, aber ich bin vielleicht noch nicht reif dazu. Die Predigt von Herrn Pfarrer Oettli war sehr gut. Es ist wahr, Karfreitag ist der einzige Festtag, den wir nicht „verunstalten“. Denn an jedem andern Festtag sind jetzt meistens die Geschenke die Hauptsache und nicht mehr der Sinn. – Nun sollte ich doch auch noch ein paar Worte über den Schulabschluss schreiben. An der Schlussfeier spielte ich in der Aula Chopin mit Hans-Heinz Schellenberger einen Satz aus dem Mozartkonzert 5 und Vivaldi mit Dora. Am Freitagabend hatten wir den Klassenabend im Dälhölzli: Ich fürchte mich ein wenig vor dem Gymnasium. Schon jetzt denke ich oft an den lieben Proger und an all die Lehrer, die ich gerne hatte. Ja, die Zeit geht vorwärts und viel Neues wartet auf mich. Immer höre ich in meinem Kopf Schneebergers Geige mit der Melodie des Mozartkonzertes. Wir spielen nächste Woche wieder zusammen im Schweizerhof. Vor der Konf hörte ich immer die Melodie und die Worte: „Sei getreu bis in den Tod“… ich wünschte mir dann sehnlichst diesen Spruch, aber ich habe ihn nicht erhalten. Mein Spruch lautet: „Es gibt keinen andern Grund, ausser dem der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

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Sommerferien 1941

Vevey, le 22 juillet.
Ich bin also hier in den Ferien und bis jetzt gefällt es mir sehr gut. Nun will ich aber wieder mehr einschreiben. Also das Wichtigste: Mit Edi ist wieder alles in Ordnung. Ich war mit ihm am Bernerabend und jetzt kürzlich an einem Roverschregel bei Perrins. Güggen und er haben mich zu zweit heimbegleitet. Nun bin ich so froh! Er hat mir auch einen netten Brief geschrieben, der jetzt neben mir auf dem Nachttisch liegt. Nun muss ich aber schliessen, die „alte Dame“ kam schon zweimal fragen: „avez-vous fini?“ Maintenant je frappe et elle viendra éteindre la lumière!

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4. Dezember 1941

Hausball bei Gafners

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Gusti ! † 17. 12.

Thunersee
 
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 ! 1 9 4 2 ! 
 

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16. März 1942

Gusti kommt nie nie mehr! Oh, Gusti warum bist Du gegangen? Ich habe ja sooo Heimweh nach Dir!! Du hast mir dieses Buch geschenkt und Dir ganz allein will ich von nun an alles anvertrauen. Es soll ein einziger langer Brief sein an Dich. Gusti, siehst Du mich? Oh, Gusti, hilf mir! Weisst Du es noch? Ich wollte Dir immer alles sagen und nie ein Geheimnis haben? Das will ich halten und dieses Buch gehört nur uns, ganz allein Dir und mir. Gusti, bleib bei mir in Gedanken, ich habe Dich so nötig. Heute habe ich einen Brief von Prisu erhalten. Siehst Du, dieser Mensch ist besser als Du gedacht hast. Er hat mir ja schon so viel geholfen. Du musst ihn auch lieb haben, gell? Den Büsu hast Du doch auch gern gehabt, und er ist mir nun ein guter Kamerad geworden.
Ach, in der Schule geht es mir gar nicht gut. Ich habe es so schwer momentan. Haben sich wohl alle in mir getäuscht, und bin ich gar nicht so gescheit, wie sie alle meinten? Oh, ich habe so Angst! Bringe ich wohl die Kraft auf, alles wieder gut zu machen?
Gusti, lass mich Deine Gegenwart fühlen und hilf Deinem Lilly.
Gute Nacht!

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18. März 1942

Morgen haben wir die letzte Math. Probe dieses Jahr. Oh, Gusti, da muss ich gut sein! Gestern hatte unsere Klasse Klassenabend, aber ich bin nicht gegangen. Wie ganz anders war es doch das letzte Mal! Da warst Du noch bei uns und alles war gut.
Ruedi Früh hat mir heute geschrieben. Weisst Du noch: le petit diable in Vevey?
Sei morgen bei Deinem
Lilly

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26. März 1942

Heute Nacht schlafe ich zum ersten Mal in meinem neu tapezierten Zimmer. Oh Gusti, Du würdest Deine Bude nicht mehr kennen! Es ist hellgrün und Dein Bild hängt über meinem Bett. Aus Deiner Jungenbude ist nun ein Mädchenzimmer geworden; aber es ist doch eine grosse Traurigkeit, denn wieder ist ein Stück von Dir verschwunden. Ach Gusti, ich habe oft so furchtbar Heimweh nach Dir! Denke Dir, Dein Freund Alfa hat am Samstag Zwillinge bekommen. Einer heisst Gusti und der andere Heinz. Oh, ich wäre sehr gerne dem Gusti Gotte.
Am Sonntag bin ich mit Büdu auf dem Gurten gewesen am Katerbummel vom Patriaabend. Und ich bin sehr enttäuscht gewesen über mich, denn ich habe am Schluss eben dann noch getanzt. Siehst Du, ich habe ja einen so schwachen Willen, wenn es darum geht, etwas Gutes durchzusetzen! Gestern hatten Büsu und Rico Geburtstag. Sie waren beide bei mir zum Tee. Was wird wohl mein erster Traum in meinem neuen Paradies? Ich möchte so gerne von Dir träumen!
Gute Nacht.

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Mürren, den 11. April 1942

Nun bin ich schon bald eine Woche hier oben und es ist wunderschön! Das Zeugnis ist dann doch noch gut ausgefallen und nun bin ich also in der Tertia. Heute Abend ist Skichilbi da oben und ich gehe auch mit der Familie Meyer. 

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Sonntagmorgen

Beginn Rico
Ach, Gusti ich habe wieder getanzt und ich habe doch den Eltern versprochen, es nicht zu tun! Ich bin einfach ein Charakterlump. Jetzt hintendrein tut es mir ja so leid. Ich war dann bei den Gymelern und habe Spross gut kennengelernt. Ich glaube, er ist trotz seines blasierten Wesens ein gerissener Kamerad. Man kann so vernünftig sprechen mit ihm. Wir haben dann grad den Sonnenaufgang ansehen können. Und das war wohl das Schönste! Oh, und nun habe ich einen grauenhaften Ast!

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Gedicht von Rico:

Waldkonzert.

Ihr vollen Klänge in der Waldesstille -
Euch zu erlauschen, euch sich zu vertiefen
Oh der Gefühle, die verborgen schliefen,
Bereichert wieder neu erblühte Fülle:

Ein leises Zittern, ernst wie Todesbangen
Und ein Erbeben junger Frühlingswehen,
Der ersten Reife sinnendes Verstehen -
Doch drängender dieses ragende Verlangen…

Euch zu erlauschen, euch sich zu vertiefen,
Wo unter Stimmen, die im Innern riefen,
Selbst jener ewige Gesang erschweigt -

Und, ganz dem eignen Fühlen hingeneigt,
Mit dem Geneigt-Sein von erstarrten Bäumen
Den klingenden, bald dunklen Traum zu träumen!

Edgar Gafner, den 10. August 1942.


(3) Rico (Erich Gafner), der Dichter und Schwärmer.

Rico (Erich Gafner), der Dichter und Schwärmer


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Bern, den 15. August 1942

Schon sind die Sommerferien auch wieder vorbei und morgen beginnt die Schule. Ich habe drei herrliche Wochen in Flims erlebt und nun bin ich wieder gestärkt zum Arbeiten. Vor den Ferien war ich eine Woche im Salemspital, um mir die Mandeln schneiden zu lassen. Ach, war das eine glückliche Zeit. Von allen verwöhnt, viel Besuch und Geschenke! – Nur Du hast mir gefehlt Gusti! Elsbeth hat mir ein Büchlein geschenkt. Es ist jetzt so lieb zu mir. Auch Rico hat mich zweimal besucht, und ich glaube, schon damals hätte er gerne mit mir gesprochen. Ja, das ist nun eine ernste Sache. Ich sollte Dich jetzt so manches fragen und hätte Deinen Rat so nötig! Rico ist nur wegen mir mit dem Velo nach Flims gekommen. Ach, und ich habe ihn so sehr enttäuschen müssen. Ich weiss, dass er mich sehr lieb hat und er braucht mich, um dichten zu können. Ich sollte ihm eine herrliche geistige Freundschaft geben können. Er will ja meine Liebe nicht im reellen Sinn, sondern nur symbolisch. Weil ich ihm aber auch das verweigere, glaubt er, ich habe ihn falsch verstanden, und er ist so bitter enttäuscht! Aber das stimmt gar nicht, nur kann und will ich diese Verantwortung nicht auf mich nehmen, denn das alles wäre mir dann nicht gleichgültig, und meine Gedanken würden zu sehr abgelenkt, um das sein zu können, was Rico von mir will, müsste ich einen Menschen grenzenlos lieben und das tu ich nicht. Und dann lehne ich mich auch auf, nur symbolisch geliebt zu werden. Wenn ich dieses Gefühl einmal kennen werde, dann will ich es auch im wirklichen Leben und nicht nur im Gedicht! Übrigens die Gedichte über mich sind sehr gut und ich anerkenne seine Fähigkeiten, aber ich weiss, dass es besser ist, wenn ich mich zurückziehe. Rico wird ein anderes Mädchen finden und ich bin frei. Es stimmt, ich habe über Rico mehr nachgedacht, als über Büsu, Ruedi, Guggu und wie sie alle heissen, die sich meine Freunde nennen. Aber ganz ehrlich muss ich mir selbst gestehen: ich liebe ihn nicht!

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Bern, 23. August 1942

Heute morgen bin ich um 5 Uhr heimgekommen von einem ganz bäumigen Hausball bei Büchlers. Da war auch einer, der Dir ganz geglichen hat. Leider habe ich gar nicht viel mit ihm getanzt und heimbegleitet hat er mich auch nicht, der mit dem ich am liebsten gegangen wäre! Das macht gar nichts, ganz gross war es doch.
Heute hatten wir Besuch von Ruedi Conzett aus der Asp. Schule. Er ist auch so gross wie Du warst, aber bei weitem nicht so gross und flott wie Du!! Daneben ist er ein lieber Kerl. Ach, es war so seltsam, an Deinem Haken am Schirmständer im Gang wieder eine Pistole angehängt zu sehen! Ich vermisse Dich ja so sehr und oft muss ich mich nun fragen, ist es wirklich wahr, dass ich einen Bruder besessen habe, der fortgegangen ist, um nie wieder heimzukehren? Wir werden uns wiedersehen, denn Du kannst warten, Du bist jetzt ewig und wirst Deine kleine Schwester immer behüten.

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Bern, 22. September 1942

Nun ist es Herbst. Neun Monate sind schon verflossen, seit Du zum letzten Mal bei uns gewesen bist! Gusti!! In der Schule bin ich wieder sehr schlecht. Das ist um so mehr schade, als ich das letzte Quartal das beste Mädchen gewesen bin. Liegt das wohl doch daran, dass ich mich etwas viel mit Knaben abgebe, obwohl ich es mir nicht recht eingestehen will? Ich habe einfach keine Lust zu arbeiten! Und dann ist eben doch noch eines. Rico beschäftigt mich! Oft habe ich plötzlich den Wunsch, jetzt bei ihm zu sein. Es ist so seltsam, ich habe ein ganz anderes Gefühl ihm gegenüber als gegen Büsu. Wenn Rico nur meine Hand nimmt und mich immer mit „Kind“ betitelt, so ist mir das gar nicht zuwider. Würde aber Büsu dasselbe tun, dann würde es mich wütend machen.
Ich werde in letzter Zeit sehr viel eingeladen. Es hat gar keinen Zweck, alle Namen aufzuschreiben, später werde ich ja kaum mehr wissen, wer es war.
Am letzten Donnerstag war ich mit Büsu am Neuenburgersee. Es war ein sonniger, glücklicher Tag!! Büsu wird wohl immer mein bester Freund bleiben.
Ein Gedicht von Rico, das er gemacht hat, nachdem ich ihm Chopin, Beethoven und Schubert gespielt habe:


(4) Büsu (Edgar Buser) - lebenslanger Freund, Götti von Stephan.

Büsu (Edgar Buser) - lebenslanger Freund, Götti von Stephan.

 

Gedicht von Rico:

Abend am Klavier.

Du sprachst mir oft von jenem Reich der Klänge
(Doch ich verstand Dich nicht!) das zu beschreiten
Erfüllung sei: Wie in den lichten Weiten
Sich alles reifer zur Vollendung dränge
Und wie das Werden wechselnder Gefühle
Tief innen Dir noch Unverwundnes kühle…

Allein, da ich Dich spielen hörte: fragend
Und suchend erst, wie um Dich selbst zu finden,
Dann gross und voller über dunklen Gründen
Aufjauchzend, kaum Dein Übermass ertragend–
Oh reines Glück! Oh steigendes Erleben!
Oh klingendes, unendliches Entschweben!

Da schritt ich still durch‘s Tor, das Du mir zeigtest
Mir war, als würde fern die Zeit zerrinnen -
Ich wusste Deiner Augen leises Sinnen; –
Und als Dein Antlitz Du ein wenig neigtest,
Lag auf dem schwarzen Haar, das es umkränzte,
Der letzte Schimmer, der im Zimmer glänzte.


*

Bern, den 7. Oktober 1942 

Morgen gibt es die letzte Math. Probe dieses Quartals.
Und nun die grosse Neuigkeit: Büsu soll noch ein kleines Geschwister erhalten! Nach 20 Jahren, es ist kaum zu glauben. Mueti sprach davon fast wie von einem Unglück. Ich finde das gar nicht so schlimm. Im Gegenteil. Sie müssen sich doch sehr lieb haben, wenn sie nach 20 Jahren noch ein Kind bekommen. Edi hat mit mir noch nicht darüber gesprochen. Ich glaube, er wird mich nun wohl oft nötig haben, und ich will ihm ein guter Kamerad sein. Du weisst gar nicht, wie schwer es oft ist, zwischen Rico und Büsu zu sein. Sie sind ja beide so verschieden. Mueti möchte gerne alle Gedanken mit mir teilen, aber es gibt eben Dinge, mit denen man ganz allein fertig werden muss.Dir kann ich ja wohl die Fragen stellen, aber wer gibt mir Antwort? Ich komme in den Herbstferien einmal an den Thunersee. Da wirst Du mir nahe sein. Ich werde die Augen schliessen und Deine Nähe fühlen. –

*

Bern, den 14. Dezember 1942

Ach, es ist so unsäglich schwer! Vor einem Jahr, da lebtest Du noch und alles hätte gut sein können. Das Heimweh ist oft so unerträglichund niemand kann helfen! Ich bin jetzt oft so seltsam. Ich möchte ganz für mich allein sein, und gut und stark werden. Meine Freundinnen sind mir alle so unwichtig und ich glaube, keine wird mich verstehen. Sylvia meint es ja so gut mit mir und doch wird sie mir nie nahe kommen. Ach Gusti, es ist so schwer. Ich komme einfach nicht darüber hinweg mit meiner Vernunft. Ich glaube, ich liebe Rico. Ach, wie dumm das aussieht. Ich habe das auch einmal geglaubt bei Heinz usw. Aber jetzt ist es nicht dasselbe! Ich weiss, dass ich mich nicht gehen lassen darf. Es ist nicht mehr das blosse Gefühl und eine mehr kindliche Verliebtheit. Ich spüre, es ist mehr und mir bangt davor. Bis jetzt habe ich ihm immer zeigen können, dass mir nichts Angst macht, weil ich stark und vernünftig bin und mir einfach sagte: „ich will mich nicht verlieben!“ Wie lange werde ich das noch können? Gusti, ich habe Dich so nötig. Mueti versteht mich nicht ganz. Es spricht mir von der grossen Verantwortung, die ich habe, Rico gegenüber. Es setzt so grosses Vertrauen auf mich, und ich möchte es nicht täuschen. Aber bin ich dem denn gewachsen? Rico geht auch nach Grindelwald. Auch dort werde ich tapfer sein. Hast Du wohl auch solche Probleme durchgemacht? Ich bin nicht wie andere Mädchen, die einfach eingestehen, verliebt zu sein und dabei glücklich sind. Ich nehme alles so schwer!

*

Bern, Sonntagabend 24. Januar 1943

Die Winterferien sind auch schon wieder vorbei. Alles Schöne vergeht ja so schnell! Aber ich will ihnen nicht nachtrauern, sondern mich eben jetzt wieder an dem freuen, was ich hier in Bern habe. Die Schule wird dieses Quartal sicher besser gehen. Gestern Abend war ich an einem Hausball mit Hans Brun, dem Sohn des grossen Orchestermannes Dr. Fritz Brun. Das ist nun auch wieder einer, dessen Name wert ist, in diesem Buche genannt zu werden. Er studiert Medizin und ist ein tiefer, guter Mensch. Es war ein netter Abend und eigentlich würde ich gerne etwas in Verbindung bleiben mit ihm. Wir werden ja sehen.
Im Deutsch haben wir bis am 26. Februar wieder Pino. Ich bin ja so glücklich! Ich habe ihm die Gedichte zum Lesen gegeben, die ich von Rico zu Weihnachten erhalten habe. Jetzt nimmt es mich natürlich sehr wunder, was er dazu sagt. Letzten Dienstag sind Martin und ich mit Rico im Theater gewesen. Ich weiss nicht, aber Rico wird mir immer lieber. Diese Feststellung beunruhigt mich nun nicht mehr. Es braucht sich ja deswegen nichts zwischen uns zu ändern. Eigentlich bin ich doch ein glücklicher Mensch!

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Donnerstag, 11. März 1943

Ja, glücklich, wie man‘s nimmt! Jetzt sollte ich Mathe arbeiten und warte doch sehnsüchtig auf ein Telefon von Rico. Aber ich glaube, jetzt kommt es nicht mehr, es ist ja schon halb 9. Warum ruft er heute nicht an? Ach, ich bin ganz konfus. Ich habe so das dunkle Gefühl, dass es halt der Lilly ganz genau gegangen ist wie vielen anderen Mädchen. Ich habe Rico einfach lieb! Oh, und eifersüchtig bin ich auch. Und jetzt ist mir so trostlos zu Mute, weil er mir nicht einmal Glück gewünscht hat für die morgige Probe. Ich kann nicht mehr arbeiten, ich muss ein wenig Klavier spielen. Oft habe ich plötzlich Angst, ich sei ihm nicht mehr gut genug; ach, jetzt wo ich ihn doch so lieb habe!

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29. März 1943

Gestern haben wir Büsus und Ricos Geburtstag gefeiert. Nach dem Z‘Vieri sind wir in die Elfenau gebummelt bei strömendem Regen. Auf dem Heimweg fror es mich so an die Hände, ach es war so schön, sie dann in Ricos Hände zu legen! Da hatte ich ganz einfach das Gefühl von Geborgensein. Oft möchte ich einfach seinen Kopf in meine Hände nehmen und ganz einfach sagen: „Sieh, ich hab Dich ja eben gern!“ - Aber ich darf nicht. Mit Büsu ist das etwas ganz anderes, ihn hab ich auch lieb, aber er – ach Dummheit, es ist nun halt einmal so!

Hauslehrerin auf Tête de Ran in den Sommerferien. Besuch von Rico.

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8. Juni 1943

Nun bin ich 10 Tage allein zu Hause gewesen. Vati und Mueti waren in den Ferien in Vevey. Ach, ich freue mich ja so, das sie morgen zurückkehren!

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14. September 1943

Büsu hat die Matur bestanden und ist schon lange in der R.S. Rico steht nun mitten in den Prüfungen. Und ich, - ich bleibe ein seltsames Wesen! Ich weiss, dass Rico mich braucht, ich weiss, dass ich gemein war, ihm ohne einen richtigen Grund meine Freundschaft zu entziehen, denn ich selbst kann es mir ohne Freundschaft nicht mehr gut vorstellen. Aber es wird wohl doch später einmal zu einem Bruch kommen. Es gibt drei Möglichkeiten. Rico liebt mich, er liebt mich aber leidenschaftlicher, als es nur eine Freundschaft, wie ich es möchte, zulässt. Die eine Lösung wäre wohl eine Aussprache, aber es ist sehr schwer darüber zu sprechen, ohne zu verletzen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass ich nachgebe und lieben lerne, wie er es meint. Oder aber wir machen Schluss. Das wäre grausam, zugegeben; aber vielleicht für beide das Beste! Wenn wir weiter nur Freunde bleiben wollen, wird es für uns beide viel Kraft brauchen. Auch für mich ist es oft nicht ganz leicht, nur Kamerad zu sein. Bis jetzt ist es mir zum Teil gelungen. - Ach wäre das doch alles ein schwerer Kindertraum, aus dem uns die Mutter weckt und uns klar den Weg zeigen könnte. Aber ich muss allein durch.

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Zwei Gedicht von Rico:

Das Haus.

Stets, wenn er müde von des Tages Spielen
Kam aus des Parkes lärmendem Gedränge,
Vernahm er aus dem Haus süsse Klänge,
Die, Blüten gleich, reich auf die Strasse fielen.

Da blieb er stehn und lauschte lang dem Singen
Des fremden Mädchens, dessen leise Lieder
Ihm so gefielen, dass sich immer wieder
In ihnen seine Sinne sanft verfingen.

Doch einmal blieb das Singen aus.
Der Knabe horchte auf. Allein, kein Laut
Drang aus dem Fenster, das ihm so vertraut

Geworden manchen Abend. Und er harrte
Umsonst und hoffte, dass die Nacht ihn narrte:
Starr und verlassen stand das graue Haus.

Ascona, am 17. Oktober 1943

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Ein kleines weinendes Mädchen.

Dass es Menschen gibt, die ohne Ziele
Vorwärtstaumeln auf gebahnten Wegen,
Stets ihr Tun nur nach dem einen wägen:
Ob‘s der blöden Menge auch gefiele!

Dass es Menschen gibt, die an dem Schönen
Dieser Erde blind vorübergehen
Doch, wenn sie des Körpers Schale sehen,
Auch des Wesens Kern zu kennen wähnen!

Dass es endlich Menschen gibt, die fühllos
Eines kleinen Mädchens wehstes Weinen
- Halb noch lachend – überhören können:

Sie, die weise und verständig scheinen,
Doch in Wahrheit taub und blind und ziellos
Nicht einmal die eigne Leere kennen!

Ascona, am 18. Oktober 1943

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Sonntagabend, 23. Oktober 1943

Landdienst
Morgen beginnt die Schule wieder. Jetzt war ich drei Wochen im Landdienst in Riggisberg. Rico hatte eine 1 an der Matur und durfte deshalb eine Woche ins Tessin in die Ferien, aber ich glaube, er ist nicht glücklich. Ach, ich weiss ja nur zu gut warum. - Und ich hatte zum ersten Mal Heimweh! Ich sehnte mich so nach Hause, obwohl es mir ja sehr gut ging. Ich habe ja doch so lange gebraucht, bis ich auch in jener Umgebung das Glück finden konnte. Arbeiten, am Abend müde sein und das Gefühl eines stillen zufrieden seins kennen. Ich sehe noch die dunkle schwere Erde vor mir liegen, zerrissen und gefurcht vom Pflug, die doch nun ruht, bis sie von neuem spendet, was wir oft ohne Dank von ihr empfangen. Und wenn die Sonne durch den Nebel bricht, wenn die Scholle dampft und der Atem der arbeitenden Pferde dich streift, dann fühlst du wie der Boden zu dir gehört, dein Schritt wird schwer und langsam schreitest du hinter dem Pflug, der grausam die Erde zerreisst.

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Samstag, 31. Oktober 1943

Thomas Ziegler, Kind im Parterre
Ich bin so traurig heute Abend und zwar eigentlich ohne Grund. Seit gestern sind ganz fremde Leute eingezogen, und nun fehlen mir Zieglers so! Ich glaube immer noch, die Stimme von Thomas zu hören und doch sind nun ganz andere Menschen im Haus. Menschen mit neuen Sorgen, solche die Gusti nicht mehr gekannt haben. Das gibt mir so zu denken. Bis Dienstag haben wir ja noch den Kleinen, ich liebe Kinder so sehr! Aber dann geht auch er ins neue Heim und es ist mir, als sei wieder mit diesem Auszug ein Stück Kindheit vergangen. Wie ja überhaupt das Kind sein uns entgleitet. Ich möchte oft zurück, nur ein Stück, nur einen Augenblick mit Gusti wieder ein Spiel spielen. Ich denke so oft an die Karl Stauferstrasse und immer sehe ich dasselbe Bild. Wir kneten Lehm und formen Rüben damit, kleine rote Rüben und draussen fällt der erste Schnee, - wie endlos weit das alles zurückliegt. Und das Leben geht weiter.
Büsu ist gestern aus der R.S. heimgekehrt. Wie bin ich froh, dass er wieder da ist!

Und Rico macht mir Sorgen. Er ist nicht mehr wie sonst. Es ist nun etwas Neues hinzugekommen, was mich so ängstigt. Er sieht das Leben jetzt so ganz anders an als ich. Er will es geniessen, gleich wie Gusti es geniessen wollte, gleichsam mit einer Angst, es könnte ihm etwas entgehen. Wenn er wüsste, wieviel ihm entgeht in den Augenblicken, in denen er meint, es ganz zu besitzen. Und er ist nicht glücklich dabei. Seltsam, wie ich ihn dennoch begreife und neben ihm stehen kann und nur ganz einfach da sein, wenn er mich einst wieder braucht. Er hat mich ja ganz gewiss immer noch lieb, und ich will rein bleiben und gut; denn ein Mensch braucht etwas Gutes, woran er sich halten kann. Und er soll wissen, dass das Gute für ihn da sein wird. Jungsein ist ja so schön, aber Jungsein ist schwer!

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Dienstag, 2. November 1943

Nun ist unser kleiner Sonnenschein auch fort. Oh wie lieb habe ich doch den kleinen Buben gehabt. Ich bin so müde, und soeben bin ich von Stigi zurückgekehrt, wo ich bis jetzt Aufgaben machte. Wir haben eine Probe nach der andern, und es scheint mir, je mehr wir machen, desto weniger sollten wir sie fürchten. Wenn diese Woche vorbei ist, kann ich doch wenigstens sagen, dass ich etwas geleistet habe. Ach, ich freue mich so auf Freitag und Samstag! Aber davor steht noch ein grosser Berg, der überstiegen werden will: Math, Lat., Physere, Gschire….
Kleiner Mensch pass auf, dass du darüber kommst! –
Der Kleine fehlt mir einfach. Welch gutes Gefühl war es doch, seinen kleinen Kopf zu liebkosen, sein Stimmchen zu vernehmen und ihm die ganze Liebe zu schenken. Ich fühle noch seine zarte Hand, wenn sein Köpfchen sich liebkosend anschmiegte, ich… Ach, nun ist er fort, und niemand wird jetzt mit weit geöffneten Augen staunen, wenn ich ganz leise singe.
Wie ich mich doch verändert habe!


(5) Lilly mit Stigi.

Lilly mit Stigi.

  
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Montag, 8. November 1943 

Die Woche ging vorüber, und ich habe so vieles erlebt. Ich weiss gar nicht wie beginnen. Ich will versuchen, alles der Reihe nach zu erzählen. Also am Freitagabend war ich mit Büsu an einem Roverschregel. Es war nett.
Und nun der Samstag.
Gymerball mit Rico. Es hat alles noch so gut angefangen, ich war so glücklich. Schon am Abend aber merkte ich, dass etwas zwischen uns war. Ach, es war ja schon lange da und wir haben nur nie gesprochen. Auf dem Hinweg hat mir Rico erklärt, dass wir an einem Wendepunkt angelangt seien. Er habe mich nun zwei Jahre lang so sehr lieb gehabt und mir unzählige Fehler vergeben und dies alles mit dem gleichen Ergebnis. Oh, ich weiss ja, dass ich immer kalt gewesen bin. Er könne das nicht mehr. Wohl wollen wir Freunde bleiben, aber er werde ein anderes Mädchen finden, das ihm mehr geben könne als ich. - Und ich, was tat ich denn? Ich hörte zu wie im Traum, ich ging an seiner Seite und hörte zu. Ich sagte, ich könne mich nicht ändern und fühlte, wie fremd mir alles war. Ich konnte nicht mehr denken und wünschte nur, ich hätte ewig so dahinschreiten können. - Und wir standen im Garten und alles war wie sonst. Wie oft haben wir uns da unsere Sorgen und Nöte erzählt – jetzt war es wohl das letzte Mal. Da habe ich geweint ganz leise und habe den Kopf an seine Schulter gelegt. Und ich hatte ihn so lieb! Da wollte er mich küssen, und ich stiess ihn zurück. Warum? Ich weiss es nicht, ich konnte es einfach nicht, obschon es mich fast verrückt machte. Er sagte, es wäre ein Abschiedskuss gewesen. –
Und dann ist er gegangen. Die Türe fiel ins Schloss, und ich stand da in meinem weissen Kleid. Die gleichen Treppenstufen stieg ich hinauf, die ich wenige Stunden vorher hinuntergesprungen war.
Jetzt weiss ich, dass ich ihn liebe, dass ich es immer getan habe, aber jetzt, wo ich ihn verlieren sollte, ist es mir so klar geworden.
Gestern ist er wieder gekommen. Ich habe ihm Chopin gespielt. Er ist im Lehnstuhl gesessen und alles hätte gut sein können. Es waren noch andere da, ich habe nur für ihn gespielt. Wie es jetzt kommen wird? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich…, ach Erich, ich habe dich so lieb! Muss denn nun wirklich alles zu Ende sein?

Und wieder war ich, wie oft, Dir ganz nah
und wollte Dir alles gestehen.
Da kam, kaum weiss ich wie es geschah,
ein seltsam fremdes Geschehen.
Auf einmal warst Du mir fremd und fern.
Ich fühlte nur traurig, ich hab Dich doch gern!
Dann bist Du gegangen ohne ein Wort.
Ich blieb wie in Trance am gleichen Ort.
Ferne Dein Schritt sich im Dunkel verlor.
Da bin ich erwacht und schloss leise das Tor.

Abschied 

Verschwiegen schritt sie an seiner Seite
Und lauschte ihm, erstaunt, dass er nicht fühlte,
Wie grausam er ihr Innerstes zerwühlte
Mit seinen Worten und sich ihr entzweite.

Er sprach von seinem Weggehn so gelassen
Wie man vom Essen spricht und all den Dingen,
Die lautlos den gewohnten Tag vollbringen
Und schien fast froh zu sein, sie zu verlassen.

Und als sie plötzlich anhielt vor der Bank,
Auf der so oft beisammen sie gesessen,
Küsst er zum Abschied leicht nur ihre Wangen…

Sie sah ihm nach, bis er im Grau versank.
Sie wusste nur, dass er von ihr gegangen,
Und konnte ihren Schmerz doch kaum ermessen.

Am 28. November 1943 Rico 


(6) Lilly mit Rico (links) und Büsu (rechts).

Lilly mit Rico (links) und Büsu (rechts).

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Freitag, 12. November 1943

Ich bin so dumm. Ich hätte mir ja denken können, dass Rico nicht anläutet. Und dennoch habe ich gewartet. – Es hat sich noch nichts verändert. Büsu hat mich gefragt, ob ich mit ihm an den Uniball komme. Ich habe noch nicht ja gesagt, - denn ich hoffe noch immer, dass Rico mich noch einmal mitnimmt. Und Büsu mit seiner Güte versteht sogar das. Ich weiss nicht, aber ehrlicher wäre es, wenn ich überhaupt nicht gehen würde, wenn nicht mit Rico. Glücklich werde ich sowieso nicht sein. Oh, jetzt glaube ich, dass ich es ihm sagen könnte, wie sehr sehr lieb ich ihn habe, aber jetzt ist es vielleicht zu spät.
Er war da am Dienstag. Er war so lieb, aber wir sassen uns trotzdem ganz fremd gegenüber. Wir warten. Ich hoffe immer noch, dass wir uns wiederfinden!

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Samstag, 28. November 1943

Wir waren miteinander auf dem Gurten. Ich habe meinen Stolz überwunden und Erich weiss nun, wie lieb ich ihn habe. Und dennoch müssen wir warten. Aber ich bin glücklich, denn es wird einmal gut kommen. An den Uni-Ball gehe ich nicht. Auch Erich ist noch nicht sicher. Ja, es hätte schön werden können!

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Dienstag, 30. November 1943

Bis jetzt habe ich bei Stigi Gogere gemacht. Heute habe ich mit Herrn Girsberger über meine Zukunftspläne gesprochen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Für welche aber werde ich mich besser eignen? Medizin oder Berufsschule am Konsi? Bis vor kurzer Zeit habe ich immer ganz klar gewusst, dass ich Medizin studieren will. Aber es kamen immer mehr Zweifel. Ich habe einfach Angst, ich werde nicht durchhalten können. Doch glaube ich, um dieses Studium zu wagen, dürfte ich nicht schon zum voraus zweifeln. Wäre ich wohl der rechte Mensch dazu? Und dann Klavierspielen. Würde das mein Leben ganz ausfüllen können? Ich habe ja noch lange Zeit bis zur Matur; aber einmal sollte man sein Ziel klar erkennen. Es lässt sich dann viel besser arbeiten.

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Samstag, 5. Dezember 1943

Und nun war ich doch am Uni-Ball! Mani Amstutz kam aus der Aspirantenschule und fragte, ob ich mit ihm komme. Ich habe es Rico gesagt, und er schien nicht böse zu sein. Er aber blieb zu Hause. Ach, Mani war so lieb. Es war trotz allem ein schöner Ball, mein erster Studentenball! Sogar mein Wunsch, in einem Taxi hinzufahren, wurde erfüllt. Ich war glücklich – und dennoch musste ich immer denken, wie viel schöner es noch hätte sein können! Es ist ja so undankbar Mani gegenüber. Und nun habe ich immer gehofft, Rico rufe an, um zu fragen, wie es gewesen sei. Er hat es nicht getan, und ich bin so traurig. Morgen beginnt die Schule wieder, und ich sollte mir Mühe geben, die Gedanken wieder auf das Wichtigste zu konzentrieren. Wenn doch nur Rico angeläutet hätte!!

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Gedicht von Rico:

Dämmerung

Dir zu Füssen atmet die graue Stadt
Ihren schmutzigen Rauch; und aus den dunkelnden
Wäldern schleichen vereinzelt
Dunstgestalten an ihr vorbei.

Wie von Kindern im Spiel scheint sie hierhergestellt
In das wogende Grau; sie, die dich erst noch gross
Und erfüllend umfasste,
Ist auf einmal so klein, so fremd.

Und die Menschen, die dort – Tausende seiener
Bunter Menschen wie da - wohnen in jener Stadt,
Sind dir ferne versunken,
Wie ein Bach, der vorüberrauscht.

Zwar – du weisst ihr Geschick, kennest das Menschliche
Das sie alle bewegt: Trauer und Einsamsein,
Laute Worte, die niemand
Wirklich glaubt – und du weisst den Krieg;

Doch was soll dir der Krieg, was hier das herbste Leid,
Da ein Grösseres sich über dir wölbt und weit
Mehr als menschliches Schicksal
Dich im Innersten tief ergreift:

Dieser Himmel, der so voller Geheimnis ist,
Dass den Sternen nur nachts endloser sich erschliesst,
Unermesslich – und der dich
Unbefriedet und ruhlos lässt…

Aber siehe! Nun steigt über das müde Tal
Sacht die Dämmerung empor; alles wird tröstlicher,
Weil es leis sich zum Schlafen
Niederlegt und im Traum verliert.

Stiller wendest du dich wieder zur Stadt zurück.
Jetzt verstehst du die Nacht, der sich das Leben beugt:
Dass nach fraglichen Tagen
Ihm ein – Ende gegeben ist!

Edgar Gafner Am 5. Dezember 1943.

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Dienstag, 7. Dezember 1943

Es geht alles schief. Heute habe ich sogar in der Natere einen 3-4er zurückerhalten. Ich bin so schitter momentan in der Schule, ich bringe mich einfach nicht mehr hinauf. Es ist so dumm, gerade auf das Weihnachtszeugnis. Jetzt habe ich Math. gearbeitet. Ich hoffe, dass ich dann wenigstens in dieser Püetz am Freitag eine anständige Note erreiche.
Rico hat gestern angeläutet und gefragt, wie es mir am Samstag gefallen habe. Mueti glaubt, die ganze Sache mit Rico sei schuld, dass ich so schlecht sei in der Schule. Ich habe den Kopf nicht bei der Sache. Das glaube ich aber nicht. Es gelingt mir einfach nichts mehr. Ach, wäre ich doch schon in Grindelwald!!

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Sonntag, 12. Dezember 1943

Alles ist trostlos und schwer. Ich wehre mich, ich will mich nicht gehen lassen, aber es geht nicht. Ich durchlebe jeden Augenblick, wie es vor zwei Jahren war. Gusti, Gusti, du gingst zum letzten Mal fort. Ich weiss noch jedes Wort, ich sehe dich noch, wie du am Tisch sassest. Es scheint mir alles so nah. Zwei Jahre? Jetzt gehen wir auf den Friedhof. Was wird alles geschehen, bis wiederum zwei Jahre vorbei sind? Ich habe oft so Angst. Angst vor dem Leben, vor allem. Und vor zwei Jahren kam Rico zum ersten Mal zu uns. Es war nach dem Hausball bei ihnen. Auch das mit Rico ist so schwer. Er ist nicht mehr wie früher. Ach wie glücklich waren wir doch oft. Ich sehe uns noch an jenem schweren, leuchtenden Sommertag. Wir gingen durchs Moor und alles Glück gehörte uns. Hätte ich ihm damals gesagt, dass ich ihn so gern habe; …..
Glückliche Stunden auf dem Gurten, Sporttage im Gymer, damals dein Besuch, als ich krank war, das zieht an mir heute vorüber wie bunte, schöne Bilder. Warum hat denn nicht alles so bleiben können? Was ist mit Rico geschehen? Er war gestern wieder da. Es scheint mir, wie wenn er unter einem Drucke stünde. Ich sehe ihn nie mehr froh, immer scheint er zu leiden, und ich kann nun nichts mehr helfen. Die ganze letzte Woche hat er nie angeläutet. Er habe keine Zeit gehabt. Wie war das denn früher? Ich habe so oft Zweifel. Wäre es wohl nicht doch besser gewesen, ein Ende zu machen? Ich kenne mich selbst nicht mehr. Ist das bei mir denn wirklich Liebe? Ich glaube, wir sollten doch das alles nicht so schwer nehmen.
Rico geht nun sechs Wochen nach Villars. Oh, es wird ihm sehr gut tun. Er soll ausruhen und soll wieder spüren, wie schön doch das Leben ist. Und ich, ich gehe nach Grindelwald, und ich fürchte nur die Erinnerungen an letztes Jahr. Aber es wird schön sein. Ich will meine Ruhe wieder finden! Wenn ich Klavier spiele, schliesse ich oft die Augen und habe dann das Gefühl, Rico sitze neben mir im Lehnstuhl wie so oft. – Vor zwei Jahren war es, als er mich zum ersten Male hörte.

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Mittwoch, 15. Dezember 1943

Ich bin sehr sehr mutlos! Wir haben heute noch einmal eine Math. Püetz gemacht, sie war nicht schwer und dennoch hab ich wieder jämmerlich versagt.
- Und morgen verreist Rico. Er hat mich am Montag abgeholt in der Schule. Nun aber hat er es nicht für nötig gefunden, noch per Telefon Abschied zu nehmen. Ach, ich bin wohl zu anspruchsvoll! –
Sie haben Vati angefragt, ob ich Singstundenbesen werden wolle. Ich glaube, das ist eine grosse Ehre, da doch Vati nicht Altherr ist. Ja, und ich glaube, ich gehe. Da lerne ich wieder andere Leute kennen, und ich denke dann nicht immer nur an Rico. Morgen Abend spiele ich im Konservatorium. Hoffentlich gelingt es mir wenigstens da, wieder einmal etwas Rechtes zu leisten.

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Freitag, 17. Dezember 1943

Es ist sehr gut gegangen gestern. Ich war für kurze Zeit sehr glücklich. Und heute ist es zwei Jahre her, seit Gusti starb. Ich habe nicht mehr geweint, es ist wie wenn etwas starr geworden wäre in mir. Rico hat nicht einmal geschrieben, und er musste doch wissen, wie schwer dieser Tag für mich war. Aber das ist nun halt so. Ich bin so allein. Gestern kam niemand Bekanntes zuhören, und ich fühlte mich sehr verlassen. Es ist seltsam; aber ich habe jetzt oft das Gefühl, ich sei ganz allein, wenn auch viele Menschen um mich sind. Das schmerzt dann so. Man ist wie ein Kind, das den Weg verloren hat. Jetzt gehe ich in ein Konzert. Ich bin so müde.
Nach dem Konzert.
Das ist das Vollendenste, das ich bis jetzt gehört habe! Wenn ein Mensch so spielt wie Lipatti, dann glaube ich, hat er seinen Lebenszweck gefunden! Es grenzt ans Unnatürliche, wie er die Technik und das Musikalische beherrscht. Das Publikum war denn auch ganz aus dem Häuschen. Wenn ich ihn nur noch einmal hören könnte! Jetzt hat mich Vachi heimbegleitet.

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Donnerstag, 23. Dezember 1943

Nun ist wieder ein Quartal zu Ende. Ich glaubte, ich hätte Promotion gefährdet, und jetzt stimmt das nicht einmal. Ich wäre so glücklich. Von Rico habe ich keinen Brief, keine Karte, kein Lebenszeichen. Ich bin auf alles gefasst. Es tut mir immer noch sehr weh, zu glauben, dass alles zu Ende sei. Es ist so unsicher. Ich weiss nie, woran ich bin. Das lange Stillschweigen sollte mir ja zwar genug sagen. Warum hoffe ich denn immer noch? Morgen wird bestimmt etwas kommen. Und wenn es auch nur ein Brief ist, der mir Klarheit gibt. Wenn ich nur nicht so müde wäre!

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Weihnacht 1943

So wäre also wieder eine Weihnacht vorbei. Heute war strahlendes Wetter, und ich bin traurig. Ich wurde ja so reich beschenkt, alle meinen es gut mit mir. Ach, wie habe ich jede Post mit Sehnsucht erwartet, glaubte ich doch, dass wenigstens auf Weihnachten ein Zeichen von Rico käme. Ich habe umsonst gewartet. Rico ist verstummt. Kann das denn wahr sein, dass er sich so feige einfach zurückziehen will. Habe ich mich so getäuscht in einem Menschen? Gewiss bin auch ich schuld, aber er muss jedes Gefühl für mich verloren haben, sonst könnte er mich nicht so quälen. Mein ganzer Stolz bäumt sich nun auf, dass ich ihm buchstäblich nachgelaufen bin. Oh, hätte ich damals, als ich es zum ersten Mal merkte, den Mut und die Kraft gehabt, ganz Schluss zu machen. Ich glaubte halt immer noch, Erich habe mich lieb. Jetzt handelt er so feig! Und ich hab ihn trotz allem noch gern. Das wird aufhören; es muss ja. Wenn ich nur das fertig bringe, ihm nicht mehr zu zeigen, wie weh es tut. Es geht ja jetzt schon viel besser. Nur manchmal habe ich das Gefühl, als sei etwas zerbrochen, etwas sehr Wertvolles, das nicht mehr gutgemacht werden kann. –
Ich war heute morgen wieder auf dem Friedhof.

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Sonntag, 26. Dezember 1943

Gestern Abend waren wir zum Nachtessen bei Wildbergers eingeladen. Ich war eine Zeitlang wieder sehr traurig. Ich hörte Radio und zwar nur Tango und Englisch Walzer. Dann schloss ich die Augen und glaubte, wieder in Tête de Ran zu sein. Ich sah wieder das gleiche Bild vor mir, wie an jenem Abend, als ich mit Rico auf der Terrasse tanzte. Unter uns der Wald und ganz in der Tiefe der See, indem sich der Mond spiegelte! – Heute Nachmittag war ich auf dem Gurten. Ich habe wieder immer verglichen, wie es vor fünf Wochen war. Immer nur Rico! Wenn ich doch endlich vernünftig würde!
Jetzt hatten wir Besuch. Frau Steiger, Hans und ein ital. Internierter waren hier. Meine Güte, habe ich italienisch gesprochen! Dieser Salat von Deutsch und Französisch. Ich glaube, er hat mich trotzdem zeitweise verstanden.

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Itramm, 29. Dezember 1943

Seit Montag bin ich also schon mit Aimée hier oben. Am Montag Abend war ich sehr, sehr traurig. Ich dachte so oft an letztes Jahr. Rico hat nun doch noch geschrieben und sogar eine Foto geschickt. Aber es ist trotzdem nicht mehr dasselbe. Heute waren Aimée und ich fast auf dem Männlichen. Ich wäre gerne bis ganz hinaufgegangen, aber Aimée mochte nicht mehr weiter. Wir haben strahlendes Wetter. Jeden Abend gibt es einen Augenblick, wo ich so traurig werde. Wenn wir so aus der Sonne in das dunstige Tal hinunterfahren müssen. Da fühlen wir schon , dass nun bald alles in der Dämmerung versinken muss, dass auch die höchsten Gipfel, die noch strahlen, bald ihren Glanz verlieren. Am Morgen aber haben wir von unseren Betten aus ein herrliches Schauspiel. Wir sehen, wie das Tal erwacht. Erst ist noch alles in grau gehüllt, nur ganz in der Ferne färbt ein fahles Gelb den Himmel. Und nun geschieht etwas Seltsames, jeden Morgen dasselbe und jeden Morgen von Neuem schön. Wir können plötzlich Farben sehen! Die graue Masse, die so drohend vor uns war, der Eiger, hebt sich schwarz und weiss vom immer heller werdenden Himmel ab. Die düstere Tanne vor dem Fenster wird grün, und so erhält jedes Ding seine lebendige Farbe, die es über Nacht abgelegt zu haben scheint, wieder. 

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Itramm, 6. Januar 1944

Es ist herrlich hier oben. Aimée ist gestern verreist. Wir feierten ganz still Silvester in unserer Hütte oben.
Ich habe dann Rico einen ziemlich netten Brief geschrieben und ihm sogar mein kleines Gedicht geschickt. Er hat auf das sofort geantwortet. Ich bin glücklich. Bis jetzt haben wir sehr gutes Wetter und im Skifahren habe ich auch einige Forstschritte gemacht.

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Sonntag, 16. Januar 1944

Ich bin wieder zu Hause und kann es kaum glauben, dass es erst eine Woche ist, seit ich in strahlender Sonne auf dem Männlichen war. Ich freute mich so sehr, wieder heimzukehren, und nun denke ich doch immer wieder, wie es war dort hoch oben, wo alles sonnig und glücklich war! Ich bin mit Mueti im Kino gewesen. Ich möchte so gerne gut sein, aber es ist schwer bei uns. Mueti gibt sich alle Mühe, liebenswürdig zu sein. Wir zanken uns nicht mehr und doch ist so eine grosse Leere in unserer Familie. Vati macht nichts als lesen, spricht äusserst selten und wenn er es tut, dann ist es nicht interessant. Es lebt eigentlich jedes für sich allein. Mir würde das eigentlich nichts machen, ich habe meine Bücher, meine Musik, aber Mueti leidet darunter. Ich weiss bestimmt, dass Vati und Mueti einander noch lieb haben, aber sie sind zwei Menschen, die ganz gut jedes ohne das andere leben könnten. Das tönt sehr hart, und ich sollte das vielleicht nicht schreiben. Ich bin aber noch so jung und meine Ideale sind höher, als dass ich eine Ehe als vollkommen ansehe, in der beide aus Gewohnheit nebeneinander leben. Wenn aus einer Kameradschaft Liebe wird, die dann ein ganzes junges Leben ausfüllt, so sollte dann nicht aus dieser Liebe wieder eine Kameradschaft entstehen im Alter, die reifer und schöner ist, als blasse Liebe? Aber eben, ob zwei Menschen im Alter sich enger aneinander schliessen oder ob sie sich ganz langsam immer fremder werden und wohl auch darunter leiden, das wird von ihrem Charakter abhängen. Und ich glaube kaum, dass ich da helfen kann. Ich weiss nur eines; Mueti hätte mehr Liebe gebraucht. Ich möchte so gerne Vieles gut machen, aber es ist schwer aus drei Menschen, die so verschieden sind wie Vati, Mueti und ich, ein Ganzes zu machen. Das Ganze, eine glückliche Familie, kann ja auch nicht werden, weil Gusti fehlt, aber wir, die geblieben sind, sollten unser Möglichstes tun. 

Gedanken über die Ehe.

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Montag, 24. Januar 1944

Meistens schreibe ich nur, wenn ich traurig bin und das ist doch eigentlich nicht recht. Sonst könnte man später noch meinen, meine Jugend hätte aus lauter „Ästen“ bestanden und das ist ganz gewiss nicht der Fall. Heute bin ich sehr glücklich. Die Schule hat wieder angefangen, und alle waren so freundlich zu mir. Heute Abend hat mich Omar an einen Schregel eingeladen. Rico hat angeläutet. (ich war zwar nicht zu Hause), Büsu war da, kurz das Leben ist einfach schön!
Gestern war ich in Zürich. Ich bin Patin geworden und mein Patenkind ist so lieb und herzig!

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Sonntag, 30. Januar 1944

Meine gute Laune dauerte die ganze Woche an. Nur gestern wollte sich so was wie eine Gewitterstimmung breit machen und zwar wieder zwischen Rico und mir. Wir wollten eventuell heute Ski fahren gehen; es hat aber unten sehr wenig Schnee und weiter fort zu gehen, kommt zu teuer. Da hat gestern Rico schnell angeläutet, und ich glaube, er wollte etwas abmachen für gestern Abend. Da habe ich dann halt gesagt, dass ich mit Omar an einen Roverschregel gehe. Jetzt ist er wohl wieder enttäuscht. Wir haben uns dann nicht sehr lieb verabschiedet voneinander. Und ich wollte mir doch nun so Mühe geben, dass diese ewigen kleinen Zänkereien nicht mehr vorkommen! Am Abend aber war ich dann sehr glücklich. Omar ist ein ganz bäumiger Kamerad. Er ist übrigens jetzt Führer der schwarz-weissen. Wir haben einen ganz gerissenen Abend gehabt. Nun gibt es einen Familienbummel nach Muri und nachher gehe ich vielleicht noch ins Kino.

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Mittwoch, 9. Februar 1944

Schon wieder ein Jahr älter! Ich bin ja so verwöhnt worden an meinem Geburtstag! Sogar von Omar habe ich ein reizendes Bändchen erhalten. Es hat mich zwar fast ein wenig erschreckt. Omar wäre mir wirklich zu schade, wenn er sich in mich verkracht hätte. Er ist ein so lieber, ehrlicher Kamerad. Das Schönste aber war, dass ich gestern Abend mit Rico ins Konzert gehen durfte. Ach, war ich glücklich! Wenn ich denke, wie bescheiden ich geworden bin! Es gab Augenblicke, in denen ich mir wieder einbildete, Rico habe mich immer noch lieb. Ich will aber gar nicht weiter denken! Ich bin glücklich, wenn er kommt, es freut mich, wenn er anläutet, und sonst denke ich ganz ruhig an ihn. Seltsam, wie wohl es tut, nur ganz leise: Rico zu sagen. 19 Jahre alt und noch nie geküsst. Ich möchte so gerne wissen, ob Rico ein anderes Mädchen jetzt lieber hat als mich. Es würde mir nun sehr, sehr weh tun. Ich hoffe ja immer noch, es werde mir gelingen, ihn wieder zu gewinnen.
Morgen gibt es einen Sporttag. Ach, am letzten Sporttag war ich noch mit der Ic zusammen und sehr glücklich. Es wird sicher auch nett werden! Gestern kam sogar Nuss schnell vorbei, um mir Glück zu wünschen und brachte mir Zwänzgerstückli. Sie sind alle so lieb
zu mir!


(7) Omar (Alfred Schneider).

Omar (Alfred Schneider).

 
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Montag, 14. Februar 1944

Ich war Samstag und Sonntag in Zweisimmen. Der Sonntag war aber ein Unglückstag. Am Gymerrennen war ich sehr schlecht und überhaupt…. an allem war ja wieder Rico schuld! Am Morgen ging ich zum Bahnhof, und ich hoffte so sehr, es werde ein schöner Tag. Aber Rico war so hässlich mit mir. Ich hatte einfach das Gefühl, es sei ihm unangenehm, mit mir zusammen zu sein. Da bin ich halt meiner Wege gegangen, aber es tat sehr weh. Dann habe ich Spross getroffen, der sehr Zahnweh hatte, ich nahm ihn mit zu Familie Feuz, dort sassen wir lange gemütlich im warmen Stübeli und ich war sehr, sehr traurig. Und als dann Spross fragte, ob ich mit ihm in die Sternenbar komme, bin ich gegangen; nur um nicht immer an Rico zu denken! Büsu kam dann auch zu uns. Und als wir kaum dort waren, trat Rico zur Türe herein mit Els Fuchs! Ja, und dann ist er wieder verschwunden. Ich habe mit Spross Tango getanzt und hätte die ganze Zeit weinen können. Ich hatte die grösste Lust, den Kopf auf den Tisch zu legen und nichts mehr zu denken. Dann wünschte ich mir wieder, Spross wäre recht lieb zu mir. Am Mittwoch gehe ich mit ihm ins Kino. Rico hat heute nicht ….., doch jetzt gerade hat er angeläutet. Ich zittere noch vor Wut. Er fragte mit der süssesten Stimme, wie es mir gestern gegangen sei. Er war frech genug zu fragen, was ich habe, ich sei nicht wie sonst. Nein, ich will jetzt nicht mehr weiterschreiben, ich bin zu aufgeregt.

*

Mittwoch, 16. Februar 1944 

Ich komme soeben heim aus dem Kino. Spross war sehr nett. Ich glaube fast, dass es mir nun nicht mehr so schwer fallen würde, Rico zu verlieren. Ich will damit nicht sagen, dass ich mich in Spross verkracht habe, aber ich glaube, dass ich ganz gewiss wieder jemanden finde, den ich recht lieb haben kann. Und schliesslich bin ich auch nicht da, nur um den Launen von Rico nachzugeben! Jetzt sehe ich alles sehr vernünftig an, wie es nach ein paar Tagen ist, wollen wir dann schauen.

*

Sonntag, 20. Februar 1944

Vernünftig bin ich immer noch. Ich weiss nicht, aber die ganze Woche habe ich Rico eigentlich nie vermisst. Es kommt vielleicht daher, weil immer etwas los war. Ich konnte ruhig arbeiten, ohne an ihn zu denken. Ach, hätte ich doch schon vor Weihnachten so denken und handeln können!

*
Bern, Sonntag, 10. Juni 1945


(8) Literarische Beilage vom "Der kleine Bund" 10.Juni 1945.

Literarische Beilage vom "Der kleine Bund" 10.Juni 1945.



Wandlung  

Fliehende Wolken, lauwarmer Wind,
Duftende Felder, ein spielendes Kind,
Schillernder Falter, ein Baum, der blüht,
Glücklicher Mensch, der die Welt noch so sieht.

Frierende Hände, fallender Schnee,
Geängstigte Kinder, die Augen voll Weh!
Verlorene Heimat, der Glaube zerstört. –
Mir träumte, ich hätte von Gott einst gehört!

Lilly Staub


(9)

 

 

Gedanken über Tagebuchschreiben (1944 - 1946)
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3.1.  Tagebücher (1938 - 1944) – Gedanken über Tagebuchschreiben (1944 - 1946).

Sonntagabend, 20. Februar 1944 

So will ich nun also mein zweites Tagebuch beginnen! Jetzt ist es für mich noch fremd mit seinen vielen leeren Seiten, die nun geduldig warten, um mein Leben mitzuerleben und um mir selbst ein Spiegel zu sein. Ich werde es sehr lieb haben dieses Buch, das mir meine lieben Skikameradinnen zum Geburtstag schenkten. Sie haben mir damit meinen grössten Wunsch erfüllt. Oh, ich freue mich sehr, das Buch zu beginnen, aber ich denke nun auch zurück. Ich glaube fünf Jahre sind es her, seit ich begann ein Tagebuch zu führen. Gusti hatte es mir geschenkt, und ich war so stolz, dass alle meine Erlebnisse nun aufgezeichnet werden sollten! Aus Leder war es und eine Ecke ist zerschunden. Gusti hatte es mir in die Ferien nachgeschickt, und auf der Reise wurde es „verwundet“. Warum ich das wohl gerade zu Beginn schreiben muss? Ich glaube, es musste mir helfen, es musste mich hinüberführen in einen neuen Abschnitt meines Lebens. 

Es werden ganz andere Namen auftauchen, vertraute und liebe Menschen werden vielleicht ganz allmählich immer weniger genannt, und ich werde dann wohl oft das alte Buch wieder hervor nehmen und daran denken, wie lieb ich all diese Menschen gehabt habe.


Donnerstag, 24. Februar 1944 

Gedanken zur Natur
Es ist fast unverantwortlich, jetzt ins Tagebuch zu schreiben, denn ich sollte arbeiten; aber ich muss einfach.

Heute ist seit langem wieder einmal ein sonniger Tag, und es scheint mir, dass nun alles leichter wird. Wir hatten heute einen Aufsatz: „Ich liebe den Frieden der Natur.“ Ich bin so froh, dass uns dieses Thema gestellt wurde. Ich empfand wieder einmal so recht, wie schön wir es haben. Und wenn ich auch noch so traurig und mutlos bin, so gibt es doch etwas Grösseres als meine Sorgen und vielleicht lerne ich gerade dadurch, dass ich schon Schweres erlebt habe, das Tröstliche der Natur zu lieben. Es scheint mir auch, ich hätte noch nie den Frühling so ersehnt wie dieses Jahr. Ich weiss, dass vieles nicht mehr so sein wird wie vor einem Jahr. Ich weiss, dass der Garten traurig und leer sein wird ohne Thomas und dass es Augenblicke geben wird, in denen mir Rico so sehr fehlen wird! 

Mittwoch, 1. März 1944
 
Immer wieder Rico
Ich war so froh, dass es mir in der Schule gut ging. Diese Woche habe ich nun Pech gehabt. Gestern morgen war es mir schon sehr mies; aber ich ging trotzdem in die Schule und machte die Mathe-Prüfung. Am Nachmittag blieb ich dann zu Hause. Mueti ist auch im Bett. Morgen werde ich die Haushälterin spielen.

Am Samstagabend hatte Rico angeläutet und sich erkundigt, ob ich immer noch böse sei. Nein, böse bin ich nicht, nur ruhiger. Es ist nur immer noch so, dass ich Rico noch nicht ganz aus meinen Gedanken verbannen kann. Und ich bin mir selbst gegenüber nicht ganz ehrlich. Ich sage immer wieder, dass mich das nun nicht mehr beschäftige und dass ich jetzt zufrieden sei. Und kaum habe ich ein wenig freie Zeit, so denke ich wieder an die schönen Augenblicke, die wir zusammen erlebt haben. Ich wüsste nicht, wie ich ihm jetzt begegnen sollte. Trotz allem würde ich ihn gerne wieder einmal sehen, obschon ich weiss, dass dann meine Ruhe wieder für einige Zeit verloren wäre.

Freitag, 3. März 1944 

Ich ging heute wieder zur Schule, wo ich meinen Math. 2 1/2 in Empfang nehmen konnte. Ja, eigentlich geht wieder einmal alles krumm. Heute kam noch Stigi und sagte, aus dem Dubois-Schregel nächsten Samstag werde nichts. Seine Mutter erlaubte ihm nicht, hinzugehen. Da kann man nichts machen. Mueti musste heute wieder ins Bett und hat wieder Fieber. Ob wir wohl morgen dennoch gehen können?  

Gestern Abend war ich wieder einmal so traurig. Büsu kam und ich klagte, ich hätte nie Post. Heute morgen war das im Briefkasten: Er schickte ein kleines Foto. Treuer Büsu?

P.S. „Stigi“ ist Hans Steiger, der eine grosse Rolle spielt!!
„Büsu“ ist Edi Buser, treuster Freund bis im Alter!

Ja, so ist Büsu! Wenn ich ihn doch nur so recht von Herzen lieb haben könnte! Er wäre so glücklich und würde es so gut verdienen, denn ich glaube nicht, dass ich einen Menschen kenne, der mich treuer liebt als er. Heute sind es drei Wochen, seit Rico zum letzten Mal bei uns war. Da hat er sich in meinem Zimmer umgesehen und gesagt: Ich möchte wieder einmal dein Paradies „sehen“. Mein Paradies nannte er mein Zimmer. Weiss er wohl, wie oft ich darin von ihm träumte? Ach, vor dem Einschlafen lasse ich immer wieder jene glücklichen Augenblicke vorüberziehen, und es scheint mir jetzt in der Erinnerung erlebe ich sie erst recht. Als ich krank war, habe ich Werthers Leiden gelesen. Auch dabei musste ich viel an Rico denken, denn wir haben uns einmal über dieses Werk gestritten, weil ich es als ein sentimentales Geschwätz verurteilte. Ich habe meine Meinung weitgehend geändert. Ich konnte damals unmöglich den Wert schätzen, da ich viel zu sehr von eigentlich rein äusserlichen Dingen abgestossen wurde. Ein Mann der aus Liebe weint, war in meinen Augen einfach lächerlich. -

Pino Peyer wird wahrscheinlich unsere Deutschnote für dieses Quartal machen. Nächste Woche muss er auch wieder in den Dienst, und wir erhalten dann wohl unseren 15. Stellvertreter im Deutschen.

Sonntagmorgen, 5. März 1944 

Man sollte sich nie auf etwas freuen! Gestern Abend war also der Männerchorfamilienabend im Casino. Am Nachmittag war es Mueti gar nicht gut und wir glaubten, es könne nicht gehen. Da hätte ich dann trotzdem gehen sollen nur mit Vati. Ich weiss nicht warum ich mich nicht besser zusammen nahm, aber ich fing plötzlich an zu weinen. Es war mir aber auch alles verdorben. Ski fahren gehen konnte ich auch nicht mehr, dann dachte ich wieder daran, dass eigentlich Rico hätte mit uns kommen sollen, so hatten wir es einst abgemacht. Und Büsu hätte sich so gefreut, wenn wir ihn eingeladen hätten! Mein Steckkopf gab das natürlich nicht zu, und dann dachte ich ja auch, Röbi Kunz sei dort. Mueti hat sich dann doch noch aufgerafft und sich so schön gemacht! Es sah wirklich fein aus im langen Kleid. Wie hätte Gusti Freude gehabt! Voller Erwartung fuhren wir mit einem Taxi hin. Und die Enttäuschung war gross. Ich selbst habe mich dann noch ganz gut unterhalten, und ich konnte den Anschein geben, es gefalle mir gut. Aber Mueti war so unglücklich! Wir sind halt im Männerchor fremd geworden, und viele Leute grüssten uns kaum. Das tat halt Mueti weh. So sass es den ganzen Abend am Tisch und war so traurig. Röbi ist ein rassiger junger Typ, aber eben er tanzte sehr wenig mit mir. Es war halt eine andere dort, die ihm wohl besser gefiel. Er hat mich eingeladen heute, mit ihnen aufs Gehrihorn zu kommen. Ich gehe aber nicht mit. Die können ja doch alle viel besser skifahren als ich. -

So war denn dieser Familienabend für uns alle eine Enttäuschung. Vati und Mueti dauern mich.

Vati, weil er uns doch eine Freude machen wollte und Mueti, weil sein einziger Anlass ihm so viel Enttäuschung brachte!
 

Sonntagabend 

Ich habe etwas getan, was mir jetzt unglaublich scheint. Ich habe Rico angeläutet. Ich konnte nicht mehr denken, ich wusste keinen anderen Rat. Mueti war seelisch so am Ende seiner Kraft, es weinte und konnte nicht mehr essen, (oh, ich weiss jetzt wie das ist!) Ich konnte nicht trösten, da hatte ich nur noch einen Gedanken: Rico anläuten. Ich ging zu Frau Müller und telefonierte von dort. Rico versprach mir, das zu tun (*nämlich zu uns anläuten, wie wenn er selbst diesen Gedanken gehabt hätte). Als ich nun nach Hause kam, sagte mir Mueti schluchzend, Rico habe angeläutet und Vati hätte ihm nicht einmal das Telefon gegeben. Es hätte so gerne mit Rico gesprochen. Oh, wie niedergeschlagen war ich nun. Hätte doch Vati nur etwas weiter gedacht! Er hat Rico dann einen Bericht über Muetis Krankheit gemacht. Mein Gott, Rico muss gedacht haben, ich sei verrückt geworden. Ich habe ihm jetzt geschrieben und so gut als möglich die Sache erklärt. Wenn ich nur wüsste, ob ich etwas ganz Falsches getan habe. Warum musste ich auch gerade wieder an Rico denken! 

Ich ging heute Nachmittag schnell zu Busers, ich wollte Büsu fragen, ob wir morgen auf den Gurten gehen. Er war nicht zu Hause, kam dann aber mit Elsbeth. Sie haben es wohl zum Nachtessen eingeladen. Ich bin dann natürlich gegangen. Ich bin ja Büsu nicht böse, er hat lange genug Geduld gehabt mit mir. So ein wenig weh tat es schon. Ich habe jetzt nur einen Gedanken. Was denkt wohl nun Rico von mir. - Draussen stürmt es.
 

Montag, 6. März 1944 

Rico war da. Ich glaubte, er sei auf meinen Brief hin gekommen. Ich habe mich sehr zusammengenommen, und Mueti war so froh! Es glaubte ja, Rico sei von sich aus gekommen. Es tat nur so weh. Büsu kam natürlich auch grad wieder. So war denn alles gegen aussen hin wie früher. Ja und dann machte Büsu noch den Vorschlag, morgen Abend alle drei ins Theater zu gehen. Im ersten Augenblick habe ich mich darauf gefreut, aber es kam mir dann schnell zum Bewusstsein, wie anders alles ja geworden ist! - Und vorhin hatte Rico angeläutet. Erst als er heimkam hat er meinen Brief gefunden. Er hat Mueti gesagt, er würde am Samstag gerne mit mir in die „Missa Solemnis“ gehen, aber er wisse nicht, ob ich mitkomme. Oh ich würde mich so freuen! Aber ich glaube, ich sollte nicht gehen. Dann glaube ich wieder, es sei alles gut und mache mir Illusionen. Ich will doch tapfer sein! - Röbi Kunz hat angeläutet. Er fragte, ob ich am 19. März mit ihnen komme und am Sie und Er - Rennen mithelfe. Er würde sich sehr freuen. Ich weiss noch nicht, ob ich mich dazu entschliesse, ich fahre wohl doch zu wenig gut, Röbi versicherte mir zwar, es gäbe noch mehr „Nüsse“.
 

Sonntag, 12. März 1944 

Ich bin die ganze Woche krank gewesen und habe in der Schule ein paar Proben verfehlt (was mich übrigens gar nicht traurig macht, um so mehr als sie zum Teil schwer waren). Büsu hat mir jeden Tag einen Krankenbesuch gemacht, und auch Stigi hat sich um mich gekümmert. Rico dagegen blieb stumm. Seit letzten Montag weiss ich wieder nichts mehr von ihm. Büsu hat ihm angeläutet und ihm gesagt, ich sei krank gewesen. Es hat ihm wahrscheinlich keinen grossen Eindruck gemacht. Und ich habe jetzt gemerkt, wie wenig Vertrauen Rico noch zu mir hat! Gestern erzählte mir Büsu, dass Böhni schon lange nicht mehr zu Hause sei, sondern bei einer bekannten Familie. Rico hat mir nicht einmal das gesagt. Und ich dummes Geschöpf läute ihm wieder an! -

Heute morgen war ich auf dem Friedhof, und dort habe ich Stigi getroffen. Am Nachmittag sind wir bei Fam. Meyer zu Besuch gewesen. Es war recht gemütlich. Nun bin ich sehr sehr müde. - Übrigens, Rico ist jetzt in Chesières. Er ging seine Mama besuchen. Zuri ist heute nach Mürren verreist, ja die habens gut, unsereiner muss noch drei Wochen auf die Ferien warten!


Mittwoch, 22. März 1944 

Sorgen in der Schule wegen Math!!
Es geht mir wieder einmal schief. Wir hatten heute die letzte Math. Prüf. in der Sekunda, und ich bin abgeschifft. Es hat mich sehr deprimiert. -

Schwärmerei f. Klaus Nüscheler.
Ich muss aber jetzt noch so viel Schönes aufschreiben. Letzten Samstag war ich im Bellevue mit Sylvia, einem italienischen Internierten und mit Klaus. Ach war das schön. Klaus tanzt wunderbar, und er hat so viel Ähnliches mit Gusti. Als er mir den Vorschlag machte, am Samstag mit ihnen aufs Heiligkreuz zu kommen, war ich sofort einverstanden. So habe ich dann einen herrlichen Sonntag verlebt. Und jetzt, ja jetzt bin ich wohl ein wenig verliebt. Ich hätte nie gedacht, dass ich Rico so schnell vergessen könnte. Ich war aber sehr zurückhaltend gegen Klaus, denn ach ich weiss ja genau, dass ich gar keine Hoffnungen haben darf. Klaus ist so lieb und so hübsch und kennt so viele andere Mädchen, die wohl alle netter sind als ich, dass er mich kaum denen vorziehen wird. Ich bin so glücklich, wenn Sylvia etwas von ihm erzählt; sie scheint übrigens zu ahnen, dass er mir nicht gleichgültig ist. Ich glaube, das wird wieder vergehen.

Ach, es war so schön!
 

Samstag, 25. März 1944 

Heute haben Rico und Büsu Geburtstag. Ja, und ich habe nun den Mut gehabt, Rico zum letzten Mal zu schreiben. Ich wünschte ihm von Herzen alles Gute und schrieb auch, dass zwischen uns nun alles zu Ende sei. Jetzt ist es geschehen, und ich glaube es ist gut so. Es tut schon noch weh, besonders wenn ich zurück denke wie es vor einem Jahr war. Gestern war ich bei Aimée im Spital und Rico machte ihm gerade zur gleichen Zeit einen Besuch. Rico und ich sind uns so fremd gegenüber gestanden! Ich verhielt mich sehr stolz. 

Am Abend waren wir bei Familie Keller eingeladen. Hans und Ernst sind jetzt auch viel netter mit mir als früher.

Ostern, Sonntag, 9. April 1944 

Locarno. Zwischenfall mit Betrug im Lat. Reakt. des Lehrers. 

Schon seit einer Woche bin ich hier mit Mueti in den Ferien. Ich hatte sie wirklich nötig die Ferien! In der Schule habe ich sehr gut abgeschlossen. Es gab noch eine kleinere Affäre im Latein. Mäni Bär ist doch geflogen und aus Rache hat er uns bei Bibi verklagt, wir hätten immer die Sätze im Latein ???. Das stimmt ja schon lange nicht mehr. Ich habe jetzt Bibi einen Brief geschrieben und mich entschuldigt für damals, als ich sie wirklich hatte. Er hat mir sofort geantwortet und geschrieben, er sei mir gar nicht böse. Von Rico erhielt ich dann auch einen Brief. Er denkt nicht gleich wie ich. Er hätte wohl gerne noch einmal über alles gesprochen, aber ich will jetzt nicht mehr. Je mehr wir darüber reden, desto weiter entfernen wir uns voneinander. Ich schicke ihm auch keine Karte mehr. 

Die letzte Woche hatten wir strahlendes Wetter. Am Mittwoch war ich mit Max Biber, dem Sohn des Kunstmalers, per Velo im Centovalli. Am Freitagabend kam Ruedi hierher. Er ist im Onsernonetal im Dienst. Du meine Güte, er wird immer langweiliger! Er ist ja ein guter und netter Kamerad, aber Geist hat er nicht viel.

Jetzt regnet es. Ich weiss noch nicht, was wir am Nachmittag tun werden. Vor einem Jahr … Ich darf nicht immer zurückdenken!

Ferien mit Mueti in Locarno

Bern, den 19. April 1944 

Es scheint mir schon so weit zurück, seit ich die Tessinerferien genoss. Wir gingen damals in den Kursaal, und ich lernte einen Diplomaten kennen. Es war ein Ungar, und er war so ehrlich, mir zu sagen, ich hätte sehr schöne Füsse, aber leider schlecht gepflegte Hände. Vielleicht stimmt es, aber ich habe gewiss anderes zu tun, als meine Hände zu pflegen. Immerhin schmiere ich sie jetzt mehr als vorher. Man soll ja gute Ratschläge befolgen. - Ich bin noch sehr viel mit Max zusammen gewesen. Wir gondelten auf dem See herum und am letzten Donnerstag fuhren wir ins Maggiatal. Es waren wundervolle Ferien, obschon wir nur jeden dritten Morgen etwas Butter zum Morgenessen erhielten! In Bern erfuhr ich dann, dass Rico im Spital ist seit einer Woche! Er liess den Blinddarm operieren. Er schrieb Mueti einen Brief. Er hat die ganze Operation zugeschaut im Spiegel. Es sei sehr schmerzhaft gewesen. Er dauert mich, aber ich werde ihn nicht besuchen gehen. Auch Claus ist im Spital. Er hat einen doppelten Beinbruch. Ich möchte ihn so gerne besuchen, aber ich weiss nicht recht, ob ich darf. Ich bin so komisch, ich möchte nicht aufdringlich sein. Ob er wohl ein wenig Freude hätte? Er hat ja sicher viel Damenbesuch. Am Montag war ich mit Büsu im Kino und mit Stigi ging ich Velofahren. Heute ging Büsu zu Rico ins Spital, ich habe ihm einen Gruß geschickt. Ach, ich möchte, ich wäre verliebt. So recht, dass ich alles vergessen würde, ich möchte einmal küssen, ich möchte… Ach, es ist schlimm mit mir. Ich glaube, man sollte das nicht mit dem Verstand zu ergründen suchen. Ich hatte doch Rico sehr sehr gern, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich ohne ihn nicht mehr leben könnte. Gewiss war ich untröstlich, als unsere Freundschaft auseinander ging. - So, jetzt bin ich wieder bei diesem Thema angelangt, und ich will jetzt gar nicht daran denken. Sehnsucht nach Liebe.

Montag, 1. Mai 1944 

Ich möchte so gerne ausdrücken können, wie schön ich das Leben finde! Die letzten zwei Tage scheinen mich ganz verändert zu haben. Also ich war von Omar eingeladen an den Truppabend, und ich kann nur sagen, es war ein unbeschreiblich schöner Abend. Ich konnte mich wieder genau so freuen wie einst, ich war wieder das fröhliche Lilly wie früher. Ich habe den ganzen Abend nie an Rico gedacht! Wer hätte das gedacht? Ich schäme mich fast, dass ich mich so schnell getröstet habe, aber es ist jetzt Frühling, alle waren lieb zu mir, ich kann nichts dafür, aber ich habe alle Menschen lieb! Sogar mit Heinz Schenk habe ich Frieden geschlossen. - Und gestern kam Omi zu uns zum schwarzen Kaffee. Ich bin froh, denn er gefällt allen so gut! Mir natürlich auch. Ich bin sogar ein wenig stolz auf ihn. Er ist ein bäumiger Truppenführer und ein ganz aufrechter Mensch.Und lieb ist er auch! Gestern am Katerbummel ins „Jägerheim“ hat sich ein Mädchen (übrigens sehr hübsch) alle Mühe gegeben, ihm zu gefallen. Es lief ihm direkt nach. Ach, ich war natürlich sehr glücklich, dass Omi ihr so deutlich zeigte, dass er mich viel lieber habe! Heute feierte Mueti seinen 50. Geburtstag. Rico hat ihm nicht mehr gratuliert. Aber Omi hat eine reizende Karte geschickt und Mueti hatte riesige Freude daran. 


Mittwoch, 3. Mai 1944 

Selbstmord von Lindi Buob. Gedanken über Tod

Ich wollte eigentlich jetzt nicht schreiben. Es ist alles noch so neu und unabgeklärt. Ich war heute an der Beerdigung meiner Schulkameradin Lindi Buob. Vor zwei Wochen wurde es als vermisst gemeldet und jetzt haben sie es gefunden. Es hat sich das Leben genommen. Es ist so furchtbar zu denken, dass diesem jungen Menschenkind wirklich kein anderer Weg mehr geblieben sein soll! Und wir andern, wir wissen ja so wenig über das Wesen eines Menschen. Der Pfarrer versuchte, die Art des Kindes zu verstehen, er versuchte, es zu entschuldigen; und ich hatte das Gefühl, als sei das wirklich für Linda‘s Leben die einzige Lösung gewesen. Es muss wohl geahnt haben, dass es all das Grosse, was es vielleicht in sich fühlte, wohl in diesem Leben nie erfassen konnte. Sein Wesen war Unruhe, Verworrenheit und grenzenlose Güte. Was aber war es, das ihm nur alles Schwere sehen liess, das ihm vollständig den Willen lähmte, einen Ausweg zu suchen, das ihm den Tod, das Schrecklichste, was wir jungen Menschen kennen, als Erlösung sehen liess? Konnte es nicht ertragen, weiter zu leben, ewig von Fragen umgeben, auf die es keine Antwort gibt; wenigstens nicht auf dieser Welt? Ach, wenn nur dieses Kind jetzt seine Ruhe gefunden hat! Wenn es jetzt alles Wirre und Trübe ablegen durfte, wenn es jetzt heimkehren durfte, wenn es einem Ruf gefolgt ist, - dann sollten wir ja auch nicht weinen um sein junges Leben. Dann hat es ja viel tiefer gelebt als wir, - und dennoch kann ich es nicht verstehen! Lindi warum hast du das getan?!
 

Freitag, 5. Mai 1944 

Rico hat angeläutet! Hab ich wohl nur geträumt oder war das wirklich seine Stimme? Und es ist so seltsam: Wir haben gesprochen zusammen wie einst. Ich war nicht einmal sehr erstaunt, und es sind doch nun bald zwei Monate, seit ich nichts mehr von ihm wusste. Es hat mich nicht aufgeregt, und auch jetzt bin ich ganz ruhig. Ich will es auffassen als ein Traum. 

Von Pino habe ich einen lieben Brief erhalten. Ich habe ihm geschrieben, wie Erich und ich auseinander gekommen sind. Es ist so tröstlich zu wissen, dass auch Pino findet, ich habe wahrscheinlich den rechten Weg gewählt! Selbtsamerweise habe ich gerade an dem Tag ein kleines Werk von „Johann Christoph Wohlgemut“ zur Ansicht erhalten, und ich glaubte, in dieser feinen kleinen Novelle „Im Gartenhaus“ ganz die Art Pino‘s zu fühlen. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Pino schreibt mir, es sei dies sein erstes Werk, und natürlich kann er es als Lehrer nicht unter dem rechten Namen herausgeben. Ach, ich bin so froh, dass ich Pino habe. Ich werde ja immer bei ihm um Rat fragen dürfen, und er wird mir helfen, wenn er kann. - Morgen gehe ich mit Büsu an den „Schwyzerstärn-Abend“. Er freut sich sehr. Am Sonntag muss er wieder in den Dienst. 

Rico hat Angst aufs Phys. Wenn er nur arbeitet, dann kommt es schon gut!

Freitag, 19. Mai 1944 

Heute Abend bin ich wieder einmal recht traurig. Grund habe ich eigentlich keinen rechten; dass unser Klassenabend morgen nicht stattfindet, ist schon eine Enttäuschung, aber es ist nicht das. Heute Abend kam Büsu und sagte, Rico sei jetzt auch eingeladen morgen Abend zu Joli Günther an den Hausball. Ach, ich wäre auch gerne hingegangen! Aber reden wir nicht davon. Am Mittwoch waren wir an der Uni als Versuchskaninchen. Hans Keller machte ein Examen und ein paar aus unserer Klasse mussten als „Schüler“ antreten. Es war gerissen! Rico habe ich nicht gesehen. Letzte Woche habe ich Claus besucht im Spital. Er war natürlich sehr nett. Leider hat er immer von anderen jungen Mädchen erzählt. Von Omar weiss ich auch nichts mehr, ich sehe ihn nicht einmal in den Pausen. Glücksgefühle wechseln mit Einsamkeitsgedanken. Ich weiss selber nicht, was mit mir los ist. Ich bin so unruhig. Die Augenblicke, wo ich unsäglich glücklich bin, wechseln so schnell mit solchen, in denen ich mich plötzlich furchtbar einsam fühle. Ich sehne mich nach etwas, ohne selbst zu wissen, nach was. Um dies zu vergessen, spiele ich dann Klavier und weiss doch, dass ich es nachher nur noch stärker fühle. Klavier als Trost.

Sonntag, 21. Mai 1944 

Ich war heute so allein! Nicht dass ich keine Leute um mich gehabt hätte, nein, aber ich fühlte mich so fremd unter ihnen. Vati und Mueti sind mit dem Männerchor nach Jegensdorf gegangen. Ich wollte nicht mit. So habe ich dann am Morgen lange ausgeschlafen und bin darauf in die Stadt spaziert. Ich hatte eine Einladung zu Pino‘s Gartenhausserenade. Leider hat es geregnet, so dass das Konzert halt nicht im Garten abgehalten werden konnte, sondern im „Söller“. Ich habe mit niemandem gesprochen. Es schien mir fast, als empfanden mich einige als Eindringling. Es ist wohl nur eine Einbildung. Die Musik war herrlich. Sie schien mir ganz Erinnerung zu sein.

Nachher ging ich zum Mittagessen zu Scholl. Auf dem Heimweg begegnete ich Herrn Dr. Gafner und Hank. Sie grüssten beide sehr freundlich. Ich habe so stolz wie möglich genickt. - Und am Nachmittag ging ich ins Theater. Ich sass neben Marc Kohler. Er war sehr nett. Wir tauschten Erinnerungen aus aus unserer Progerzeit. -  

Jetzt bin ich froh, dass Vati und Mueti wieder heimgekommen sind. Von allen meinen Bekannten hat sich heute keine Seele um mich gekümmert. Sylvia ging mit jemandem anderen spazieren, Aimée war fort, Stigi ist seit einigen Tagen so seltsam und auch Büsu hielt es heute nicht für nötig, nach mir zu sehen, obwohl er wusste, dass ich allein war. Aber der Sonntag ist ja nun vorbei und morgen beginnt die Arbeit wieder. Ich bin froh.
 

Sonntag, 28. Mai 1944 

Studentenfest (Freistudenten) 

Ich war an meinem ersten Studentenfest! Mit den Singstudenten am Maibummel. Agnes und ich gingen gestern nach der Schule per Bahn nach Biel, wo wir von unseren Herren abgeholt wurden. Meiner war ein Medizinstudent im 4. Semester der durchs Phys. geflogen ist. Nach einer herrlichen Überfahrt mit einem Motorboot landeten wir auf der Petersinsel. Die andern waren schon seit dem Morgen dort und labten sich an der Waldmeisterbowle. Ach, war die gut! Als es mir so etwas seltsam summte im Kopf, fand ich es ratsamer, nicht mehr zu trinken. Ja, und dort auf der Petersinsel unter den grossen dunklen Bäumen, durch die nur leise die Sonnenstrahlen drangen, am Tisch der Singstudenten, habe ich einen Kuss bekommen. Meinen ersten, rechten Kuss. Ich war sooo verwirrt. Ich fand es doch selbstverständlich, dass man sich duzt; aber es scheint ein Brauch zu sein, die Mädchen beim Duzismachen küssen zu dürfen. Der lustige „Faun“ schien sich um meine Grundsätze nicht zu kümmern und bevor ich dazu gekommen wäre, zu protestieren, war‘s geschehen. Und was das Seltsame ist, es hat mich gar nicht sehr gestört. Die Stimmung, das Wetter, die Bowle, es musste einfach so sein! Geraubter Kuss.

Mein Herr, der „Spleen“ war zum Glück sehr schüchtern, und er hat es nicht gewagt. Ich bin ihm eigentlich dankbar. Nur ist es nicht recht von mir, dass ich ihm diese Freude nicht gegönnt habe. Es ging auch hier halt so, dass die Scheuen kein Glück haben. „Faun“ der kleine Schlingel!…. Immer brav und gehemmt! 

In Twann ein gerissenes Nachtessen mit herrlichen Fischen! In Biel kehrten wir noch einmal ein, und auf einer Bank in der Allee habe ich „Spleen“ meine Grundsätze zu verstehen gegeben; und ich muss sagen, er war sehr anständig. Er war sehr traurig der arme „Spleen“, als er mir ganz schüchtern den Arm um die Schultern legte und sagte: „Ja Lilly, ich verstehe Dich; aber einen Menschen wie Du hätte ich nötig gehabt.“ In Bern gingen wir noch an den Stamm und so endete dieser fröhliche, sonnige Tag. Ich mag sie gut, die netten Jungen; aber ob ich zu ihnen passen würde? - 

Heute war ich mit Vati und Mueti in Belp bei einem fabelhaften Mittagessen. Büsu ist gestern wieder eingerückt.

Freitag, 2. Juni 1944 

Wut über schlechten Aufsatz. 

Heute war ich wieder einmal ganz verrückt. Rhyn brachte uns nach fünf Wochen endlich die Aufsätze zurück. Ich wusste ja, dass ich nicht so gut war wie sonst; aber als ich dann eine 4-5 erhielt, wurde ich so wild, dass ich wütend das ganze Aufsatzheft in tausend Stücke zerriss. Zu Hause waren sie mit dieser jähzornigen Handlungsweise gar nicht zufrieden. Ich sehe ja auch ein, dass das mir gar nichts nützte; aber im Moment selber konnte ich gar nicht mehr denken, ich sah immer die 4-5 vor mir, die schlechteste Note in Deutsch seit ich in den Gymer gehe! Ich bin gespannt, was Rhyn wohl morgen dazu sagen wird. 

Büsu hat heute ein Paket per express geschickt mit frischen weissen Weggli. Am letzten Mittwoch waren wir bei Zieglers. Thomas ist immer noch gleich matt.
 

Dienstag, 6. Juni 1944 

Ich musste mein Aufsatzheft wieder zusammenflicken! Ich habe es auch getan, aber es fehlt mir ein Stück und das sieht aus wie ein Fensterchen mitten in der Seite. Rhyn sagte gar nicht viel dazu. Heute haben wir die Natere Puetz zurückerhalten. Da habe ich einen schönen Schreck erlebt! Dr. Mäder sagte, wir seien alle recht gut gewesen, nur Len und Lilly Staub hätten ihn überrascht. Er verwechselte mich aber mit Dory Steiger, und so erlebte ich eine furchtbare Stunde. Ich konnte es einfach kaum glauben, dass ich so schlecht gewesen sein sollte! Am Ende der Stunde gab er dann die Arbeiten zurück, und er sagte, die Arbeit von Lilly Staub sei die beste und habe eine 6. Mir schlotterten die Knie! Es war ein bisschen ein grosser Wechsel von Trauer und Freude! Solche Verwechslungen sind zwar noch angenehm, wenn es sich dann herausstellt, dass man viel besser ist als der andere. Ich bin so froh! Wenn nur Rico es wüsste. Ob es ihn gleichwohl noch ein wenig freuen würde, wenn er wüsste, dass ich in der Natere gut bin?! Morgen haben wir frei. Ich sollte Math. Arbeiten, wir werden am Donnerstag eine Probe machen und ich sollte gut sein. -

Kriegsgeschehen

Die Alliierten haben an der Westküste von Frankreich Truppen gelandet. Es sind schwere Kämpfe im Gange. 

Sonntag, 11. Juni 1944
 
Streit mit Stigi

Unser Klassenabend wäre also vorbei. Er hat mir viel Leid und Enttäuschung gebracht! Zuerst begann er ganz nett, aber es herrschte eine so gespannte Stimmung wegen Stigi und mir, denn alle wussten ja, dass Stigi und ich Krach haben seit zwei Wochen. Ich habe einen grossen Fehler gemacht. Ich hätte die ganze Sache gestern Abend fröhlich ins Reine bringen sollen. Statt dessen war ich so recht blasiert und von oben herab, und bei der Damentour habe ich Stigi ja doch geholt. Er kann sich also als Sieger betrachten. Ja, und die andern machten sich zum Teil lustig über mich, weil sie meinem Grössenwahn diese Schlappe gönnen. Sie gingen dann anschliessend noch zu Moser heim, um „Rida“ zu trinken. Ich hatte sehr das Gefühl, dass sie mich nicht wollten, und so bin ich nicht mitgegangen. Ich könnte heulen, aber es nützt ja nichts. Es tut mir so leid, dass sie mich in der Klasse nicht mögen. Ich habe so Angst, morgen in die Schule zu gehen! Auch bekomme ich eine furchtbare Note in der Math zurück. Ich habe rein nichts gekonnt. So muss ich die nächste Woche wohl sehr trübe beginnen. Jetzt heisst es Kopf hoch! Ich werde meine Lehre daraus ziehen. - Heute habe ich mit Büsu einen weiten Spaziergang gemacht. Ach, es wäre so herrlich gewesen, wenn ich nicht immer hätte daran denken müssen, dass morgen die Schule wieder beginnt. Auch glaube ich, haben einige von der Klasse heute einen Kanterbummel gemacht. - Ach wenn ich Büsu nicht hätte!

Büsu der Tröster
 

Dienstag, 13. Juni 1944 

Ich habe wieder einmal alles viel zu schwarz gesehen. Es waren ja alle wieder freundlich zu mir und Kanterbummel haben sie auch keinen gemacht. In der Math. habe ich allerdings eine 2 erhalten. Pech!! Die Stimmung in der Klasse ist sehr gut. Mit Stigi habe ich Frieden geschlossen. Jetzt ist es mir wieder wohler. Morgen gehe ich wahrscheinlich ins Bad. (Vachi war übrigens auch nicht bei denen, die noch zu Mösi gingen!)
 

Montag, 26. Juni 1944 

Anaemie, Erschöpfung, Herzbeschwerden. 

Ich bin seit letzten Donnerstag nicht mehr in der Schule gewesen. Am Mittwochabend hatte ich eine richtige Nervenkrise. Ich hatte den ganzen Tag Kopfweh und demnach arbeitete ich wie verrückt Mathe. Am Abend gings dann einfach nicht mehr. Am Donnerstag habe ich fast den ganzen Tag geschlafen. Ich war wie zerschlagen und furchtbar müde. Büsu hat mir einen riesigen Strauss Rosen gebracht. Er ist so lieb! Heute bin ich nun bei Frl. Dr. Hofstetter gewesen. Sie gab mir den deprimierenden Bericht, ich habe zu wenig Blut und das Herz sei ziemlich schwach. Daher kommen wohl meine häufigen Angstzustände und die Müdigkeit. Frl. Dr. verbot mir dann, in der offenen Aare zu schwimmen, und ich habe mich doch so gefreut! Es wird schon wieder gut kommen. - Am Samstag vor einer Woche war ich mit Büsu und Mani im Kursaal. Runele hat mich eingeladen an einen Roverschregel nächsten Freitag. Wie wird das wohl? Rico ist ja auch dort. Ich habe ein wenig Angst, ihn wieder zu sehen, aber einmal muss es ja doch sein. - Vachi hat heute lange mit mir geredet. Ich traf ihn auf der Brücke. - Wir machten letzte Woche noch einen Aufsatz. Thema: „Aus meinem Tagebuch.“ Ob ich wohl das Heft wieder zerreisse? Wohl kaum! Mueti war bei „Bibi“ wegen dem Lat. Es hat sehr guten Bericht. Bibi sagte, alle Lehrer hätten mich gern. 

 

Donnerstag 29. Juni 1944 

Wieder Rico

Ich habe Rico gesehen! Rico, Rico, warum habe ich dich treffen müssen? -

Der Roverschregel findet morgen nicht statt. Um dies Rico mitzuteilen fuhren Büsu und ich zu ihm; d.h. ich wollte beim Bierhübeli warten, aber gerade dort kam uns Rico entgegen. Mir schlug das Herz bis zum Halse hinauf. Freude, Angst … Und dann habe ich mich zusammen genommen. Wir sprachen ganz fröhlich miteinander, wie wenn nie etwas zwischen uns geschehen wäre. Rico erzählte, dass er sich nun umteilen lasse im Militär zu den leichten Truppen. Er wollte zu den Fliegern, aber sie nehmen nur solche mit einem technischen Beruf. 

Ich bin ja froh, habe ich ihn wieder einmal gesehen habe, aber ich habe Angst! Ich habe mich so damit abgefunden, ich dachte sogar am Samstag mit Omar recht lieb zu sein, jetzt habe ich Rico getroffen und weiss nun dass ich ihn immer noch grenzenlos lieb habe. Und das darf ich einfach nicht. Oh, könnten wir doch alles vergessen, was geschehen ist, könnten wir von vorne beginnen. Ich würde vieles anders machen! - Morgen habe ich Konsiexamen. Letztes Jahr kam Rico zuhören. Jetzt werde ich ohne ihn spielen und doch werde ich an ihn denken. Rico, warum musste es so kommen?
 

Montag, 3. Juli 1944

Omar

Ich bin also mit Omar am Mulusball gewesen. Ein fabelhaftes Essen, gute Stimmung, ein gerissener Abend, aber sehr heiß. Nur eben ich hatte Heimweh nach Rico. Bei einem langsamen Walzer hätte ich weinen können. Ich schloss die Augen und dachte, ich tanze mit Rico. Omar war ja so nett! Hätte ich Rico nicht wieder gesehen, wer weiss…. Ich bin jetzt ziemlich überzeugt, dass ich mich nie mehr recht verliebe. Ich will Rico treu bleiben, vielleicht kommt es einmal wieder gut! Rico! 

Omar und Büsu waren gestern da zum schwarzen Kaffee. Wir hatten einen ganz netten Nachmittag.

Konsi Vortragsprüfung war gut. Am Freitag habe ich übrigens sehr gut gespielt. Am Morgen in der Hauptprobe bin ich gestolpert und habe mir das Knie blutig geschlagen. Das war kein gutes Vorzeichen! Zum Glück ging es aber dann doch gut.
 

Montag, 10. Juli 1944

Am Samstag war Schulschluss, und ich habe wieder fünf Wochen Ferien vor mir!

Am Samstagabend war ich mit Bernhard Band (ein Schulkamerad aus dem Proger) an einem Klassenabend. Es waren zwar nur acht Paare. Der Abend war nett, obschon fast nur Tango getanzt wurde und zwar meist ohne Licht. Ja, und da hatte ich auch einen Augenblick den Wunsch, nachzugeben. Musik, Dunkelheit, es war wie ein dunkles Etwas, ein Rausch, der mich zwang, dem sanften Drang zu folgen, mich auch an den Tänzer zu schmiegen, mich auch zu vergessen und mich küssen zu lassen. Ich habe es nicht getan! Und ich war wohl das einzige Mädchen, das sich in keiner Weise gehen liess. Ich will jetzt ehrlich sein gegen mich: Es hat mich eine Anstrengung gekostet! Und jetzt bin ich so froh, dass ich stark war, denn ich hätte mich wohl vor mir selbst geschämt nachher. Ich verurteile aber die Mädchen nicht, die anders sind. Ich gebe zu, dass ich mich auch nach Liebe sehne, ich möchte so sein wie die andern, aber ich kann es nicht. Einmal vielleicht werde ich wissen, was rechte Liebe ist! Das wird aber etwas anderes sein, als Liebkosungen bei Musik und Dunkelheit, denn das ist doch nur etwas Gekünsteltes, ein Ersatz für eine grosse Sehnsucht, ein gewollter Effekt, der das Reine und Gute verstummen lässt. Ach, ich möchte gut bleiben und weiss doch nicht, ob ich die Kraft dazu habe!

Immer Angst vor „sich gehen lassen“.
 

Mittwoch, 12. Juli 1944 

Rico hat das Phys nicht bestanden! Büsu kam heute Abend und erzählte es mir. Er ist der einzige, der so schlecht abgeschnitten hat. Ich kann es noch nicht glauben: Rico, der seine Matur mit I bestand. Rico, der so intelligent ist, ist geflogen! Eigentlich sollte das mich ja freuen, ich sollte es ihm gönnen, aber ich kann nicht. Er dauert mich ja so. Ich möchte ihm schreiben, ihm sagen, wie leid es mir tut; aber dass das ja kein so grosses Unglück ist. - Ich darf nicht. Er würde es vielleicht als Beleidigung auffassen, er will wohl meinen Trost gar nicht. Ach, in was für einer trostlosen Stimmung wird er jetzt sein. Und ich kann nichts tun für ihn. Ich bin so traurig! Vor einem Jahr kam Rico auf Tête de Ran zu Besuch. Da war alles noch gut. –

Erinnerung an Tête de Ran
 

Hergiswil, 19. Juli 1944 

Ferien am Vierwaldstädtersee! Es ist ein herrliches Plätzchen hier und das Wetter ist fabelhaft. Meine Laune dagegen ist furchtbar. Ich habe Heimweh nach Rico. Büsu hat mir geschrieben, er sei bei Gafners zum Tee eingeladen gewesen. Rico habe den Schreck wegen dem Phys schnell überstanden. Ich ging gestern tanzen hier. Es ist in unserer Pension ein nettes Mädchen, Sonja, mit dem ich gut auskomme. Es ist so unkompliziert und nimmt das Leben wie es ist. Ach wäre ich auch so! Ich konnte nur dreimal tanzen. Ich bin zu abweisend. Omar hat auch nicht mehr geschrieben. Sie ziehen sich alle zurück. Bin ich schuld? Ich weiss es nicht. Nur nicht bitter werden. Ich gelte als sehr stolz hier. Oh, wie ich diese gekünstelte Fröhlichkeit hasse. Es hat viel Militär hier und sogar Mueti lässt sich ein mit ihnen. Anzügliche Spässe, blöde Witze. Ich sitze dabei und schweige! Soja ist immer heiter und fröhlich, sie ist beliebt bei allen. Ich bin nicht eifersüchtig. Ich mag sie auch sehr gut! Morgen gehen wir nach Luzern.

 

Hergiswil, 31. Juli 1944

Büsu Gehilfe bei Vati in Hergiswil

Dass ich doch immer solch ein Pessimist bin! Omar hat mir einen 11-seitigen Brief geschrieben. Er hat mich wieder an einen Schregel eingeladen. Auch die vom Posten haben geschrieben. Sogar Stigi hat mich nicht vergessen. Die letzte Woche war herrlich. Büsu war einer der Gehilfen bei Vati. Am Abend gondelte ich ihn noch auf dem See herum und weit draussen badete er dann. Ein paar Mal gingen wir auch tanzen. Heute sind nun Vati und Büsu nach Graubünden abgereist. Auch Sonja ist fort, und so ist es sehr still geworden in der „Alpenruh“. Mueti und ich bleiben noch eine Woche.
 

Bern, 9. August 1944

Pilatus 

In Hergiswil habe ich noch einen wundervollen Tag erlebt. Am Morgen ging ich mit Mueti auf den Pilatus. Das ist das Schönste, was ich bis jetzt gesehen habe! Ein Nebelmeer von den Alpen bis über das Mittelland und wir in der strahlendsten Sonne! Ich habe mir dort oben ganz fest vorgenommen, auf meiner Hochzeitsreise auch wieder dort hinauf zu gehen (...aber hoffentlich ist es vorher noch einmal möglich!) Am selben Tag machten wir noch eine Mondscheinfahrt auf dem See. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, ist es mir, es sei eine Traum gewesen. Nur das leise Geräusch der Wellen, vom Ufer, einsame Lichter, ein leichter Wind und über allem ein unsäglich tröstlicher Friede! Jetzt ist diese schöne Zeit vorbei! - Omar war gestern Nachmittag bei uns zu Besuch. Er gefällt Mueti immer besser. Ich habe ihn auch gern. Ich vergleiche ihn immer mit Rico. Allerdings finde ich überhaupt keine Ähnlichkeit! Morgen gehen wir, wenn schönes Wetter ist, per Velo an den Murtensee. Ich hätte eigentlich nie gedacht, dass Omar auf diese Idee kommen könnte. Ich freue mich aber. Er scheint mir noch so seltsam, so fremd, denn ich kenne ihn ja eigentlich noch nicht so gut.

Montag, 14. August 1944

Omar am Murtensee mit Velo 

Morgen beginnt die Schule wieder und zwar haben wir jetzt Erfahrungsnoten für die Matur. In den Ferien habe ich gar nichts gearbeitet. - Ich war am Donnerstag mit Omar am Murtensee! Es war wohl mein schönster Ferientag! Sonnige und glückliche Kameradschaft war‘s. Ich weiss nicht, warum, aber bei Omar habe ich immer das Gefühl, bei ihm ist es sicher, bei ihm ist es wie „zu Hause“. Ich kann ihm ruhig in die Augen sehen, da ist nichts, was verwirrt und unsicher macht, wie bei Rico.

Rico ist heute in die R.S. eingerückt. Vor einem Jahr kam er mich abholen in Tête de Ran. Tempi passati!…

Am Samstag war Elsbeth bei uns mit Dieterli. Ach, wenn es doch Gustis kleiner Bub wäre!

Im Garten hatten wir jetzt einige Tage das reinste Strandbad. Wir stellten grosse Zuber voll Wasser an die Sonne, und selbst ich mit meinen bald 20 Jährchen verschmähte dieses Vergnügen nicht. Noch eine Dusche mit der Spritzkanne, idealer kann man es bei dieser Hitze wirklich nicht haben! Unter den Bäumen habe ich die Hängematte aufgespannt, und so genoss ich diese letzte Ferienwoche noch in vollen Zügen. Morgen ist das zu Ende. Mir graut ein wenig! 

Mathematik! 

Oh, Mathe, oh Mathe, du grässlich Fach,
Von mir gelernt mit Ach und Krach.
Warum oh quälst Du mich mit Tücken
Und lässt es mir auch niemals glücken.
Nur einmal Dich mit Lieb‘ zu sehen
Und vielleicht sogar zu verstehen?!
Der Sinus und der Cotangens
Und all die schönen Sachen
Sind einzig nur auf dieser Welt,
Um Bauchweh mir zu machen!
Und denke ich, dass noch ein Jahr,
Mir keine Ruh soll werden,
Dann könnte mir das gwüss fürwahr
Grad jede Freud verderben!

Dienstag, 22. August 1944 

Es geht vorwärts! Jetzt haben wir schon die zweite Woche Schule und heute gab‘s eine Math. Puetz.

Ich habe, glaube ich auch etwas recht! - 

Am Samstag war der gerissene Schregel mit Omar. Von Bern bis in die Neubrugg gabs eine Aarefahrt. Diese, so wie der Abend überhaupt, war ganz bäumig!

Mit Stigi habe ich jetzt wieder Frieden. Gestern Abend haben wir Math. gelernt und sind dann noch in die Ufenau gebummelt. Es war so stockdunkel, dass wir nur Hand in Hand den Heimweg fanden!
 

Freitag, 1. September 1944

Stigi Aufgaben und Elfenau-Bummel 

Morgen haben wir eine ganz eklige Gschirepüetz. Stigi und ich haben sehr viel gearbeitet. Jetzt sind wir wieder in der Elfenau gewesen und zwar ist das ein Spaziergang gewesen wie in einem Traum. Es ist Vollmond heute Abend, und über den Feldern und dem Wasser lag eine silberne Dunstschicht. Eigentlich war‘s zum Fürchten. 

Am Montag musste Büsu einrücken, es ist eine Teilmobilmachung. Um elf Uhr sind wir einmal zusammen die Aare hinunter geschwommen. Mit Omi bin ich zweimal gewesen. Am Dienstag habe ich Physere repetiert, bin aber einfach nicht nachgekommen, da habe ich Omar angeläutet. Er war nicht zu Hause. Seine Schwester war aber sehr lieb mit mir. Er ist dann noch am selben Abend selbst gekommen, um mir die Sache zu erklären. Jetzt steckt er mitten in der Matur. Am Mittwoch wollten wir baden gehen, aber es war mir zu kalt. Er hat dann nicht mehr angeläutet gestern und heute. Ich weiss gar nicht, ob ich mich erkundigen sollte, wie es ihm gestern in der Math gegangen ist.
 

Dienstag, 12. September 1944, 23. Uhr 30

Fliegeralarm 

Soeben bin ich heimgekommen. Ich war mit Omi im Kino. Er hat heute seine Matur beendet und das mussten wir doch feiern! Ja, jetzt sind sie alle fertig und bei mir geht es noch ein ganzes Jahr. Er hat eine 2 gemacht. Das ist gut. Obschon seit heute die Verdunkelung aufgehoben ist, sind wir Arm in Arm heimgekommen. Und jetzt gabs gerade wieder Alarm. Es ist der fünfte heute. Es scheint also, dass die amerikanischen Flieger unsere Grenzen auch so nicht kennen! 

Gestern halfen Syle, Agnes und ich mit bei „Sodome et Gomorre“. Das heisst, wir bekamen ein graues Kleid und einen schwarzen Hudel um den Kopf und mussten am Schluss das sterbende Volk darstellen. Dafür bekamen wir zwei Franken. Es war da so ein älterer Herr, dem habe ich gefallen. Er war eklig. Zuerst sagte er mir, ich sei hübsch, dann wollte er fühlen, ob ich ein Doppelkinn habe. Ich glaube, ich würde mich doch nicht eignen ans Theater! Nicht wegen dem Doppelkinn, aber wegen der Lebensweise der Künstler. Rico hat Mueti einen Brief geschrieben und mich herzlich grüssen lassen.

Samstag, 17. September 1944, Bettag

Stigi mit Angst vor Krankheit 

Ich war wieder so ein wenig krank. Am Mittwochmorgen war es mir so elend, dass ich nicht in die Schule konnte. Mueti schimpfte zwar, weil es fand, ich hätte mit einem solchen Schnupfen eben nicht noch ins Kino gehen sollen. Zum Glück bekam ich dann Fieber, so dass Mueti aufhörte zu schimpfen. Omar hat mich auch besucht. Gestern hat Stigi bei uns geschlafen. Ein Onkel von ihm ist mit seiner Frau und einem herzigen Mädchen schwarz über die Granze gekommen. Die sind jetzt bei Steigers, und zum Schlafen ist das nicht grad günstig. Gerade vorhin kam nun Hans und sagte, er schlafe jetzt wieder drüben. Es sei ihm nicht gut, und er möchte uns keine Unannehmlichkeiten bereiten in der Nacht. Er leidet, glaube ich, an einer allerdings sehr dummen Krankheit. Er glaubt immer, er sei krank; und er fürchtet sich sogar, zu einem Arzt zu gehen, aus Angst, der entdecke dann eine schwere Krankheit bei ihm! Der gute Hans spinnt manchmal ein wenig!! 

Gestern Abend hat Büsu angeläutet. Sie haben es furchtbar streng im Dienst. Heute haben Mueti und ich lange geschlafen und nach dem Mittagessen gingen wir in die Stadt zu einem guten Z‘Vieri.
 

Freitag, 22. September 1944 

Meine letzten Maturferien. Das nächste Jahr müssen dann wir dran glauben. Gestern war Thomas wieder einmal bei uns auf Besuch; es ist immer ein Fest für ihn und für uns. Omar kam am Nachmittag, eigentlich wollten wir Velo fahren gehen, aber er hatte dann so Freude an Thomas, dass wir zu Hause blieben. Am Abend haben wir den Kleinen per Velo heimgebracht. Omi nahm ihn vorne drauf. Als ich heim kam, gab mir Mueti einen Brief von Rico! Und zwar ist dieser Brief wieder an mich adressiert. Der Inhalt ist sehr nett. Was hat wohl Rico gedacht, als er den Brief abschickte? Ach, und jetzt ist es schon wieder so, dass ich eigentlich heute Nachmittag ziemlich viel an einen kleinen Rekruten gedacht habe! Am Morgen haben Stigi und ich wieder mal Math. gemacht, aber als es einfach nicht weiterging, verlegten wir unser Arbeitsfeld in die Küche. Gemeinsam brachten wir da einen herrlichen Zwetschenkuchen zustande. Allerdings war der Teig schon fertig. Gestern Abend sind wir in einem Konzert gewesen. Nachher hat uns der Onkel von Stigi zu einem Bier im Bierkeller eingeladen. Heute ist Omar nach Zürich gereist, um eine Bude zu suchen. Am 19. hatte er Geburtstag. Ich hätte so gerne Rico geschrieben, aber ich muss ihn noch warten lassen.

Sonntag, 24. September 1944 

Das war so ein schöner Sonntag, wie er uns gut tut. Am Morgen bin ich mit Mueti in der Kirche gewesen. Es war eine sehr gute Predigt. Am Nachmittag schien sich das Wetter bessern zu wollen, so dass Stigi und ich uns entschlossen, Büsu per Velo in Wiggiswil zu besuchen. Schon der Weg dorthin war herrlich. Es stürmte und windete wunderbar. Büso hatte riesig Freude, als wir anrückten. Er zeigte uns seine Pferde, das Kantonement, das Dorf und die Umgebung. Wir machten dann zu Fuss einen weiten Bummel über die Felder. Da kam es mir so recht zum Bewusstsein, dass es unwiderruflich Herbst geworden ist. Der Wind sauste über die Felder und wehte uns dürre Blätter entgegen, die er im nahen Walde losgerissen hatte. Wir konnten kaum mehr sprechen, so sauste es - und da war ich glücklich! Das war wieder das Wetter wie ich es liebe! Wir kehrten in der „Seerose“ein und Büsu bezahlte mir ein tolles Restbrot. Um 5 Uhr machten wir uns auf den Heimweg. Büsu fand auch, es sei ein bäumiger Tag gewesen für ihn. Stigi und ich hatten noch ein Stück Arbeit, bis wir zu Hause waren. Es fing noch an zu regnen im Grauholz. Die Berge glänzten zum Teil in einem grellen Weiss und im klaren Föhnlicht schien es, als seien sich Alpen und Jura nähergerückt. Über dem Mittelland lagen schwarze Wolkenschichten und in dieser wunderbaren Beleuchtung und Stimmung zwischen Regen, Föhn und Sonnenglanz radelten wir den Mannenberg hinunter. 
 

Sonntag, 1. Oktober 1944 

Obschon es schon spät ist, will ich dennoch jetzt einschreiben; denn nächste Woche werde ich kaum Zeit haben. Seit letzten Mittwoch haben wir ein kleines Franzosenkind aus dem gefährdeten Gebiet. Es ist ein reizendes Mädchen und seine beiden Schwesterchen auch. Sie sind alle an der Tillierstr. Ich bewundere die Tapferkeit dieser Kleinen! Ich komme mir vor wie ein Mütterchen, es gibt viel zu stricken und zu nähen für „mein Schwesterchen“. Gestern hatte Aliette Geburtstag. Es wurde richtig verwöhnt, alle wollten ihm dieses Fest recht schön machen. Sogar Omar hat ihm ein Päckli mit Schokolade geschickt. Heute morgen waren wir auf dem Bahnhof. Sonja hatte Aufenthalt auf der Durchreise nach Montana. Sie müssen sich dort vier Wochen „erholen“. Sie hat die Zeit zu dieser Erholung allerdings sehr günstig gewählt; denn sie sollte in den Landdienst. Mir ist es gut gegangen. Anstatt drei, muss ich nun nur zwei Wochen gehen. Ich komme nach Eriswil. Heiniger aus meiner Klasse hat dort Verwandte, so dass ich doch nicht ganz unbekannt bin. Er wird mich dann besuchen. Die nächste Woche wird wohl noch ziemlich streng.
 

Samstag, 7. Oktober 1944 

Ich bin unvernünftig glücklich! Zwar sollte ich jetzt das Licht löschen, die Kleine könnte erwachen, aber ich muss es noch schreiben, dass Rico heute da war und zwar in Uniform. Ich weiss ja, es war nur ein Anstandsbesuch, aber ich weiss es jetzt wieder nur allzugut, dass ich ihn immer gern haben werde. Omar, Stigi und ich waren am Mittwoch auf dem Gurten. Es war trostlos und neblig, und ich dachte an Rico. Am Freitag kam Omar noch, um sich zu verabschieden, er geht nach Zürich an die E.T.H. 

Vati hat mir in einer generösen Anwandlung eine tolle Tasche gekauft. Rico ist gewachsen, er sieht sehr gut aus in der Uniform.
 

Donnerstag, 23. November 1944 

Ich feiere Wiedersehen mit meinem Tagebuch! Wie oft hätte ich gerne eingeschrieben; aber der Schlüssel war verloren. Heute ist nun mein lang vermisstes Schlüsseletui wieder zum Vorschein gekommen.

Also, ich war im Landdienst, habe dort allerhand erlebt. Ich kehrte zurück und bin sehr glücklich, wieder daheim zu sein! In der Schule geht es schrecklich streng. In der letzten Woche glaubte ich schon, einen Entschluss gefasst zu haben. Ich bin nämlich in der Chemie so schlecht, dass ich beinahe glauben muss, ich sei zu dumm für ein Med. Studium. Ich werde dann später noch einmal besser darüber nachdenken. Rico ist wieder verstummt. Er war letzten Samstag mit Büsu im Kursaal, und ich habe mich mit Omar bäumig unterhalten am Truppabend der Violetten. Ich tanzte sogar oft mit Heinz Scheutz und ich muss sagen, eigentlich war „meine erste Liebe“ ganz nett! Bis jetzt (22.00) war ich bei Stigi und machte Aufgaben. Wir haben eine neue Arbeitsmethode herausgefunden. Während ich am Tisch arbeite, liegt er auf seinem Bett und liest Werther für seinen Vortrag. Wir verstehen uns eigentlich sehr gut, und wir hatten sogar mal die Idee, dass wir uns heiraten könnten. (Solche Gedanken sind gar nicht so unzeitgemäss, wenn man denkt, dass Rosle schon so weit ist und dass ich wirklich Fortschritte mache in der Kindererziehung. Aliette!)

Uniballrock-Problem und sonstige Sörgelchen treten in den Hindergrund vor den drohenden Püetzen (und das ist ja schliessl. auch noch nicht das Schlimmste!)

Sonntag, 25. November 1944 

Gestern war ein recht bewegter Tag. Ich erhielt von meiner Bauernfrau ein grosses Brot. Das machte mich so glücklich. Von Omar bekam ich einen Brief, der sollte mich eigentlich auch glücklich machen. Zuerst aber erschreckte er mich. Es ist jetzt erst ein Jahr, seit Rico mit seiner entscheidenden Frage mich aus dem Konzept gebracht hat. Jetzt dachte ich, völlig frei zu ein und nun gesteht mir Omar in seinem Brief, dass er schon lange den Wunsch gehabt habe, ich möchte nur ihm gehören. So wären wir also wieder gleich weit wie vor einem Jahr? Zum Glück ist es nun doch nicht so. Omar ist ein sehr starker junger Mensch, und er dankt mir für meine Haltung ihm gegenüber. Er habe eingesehen, dass wir uns durch eine schöne Freundschft unsäglich viel geben können. Das andere aber, das dürfen wir nicht in den Vordergrund treten lassen. Wir sind beide noch sehr jung und haben grosse Pläne. Heute hätte ich arbeiten sollen für eine Natere Püetz. Ich entschloss mich aber, mit Vati, Mueti und Aliette nach Vechigen zu gehen, wo wir ein herrliches z‘Vieri und z‘Nacht erhielten.
 

Sonntag, 3. Dezember 1944 

Wieder ein Uniball vorbei! Nach vielen Hindernissen wurde mein neuer Ballrock doch noch fertig und Büsu hatte riesige Freude, mit „seinem grossen Schwesterchen“ auf den Ball zu gehen. Ich war sehr gut aufgelegt, und die Autofahrt bis zum Gurtenbähnli erhöhte noch meine Stimmung. Es war eigentlich eine ganz gute Idee, den Uni-Ball auf dem Gurten zu machen. Es ist ein frohes und schönes Fest gewesen! Und was vor allem wichtig ist, Büsu war glücklich! Wir sassen am gleichen Tisch mit Zuri und Mar-Lou. Da war natürlich für Fröhlichkeit gesorgt! Kurz, dass es auch mir gut gefiel, beweist die „Zeit der Heimkehr“. Es schlug halb sechs, als ich müde unter die Decke schlüpfte. Heute Nachmittag kam Omar zum z‘Vieri. Er ist sehr mager, aber es gefällt ihm gut in Zürich. Ich hätte ihm schon lange auf seinen Brief antworten sollen. Die letzte Woche war aber furchtbar! Und die nächste wird nicht besser! Jetzt bin ich sehr müde. 4 Stunden Schlaf sind eben doch etwas wenig!

Sonntag, 10. Dezember 1944 

Das war eine ereignisvolle Woche. Wir hatten die letzte Math.Püetz. Es war so leicht, dass alle sehr gute Noten hatten, nur ich bekam eine 2-3. Da war es mit meiner Selbstbeherrschung aus. Bei Frau Lüthi habe ich geheult wie ein Schlosshund! Hudel selber hat mich noch getröstet und gesagt, ich solle das nicht so tragisch nehmen. Der hat gut sagen! Ich habe mich so gefreut, ich habe jetzt einen 4-er in der Math und jetzt ist alles futsch! 

Gestern Abend bin ich schon wieder fort gewesen, und zwar mit Hanspeter Leuenberger aus der Ia. Es ist diejenige Klasse, bei der es das letzte Mal am Klassenabend so sentimental war. Hanspeter hat sich sehr, sehr verändert seit dem Proger. Ich mag ihn jetzt sehr gut. Es fiel mir gar nicht schwer, auch einmal nicht so unnahbar zu sein. Man tanzte meistens Englischwalzer und sonst so langsame Sachen. Ein besonders schöner Walzer wurde immer wieder gespielt, jetzt läuft einem die Melodie den ganzen Tag nach, aber es macht nichts, erinnert man sich doch dann wieder an jene schönen Momente; denn schön war es trotz der sehr mangelhaften Beleuchtung. Man tanzte beim Kerzenschein und zuletzt überhaupt ohne Licht. Na ja, sollte ich wohl auch schon soweit gekommen sein, dass ich ein wenig sentimental werde? Es war aber alles so ehrlich. Das beste Zeichen dafür, dass der Abend nett war, aber nicht übertrieben, ist wohl der: ich hatte heute keinen Kater. Wir sind weit gebummelt. Es war ein wunderbarer, aber kalter Tag und die Aussicht vom Waldheim wird unserer Kleinen wohl lange in Erinnerung bleiben. Jetzt bin ich herrlich müde.
 

Freitag, 22. Dezember 1944 

Soeben hat sich Stigi „einen Ast geholt“ bei uns, wie er mir sagte. Er dauert mich einfach! Wenn ja schon bei uns nicht alles klappt, besser ist es doch noch als bei ihnen drüben. Dann werde ich auch sehr verwöhnt und Hans hat Minderwertigkeitsgefühle. Am Dienstag bin ich mit ihm im Theater gewesen. Wir waren ganz allein in der Loge, und beide hatten wir Freude wie kleine Kinder. Hans ist ja wirklich oft noch ein Kind; aber ich habe ihn gern. Er hat mich auch eingeladen an den Klassenabend. Heute kam mich Omar abholen und dann ging ich zum Coiffeur. Omar war natürlich etwas enttäuscht. Morgen gibts die Zeugnisse und am Sonntag feiern wir Weihnachten. Büsu und Omar kommen. Am 17. am Abend um 9 Uhr hatte Rico angeläutet. Er hat doch noch an den Todestag von Gusti gedacht. Ich glaube, ich kann Rico nie ganz vergessen!


Donnerstag, 28. Dezember 1944 

Ich bin sehr müde. Meine neue Stelle als Bürofräulein ist zwar zur Abwechslung ganz nett, wenn schon das „Ober-Fräulein“ eine bärbeissige alte Jungfer ist! Sie betrachtet mich als Eindringling; nun das bin ich ja auch. Herr Dr. Ziegler ist aber sehr nett. Ihm verdanke ich es ja auch, dass ich diese Stelle bekam. Man muss nur immer denken, dass die Hauptsache der Lohn ist, dann geht es gut. Nachher kann ich ja dann in die Ferien. 

Am letzten Samstag habe ich eine riesige Freude erlebt. Ich wusste ja, dass ich in der Math wieder einen 3er hatte. Ich kann es nicht ausdrücken, wie mir zumute war, als ich das Zeugnis öffnete. Hudel hat mir eine 4!! gegeben!! 

Weihnachten war sehr schön. Omar und Büsu kamen zu uns. Mir wurde jeder Wunsch erfüllt. Auch die Kleine war überglücklich.

Am Samstagabend ist Rico da gewesen! Das hat mich sehr, sehr gefreut. 

Bei Steigers drüben ist Sturm. Frau Steiger glaubt, ich verführe „ihren Hans“. Er darf nicht herüberkommen. Er müsse jetzt arbeiten! 

Omar ist gestern nach Grindelwald verreist. Ach, jetzt müsste es schön sein auf der Scheidegg!!

Geduld kleines Bürofräulein!

 

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Bern, Sonntag, 7. Januar 1945 

Wie die Zeit läuft! Es ist alles so ganz anders gekommen als ich dachte. Neujahr nicht in den Skiferien! Mueti ist krank seit einer Woche. Ich ging aber gleichwohl noch ins Büro bis gestern. Und jetzt haushalte ich. Am Silvesterabend sind Vati und ich im Kino gewesen und dann zu Hause schlüpfte ich ganz tief unter die Decke, damit ich nichts hörte von den Neujahrsglocken. Ich hatte einen furchtbaren Ast. Omar schrieb, wie herrlich es in Grindelwald sei etc. Item, das ging auch vorbei. Zum Glück geht es Mueti etwas besser. Eigentlich gehen mir schon alle, auch die geheimen Wünsche in Erfüllung! Nach dem Klassenabend mit Hanspeter hoffte ich, er werde mir einmal schreiben, und nun habe ich einen lieben Brief erhalten aus Braunwald. Schon die Hälfte unserer Ferien sind vorbei, - und ich bin sehr müde. 

Rico hat mir seinen Vortrag über „des Meeres und der Liebe Wellen“ geschickt. Wie man doch vernünftig werden kann! Soeben ist Alarm, und dumpf und drohend surren die Motoren der Bomber über unserer Stadt. Grauenhaft zu denken, wo sie ihre furchtbare Last abwerfen werden. Wie muss dieser Lärm den Menschen im Kriegsgebiet unaussprechliches Entsetzen und Angst einjagen!
 

Sonntag, 21. Januar 1945 

Ich will jetzt gerade noch einschreiben, so lange ich im Schuss bin. Bis jetzt habe ich Physere abgeschrieben. Es war eine Aufgabe, die wir über die vierwöchigen Ferien hätten machen sollen. Zum Glück hat es Omar für mich getan! Nun sind meine Ferien zu Ende. Meine letzten Winterferien im Gymer! Zuerst die Arbeit im Büro (der Lohn war übrigens Fr. 95.--), dann die Haushaltarbeiten zu Hause, und nun bis gestern meine herrliche Trainingswoche auf der kleinen Scheidegg. Es war einfach wunderbar! Es kam eigentlich ganz plötzlich, der Entschluss, dem SOS beizutreten. Nun habe ich eine Woche dort oben in Sonne und Schnee zugebracht. Schon am Morgen vom Frühstückstisch aus blickte man über die immer heller leuchtenden Gipfel unserer Berge. Dann fuhren wir hinauf aufs Lauberhorn. Auf dem Skilift froren wir zwar immer erbärmlich; aber oben schien die Sonne und machte alles wieder gut. Es folgten zwei Stunden Skischule, die mir ausgezeichnet gefielen. Dann: Riesenhunger, Mittagessen, Abfahrt nach Wengen oder Grindelwald, Umziehen, Nachtessen und gemütliche Abende. Ich war mit Susi Lüdin und Marianna zusammen im gleichen Zimmer. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns so gut verstehen würden! Nur zu schnell ging es vorbei. Am letzten Abend hatte ich noch Magenkrämpfe. Helen und eine andere Dame kamen mir zu Hilfe. Da stellte mir diese Dame die seltsamste Frage, die mir bis jetzt jemand gestellt hat. Sie fragte wörtlich:“Könnte es kein Abortus sein?“ Trotz meinem Enzianschwipschen muss ich sie wohl sehr entsetzt angesehen haben! Sie meinte es ja nicht bös… So etwas kommt halt wohl im Leben anderer Mädchen vor. Warum bin ich wohl so brav? Die Krämpfe kamen bei mir von einem verdorbenen Fisch.  

Heute ist Aliette wieder zurückgekehrt. Es war für zwei Wochen bei Familie Wildberger. So, und nun fertig Ferien. Für die Schule habe ich gar nichts gearbeitet.
 

Dienstag, 23. Januar l945 

Mir ist, als habe die Schule noch gar nicht begonnen. Wenigstens ist das für mich Wichtige nicht in der Schule passiert. Gestern erhielt ich ein Telefon, ich solle am Abend am Bahnhof sein, um die Flüchtlingskinder aus Mühlhausen in Empfang zu nehmen. Um halb elf kam ich dann erschöpft nach Hause, nachdem ich zwei Ladungen (man muss schon so sagen, obwohl es grausam tönt) in der Kaserne untergebracht hatte. Nie werde ich den langen müden Kinderzug vergessen, der still und traurig durch die kalte Winternacht nach dem schützenden warmen Haus wankte! Die Kleinsten schliefen fast im Gehen ein und die Grösseren sahen erschreckend aus mit ihren grossen fragenden Augen. Als wir über den tief verschneiten Kasernenplatz gingen und die hell erleuchteten Fenster des grossen Hauses uns den Weg wiesen, da übermannte mich mit einem Male das unsägliche Elend und Leid, das diese Kinder erleben müssen. Und es sind doch Kinder, wie wir gewesen sind, die ein Anrecht haben auf ein Kinderglück! Die einen weinten ganz still vor sich hin, andere baten inständig, zurückkehren zu dürfen. Diejenigen aber, die nur still an unserer Seite gingen ohne zu klagen mit ernsten alten Gesichtszügen, die waren es, die mich an unsere grosse Ohnmacht mahnten. Oh, wir wollen versuchen, ihnen nur einen kleinen Teil von dem zu schenken, was ein Kind so nötig hat! Die Eltern und ein glückliches Heimatland können wir ihnen nicht geben, aber lieb haben dürfen wir sie. Ich habe mir fest vorgenommen, wieder recht geduldig zu sein mit Aliette! Heute morgen bekam ich frei in der Schule, und so war ich wieder bis am Nachmittag in der Kaserne. Wir spielten mit den Kindern. Eines nach dem anderen wurde abgerufen und eingeteilt. Der Tisch wurde leer, und als auch das letzte fortgegangen war, da überkam mich eine solche Trostlosigkeit, dass ich mich mit aller Kraft zusammennehmen musste, nicht zu weinen. Es war wie ein schwerer Traum, Kinder gingen in meinem Leben vorbei, ich habe sie lieb gewonnen, ich habe sie getröstet, ich habe Schicksale gehört und sie zu verstehen versucht. - Jetzt war der Tisch leer, die kleine Gemeinschaft auseinandergerissen und eine traurige Führerin dachte an jedes noch einmal zurück. Ein Häufchen Kinderzeichnungen, ein paar Adressen, die Erinnerung an einen Tisch voll Kinder, das ist mir geblieben. Jetzt sind wohl alle in guten Familien unterbracht und denken vielleicht auch an ihre letzte Etappe in Bern. Ich erhalte vielleicht noch etwa eine Karte, und dann erfahre ich nichts mehr von ihrem Schicksal. – 
 

Sonntag, 11. Februar 1945 

Mein 20. Geburtstag ist vorbei. Es war ein grosses Fest mit vielen Geschenken. Von meinen Eltern habe ich einen Schreibtisch erhalten. Einige Geschenke waren ganz zeitgemäss: Eier, Reis und Milchcoupons! Von Omar habe ich Wiechert‘s „Flöte des Pan“ bekommen, mit der Inschrift: Meiner Freundin Lilly. Da dachte ich zwei Jahre zurück, damals war es Rico, der mir dasselbe in einem Buch von Wiechert schrieb! Und jetzt hat er mich so vergessen, dass er nicht einmal zum 20. Geburtstag Glück wünschte! Es wird wohl gut sein so. Ich war mit Omar wieder an einem Schregel. Oh, wenn er mich nur einmal küssen würde! Aber ich selbst bin ja schuld, dass er es nicht tut. Ich weiss, dass ich jetzt etwas Dummes schreibe, aber ich möchte einmal wissen, was eine grosse, tiefe Liebe ist! Ich kenne ja nichts als Schule, Proben und Arbeiten. Ich habe ein wunderbares Zimmer, viele Freunde; aber niemanden, den ich von ganzem Herzen lieb habe! Die Blumen von meinem Geburtstag welken, und ich habe wieder einmal einen Ast. Ich habe den Austritt gegeben aus dem Konservatorium. Jetzt bin ich fest entschlossen, Medizin zu studieren.


Donnerstag, 22. Februar 1945

Schule streng, Laune gut! So sollte es immer sein. Letzten Sonntag war ich in Zweisimmen am Gymerskirennen und zwar mit Omar. Er war sehr glücklich und mir hat es auch gefallen. Ich glaube, Omar nimmt alles doch viel tiefer, als ich glaubte. Ich habe ihn schon lieber als Büsu, aber das rechte ist es doch nicht. Ich will jetzt ehrlich sein: Eigentlich hoffte ich immer, Hanspeter werde mich wieder einmal einladen. Jetzt ist er aber gar nicht mehr sehr freundlich zu mir seit letzten Samstag, und ich hätte so gerne wieder einmal mit ihm getanzt! Stigi ist auch eifersüchtig auf Omar. Alle beneiden ihn, warum eigentlich? Er erreichte bis jetzt nicht mehr als die andern, aber er hat mehr Geduld. Von Rico habe ich nachträglich einen 7-seitigen Brief erhalten. Zum Geburtstag. - Ich werde doch wieder spielen im Konsi. Herr Girsberger hat mich angefragt, ob ich gerne mitmache. Das wird für mich der Abschied vom Konsi sein. - Ach ja, ich hätte fast vergessen: Ich habe in einer Mat.Püetz eine 4-5 gehabt. Vielleicht kommt es doch noch gut! 


Samstag, 3. März 1945 

Rico hat angeläutet, und wir haben volle 40 Minuten telefoniert, wie in alter Zeit“. Wie ruhig ich dabei gewesen bin! Am Nachmittag war ich mit Omar auf dem Friedhof und morgen gehen wir skifahren, d.h. nur wenn das Wetter einigermassen gut ist. Wir werden eine ganze Gesellschaft sein. Büsu, Syle, Nelly, Omar und ich. Es ist seltsam, aber immer wenn ich mit Omar etwas los habe, höre ich etwas von Rico. So muss ich dann wieder zurückdenken, und ich werde es nie ganz los, dass es doch schön gewesen ist! -
 

Montag, 5. März 1945 

Warum bin ich wohl so seltsam! Es war ein schöner Tag gestern in Zweisimmen; doch Omar war zum ersten Mal böse auf mich. Er sagte es nicht, er schwieg. Im Zug beim Heimfahren sprach ich davon, dass wohl alle Männer gleich sind, sie sind Egoisten, und ich sagte, dass ich Angst hätte vor einer Ehe, weil man doch nicht so glücklich sein wird, wie man es sich gewünscht hat. Ich sagte, dass ich froh sei, den Gymer gemacht zu haben, weil ich da die jungen Männer kennen lernte und viele Illusionen verlor! - Omar brachte mir heute noch einiges, das ich in seinem Rucksack hatte, zurück. Er schaute mich kaum an; ach, und jetzt ist auch er unglücklich wegen meinem Wesen! Ich möchte, dass er mich in die Arme nähme, ich möchte, dass er mir sagt, wie lieb er mich habe und wenn er es tun würde, dann wäre er mir verhasst, es würde mich ekeln vor einem Kuss. Und dieses mein seltsames Wesen macht mir Angst. Ich könnte nie mit einem Manne leben, und doch sehne ich mich danach, grenzenlos geliebt zu werden! Ich hatte noch eine Begegnung gestern. Gusti‘s Reitlehrer! Pferde, ein Sommerabend, die Reitschule, Gusti – wie unendlich weit das ist! Der Mann wollte mich damals schon reiten lernen. Gusti verbot es mir, weil er ihn kannte. Ich möchte ihm sagen, wie schwer ich das Leben finde, wie ganz anders ich mir die Liebe dachte, und wie traurig man wird, wenn die andern einem nicht verstehen! Vielleicht wirkt in uns Jungen schon die Zeit. Wir finden uns selbst nicht mehr, wir lesen von Toten, von Greueln, von ausgebrannten Städten, wir spüren die Sonne und pflücken die ersten Frühlingsblumen, - und wir bleiben stumpf. Die Seele schwingt nicht mehr mit. Wir sind so verloren! Wir sind nicht im Krieg und können nicht aus Hass handeln, wir spüren ihn aber doch den Krieg und finden den Weg zum friedlichen Leben nicht mehr, und dann kann es sein, dass man müde ist und dass man den verlorenen Glauben wieder haben möchte. Aber dann ist Gott fern, und man fühlt die Schwere des Lebens. Dann lernen wir Formeln und lernen Latein und können ja doch dem wirklichen Leben nicht entfliehen.


Dienstag, 12. März 1945 

Das scheint nun wirklich im wahrsten Sinne der „13.“ zu sein. Wir hatten eine schreckliche Natereprobe, die mir die 5 jetzt gründlich verdirbt! Oh diese Natere-Mule! Morgen eine Math. Püetz! Gische hat mir heute eine Stunde lang erklärt, aber ich habe Angst. Bis jetzt habe ich eine gute 4 und eigentlich könnte ich ja morgen schwänzen, um sie mir zu retten, aber das wage ich einfach nicht. Am letzten Sonntag ist Rico schnell dagewesen. Letzte Woche gingen Omar und ich einmal ins Kino.


Sonntag, 18. März 1945 

Aliette ist fort! Ach, ist das leer in allen Zimmern. Und war das ein Abschied. Ich glaubte nicht, dass es mich so erschüttern würde. Wann werden wir uns wohl wiedersehen? Wir haben ja so manches erlebt in diesem halben Jahr seit die Kleine bei uns war! Am letzten Freitag durfte sie am Abend mitkommen ins Konsi an die Vortragsübung. Ich spielte zum letzten Mal. Es ging gut. Gestern habe ich im Konzert der Berner-Prägeler Herrn Girsberger die Seiten gedreht. Heute hätte ich noch einmal gehen sollen; aber es ist mir etwas Dummes passiert. Ich glaubte, es sei wieder am Abend und es war am Nachmittag. Herr Girsberger wird schön böse sein! 

Die Kleine schläft heute Nacht in Genf. Niemand wird mir nun am Morgen einen Kuss auf die Nasenspitze geben! Die Spielsachen sind weggeräumt und unser Kleines ist schon so weit von uns!


Dienstag, 27. März 1945 

Was werden die nächsten Stunden bringen? Vati hat angeläutet: Unsere Verwandten aus Pommern sind in Bern angekommen. 7 Leute, die wir kaum kennen, Menschen die alles verloren haben und sich in die Schweiz retten konnten. Ich kann noch nichts tun, als warten. –


Freitag, 4. Mai 1945 

War das wirklich nötig, dass ein einziges, kleines Wort kommen musste, bis ich wieder einmal ins Tagebuch schreibe? Wie seltsam das ist! Da habe ich so vieles erlebt, Büsu ist durchs Phys geflogen, mein Zeugnis war gut, die Frühlingsferien waren schön – und das alles habe ich nicht festgehalten. Bis heute der Brief kam. Oh, ich habe viele Briefe bekommen, schreibt mir doch Omar jede Woche einmal. Im Brief von heute aber stand: „Mein Liebes …“ - und der Brief war nicht von Omar! Wie weit und gross in einer Frühlingsnacht ein solches Wort wird, ein Wort, das man ersehnte, bange Tage lang und plötzlich ist es da und verlangt nun den Platz, den wir ihm in unserem Herzen heimlich bereitet haben; - aber es darf nun nicht mehr hinein, weil es zu spät ist! Auch wenn man weiss, dass das Wort von einem Menschen kommt, der fremd geworden ist und der es vielleicht nur noch als eine Wendung braucht, ohne etwas dabei zu denken, so ist es doch da und klingt und will hinein dringen tief hinein in den ihm bereiteten Raum. - Und da kann es geschehen, dass man ihm doch öffnet, ganz heimlich, weil es ja etwas Verbotenes ist, und leise summt es in uns… „Mein Liebes“…. 

Und morgen werden wir vernünftig sein! Wir werden dem unsere Liebe geben, der sie wirklich verdient, der treu jede Woche einmal schreibt, wir werden fröhlich sein und nicht an den fremden Gast im Herzen denken! 

Heute Abend aber will ich ganz stille sein, ich will zwei Jahre jünger sein und noch einmal in Gedanken übers Moor gehen! 

Wie schwer oft Frühlingsnächte sind!
 

Samstag, 6. Mai 1945 

Ich kann nicht weiterlesen, bevor ich den Eindruck niedergeschrieben habe, den ich jetzt gehabt habe. Ich hätte nie gedacht, dass ein russisches Lied über unsere Gärten tönen würde! Und es ist seltsam, das russische Lied! Es tönt oft ganz leise und dann brechen die vielen klaren Männerstimmen plötzlich aus in einen aufpeitschenden oder laut klagenden Ruf. Das klingt dann so schwer und fremd über den blühenden Flieder. Woher das Lied kommt? Wir haben internierte Russen im Schulhaus seit einer Woche. Sie stehen an den Fenstern und Zäunen und viele Leute gehen und schauen sie an wie fremde Tiere. Und es sind doch auch Menschen, die eine Heimat hatten, dort in jenen weiten Ebenen, von denen die trotzigen und dennoch heimwehkranken Klänge erzählen. Es sind einstimmige Lieder und viele in einer dunklen Moll-Tonart. -  

Der Patria-Abend ist vorbei. Omar und Büsu waren enttäuscht. Ich war ziemlich glücklich. Ich bin eben immer noch eitel und habe es gern, wenn recht viele mit mir tanzen. Omar ist mir eigentlich fremd. Es ist gut, fängt morgen die Schule wieder an. Arbeit bringt vernünftigere Gedanken! Mueti verreist morgen nach Brunnen. Alle Menschen erwarten mit Spannung die Nachricht vom Frieden.


Sonntag, 24. Juni 1945 

Es sind schon bald 2 Monate her, seit dem „Tag der Waffenruhe“. Man feierte ihn in Kirchen, man stand auf den Strassen umher. Ich bin so müde. Am Freitag beginnt die Maturreise. Ich bringe keinen vernünftigen Satz zustande! Omar hat mich enttäuscht. Es ist wohl wieder einmal alles zu Ende. Ich kann jetzt mit dem besten Willen nicht schreiben. Es ist unerträglich heiß.
 

25. August 1945 

Es ist vielleicht gut, vor der Matur noch einmal etwas einzuschreiben, besonders wenn man, wie ich jetzt gerade, ziemlich Mühe hat zu leben. Ich muss weit zurück beginnen. Dass ich eine Zeitlang glaubte, Omar werde mir mehr als nur ein Freund sein, muss ich zugeben. Dann kam jener Zwischenfall, als ich merkte, dass er mich angelogen hatte! Ich brauche nicht zu schreiben, was es war, es tut nichts zur Sache. Da lernte ich ihn erst kennen. Ich will nichts Schlechtes sagen über ihn; aber wir zwei Menschen können nie zusammen gehören. Sein skrupelloser Ehrgeiz kommt eben doch zum Ausdruck, und das ertrage ich nicht. Wenn er sich auch Mühe gibt, Verständnis für meine Welt zu zeigen, es gelingt ihm nicht. Das Interesse ist nicht echt. Es schmerzt mich nicht, ihn zu verlieren. So weit war ich schon, als ich nach Ascona in die Ferien ging. - Und ich sehnte mich danach, etwas zu erleben! Ich habe nichts erlebt, in diesem Sinne wie ich es meinte, und ich kehrte gleich brav zurück, wie ich gegangen war. - Da habe ich begonnen, zu arbeiten; ich musste es ja auch, denn die Matur naht sehr rasch. Ich arbeitete nicht allein, sondern mit Hans. Und es war vielleicht mehr als nur freundschaftliche Gefühle. Ich wünschte oft, er möchte lieb sein zu mir. Wir sind nach den Aufgaben spazieren gegangen; ja, ich ging Hand in Hand mit ihm, und dachte nichts dabei und war glücklich! Gestern Abend wollten wir auch wieder gehen, da zerstörte Mueti alles durch sein Misstrauen. Es hat Angst, Hans sei mir mehr als andere, und das will es nicht. Ich bin dann erst um halb zehn Uhr heimgekommen. Der Mondaufgang war unbeschreiblich schön. Und jetzt kommt diese seltsam krankhafte Erscheinung: Heute morgen erwachte ich mit einem furchtbaren Schuldgefühl; ich fühlte mich schuldig für etwas, das gar nicht geschehen war. Beim Morgenessen sauste es mir in den Ohren, ich konnte kaum essen, die misstrauischen Blicke von Mueti machten mich fast wahnsinnig. Und jetzt habe ich Angst vor diesem Schuldkomplex, und ich finde den Ausweg nicht. Gewiss sind meine Nerven überspannt vom vielen Arbeiten; aber natürlich sind solche Dinge nicht. Ich glaube, ich bin viel zu viel abhängig von meiner Mutter. Ich bin nun wieder ruhiger. Ich darf doch nicht in dieser Wirrnis stecken bleiben. Schliesslich lebe ich ja mein Leben für mich und nicht für meine Mutter.


Donnerstag, 18. Oktober 1945 

Wie seltsam, dass ich jetzt hier weiterfahre, und man sieht es den Blättern nicht an, was alles dazwischen liegt! Ach, hätte ich es doch aufgezeichnet! Jetzt ist alles vorbei und nicht einmal hier kann ich später lesen, wie es war. Ich bin schon die zweite Woche an der Uni. Die Matur ging eigentlich ganz gut. Wie war es doch? Ach ja, man stieg mit grosser Angst und doch mit Stolz die vertrauten Treppen hinauf. Die Aula nahm uns auf und in je 4 Stunden am Morgen kamen wir schriftlich dran. Dann folgten fünf Tage „frei“, d.h. Vorbereitung für die mündl. Matur. Ich hatte Glück in Latein und Deutsch, Franz ging ordentlich und in der Math versagte ich wie in den guten alten Zeiten. Das Schlimmste aber war die Geschichte! Es folgte noch eine Panikstimmung zu Hause, weil ich glaubte, ich werde nur noch 50 Punkte erhalten. Es löste sich aber alles in Minne, denn ich hatte dann 52 und somit eine II. Ebenfalls Hans. Am Abend gingen wir ins Kino und hatten einen grässlichen Ast. Am Samstag drauf war bei Syle ein Ball und Hans schien sehr glücklich.

Und so endete eine glückliche Zeit!! –  

Mit Mueti ging ich dann 10 Tage in den Jura, um neue Kräfte zu sammeln für den grossen Start und ich startete. 

Rico hat mir zur Matur einen Aschenbecher und eine rote Rose geschenkt. Er kam viermal her und ich war nie zu Hause. Gestern ging ich mit Stigi ins Theater und Rico war auch dort. Ich wagte mich in der Pause nicht hinaus; ich hatte so Herzklopfen und morgen verreist er nach Lausanne. Ich hätte ihm so gerne heute Abend angeläutet, um Abschied zu nehmen. Es hat nicht sollen sein! Hans war da bis um 9 Uhr und jetzt ist es zu spät. Rico studiert nicht med. Büsu hat das Phys bestanden – und ich habe jetzt grad einen Ast.


Sonntag, 28. Oktober 1945

Fräulein Schaad war bei uns auf Besuch. Sie hat mir wunderbare Seide für eine Bluse geschenkt. Gestern Abend ging ich mit Büsu an einen Klassenabend. Ich hätte gern einmal mit Büsu getanzt; - und er fragte mich auch wirklich. Es wäre vielleicht besser gewesen, ich hätte es nicht getan. Es ist sicher nichts besonderes dabei, dass er …. ach, ich kann das nicht schreiben. Auf alle Fälle hatte ich nachher ein wenig ein schlechtes Gewissen. Büsu dauert mich. Mit seiner Schüchternheit wird er nie etwas erreichen. - 

Heute waren wir auf dem Gurten. Am Abend machte ich Stigi einen Krankenbesuch. Ich erzählte ihm von gestern. Er ist eifersüchtig auf Büsu. An der Uni habe ich eine sehr nette Kameradin kennengelernt.


Donnerstag, 15. November 1945

Es war wie früher heute Abend. Trix lud mich an einen WF-Höck ein. Alle waren da, Aye, Mugge etc. Ich habe ihnen Klavier gespielt. 

Es war so traurig, zu wissen, dass Rico so falsch ist! Am letzten Samstag spielte ich an einem Konzert des Polizeimännerchors. Hans kam mit mir, und in der Pause überraschte er mich mit dem Bericht, Rico sei im Saal und suche mich. Ja, er war da, er tanzte mit mir, er war lieb, und ich fühlte, dass er nur mit mir spielte. Ich weiss jetzt, dass er mit Rana geht. Schon lange! Oh, warum liess er mich nicht ganz in Ruhe? Warum kam er am Samstag? Ich wäre mit Hans so glücklich gewesen! Rana ist hübsch, intelligent, ich bin grenzenlos eifersüchtig. Ich will nicht zurückdenken! Arbeiten und daneben ihm nicht zeigen, wie weh es wieder tut. Am Samstag gehe ich mit Omar tanzen: Es ist vielleicht gemein von mir. Ich weiss es nicht, ich mag nicht mehr denken!


Mittwoch, 21. November 1945 

Wieviel in einer Woche ändern kann! Ich habe gestern mit Hans zum letzten Mal unseren Elfenauspaziergang gemacht. Jetzt erst ist die Gymerzeit für mich zu Ende.

Ach, wir glaubten beide, Hans und ich, etwas hinüberretten zu können, wir klammerten uns an unsere Freundschaft. Hans konnte nicht mehr. Er hat mich so lieb, und er stellte mir wieder die Frage: „Entweder stehst Du zu mir oder ich muss versuchen loszukommen.“ Er denkt so weit, er hätte auf mich warten wollen, es wäre vielleicht gut gekommen. Ich hätte ihm so gerne einen Kuss gegeben, seinen ersten Kuss. Aber ist musste tapfer bleiben. Der Nebel hüllte uns ein. Wir strauchelten durch den düsteren Herbstwald, und wir fühlten, wie kalt das Leben vor uns lag.

Noch einmal nahm er meine Hand wärmend in die seine, ich hatte einen Augenblick das Gefühl, dass wenn ich nachgäbe, alles gut werde. Ich schwieg. - So habe ich einen guten Freund verloren. Es ist nicht der gleiche Schmerz wie bei Rico; aber es ist, wie wenn ich ein Stück Heimat verloren hätte. Ich liebte Hans auf eine besondere Art. Wir haben so viel zusammen erlebt. Unsere Spaziergänge „d‘Heiteri“, „Anita 17“, seine Sorgen zu Hause, früher die Aufgaben. Das hat uns so verbunden. Ich werde lange am Sonntagmorgen nicht auf den Friedhof gehen! Oh Hans, ich habe ein schönes Stück Jugend mit Dir verloren. Heute Abend musste ich zu Vachi. Ich hatte so Heimweh nach dem Gymer, nach unserer Klasse. Auf der Uni ist alles so kalt. Ich bin wie ein Schiff, das die Seile eingezogen hat und nun einsam den Weg sucht. Ich habe keinen anderen mehr, der mich so kennt wie Hans, mit dem ich so viel Erinnerungen habe wie mit Hans. Es wird so traurig sein an Weihnachten!
 

Samstag, 26. November 1945 

Gestern habe ich zum ersten Mal nicht erzählt zu Hause, wie es war. Ich ging mit Büsu ins Theater. Wir sahen Shaws „Helden“. Überhaupt sprach ich seit Mittwoch kaum mehr daheim. Sie verstehen mich einfach nicht wegen Hans. Heute Nachmittag erzählte ich alles Chrottli. Wir gingen auf den Friedhof. Ich weiss, dass es eigentlich nicht recht war von mir, jetzt Chrottli alles anzuvertrauen, wie oft sprach ich gar nicht nett von ihm, aber heute war es wirklich nett. Und ich konnte doch jemandem von Hans erzählen. Es tat schon gut, dass nur jemand zuhörte. Es lud mich dann zum z‘Nacht ein, und ich spielte noch mit Herrn Studer Schach! Jetzt sprach Vati wieder ganz vernünftig mit mir. Wir gehen morgen zusammen ins Kino.

Hans sah mich heute morgen auf der Brücke mit Büsch.
 

Donnerstag, 13. Dezember 1945 

Hans ist vollständig aus dem Gleichgewicht. Gestern war Köbi bei mir, um mich zu fragen, ob ich nicht einlenken würde mit Hans. Es geht aber nicht. Hans stellt Bedingungen. Ich soll zu ihm halten, sozusagen treu sein! Ach, Hans ist ja noch so unmämnnlich. Er erzählt jedem seine Sorgen, er hört auf jeden Rat. Ich werde ihm immer helfen, wenn er mich braucht; aber so wie es war, wird es nie mehr. Am Samstag war unsere erste Klassenzusammenkunft im Dählhölzli. Weil ich Klassenmutter bin, hatte ich viel zu tun. (Es war aber trotzdem sodig!) Hans ist nicht gekommen. Er weicht mir überall aus und wechselt sogar das Tram, wenn ich drin bin. Nach dem Klassenabend brachten nur Köbi, Arm, Stampi, Börtsch und Brum ein Ständchen, Mueti machte uns noch einen Kaffee und so endete der Abend noch ganz fröhlich. Sie telefonierten sogar noch Hans, und er meint nun, alle machen sich lustig über ihn. Er dauert mich wirklich, aber es ist besser, wenn ich ihn jetzt allein lasse.

Vor einer Woche war ich an einem Hausball bei Schenks. Omar war natürlich auch eingeladen. Ausgerechnet am gleichen Abend wie der Uniball! Hans hatte mich ja schon vor langer Zeit eingeladen, aber ich habe nein gesagt damals. Bei Schenks haben sie sich alle Mühe gegeben, aber ich habe mich furchtbar gelangweilt mit Omar. Überhaupt ist er mir jetzt gleichgültiger als jeder andere. Ich weiss, dass ich auch ihm weh tun werde, aber es hat keinen Sinn, den Schein zu wahren, wenn gar nichts mehr da ist.

Morgen Abend ist Vorklinikerabend. Ich werde eine Kollegin begleiten zum Singen. Ich habe ganz leise die Hoffnung, Rico sei vielleicht auch da. Es ist natürlich dumm, so etwas zu denken, er studiert ja in Lausanne, allerdings doch Medizin! Übrigens, ich verdiene jetzt. Ich gebe Nachhilfestunden und Regeli und Beat nehmen Klavierstunden bei mir.
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Der dicke Strich ist unter das 1945 gezogen!

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1. Januar 1946, morgens 01.30. 

Soeben bin ich von Maria-Nina heimgekommen, wo wir im Junggesellinnenkreis froh das neue Jahr begrüssten, und jetzt finde ich, wäre es ganz gut, so die Bilanz zu ziehen aus einem ganzen langen Jahr. Weiter gekommen bin ich ja ganz gewiss ein Stück. Die Matur liegt hinter mir. Auch sonst noch allerhand. Ich habe jetzt oft das Gefühl, dass das Leben beginnen sollte. Das letzte Jahr hat mir neue Freunde gebracht, und ich merke oft sogar mit heimlicher Angst, wie ich so offen werde gegen jedermann. Früher habe ich das nie gekonnt. Was gehen denn meine Sorgen andere Leute an? Ich will versuchen, wieder mehr mir selbst zu gehören. 

Mit Hans ist es von mir aus gesehen wieder in Ordnung. Er stellt keine Bedingungen mehr, er will versuchen, vernünftig zu sein. Ich glaube, der Zwischenfall hat ihm doch etwas reifer gemacht. Für wie lange die Vernunft über dem Gefühl herrscht, weiss ich allerdings nicht. Ich will mir darüber keine Sorgen machen. Für mich wird er ein lieber Freund bleiben.

Rico hat mir seine neuen Gedichte zu Weihnacht geschenkt. Ich hätte ihn sehr gerne wieder einmal gesehen. Ich war wieder nicht zu Hause, als er kam. In der Familie Etter habe ich auch etwas angestellt. Der älteste Sohn hat sich in mich verliebt. Heute erhielt ich eine Einladung an einen gemütlichen Abend im Familienkreise. Ja, also höher hinauf geht es nun nicht mehr; doch würde ich gerne wieder aus Bundesratskreisen in das Regierungsrätliche Milieu hinuntersteigen.  

Die Mama von Aliette war hier. Sie hat mich herzlich eingeladen, in den Frühlingsferien nach Paris zu kommen. Wenn ich das Visum erhalte, werde ich natürlich reisen. Ich wünsche mir das ja schon so lange! Reisen! Doch das sind Wünsche, die mit meinem Studium nicht grad gut zu vereinigen sind! 

Mueti und Vati sind bei Fam. Meyer, und ich will jetzt noch lesen, bis sie heimkommen.
 

Donnerstag, 3. Januar 1946 

Heute war wieder einmal ein recht ereignisreicher Tag. Am Morgen machte ich Kommissionen, unter anderem liess ich Stoffknöpfe für meinen Morgenrock machen. Zu Hause beim Aufräumen gerieten sie unter die Abfälle und landeten glücklich im Ofen. Begreiflicherweise grosse Enttäuschung und Entrüstung bei Mueti. Am Abend war ich gerade daran, Knopflöcher zu fabrizieren, da ging das Telefon und Böhni Gafner begrüsste mich. Ich hatte (ebenfalls begreiflicherweise Herzklopfen wie immer, wenn ich den Namen Gafner höre). Es fragte mich, ob ich bis am Samstag mitkommen könne als Skileiterin in ein Lager von der Sek. Als mich dann sogar Rico darum bat, war ich natürlich einverstanden. Also dampfe ich morgen los nach Beatenberg!
 

Mürren, 8. Januar 1946 

Ich war auf dem Beatenberg und hatte zwei sehr schöne Tage. Jetzt gerade habe ich einen Ast wie schon lange nicht mehr. Das Wetter ist wundervoll, Meyers sind lieb wie immer, und es ist hier noch ein sehr nettes, junges Mädchen. Nur eben, es hat sehr viel Geld zur Verfügung, und das habe ich nicht. Es längt mir kaum für den Lift. Heute Abend fragte es mich, ob ich in den Kursaal mitkomme, und schon in dem Augenblick wurde ich ziemlich niedergeschlagen. Dann kamen Rüdi und Spross, und sie waren schön angezogen, um ins Palace zu gehen. Dass ich mir den ganzen Tag gewünscht habe, sie möchten mich mitnehmen, konnten sie ja nicht wissen! Wir telefonierten dann rasch Maria-Nina, dass sie am Donnerstag Riedis Zimmer haben kann. Beide, Riedi und Spross freuen sich, wenn Maria-Nina kommt! Bei mir wäre es ihnen sicher ganz gleichgültig. Ja, und dann sind sie gegangen. Ich habe den Radio angedreht und mich auf mein Altjungferdasein vorbereitet!!

Aber ich möchte so gerne etwas erleben.
 

Bern, Sonntag, 20. Januar 1946 

Gott sei Dank kam dann Maria-Nina! Ich habe das Gefühl, ich wurde doch etwas gelöster in ihrer Nähe. Wir gingen ziemlich oft aus und Spross war sozusagen unser „Anstandsherr“. Er fand Ninchen natürlich sehr nett. Ich hatte leider nur bei Jünglingen von 19 Jahren Erfolg. Aber schön waren die Ferien doch. Ich habe mir zwar den Fuss verstaucht und die Abfahrt mit dem Skilehrer Arm in Arm war sehr originell. Besonders schön war eine Mondscheinfahrt auf dem Allmendhubel. Kaum waren wir drunten, ging ein Föhnsturm los, der mich fast seekrank machte. Am Freitag kam ich nach Hause und gestern ging ich mit Omar an einen Ball. Es ist so schade, dass unsere Freundschaft ganz einfach im Sande verläuft. Er erzählt mir überhaupt nichts mehr, was einigermassen tieferen Sinne hat und ich bringe die Courage einfach nicht auf, Schluss zu machen. Gestern war Rico da.


Dienstag, 23. Januar 1946 

Eigentlich dachte ich heute, Stigi käme schnell vorbei. Er scheint sich aber sehr verändert zu haben. Es scheint fast, dass er sich etwas männlicher zeigen will. Als Rico hier war, merkte ich so recht, wieviel höher er steht als ich. Ich muss mir immer Mühe geben, damit ich ihm folgen kann. Heute hatten wir Zoologiepraktikum. Der gefürchtete Prof. Lehmann fragte mich zuerst lange über die Dottersackforelle aus, dann wechselte er das Thema und sprach mit mir über Musik. Er erinnerte sich an mich vom Vorklinikerabend her. Ach, wie gut täten mir die Punkte bei ihm! In der Physik komme ich überhaupt nicht mehr nach.
 

Dienstag, 29. Januar 1946 

Ich bin mit Rico im Konzert gewesen! Um halb 8 Uhr läutete er an, dass Frank nicht kommen könne und also ein Platz leer sei. Ich konnte nicht anders, ich musste einfach gehen. Den Gipfelpunkt bildete die italienische Symphonie von Mendelsohn. Nur war sie eben am Schluss, und ich wusste, dass das wohl wieder für lange das letzte Mal war, dass ich neben ihm sass. Auf dem Heimweg war es wie ein Wiedersehen mit einer glücklichen Zeit! Ich kann nur bei ihm so reden, dass er ganz das versteht, was ich meine. Ich brauche nicht immer alles so klar und scharf zu definieren, er geht meinen Gedanken nach, er kennt mich noch immer, nur fühlte ich eben, dass er mich gar nicht mehr nötig hat. Und ich habe doch gelernt, bescheiden dann glücklich zu sein, wenn es das Schicksal gut meint. Und heute war es so. Früher hätte ich ja aus lauter Stolz die Einladung nicht angenommen, aber man ändert sich eben. 

Von Philipp Etter habe ich ein Bild erhalten (ein gemaltes, nicht eine Photo). Der Abend am letzten Freitag in der bundesrätlichen Familie war sehr nett.

Auch an den Couleurball der Zofinger bin ich eingeladen. Stigi war gestern bei uns; er war sehr nett und vernünftig. Alles scheint mir zu gelingen – und ich bin mit Rico im Konzert gewesen!

Montag, 4. Februar 1946 

Ich habe Mozarts 23. Symphonie gehört und dabei an Rico gedacht. Er liebt die Symphonien sehr. Ich liebe es, Musik am Boden sitzend zu hören. Ob das ein Zeichen eines simplen Gemütes ist oder ein besonderes Gefühl für Musik, weiss ich nicht. Omar habe ich einen Brief geschrieben. Es ist wieder einmal etwas zu Ende. Schade, dass aus dieser Freundschaft so gar nichts geblieben ist! So etwas Positives hätte man aus drei Jahren doch retten sollen, aber es verlief im Sande, und ich spüre nicht den leisesten Kummer. Übrigens denke ich wieder viel zu viel an Rico. 

Das Wetter ist stürmisch, die Erde bebt weiter und ich sollte ernsthaft mit Physik beginnen.
 

Montag, 11. Februar 1946 

Mein Geburtstag verlief äusserst prosaisch. Am Abend ging ich allerdings mit Philipp ins Theater. Die Loge und die Oper wären sehr schön gewesen, aber leider ist Philipp hoffnungslos blöd. Er ist sicher ein armer Teufel, aber ein Asyl für geistig Minderwertige möchte ich lieber nicht auftun. Am Samstag war also der Zofingerball. Mein neues Kleid ist wunderbar. Frau Bleuer pumpte mir den Pelzmantel dazu und einen originellen Schmuck, den Ruthli noch getragen hat. Ach, es war ein herrliches Fest! Quick ist ganz glatt, leider habe ich mir den Schluss etwas verdorben. Nach dem Schluss im Bellevue war es nämlich noch nicht endgültig fertig. Im Zofingerhaus wurde weiter gefestet. Ich fand plötzlich, es sei eigentlich doch Zeit, heimzugehen. Zu Hause angelangt, - kam ich vor eine verschlossene Türe! Meine Eltern waren halt noch frisch fröhlich im Casino am Männerchorfamilienabend (inklusive Büsu!) Quick war unterdessen auch fortgegangen und so sass ich morgens um 31/4 Uhr im wunderbaren Pelzmantel auf der Treppe und kämpfte mit dem Heulen. Erst heute wurde ich so recht wütend; denn Quick ist nachher halt allein noch gegangen. Ach, man ist noch dumm!


Dienstag, 12. Februar 1946 

Heute war der erste Kurs über Vererbungslehre. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich lauter kleine Drosophilafliegen vor mir. Es brauchte wirklich eine riesige Geduld, drei Stunden Fliegen zu zählen und herauszufinden, wieviele wildrassig, weibl. oder krummborstig männl. sind! Das Gebiet interessiert mich aber sehr, und wenn einem etwas gefällt, tut man ja viel. Sollte ich die Chance haben, nochmals auf die Welt zu kommen, dann möchte ich Physikprofessor werden. Ich würde auf dem Gebiet der Radioaktivität weiter arbeiten. Ach, es muss herrlich sein, das zu verstehen! Liselotte hat mir angeläutet. Sie möchte gerne mit mir über Peter sprechen. Übrigens habe ich noch gar nicht erwähnt, dass ich mit Johannes recht gut auskomme. Letzten Donnerstag war er bei uns zum Nachtessen.
 

Montag, 25. Februar 1946 

Soeben bin ich aus dem Abonnementskonzert nach Hause gekommen. Und zwar habe ich einen riesigen Ast mitgenommen. Das Konzert war unbeschreiblich gut. Nur waren meine Nerven so gespannt, dass ich es oft kaum mehr aushielt. Caesar Frank von einem Italiener dirigiert ist ein Erlebnis! Vachi und Leny haben mich begrüsst. Ach, ich beneide diese beiden so sehr. Ich möchte auch einmal wissen, wie das ist, wenn man weiss, zu wem man gehört.

Ich habe jetzt gerade wieder sehr Heimweh nach jemandem, den ich recht liebhaben könnte!

Stigi hat mich nach dem Konzert nur schnell begrüsst. Ich bin ganz allein heimgekommen. - Sogar Stacher hat jemanden ins Konzert eingeladen. Am 16. März ist ein Klassenabend. Ich habe kaum etwas davon gewusst. Hoffentlich bin ich dann in Paris!!!!
 

Freitag, 8. März 1946 

Morgen ist also der grosse Tag! Ich reise nach Paris. Die Koffer sind gepackt, die leichte Aufregung macht einer ordentlichen Müdigkeit Platz. Ich gedenke heute Nacht sehr gut zu schlafen zu Hause. Morgen werde ich das nicht tun können. Ich reise nämlich nicht im Schlafwagen, sondern „nur“ 2. Klasse. Stigi scheint wieder einmal ernstlich böse zu sein über mich. 

Heute Abend sind Büsu und Mueti ins Theater gegangen: Im weissen „Rössel“. Vati ist auch fort, und so bin ich sehr allein vor meiner ersten grossen Reise. Ich freue mich so, die Kleinen wieder zu sehen. Es ist so seltsam, dass jetzt das Wort „Paris“ für mich bald nicht nur ein leeres Wort sein wird, sondern ein richtiger Begriff, ein Erlebnis…


Paris, 11. März 1946 

Wie die Reise und die Ankunft verliefen, das habe ich in meinem ersten Brief nach Hause schon erzählt. Obschon ich erst den zweiten Tag hier bin, fühle ich mich schon so eine Art wie zu Hause. Man könnte meinen, in einer solchen grossen Stadt habe man das Gefühl von Verlorensein. Ich finde gerade das Gegenteil. Es ist so herrlich, sich einfach treiben zu lassen, so das Gefühl von Freiheit, persönlicher Freiheit zu spüren! Ich hatte besonderes Glück; denn heute schien eine wunderbare Frühlingssonne. Allerdings kam dann die Schmutzfarbe der Notre-Dame besser zur Geltung. Ich hätte gerne dieses Werk mit Stigi angesehen. Auf mich machte sie einen eher ländlichen Eindruck. Es ist ein herrlicher Platz, man fühlt sich bei dieser Kirche irgendwie geborgen. Ich ging dann der Seine entlang, und da musste ich staunen über die Ruhe, mit der die Leute ihr Leben geniessen. Die Buchhändler der Seine nach scheinen überhaupt den Begriff „Zeit“ nicht zu kennen, und hier empfand ich den Gegensatz der hastenden Menge der Autos (denn solche gibt es schon wieder!) und der Lebenskünstler so recht. Was mir auffiel sind die wunderbaren Gartenanlagen inmitten vom grössten Verkehr. Grosse gut angelegte Rasenflächen (bei uns wären sie längst mit Kartoffeln angepflanzt!) lassen das Getriebe rings umher vergessen. Am wenigsten gefällt mir die Metro. Es ist jedes Mal, wie wenn man „ad infernos“ hinuntersteigt, die Luft ist immer dumpf und schwül. Besonders heute war der Unterschied sehr gross, weil „oben“ die Sonne schien.
 

Paris, Sonntag, 17. März 1946 

Am Donnerstagmorgen sah ich wohl das schönste und modernste Museum! Der Trocadéro. Und zwar machten mir die Wandmalereien grossen Eindruck. Man konstruierte und baute ganze Kapellenstücke, damit die alten, kirchlichen Malereien gut zur Geltung kommen.

Am Nachmittag ging ich mit den drei Kindern in den Zoo. Es war eine nicht ganz einfache Sache!

Am Freitag kam der Louvre an die Reihe. Ich habe nun also Leonardo da Vincis Giocanda im Original lachen sehen!

Gestern lernte ich die höhere Pariser Gesellschaft kennen. Ich wurde eingeladen zu einem Tee. Das ist nun wirklich ein riesiger Unterschied im Vergleich mit unseren Teevisiten. Man geht nämlich frühestens um 6 Uhr hin, trinkt und isst im Stehen so viel man kann, setzt sich dann ein Weilchen in den feinen Salon, sagt danke und geht. Wir gingen allerdings dann nicht nach Hause, sondern anschliessend an ein Verlobungsfest. Wirklich seltsam, mein erstes solches Fest in einem fremden Land bei wildfremden Leuten! Man tanzte und ich bedauerte sehr, dass ich mein langes Kleid nicht bei mir hatte. Das Essen war fabelhaft. Der Unterschied zwischen dem Eindruck, den ich am Morgen erhielt und den am Abend war wieder sehr verblüffend. Am Morgen nahm mich Tante Mimi in ein Pariserspital mit, und ich wohnte in einem weissen Schurz der Konsultation bei. Man bombardierte mich mit Fachausdrücken, wie wenn ich schon etwas verstehen würde! Ich muss mich noch gewaltig ändern, bis ich so zielbewusst wie Tante Mimi werde! Ich sah immer zuerst mit den mitfühlenden Augen einer Frau, die armen Würmchen an. Mir schien man sollte sie zuerst ein wenig trösten, bevor man als Arzt wirkt. Den ganzen Abend verfolgte mich das Bild eines armen kleinen Arabers, der hoffnungslos lungenkrank und rachitisch ist. Auch die vor Angst geweiteten Augen seiner Mutter, als sie fragte, ob es schlimm sei. Ich sah zum ersten Mal, wie man einem Menschen noch ein wenig Hoffnung lässt, indem man sagt, man müsse warten, später werde man genau wissen, später …


Paris, Freitag, 22. März 1946

Diese Woche war ich wirklich viel weniger aktiv als die letzte. Das Wetter war sehr frühlingshaft, und am Montag lockte es mich ins Freie, d.h. nach St. Germain-en-Loy. Wieder ein Schloss und ein prächtiger Park, allerdings nicht so wie Versailles. Am Dienstag verreiste Monsieur nach Italien. Eigentlich war ich fast ein wenig froh. Ich bin vielleicht dumm; aber er beunruhigte mich. Jetzt ist es sehr ruhig geworden, seit er fort ist! 

Mittwoch war ich in einem Atelier im Mont-Martre und besichtigte sehr nette Keramiksachen. Sacré-Coeur ist hoch über dem Treiben des Montmartre. Hier erhielt ich einen Begriff von der Grösse von Paris. Man sieht kein Ende, und ich stellte mir vor, wie niedlich klein Bern daneben aussehen würde! 

Gestern war wieder eine Teevisite, aber sehr sympathisch. Plötzlich war ich in eine Konversation verwickelt und zwar auf Italienisch! Wie dankbar war ich plötzlich unserem alten Bals, ich konnte doch nun zeigen, dass wir Schweizer nicht allzu dumm sind. Man war ziemlich erstaunt, dass ich Französisch, Italienisch und Deutsch sprach.
 

Paris, Freitag, 29. März 1946 

Mein Pariseraufenthalt geht sehr rasch dem Ende entgegen. Eigentlich hatte ich im Sinn, erst am Dienstag abzureisen; aber da es Mueti gar nicht gut geht, verschiebe ich die Abreise auf Sonntag. Monsieur kommt am Montag zurück: Wir sehen uns also nicht! – 

Am Freitag nahm mich Marie-Thérèse mit in die Stadt. Es ist sehr originell, in einem feudalen Restaurant zu sitzen und den Leuten zuzusehen, wie sie alle dasselbe, nämlich ein Biskuit essen! 

Am Sonntag waren wir alle eingeladen zum Mittagessen bei Grandmaman. Es regnete in Strömen und Paris schien sehr trüb und trostlos. Glücklicherweise dauerte es nicht lange. Es war ein rechter Frühlingsregen und jetzt fängt eigentlich die schönste Zeit an. Die Bäume und Sträucher in den Anlagen blühen, es ist so warm, dass sogar ich anfange, Strümpfe zu sparen! (Ich trage kurze Socken.) 

Am Montagnachmittag sahen wir im Kino „La Boule de Suif“ von Monpassant. Am Dienstag kaufte ich für Büsu in der M…… eine Medaille mit einem Pferd. Ich hätte gerne Hans auch etwas heimgebracht von Paris, aber mein Geld langt nicht. Marie-Thérèse kaufte mir zum Andenken sehr originelle Ohrenclips und von Tante Mimi und Bébé erhielt ich einen Lippenstift. 

Gestern gondelte ich mit den Kindern auf die Insel im Bois de Boulogne, und am Abend sahen wir uns einen Film an über Rasputin. Ich kann es kaum glauben, dass diese drei Wochen nun vorbei sind!
 

Paris, Samstag 30. März 1946 

Ich habe von Versailles Abschied genommen! Gestern kehrte ich noch einmal zu jenen Plätzchen bei der Notre-Dame zurück, das mir schon vor drei Wochen so gut gefiel. Die Obstbäume blühen, und es ist eine Stimmung bei dieser Kirche, die einem sehr glücklich macht! Ich ging noch einmal der Seine entlang, und ich konnte nicht widerstehen, Hans ein Buch über Napoleon zu kaufen. Ihm macht es vielleicht nicht so viel Freude, das Buch zu erhalten, wie mir, es zu kaufen. Er kennt dieses ja noch nicht, die Bücherstände längs der Seine – und überdies ist er wieder einmal böse über mich. Heute ist sein wichtiger Geburtstag, er wird 20 Jahre alt. 

Es ist Zeit, dass ich heimkehre. Mueti hat eine schwere Woche hinter ihm und sehnt sich nach einer „Haushälterin“. 

Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich Versailles, das Schloss und den weiten, weiten Park. Es waren herrliche Ferien!! 
 

Bern, Montag, 1. April 1946 

Wieder zu Hause! Mein Gott, wie das alles sauber ist! Ich kann es kaum glauben, dass ich erst gestern Abend in einem Taxi der Seine entlang gefahren bin zum Gare de Lyon. Es war wie ein Filmstreifen, alles Liebgewonnene flog an mir vorüber in die Notre-Dame, den Louvre, die Ile de la Cité…. Bald sass ich im Zug und heute nun 9 ½ Uhr bin ich wieder hier angelangt. Ich war sehr erschreckt über Muetis Zustand; meine Gegenwart scheint es aber schon etwas beruhigt zu haben. Ach welcher Unterschied zwischen gestern und heute! Ich habe bereits gekocht, den Boden gefegt, Kleider geputzt und es war gut, dass ich zu arbeiten hatte! Ich war ganz furchtbar niedergeschlagen, vielleicht war ich müde von der langen Reise, dann vor allem die Meldung, dass Hans Arm in Arm mit einem jungen Mädchen in der Stadt herumspaziert – das ist ein bisschen viel auf einmal. Ich habe mich so gefreut, ihm das Buch zum Geburtstag zu schenken. Was fange ich nun damit an? Ich war so glücklich, damals vor dem kleinen Bücherstand an der Seine! 

Am Nachmittag bin ich mit meinen Sorgen wie immer zu Büsu geflohen und jetzt wird es dann schon wieder gehen. – 
 

Freitag, 5. April 1946 

Es geht schon, aber wie! Ich habe Hans das Buch doch geschickt mit einem netten Brief. Ich bat ihn, wenn möglich nicht mit der andern an unser Plätzchen am Wohlensee zu gehen, denn dort war ich einmal sehr glücklich. Als Antwort bekam ich heute diesen nichtssagenden Brief, den ich doch aufbehalten will, als Dokument für den Charakter von Hans!


Brief von Hans: Bern, den 5. April 1946 

Liebe Lilly, 

es tut mir furchtbar leid, dass ich mich noch einmal ins Gespräch einschalten muss! Zuerst möchte ich noch für die kleine Pariser Erinnerung bestens danken.

Ich habe das bestimmte Gefühl, die liebe Nachbarschaft sei mir wieder einmal zuvorgekommen, wenn Du von „Neuigkeiten“ schreibst. Wenn Du aus meinem tatsächlichen Verhalten allerdings die eigenen logischen Schlüsse gezogen hast, so ist alles in Ordnung. Ist dem aber nicht so, so wisse, dass ich seit dem 28. März bis heute die Grippe hatte und in eigener Sache nichts unternehmen konnte. Wenn Dir daran liegt, meine eigenen Ansichten und Gründe zu erfahren, kannst Du mir das kund tun. Wenn nicht, dann sehe ich dem Fall als erledigt an. Der Endeffekt, d.h. die Folgen werden sich auf alle Fälle gleich bleiben. - Ich bleibe noch bis Sonntag in Bern. - 

Freundliche Grüße

Hans Steiger 

Wie doch die Gefühle schnell ändern können. Noch vor zwei Monaten glaubte Hans, nicht ohne mich leben zu können. Er versicherte mir, dass er immer mein Freund bleiben würde – und jetzt „sieht er den Fall als erledigt an!!“

Ich war für ihn also „ein Fall“ und ich bildete mir ein, ein wenig mehr zu sein. 

Maria-Nina scheint mehr Glück zu haben als ich. Es findet das Leben herrlich – und ich habe wieder einmal Angst vor dem, was kommt! Jetzt war ich mit Büsu in der Aïda. Ich bin sehr müde und traurig.
 

Freitag, 12. April 1946 

Mit Maria-Nina im Theater. Ibsen: „Rosmersholm“. Zum Glück war ich wieder ein wenig besser dran als letzte Woche, sonst hätte ich dieses im wahrsten Sinne trostlose Stück kaum ausgehalten. Mueti geht es wieder besser, und ich bin als Köchin abgesetzt. (Das macht mir allerdings nichts!)

In unserem Garten blühen die Pfirsichbäume und man spürt den Frühling überall. Nun, ich geniesse ihn auf eine sonderbare Weise: Ich sitze auf der Terrasse und stricke! Früher wäre man spazieren gegangen. –  

Maria-Nina war gestern wieder von einem jungen Herrn zum Nachtessen eingeladen worden. Seltsam, dass ich ihr gegenüber gar kein bisschen Neid verspüre! 

Greti und Annelies kommen nun in eine Erziehungsanstalt. Greti stiehlt und zwar ist es krankhaft. Mir tut es so leid für ihre Mutter.
 

Samstag, 13. April 1946 

Ich habe Hans getroffen und zwar kam er gerade mit seinem Cousin aus dem Bus, als Mueti und ich einstiegen. Da schien er einen Augenblick lang vergessen zu haben, wie die Dinge stehen, denn er strahlte vor Freude, als er mich sah. - Jetzt war ich mit Mueti im Kino „Madame Curie“. Ich habe mit Vachi gesprochen. Er kam eben aus Italien zurück. Wir sind die ersten aus unserer Klasse, die schon ein kleines Stück mehr von der Welt gesehen haben. Ach, wenn ich nur viel, viel reisen könnte!
 

Dienstag, 16. April 1946 

Nun, wenn es auch nicht grad bis ans Meer langte, so doch auf die kleine Scheidegg. Als Dank für meine Haushaltkünste durfte ich noch einmal skifahren gehen. Das Wetter war am Sonntag sehr viel versprechend. Leider verschwand die Sonne gerade, als Büsu und ich oben anlangten. Wir hatten ja dann in Alpiglen genügend Zeit, auf sie zu warten, da uns das Züglein abfuhr und wir zu spät merkten, dass der Winterfahrplan nur bis am 31. März galt. Ich ertrug das mit guter Laune, während Büsu wütend war über sich selbst. Wir gingen halt dann zu Fuss noch einmal hinauf und die Lauberhornabfahrt tröstete uns sehr bald. In Bern trafen wir am Bahnhof noch Rico. 

Heute habe ich nun endlich noch angefangen, etwas Zoologie zu arbeiten. Ich fürchte, ich habe etwas wenig für die Uni geschafft diese Ferien! 

Jetzt wäre wieder so ein richtiger Frühlingsabend zum Bummeln. Es ist warm, der Vollmond scheint …. und ich habe mit Vati und Mueti einen Spaziergang durchs Dählhölzli gemacht. Es war ja ganz nett, nur war es eben doch schöner mit Hans. Ich hätte ja alles viel schöner haben können. Es ist manchmal ordentlich schwer, einen Weg mit fröhlichem Mute zu gehen, den man eigentlich lieber nicht gehen möchte. Ich weiss nicht, warum ich mir das Leben immer selbst schwerer mache, als es sowieso ist. Damit helfe ich ja schliesslich niemandem. Der Mond ist ganz gross und unheimlich. Als Hans klein war, fürchtete er sich davor. Es müsste gut sein, wieder einmal mit Hans zu reden. –
 

Donnerstag, 18. April 1946

Es muss ja auch ereignisreiche Tage geben! Heute kam Vachi zum schwarzen Kaffee und wir schwärmten von vergangenen schönen Zeiten im Gymer, wir erzählten unsere Erlebnisse im Ausland und vor allem sprachen wir über Hans. Es ist nicht wahr, was die lieben Nachbarn mir erzählt haben über ihn. Es scheint, dass wir gegenseitig unsere Briefe sehr krumm verstanden haben! Hans sei wieder sehr unglücklich. 

Am Nachmittag hat mich Dorothee wieder besucht, und das hat mich sehr gefreut. Es ist doch noch eine treue Kameradin aus meiner Pfadi-Zeit, und ich habe seine Treue eigentlich nicht verdient, auch wusste ich nie, dass Dorothee so an mir hing. – Es ist aber noch nicht zu Ende mit dem guten Tag, Rico kam! Mehr kann ich nicht schreiben. Ich war – und bin es immer noch – sehr glücklich. Ich habe einen riesengrossen Wunsch: (Es ist ja schliesslich Frühling, für Träume und Luftschlösser, die richtige Zeit!) Am 4. Mai haben die Rover einen Schregel, ich weiss es von Büsu, und da hoffte ich heute, Rico würde mich dazu einladen. Natürlich hat er es nicht getan, aber die Hauptsache ist ja, dass er wieder einmal hier war.
 

Samstag, 20. April 1946 

Der gestrige Karfreitag diente mir dazu, allgemeine Feststellungen über meine momentane Lebensauffassung zu machen. Ich muss sagen, ich stehe nicht sehr hoch. Es dreht sich wieder immer im Kreis herum und drin steht die Sorge um einen wahren Freund. Ich weiss, dass ich jetzt an ganz andere Dinge denken sollte; aber ich habe Angst vor Rico. Immerhin sollte ich ihn jetzt doch so langsam kennengelernt haben, wie er ist, und ich sollte einsehen, dass wir nicht zusammen passen und dass auch er das sehr wahrscheinlich weiss. Wohl wird er es wieder versuchen, wenn er jetzt in Bern studiert, mich von neuem unsicher zu machen. Es muss doch für ihn einen Sieg bedeuten, zu sehen, wie schwach ich ihm gegenüber bin. Ich frage mich nur, wie ich mich am besten verhalte. 

Heute habe ich Vachi und Chips (der übrigens schon Korporal ist!) getroffen. Wir, d.h. Vachi richtete die Sache sehr diplomatisch ein, so dass Chips Mueti unterhielt und wir uns ungestört über Hans unterhalten konnten. Nun, „der Fall“ scheint doch noch nicht ganz erledigt zu sein. Hans möchte noch einmal mit mir reden; aber zu uns heim kommt er nicht. Ich werde ihn also irgendwo treffen und zwar ohne dass sie bei mir zu Hause etwas wissen; sie wären kaum damit einverstanden! 

Ich bin sehr froh, dass das Semester beginnt. Arbeiten und zwar sehr ernsthaft, das ist das, was mir jetzt guttun wird. Einmal muss ja die ernste Seite des Studiums beginnen.
 

Montag, 22. April 1946 

Gestern mit Vati und Mueti im Schwendlenbad zum Mittagessen. 

Heute mit Vati im Kino und nachher haben wir Rico getroffen, der gerade zu uns kommen wollte, um seine Mappe zu holen. Ich habe Angst, furchtbare Angst! Wenn ich nur wüsste, wie dem abhelfen. Wäre doch Rico in Lausanne geblieben! Wie soll das werden, wenn ich wieder von dieser Unruhe gepackt werde, wenn ich wieder bei jedem Telefon glaube, es sei er, wenn ich nicht arbeiten kann? Soll denn jetzt wirklich diese Zeit wieder frisch anfangen, diese Zeit der Unruhe, der Ungewissheit, waren diese zwei Jahre umsonst? Ich liebe ihn ja immer noch, er sollte nicht mehr vorbeikommen, ich habe Angst. – Ich habe heute Omar getroffen. Wir waren sehr freundlich miteinander, und es tat kein bisschen weh, ihn wieder zu sehen. Wir sind uns zwei Jahre lang unsäglich fremd geblieben.
 

Dienstag, 23. April 1946 

Die Uni hätte heute beginnen sollen, und gewissenhaft wie man im 2. Semester noch ist, gingen wir um 7 Uhr in den botanischen Garten. Die Professoren lasen aber noch nicht. Am Nachmittag ging ich mit Huguette auf den Gurten. Rico hat heute schon wieder angeläutet, warum weiss ich eigentlich nicht. Es war wieder ein typisches Rico-Telefon, genau wie früher. Mueti fand es heute für nötig, mir zu sagen, dass ich mich vor Rico in Acht nehmen müsse. Wie wenn ich das nicht selbst gemerkt hätte!


Mittwoch, 24. April 1946 

Mein erstes Chemiepraktikum! Allerdings begnügten wir uns mit dem Behandeln von Glas; aber für einen Anfänger ist selbst das interessant. Der Assistent ist ein alter Bekannter von uns noch von der Karl-Staufferstrasse her. Das ist natürlich sehr günstig! 

Jetzt war ich wieder einmal bei Büsu, um ihm meine Sorgen zu klagen. Helfen kann er mir ja nicht, aber es tut schon gut, wenn man irgendwo abladen kann. Ich habe nun meinen Weg doch ziemlich klar. Ich werde am Samstag noch einmal mit Hans reden, und ich hoffe, er wird noch einmal Geduld haben mit mir. Ich brauche jetzt jemanden, der mich schützt vor Rico. Das tönt sonderbar, aber ich glaube, ich werde Rico eher ausweichen können, wenn ich zu jemand anderem stehe. Warum soll das nicht Hans sein? Eigentlich ist diese Spekulation von mir furchtbar gemein; aber ich kann nicht mehr allein weiter. Büsu wird mein zweiter Bruder bleiben; ich brauche aber noch etwas mehr als brüderliche Liebe, und von Rico muss ich mich so gut ich kann hüten. Es hat keinen Sinn, dass ich immer noch auf etwas warte, das sich nie erfüllen wird. Nun bin ich sehr ruhig und hoffe, dass ich den rechten Weg finden werde! –
 

Samstag, 27. April 1946 

Ich bin sehr ruhig und glücklich. Ich war heute mit Hans wieder einmal am Wohlensee und wir haben noch nie so vernünftig gesprochen wie heute. Es mag sein, dass ich eben bis jetzt immer nur der nehmende Teil war und dass ich die Freundschaft von Hans als etwas viel zu Selbstverständliches auffasste. Ich habe ja Hans lieb, - nicht auf jene ungestüme, beängstigende Art wie ich Rico lieben müsste; aber vielleicht lässt sich auf dieses einfache Zusammengehörigkeitsgefühl mehr aufbauen, als auf eine Liebe, die nur aufpeitscht und weiter treibt. Hans ist glücklich und ich werde jetzt arbeiten können. Ich werde mir Mühe geben. Hans hat einen nicht sehr schmeichelhaften, aber doch treffenden Vergleich gemacht zwischen dem Tanz um das goldene Kalb und dem Freundeskreis um mich herum. Auch war ich ja schon so, dass ich immer gerade zu den Freunden hielt, die jeweils am interessantesten waren. Jetzt wollen wir sehen, was mit gutem Willen auszurichten ist.
 

Donnerstag, 2. Mai 1946 

Wir haben wieder unseren „Mälchebüecheler“ gemacht! Ach, war das schön, so recht von Chemie und Laboratorium auszuruhen. Hans hatte mir ja so viel zu erzählen. Gestern kam Rico ins Labor, um mir seine Hefte fürs Phys zu bringen. Es muss ihm sicher aufgefallen sein, wie kühl ich war. Am Samstag haben die Hellblauen einen Roverschregel; und ich bin nicht mehr eingeladen. – Es hat mich schon ein wenig traurig gestimmt; aber ein Unglück ist das ja nicht! 
 

Donnerstag, 9. Mai 1946 

Gestern machte ich mit Büsu einen langen Abendausflug per Velo und wir endeten sogar im Kasino. Das ist wirklich ein Fortschritt von mir. Heute ist Hansens und mein „jour fixe“, und ich erholte mich beim Elfenauchehr von einer kleineren Chlorvergiftung im Labor. Hans war überglücklich (natürlich nicht über die Chlorvergiftung!) Es ist so rührend, wie er Angst hat um mich.
 

Freitag, 10. Mai 1946 

Mir scheint es, dieser Zauberkreis der mich jetzt gefangen hält, sollte mich nicht mehr loslassen. Ich bin wie gebannt, ich kann nicht schreiben wie ich möchte – und dies wegen einem Theaterstück! Käthe Gold spielte, oh nein, was sage ich! Käthe Gold formte, lebte für uns „des Meeres und der Liebe Wellen“. Mein Gott, solche Kräfte in einem Menschen! Wie das singt und fliesst, wie das ängstigt und quält, ihre Gestalt wird Leben, Innerstes vom Dichter nur geahntes Leben. Der Bann um sie wird zum geweihten Raum ihrer Seele, das zieht hinein und hält gefangen, und man ist rettungslos hingegeben. - Ich habe während der ganzen Aufführung kein Wort mehr sprechen können. Der Heimweg war wie der Weg eines Traumwandlers für mich. Mueti liess mich still – und zürnt mir nun, weil es ja nicht verstehen kann, dass ich mich so verlor. Ich war in der Pause nicht im Foyer. Wir hätten Herrn Kunz treffen sollen; ich konnte nicht – denn Menschen sehen in einer solchen Stimmung? Oh! Was habe ich heute Abend erleben dürfen! Und wie sind meine Worte elend, um das auszudrücken!
 

Sonntag, 12. Mai 1946 

Muttertag und ich besass noch 2.50! Damit konnte ich natürlich nicht weit springen. Am Morgen ging ich mit Hans auf den Friedhof, und wir erstanden je 4 Rosen. Mueti war heute zuerst böse auf mich; dann besserte sich aber die Laune. Ich genoss einmal so recht unsere Terrasse und den neuen Liegestuhl. Gegen Abend machten Mueti und ich Frau Tritten einen Besuch und assen in der Stadt. Hans hat uns nachher zu Hause seine neusten Epistel an Kari vorgelesen und dann sind wir, d.h. Mueti, Hans und ich zu Büsu hinüber gegangen, um seine neuen Platten zu hören. Es wurde ein sehr gemütlicher Abend oder besser gesagt, ein kleinerer Hausball.
 

Dienstag, 14. Mai 1946

Susy Lüdin hat heute geheiratet – und ich sezierte meine erste Kröte! Wirklich, ein ziemlicher Unterschied. Sie ist jetzt auf der Hochzeitsreise und träumt vom grossen Glück; ich arbeite Physik und träume, wenn es gut geht von einem Müller‘schen Gang. – Ja, das Leben ist seltsam! – 
 

Sonntag, 19. Mai 1946 

Es ist wirklich seltsam, das Leben, denn jetzt hat es mich! Ich denke die ganze Zeit nur noch an Hans; d.h., ich arbeite schon fürs Phys., aber seit gestern bin ich etwas aus dem Geleise. Also gestern Abend wollten Mueti und ich ins Theater, es hatte aber keine Plätze mehr und Mueti ging dann heim: Büsu und ich versuchten unser Glück noch bei zwei Kinos, aber vergeblich. Also bummelten wir in den Kursaal - und wer war auch dort – Hans. Ich habe mit ihm getanzt. Mir war so sonderbar zu Mute, ich war ganz verloren. Viele Leute, Musik, Frühling, - und Hans war so lieb. Ich glaube, ich liess mich ein wenig gehen. Wenigstens entschuldigte sich Hans heute morgen, dass er meine Stimmung etwas ausgenützt habe. Büsu war sehr nett, und der Heimweg zu dritt war wie ein Gleichgewicht, das nach der linken Seite hin verschoben wurde; denn dort war Hans. Heute morgen waren wir zusammen bei Frau Bleuer. Ach, es ist so seltsam! –  

Quick hat mich an den Zofinger Maibummel eingeladen für nächsten Samstag. Heute Nachmittag waren Vati, Mueti und ich im „Schweizerhaus“ am Gurten. Bis ganz hinauf langten unsere Kräfte nicht.

Morgen melde ich mich an fürs Phys.
 

Montag, 27. Mai 1946 

Betrachte alles von der guten Seite.“ Jefferson. 

Ja, also ich erhielt einen wunderbaren neuen Sommermantel und natürlich wurde er am Samstag eingeweiht und zwar am Zofingermaibummel mit Quick. In strömendem Regen und bei einem herrlichen Gewitter bummelten wir von Gümligen nach Worb. Schuhe und Stümpfe waren so nass, dass man am besten beides auszog. Der Abend war sehr nett, nur ein wenig lang. Wir kamen um 5 Uhr heim. Am Sonntagmorgen schlief ich bis um 12 Uhr und am Nachmittag hatten wir „Familienschlauch“. Allerdings war Hans dabei, und so war es sehr nett. Mueti lud uns zu einem herrlichen Fondue ein. Heute ist nun Lotte Schenk angekommen, und ich denke sie wird sich bei uns häuslich niederlassen.
 

Donnerstag, 30. Mai 1946 „Auffahrt“ 

Gott sei Dank kam so etwas wie ein Sonntag heute! Ich war so müde und so niedergeschlagen wie schon lange nicht mehr. Letzten Dienstag hat mich Büsu mitgenommen zu Prof. Dettling ins Gerichtsmedizinische Institut. 

Ich habe ja noch nie eine Leiche gesehen, und einmal musste das doch sein! Ach, es waren nur Bilder, die ich sah; aber was für Bilder! Er behandelte das Autounglück, das vor einer Woche passierte und bei dem 3 Personen ums Leben kamen. Das war so entsetzlich, dass ich in der Nacht von meinem eigenen Stöhnen erwacht bin. – Ich hätte Hans so nötig gehabt, vielleicht das erste Mal, ich hätte gerne mit ihm über Kunst gesprochen, oder er hätte mir erzählen sollen – , irgend etwas – ; aber er ging mit Evi Flückiger ins Theater, – und das war gut. – Denn es ist so, dass ich Hans nicht noch meine Sorgen aufladen will, er ist selbst unsicher, er kämpft sehr schwer, um einen rechten Weg – und er hat es so nötig, an mir einen festen Halt zu finden. Ach, wenn ich ihm nur beibringen könnte, dass er über den Dingen stehen muss!
 

Samstag, 1. Juni 1946 

Ich bin unvernünftig glücklich! Gestern war ich mit Hans und Lotti im Kino. Eigentlich wäre ich ja lieber mit Hans alleine gegangen, weil ich fürchtete, er habe dann den ganzen Abend schlechte Laune, wenn noch Lotti dabei sei. Aber er war sehr, sehr nett. Ja, ich habe ihm das Leben auch so angenehm wie möglich gemacht. Wir nahmen ihn ganz einfach in die Mitte, und so hielten wir uns halt ganz glücklich bei der Hand, ohne dass wir jemanden störten. Es ist ein so „zufriedenes“ Gefühl, wie Hans sagt. Heute Abend war ich seit Monaten wieder einmal bei ihnen drüben. Ich war wieder einmal in seinem Zimmer – und ich staunte über seine peinliche Ordnung auf dem Schreibtisch. Ach, bei mir sieht es ganz anders aus! Ich schloss einen Moment die Augen, und ich sah uns Latein büffeln, Geschichte repetieren, Vortrag vorbereiten – und da hatte ich natürlich wieder Heimweh nach dem Gymer! Hans spielte mir noch Schumann vor, und ich fand, wir seien eigentlich sehr glücklich! 

Büsu macht mir Sorgen. Er macht momentan eine schwere Krise durch. Er ist mit sich selbst so unzufrieden! Ich begreife ihn eigentlich sehr gut, und ich glaube auch „entwicklungsgeschichtlich“ ist sein Zustand verständlich. Büsu ist jetzt 23 Jahre alt und ist so brav wie ein Quartaner, das heisst, er ist es in der Tat, aber in Gedanken ist er doch schon weiter, und dieser Sprung von Wünschen und Handeln braucht sehr viel Mut bei einer Natur wie Büsu sie hat. Ich möchte fast sagen, alles was er absichtlich jahrelang zurückgestaut hat, drängt nun ungestüm durch. Ich glaube, es ist gar nicht einmal so wichtig, dass er jetzt glaubt, masslos in Marianne verliebt zu sein, es hätte auch jemand anders sein können. Marianne ist für ihn jetzt die Verkörperung all seiner Wünsche, die selbst gebauten Schranken fallen, und ich fürchte die Wucht des Neuen für Büsu! Es wird noch manchen Kampf geben für ihn, bis er die ruhige Bahn wieder erreicht. Ich möchte ihm sehr gerne helfen, aber diese Krise müssen wir eben doch alle allein durchmachen.
 

Pfingstmontag, 10. Juni 1946 

Wo soll ich nur anfangen? Letzten Mittwoch durfte Hans zum ersten Male fliegen und zwar nach Zürich und zurück. Es war ein wundervoller Sommertag und Hans kam überglücklich nach Hause. Er hatte mir dann so viel zu erzählen, dass wir unseren Spaziergang bis nach Muri ausgedehnt haben. Seit Samstag hatten wir nun Pfingsferien, und ich verbrachte sie zum grossen Teil im Bett. So was kann nur mir passieren, dass man sich die wenigen Ferientage mit Halsweh ausfüllt. Vati und Mueti mussten dadurch leiden, denn wir konnten nicht nach Wohlen zum Mittagessen, wie wir es uns vorgenommen hatten. Damit aber Mueti doch etwas ausruhen konnte (wir hatten die ganze Woche Arbeiter, die Küche wird neu gemacht), assen wir im Dählhölzli. Am Abend kam Herr Kunz zu Besuch, und heute schenkte er Lotti und mir zwei Billete für das „weisse Rössl“. Es war ganz nett - und jetzt bin ich froh, dass morgen Hans wieder kommt, er war im Pfingstlager. Vati ist heute abgereist.
 

Sonntag, 16. Juni 1946 

Am Donnerstagabend regnete es und Hans und ich gingen ins Kino. Wir waren einander sehr nah, und ich glaubte, ihn wirklich zu lieben. Er muss das auch gefühlt haben; denn auf dem Heimweg gestand er mir ganz ehrlich, dass er sich sehr wünsche, mich einmal zu heiraten. Er stellt sich vor, dass zwischen uns eine ehrliche schöne Ehe möglich sein sollte. Nun, wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich auch schon daran gedacht. Aber es war mehr ein Spielen mit diesem Gedanken. Wir sind ja noch so jung, und wir wissen nicht, was das Leben noch mit uns vorhat! Da ist doch vor allem jetzt mein Studium und das erfordert einen ganzen Menschen. Was nachher kommt, das kann ich jetzt noch nicht entscheiden. Ich möchte so gerne einmal meine ganze Kraft einsetzen und etwas leisten. Nicht dass ich unter der Ehe einen Zustand verstehe, in dem die Frau nichts zu leisten hat, aber es ist sicher nicht jener „grosse freie Flug“, den ich erst einmal machen möchte. 

Heute morgen waren wir in der Käthe Kohlwitz-Ausstellung, und ich litt sehr unter dem Eindruck. Ich weiss nicht recht, ob ihre Kunst auf mich so gewirkt hat, wie sie auf Menschen wirkt, die das menschliche Elend besser kennen als ich. Mir stellte sie nicht die schreienden sozialen Sorgen hauptsächlich vor Augen, sondern ich litt unter dem grossen Einsamsein um jeden Menschen. Man kann nicht in die Sphäre eines anderen Menschen eindringen, auch wenn man ihn noch so sehr liebt. Es gibt wohl Augenblicke, oft liegen sie zwischen unausgesprochenen Worten, wo man meint, in den Raum des andern eingedrungen zu sein; doch sind das vielleicht nur gleichgerichtete Regungen, die sich zufällig berühren und so verstärken. Sehr oft aber (wenigstens ich fühle es so) ist man sich äusserlich sehr nahe und doch sind die Räume von einem zum andern unüberwindlich gross und die Sehnsucht zum anderen wird durch keine noch so enge körperliche Berührung gestillt. Und diese Augenblicke sind wohl die schmerzlichsten. - So wären wir denn bestimmt, ganz innen in uns selbst einsam zu sein? - 

Am Nachmittag ging ich mit Mueti zum Tee in die „Münz“. Dort trafen wir Elsbeth mit Marcel Weiss. Ob das wohl der Nachfolger von Gusti gibt? Mueti ist davon überzeugt. Mir scheint der Altersunterschied doch etwas gross zwischen ihm und Elsbeth.
 

Sonntagabend, 23. Juni 1946 

Auf eine Woche ohne viel Arbeit durfte ich ja nun schon wieder eine etwas positivere einschalten. Ich meldete mich tapfer für eine Botanikrepy, und es ging verhältnismässig gut. Ich hatte zwar entsetzlich Angst. Gestern war der von Hans sehnlichst erwartete Samstag, wo wir zusammen mit Köbi und Liane ins Bellevue gingen. In den ersten 10 Minuten hatte ich auch schon glücklich eine Kaffeeüberschwemmung über Tisch und Kleid veranstaltet, und wir ergriffen die Flucht; das heisst, Hans nahm ein Taxi und fuhr mich nach Hause, wo ich schnell ein anderes Kleid anzog. Nachher ging alles gut. Als sogar noch Aimée auftauchte mit ihrem Cousin, war für Gesprächsstoff sowieso nicht mehr zu sorgen an unserem Tisch. Sie dauerte mich sehr. - 

Und heute ging ich mit Mueti und Lotte ins Kino: „Der begrabene Bräutigam“. Stimmt es wohl, dass ich heute oft „im Traumland“ war, wie Mueti sagte?
 

Mittwoch, 26. Juni 1946 

Es ist zum rückwärts die Wände hochklettern! Schon wieder ein ganzer Nachmittag futsch für eine Analyse, und ich weiss jetzt gerade so viel wie am Anfang nämlich nichts. Johannes half mir den ganzen Analysegang durchzuarbeiten, und er erhielt auch nichts. Ich habe mein Leid jetzt bei einem Spaziergang Stigi geklagt; aber er kann mir eben auch nicht helfen. Gestern Nachmittag sezierte ich eine Ratte, die stank grässlich. Dazu war ich noch allein zum Präparieren, mein Nachbar liess mich im Stich. Zum Glück hatte Rosmarie am Schluss eine Überraschung für mich. Es brachte mir eine ganze Tasche voll Zimmerpflänzchen und zwei hübsche Tonschalen; jetzt ist mein Zimmer wie ein kleines Stück Botanischer Garten.
 

Mittwoch, 10. Juli 1946 

Ein Tag, der mir viel zu verarbeiten gibt! - An mir gehen Augenblicke des Lebens, die andern unendlich viel bedeuten, vorbei wie ein Spiel hinter einer durchsichtigen Wand. Man sieht es, ja man spürt es sogar, aber ich sitze doch ganz allein hinter meiner Wand und finde den rettenden Ausgang nicht. Heute Abend ist wieder eine jener Sommernächte, die trotz ihrem Sternenglanz und Heuduft unsäglich schwer sind. Ich sass mit Hans lange am Waldrand, und in der Ferne verlosch der letzte Sonnenglanz. - Und da bat Hans wieder um das, was ich ihm schon so oft gerne gegeben hätte. Warum habe ich ihn nicht geküsst? Warum stieg die Mauer wieder so entsetzlich hoch? Ich hatte Angst, furchtbar Angst, dass etwas verloren gehen könnte, etwas von jener frohen Zartheit unserer Freundschaft. Ich hatte das Gefühl, dass wir unweigerlich den Schritt aus unserem Jugendland getan hätten – und ich tat es nicht. Hans versteht das nicht. Er liebt mich so, dass er glaubte, nicht mehr ohne das sein zu können. Er ist jung, ich bin der einzige Mensch, den er von ganzem Herzen lieb hat. War es recht von mir, ihm nicht nachzugeben? Ich habe ihn ja lieb, so lieb sogar, dass ich letzten Samstag im Bellevue beim Tanzen meine althergebrachte Reserve vergass, oder besser gesagt, verlor. Ich schreibe so viele Fragen, warum habe ich den Mut nicht, sie zu beantworten? Oh, wäre doch Rico nicht gekommen heute Abend! Ich komme nicht los! 

(Nebenbei: Er möchte wissen, warum ich ihn nicht mehr für fähig halte, jetzt psychologische Studien über andere Menschen zu machen. Ich habe ihm die Antwort verweigert. Er wird aber bestimmt wieder darauf zurückkommen.) 

Ist das wohl der Grund, warum ich nicht anders sein kann? Ich will es mir vorsagen, viele Male, dass ich Hans lieb habe, sehr lieb, ich möchte es ihm zeigen, ich möchte ….
 

Samstag, 20. Juli 1946 

Lieber Gott, bewahre mich davor, eine hysterische Frau zu werden!! Also heute Abend gab es grossen Aufruhr bei uns. Mueti ist, nach seinen Aussagen, nicht so dumm, dass es uns (Hans und mich) nicht längst durchschaut hätte. Ich habe es seit Wochen hintergangen, ich führe ein schlechtes Leben, die Spatzen pfeifen es von den Dächern, wie Hans und ich stehen, und so weiter …. 

Angefangen hat es heute Morgen mit einem verpassten Rendez-vous. Mueti erwartete mich zur rechten Zeit, ich hatte mich geirrt. Deshalb der grosse Krach. Der Nachmittag verging „sprachlos“. Notabene, durch meine Schuld, vergrub ich mich einfach in meine Bücher. Hans kam gegen Abend, und wir machten ab, nach dem Nachtessen in den Kursaal zu gehen. Hans wollte mich abholen – und dann ging es los! Ich hatte nämlich zum ersten Mal nicht gnädigst um Erlaubnis gefragt! Und dazu war ich auch gestern Abend fort gewesen (allerdings nicht mit Hans). Wir, das heisst Huegette, Jürg, Johannes und ich feierten Semesterschluss, und es war ein so vergnügter Abend. - Ja also, Mueti hatte wieder einmal (Gott sei Dank war es schon lange nicht mehr so!) eine richtige Krise. Es läutete voller Wut Frau Steiger an, um ihr zu erklären, dass es jetzt weiss, was für schreckliche Kinder wir sind. Hans verliess das Haus, ohne ihm die Hand zu geben. Eine halbe Stunde später erschien Frau Steiger, um ihren Sohn zurückzuholen, denn der war unterdessen nicht nach Hause gekommen. Wirklich eine höchst dramatische Geschichte. Aber wo bleibt denn meine Zerknirschung? Ich konstatiere mit Schrecken, dass ich die Sache höchst ruhig auffasse. Frau Steiger war glücklicherweise heute Abend sehr vernünftig, so dass sie sogar Mueti etwas beruhigte. Mueti dauert mich, Hans dauert mich – ich selbst aber habe doch meine Arbeit, und deshalb dauere ich mich nicht. - So viel Aufruhr um ein bisschen Liebe! – 
 

Sonntag, 28. Juli 1946 

Es ist so weit, Hans rückt morgen ein. Ich weiss nicht recht, ob ich nur deshalb traurig bin, oder ob ich einen allgemeinen Ast habe. Mueti ist seit einer Woche in den Ferien. Gestern Abend gingen Hans und ich auf den Gurten, und es waren ordentlich verträumte Stunden! Ich hatte Hans sehr lieb! Vielleicht ist diese Freundschaft gerade deshalb so seltsam, weil wir beide wissen, dass es einmal aufhören muss. Aber daran will ich jetzt nicht denken, Hans ist glücklich; vielleicht seit langem zum ersten Mal. Ich möchte ihm helfen, dass er trotz seiner schweren Jugend etwas Schönes mit hinübernehmen kann aus dieser Zeit. Es wird so vieles geschehen in diesen 17 Wochen! Ich möchte so gerne, dass aus Hans etwas Tüchtiges wird. Ich glaube, dass wir jetzt aufhören müssen, zu träumen; doch wir wissen, dass wir es einmal sehr sehr schön gehabt haben! Ganz langsam geht hinter unserer Jugendzeit das Tor zu, und ein grosser Teil unbeschwertes Glück wird dort hinten bleiben, wo wir es nur in der Erinnerung noch einmal erleben!
 

Dienstag, 30. Juli 1946 

Es war heute so einsam. Lotti ist wieder bei Fam. Gloor. Ich habe sehr oft an Hans gedacht. Wie mag es ihm wohl so am ersten Tag gegangen sein?
 

Samstag, 11. August 1946 

Die Zeit rast! Nur noch 5 Wochen bis zum Phys. Ich arbeite viel, ich bin oft sehr müde, aber ich hoffe so sehr, dass mir mein erstes Examen gelingt! Ich war 4 Tage bei Mueti in Chaux-d‘Abel, und da ruhte ich so richtig aus. Heute war Hans im Urlaub. Er kam schnell zu uns, um seine Uniform und das kahlgeschorene Haupt zu zeigen. Mueti war ziemlich nett. Am Nachmittag sind Vati (er ist auf Besuch) Mueti und ich im Kursaal gewesen und nachher haben wir Trittens einen Besuch gemacht. Frau Tritten hatte gestern Geburtstag. 76 jährig! Sie sieht sehr schlecht aus.
 

Mittwoch, 14. August 1946 

Heute Abend war ich so recht auf dem Hund! Ich habe oft das Gefühl, dass ich überhaupt noch nichts weiss und das ist so deprimierend. Ich lerne wahrscheinlich zu oberflächlich. Morgen gehe ich zu Geiser, um Physik und Chemie zu machen. Ich habe regelrecht Angst. Huguette hat heute angeläutet von Meggen. Es geht ihm ungefähr wie mir. - Dazu habe ich oft ein wenig Heimweh nach Hans. Ach, so ein Spaziergang am Abend täte wohl gut! Ich gehe ja jetzt auch, aber mit Mueti und das hat nicht ganz denselben Reiz!
 

Samstag, 17. August 1946 

Es liegt wieder ein Gewitter in der Luft! Ich hätte heute Abend mit Mueti an einen Vortrag des Frauenweltkongresses gehen sollen. Hans hatte aber Urlaub und da erklärte ich halt, es sei mir leider nicht möglich, da ich mit Hans ausgehe. Erstens hatte ich mich die ganze Woche darauf gefreut und zweitens interessiert mich die Sache des Frauenstimmrechts herzlich wenig. Mueti scheint sehr begeistert davon. Nun, ich erklärte eben jetzt, dass ich wohl nicht mein Leben lang die gleichen Ansichten haben könne wie Mueti. Darüber ist es sehr entrüstet. - Ich will mir aber den Abend nicht verderben lassen dadurch. Ich bin ja so glücklich!

Samstag, 23. August 1946 

Hans ist zu Hause, ich traf ihn auf der Brücke – und ich gehe um 9! Uhr ins Bett. Ob wir wohl morgen dafür ausgehen? Ich freue mich so, bei ihm zu sein. Gestern ging ich schnell in den Gymer, ich hatte einfach wieder einmal Heimweh nach jener Zeit! Und es ist doch erst ein Jahr seit wir die Matur gemacht haben! Damals glaubte ich, es gehe nun sooo lange bis zum nächsten Examen. – Jetzt ist es schon wieder so weit.
 

Sonntag, 1. September 1946

Soeben bin ich mit Vati und Mueti im Kino gewesen. Ach, wir hätten nicht gehen sollen. Es war ein Fliegerfilm und ein Darsteller hat Gusti geglichen. Die Haltung, das Lachen… und es sind schon fünf Jahre seit Gusti fortging. 

Nach drei Tagen Muhleren sind Mueti und ich gestern wieder heimgekommen. Hans ist im Krankenzimmer – und hatte heute natürlich keinen Urlaub. Ich habe ihm Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ zum Trost geschickt.
 

Donnerstag, 12. September 1946 

Die Zeit rast! Nächste Woche geht das Phys los. Ich bin in einer ganz seltsamen Stimmung; denn eigentlich sollte es mir jämmerlich zu Mute sein (Man kann eben gegen ein Hirn wie ein Löchersieb nichts machen!) - und trotz allem habe ich eine gute Laune. 

Am letzten Samstag kam Hans heim, und wir waren ganz einfach glücklich. Es scheint, dass sich Hans ziemlich verändert im Militär, aber ich glaube zu seinen Gunsten. Er fängt doch an, etwas Selbstsicherheit zu bekommen.
 

Dienstag, 24. September 1946 

Gott sei Dank! Es ist gegangen. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass das so sehr gefürchtete Phys hinter mir ist. Es war allerdings eine etwas harte Nuss und glänzend habe ich ja nicht abgeschnitten, aber ich bin durch, das ist die Hauptsache. Huguette hat leider das Examen nicht bestanden. Am Freitag kommt noch Rita an die Reihe. Ich hoffe sehr, dass es ihr gelingt. Wenn ich nur ausdrücken könnte, wie mir zu Mute ist! Eigentlich das einzige Gefühl, das einen ergreift, ist eine riesengrosse Müdigkeit. Jetzt habe ich vier ganze Wochen Ferien!
 

Samstag, 5. Oktober 1946

Rita hat sich wegen Krankheit zurückgezogen. - Am Freitag nach dem Examen fuhr ich zu Maria-Nina nach Genf. Die Genfer Wohnung ist wirklich reizend. Mitten in einem grossen Park und in einem schönen alten Genfer Chalet. Maria-Nina tat alles, um mir die 4 Tage zu richtigen Ferientagen zu machen. Ihr grosser Wunsch ist, dass ich nächsten Sommer ein Semester in Genf studieren könnte und dann würden wir zusammen haushalten. Ich habe mir das auch sehr schön vorgestellt; aber jetzt glaube ich fast, dass ich eigentlich doch nicht in dieses Mileu passe. Es ist alles so ungeordnet, so wie soll ich sagen, etwas improvisiert. Gewiss hat das einen ganz besonderen Charme; aber ich fühle mich nur kurze Zeit wohl dabei. Am Dienstag verliess ich Genf bei strahlendem Wetter und ging schnell nach Bern. Am gleichen Abend per Postauto nach Mühlenen, wo Vati und Mueti bei Bergers in den Ferien waren. Ach war das schön! In diesem Jagdschlösschen, wie ich das Haus in seinem grossen Garten nenne, war es mir so recht wohlig zu Mute. Ich habe von Herzen gefaulenzt.
 

Montag, 14. Oktober 1946 

Drei Wochen hatte ich Hans nicht mehr gesehen. - Ich freute mich so auf das Wiedersehen! Wir hatten kaum eine Stunde für uns; denn man wacht ja eifrig, dass wir uns nicht zu oft sehen! 

Nachdem er weggegangen war, (ich ging nicht mit an die Bahn) haben mir meine Eltern auseinandergesetzt, dass sie nie einverstanden wären, dass Hans mich heiraten würde. Und warum?

Weil seine Eltern geschieden sind, weil seine Mutter sehr, sehr ordinär ist, weil sie Hans überhaupt nicht gern haben …. Oh, ich habe nicht mehr viel gesagt gestern Abend, aber eines weiss ich: Wenn ich einst spüre, dass ich Hans so liebe, wie ich es wünsche, dann würde ich zu ihm stehen; trotz Geschwätz der Nachbarn, trotz seiner Mutter. Die hat er sich schliesslich nicht ausgelesen!! Jetzt ist Hans mein Freund, und ich werde den Mut haben, dazu zu stehen. Morgen gehe ich für eine Woche zu Hueguette.
 

Dienstag, 22. Oktober 1946 

Bei Huguette habe ich erfahren dürfen, dass es noch Familien gibt, in denen man die Liebe zum andern fühlt! Ich war drei Tage sehr glücklich. In kurzen Worten, wir unternahmen folgendes: Mittwoch: Ausflug zum Saut-du Doubs, Donnerstag: Mittagessen im Chalet „Heimelig“, Freitag: Spaziergang in der Umgebung und Samstag: Leider schon wieder Heimfahrt. 

Hier erhielt ich die Nachricht, dass sich Peter Adrian erschossen hat und dass Güggu durchs Anatom geflogen ist! Das waren Mitteilungen, die jeden Optimismus erstickten!! Zum Glück konnte Hans doch heimkommen. Ich freute mich den ganzen Sonntag auf den Abend, und wir gingen zusammen in den Kursaal. Zu Hause waren sie darüber wieder sehr erzürnt. Mit viel gutem Willen gelang es mir, die Stimmung so weit zu bessern, dass Mueti am Montag mit mir in die Stadt kam. Da aber Hans erst am Abend spät einrücken musste, machte er mir noch einen Besuch, der dauerte bis um 21 Uhr 30. – Und jetzt ist bei uns zu Hause eine grässliche Stimmung. Ich bekam ungefähr das gleich zu hören, wie eine Woche früher, nur in einem bestimmteren Tone. Mueti sprach sogar von ernsthaften Konsequenzen! Ich habe erklärt, dass ich nur umso fester zu Hans stehe, je mehr sie dagegen sind. Ich möchte ihnen so gerne erklären, dass Hans und ich jetzt gerne eine Zeitlang froh und glücklich sein möchten, ohne dass wir uns ernsthafte Zukunftsgedanken machen. Früher war ein Besuch von Hans bei uns drüben etwas ganz Natürliches, ohne dass deshalb eine grosse Geschichte daraus gemacht wurde. Jetzt erhält in den Augen meiner Eltern alles eine ganz andere Bedeutung, alles bezieht sich nur darauf, was wohl daraus entstehen könnte? Sie sehen das Ganze so verdreht wie möglich an. Heute habe ich nur das Nötigste gesprochen. Ich habe genug von diesem Geschrei, das doch nichts nützt. Ich war heute morgen mit Büsu auf dem Gurten. Morgen beginnt die Vorlesung.
 

Samstag, 26. Oktober 1946 

Heute Abend könnte ich an einem Offiziersball sein – mit Rico! - So weit nach unten versetzt hat er mich, dass er wagte, heute um 2 Uhr anzuläuten und mich für den Abend einzuladen, weil seine Dame ihm abgesagt habe. Das „nein“ sagen ist mir in diesem Falle sehr leicht gegangen. -

Zu Hause ist sozusagen Waffenstillstand. Gott sei Dank gefällt mir mein Studium jeden Tag besser! Das ist doch ein Ziel, wohin man sich einen Weg bahnen kann! Hans hat heute keinen Urlaub, und das ist vielleicht gut so; denn ich freue mich dann mehr auf nächsten Samstag.

Tagebuch (1946 - 1949)
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3.2.  Tagebücher (1938 - 1944) – Tagebuch (1946 - 1949).

Mittwoch, 30. Oktober 1946 

Rot oder schwarz. Darum ging es bei der Wahl dieses Tagebuches. Ich will nun hoffen, dass diese Farbe als ein Zeichen von froher Arbeit gelten soll! Mueti hat es gewählt. Ich erhielt es zu einem glücklichen Anlass, und das erste, was ich einschreibe, ist etwas Erfreuliches. Mein erstes eigentliches Medizinersemester hat begonnen. Es wird viel Mut brauchen und ebensoviel guten Willen. -  Zu Hause habe ich wieder eine schlimme Lage oder besser gesagt ein naturbedingtes Hindernis überwunden. Es ist zwar Vati, der wieder eingelenkt hat. Ich glaube, er versteht ziemlich gut, dass Hans jetzt mein Freund ist! Ich begreife meine Eltern ja auch, wenn sie Angst haben vor eventuellen Luftschlössern, die wir bauen, weil solche Dinge für eine Medizinstudentin wohl nicht bestimmt sind. Wie es mit Hans und mir kommen wird, weiss ich nicht. Irgendwann wird es zu Ende sein; - aber jetzt will ich nicht daran denken, jetzt möchte ich einfach von Herzen glücklich sein. Vor allem will ich arbeiten. - Ich freue mich, dass Hans am Samstag heimkommt. Ich hoffe nur, es gelingt mir, einmal lieb zu sein.

Freitag, 1. November 1946 

Das war so ein Tag voller Unruhe. Wieso es so ist, weiss man nicht. Es braucht gar nichts Besonderes vorfallen und doch ist man wie gespannt. Ich entschloss mich, die letzte Stunde zu schwänzen und mit Huguette ins Kino zu gehen. Auf dem Weg habe ich Rico gesehen. - Er war in Uniform und grüsste sehr kühl; natürlich ist das selbstverständlich. Wie konnte ich nur so dumm sein und etwas anderes erwarten? - Das Kino („Der Idiot“ v. Dostojewski) versetzte mich dann in eine Stimmung, die mich jetzt noch nicht zur Ruhe kommen lassen will. - Ich möchte morgen Abend mit Hans ausgehen!

 *

Samstag, 2. November 1946 

Ich fürchte, meine Gedanken werden jetzt nicht sehr klar sein. - Rico ist also doch gekommen heute Abend. Er wollte sich als Leutnant zeigen. - Ich bin aber mit Hans im Kino gewesen und nun habe ich ihm gesagt, dass ich Rico nie vergessen werde, dass ich immer noch Angst habe - und Hans sieht die Gefahr. Verdiene ich denn, dass er mich trotz allem lieb hat? Spiele ich nicht ein falsches Spiel? Wenn ich nur vergessen könnte!


(1) Rico (Erich Gafner), der Dichter und Schwärmer.

Rico (Erich Gafner), der Dichter und Schwärmer

Montag, 4. November 1946 

Vielleicht ist es gut, dass ich gestern nichts ins Tagebuch geschrieben habe, denn es war ein schlimmer Tag! Mueti sprach wieder nur das Allernötigste mit mir - und ich hatte doch wahrlich schon genug Sorgen. Am Abend kam sich Hans verabschieden. Ich aber verlor die Nerven. Ich weiss nicht mehr, was ich alles sagte, aber es müssen Worte gewesen sein, die auch Hans wehtaten. Ich dürfte nicht einmal entrüstet sein, wenn er keine Geduld mehr hätte mit mir. Am Abend ging ich zu Büsu, und ich sah alles so schwarz wie nur möglich. Heute war aber ein strahlend schöner Tag und dazu hatte ich noch frei am Nachmittag! So bin ich ganz alleine in die Elfenau gegangen, ich habe an Hans gedacht und mir vorgestellt, wie leer es sein würde, wenn ich ihn verlieren würde. Es scheint, dass unsere Freundschaft im Herbst die Krisen durchzumachen hat. Heute glaube ich wieder, dass es doch gut kommt.

Samstag, 9. November 1946 

Ich höre Tanzmusik und wäre gerne noch einen Augenblick für mich. Mueti macht leider so langsam wie nur möglich, um ins Bett zu gehen. Ich will aber doch versuchen, meine Stimmung festzuhalten:

Ich habe zum ersten Mal den Tod gesehen! Gestern war ich in der Anatomie. Ich habe mich sehr gefürchtet vor diesem Augenblick. Ich habe immer daran gedacht, wie an ein grosses Geheimnis, das zu kennen unendlich schwer sein müsste. Und es ist schwer! Mir scheint, man sollte mir nun ansehen, wo ich gewesen bin, was meine Hände getan haben. Gott, dieselben Hände, die Beethoven spielen, dieselben Hände, die jeden Tag tausend lebendige Bewegungen machen! Ich trat in den Saal wie ein Schlafwandler, und ich fühlte nicht das Grauen vor dem Tod, wie ich gedacht hatte. Ich spürte nur plötzlich, dass ich einsam war und mich fror es sehr. Ich arbeitete wie in einem Traum, fast unbewusst. Und das nächste Mal wird es schon besser gehen! Fast zwei Jahre lang werde ich nun jeden Tag drei Stunden bei den Toten sein. Mir ist heute ein seltsamer Gedanke gekommen: Wenn Gott uns einst fragen würde, warum wir seine Geschöpfe bis auf das Geheimste verstümmelten in ihrem Tode, wer hiess uns, so zu handeln? Ja, dann wäre unsere Antwort wohl sehr sonderbar. Ich müsste sagen: „Herr, weil ich wissen möchte!“ Doch die Verantwortung, die aus dem Wissen hervorgehen wird, die muss sehr schwer zu tragen sein. Es scheint mir, dass ich jetzt endlich den Weg betreten habe, den ich suchte. Man kann zwar viele Hindernisse darauf umgehen, wenn man will, aber ich möchte lieber keine Kompromisse schliessen. Es ist recht sonderbar, dass man in solchen entscheidenden Augenblicken im Leben wieder an Gott denkt. Zwar noch nicht mit jenem beruhigenden Zutrauen wie man es als Kind tun konnte, aber vielleicht kommt auch das wieder!  

Huguette war sehr tapfer!

 *
Sonntag, 10. November 1946 

Heute war ich wieder einmal ganz von Herzen glücklich! Wir hatten Besuch. Das tönt ja wie etwas ganz Gewöhnliches, aber es ist schon so lange her, seit wir eine richtige Einladung hatten, eine Einladung zum Nachtessen, wozu es viele Vorbereitungen braucht, wo man dann mit Stolz seine selbst gemachten Sachen aufstellt und sich kindlich auf einen gemütlichen Abend freut. Familie Wildberger war bei uns und natürlich haben auch sie ihre Sorgen wegen Miggeli. Er wird eben doch so langsam ein grosser Bub. 

Heute morgen liess mich Mueti lange schlafen und kaum war ich auf, erhielt ich ein Telefon von Hans. Er erhielt unerwartet Urlaub bis morgen Abend. Wir waren aber heute sehr brav und blieben zu Hause. Und es hat sich gelohnt, „den Zorn der Götter“ nicht herauszufordern, denn als Hans am Abend doch noch schnell vorbeikam, war Mueti sehr nett zu ihm. Morgen kommt mich Hans nach der Uni abholen, und ich freue mich so, ihm wieder einmal freudige Dinge erzählen zu können! Allerdings macht mich etwas nachdenklich: Jürg will Huguette nicht an den Uniball einladen, und sie hatte sich so sehr darauf gefreut!


(2) Mit Hans auf der Gymertreppe.

Mit Hans auf der Gymertreppe.

Dienstag, 19. November 1946 

Die Zeit ist wirklich eigenartig ausgewählt für meine Tagebuchergüsse; es ist nämlich 13.15, aber ich komme am Abend einfach nicht mehr dazu!

Die Anatomie macht mir keine Mühe mehr. Eigentlich ist es fast beängstigend, wie schnell ich mich daran gewöhnt habe! 

Am Sonntag gingen Vati und ich zu Fuss nach Kehrsatz; wir wollten die Kinder Dietschweiler besuchen. Wir trafen sie allerdings nicht an; sie waren ausgeflogen.

Aber etwas anderes sah ich, und das war eine richtige, beängstigende Anstaltsatmosphäre. Wie ist das lieblos und kalt! Ich hatte es mir doch etwas herzlicher vorgestellt. Natürlich muss es für die Leiter sehr schwer sein, 42 schwer erziehbare Mädchen zu betreuen, aber wäre wohl nicht mehr auszurichten mit Fröhlichkeit!? 

Am Spätnachmittag erwartete uns Frau Arnholz. - Und auch dort war wieder so unendlich viel Traurigkeit! Ich glaubte jeden Augenblick, nun sollte Daysi wieder zur Türe hereinkommen. Aber Daysi wird ja nie mehr bei uns sein! Wir lernten ihren Mann kennen, und ich kann Daysi so gar nicht verstehen, dass sie ihn lieben konnte! Ich will nun wieder mehr zu Frau Arnholz gehen, vielleicht kann ich ihr ein wenig helfen in ihrem grossen Schmerz. 

Gestern hatten wir die erste Vorstandssitzung für den Vorklinikerabend. Ich war Vertreterin der Mädchen. Ich glaube, wir werden einen sehr netten Abend haben. Heinz Keller führte uns in seinem Auto nach Hause.

Heute Abend gehe ich ins Abonnementskonzert. Huguette hat mir ihr Billet geschenkt.

Am Samstag hat Hans die R.S. beendigt!

Sonntag, 24. November 1946 

Die Woche war verrückt! Am Mittwoch entführte mich Büsu ins Kino, am Donnerstag blieb ich ausnahmsweise einmal am Abend zu Hause, und am Freitag, ja da habe ich etwas Dummes gemacht: Rico fragte mich in der Anatomie, ob ich am Abend mit ihm ins Theater komme. Ich wollte nein sagen, aber ich konnte es einfach nicht! Und so war ich seit mehr als zwei Jahren wieder einmal mit Rico in der Loge. Und es ist nun alles so ganz anders als damals! Wir sind uns so fremd geworden, so fremd, dass Rico oft kaum wusste, wovon er mit mir sprechen sollte! Und das tat weh. Es ist wohl immer schmerzlicher für Menschen, die sich einst lieb gehabt haben und einander sehr nahe waren, ein Wiedersehen zu haben, das enttäuscht! Wenn ich nur wüsste, warum Rico sich von Zeit zu Zeit wieder an mich erinnert, warum er mich nie ganz vergisst. Liebe ist es nicht, Kameradschaft sicher auch nicht, das er sucht bei mir. Was denn sonst aber? Erinnerungen, …. vielleicht, obschon er mir sagte, dass für ihn jene Zeit ohne nennenswerten Gewinn gewesen sei. Nach seiner Meinung seien wir zu naiv gewesen. Mein Gott, wenn er wüsste, was dies für mich alles bedeutet hat!! Ich weiss jetzt, dass Rico sich sehr sehr verändert hat; es ist vielleicht gut, dass ich mit ihm ging. Ich weiss aber auch, dass ich ihn trotz allem immer lieb haben werde. Es hat keinen Sinn, es mir selbst mit Vernunftsgründen auszureden. Ich werde es nehmen wie eine Krankheit, gegen die man kämpft. Ob ich allerdings Erfolg haben werde, weiss ich nicht! Wir sind nach dem Theater im Kasino gewesen – und ich habe einen Walzer mit ihm getanzt! Büsu ist dann als rettender Engel erschienen, und so endete der Abend zu dritt. 

- Und gestern kam Hans heim! Ich habe mich sehr gefreut. Wir gingen am Abend in den Kursaal und nachher machten wir einen weiten Spaziergang. Es war so unbeschwert und, wie Rico verächtlich sagen würde, „naiv“!

Mittwoch, 27. November 1946

Jetzt habe ich dann wirklich genug! Meine Eltern beginnen, eine seltsam dumme Methode anzuwenden. Es genügt ihnen nicht mehr, mir den Verkehr mit Hans praktisch unmöglich oder doch ungemütlich zu machen – nein sie suchen hinter jedem Schritt eine geheime Absicht. Man glaubt mir nicht mehr, was ich sage, man mutet mir Schlauheiten zu, die mich erstaunen. Doch eines habe ich wenigstens, und das ist die Überzeugung, dass ich trotz allem bis jetzt mir selber treu geblieben bin. Wenigstens in der Geschichte mit Hans; denn wenn ich mit Rico zusammen bin, muss ich ja Theater spielen! Soeben heult Mueti wieder, wahrscheinlich weil sie oft einsieht, wie verschroben ihre Ansichten sind. Ich weiss, dass ich jetzt grausam bin, aber es ist nicht allein meine Schuld! Wenn Vati sogar anfängt, mir nicht mehr zu glauben, dann ist es wohl das Beste, ich erzähle nichts mehr zu Hause. So lasse ich ihren Vermutungen recht freie Bahn! Nur eines ist seltsam: Mueti hat soviel Verständnis für fremde Angelegenheiten, es weiss so viele gute Ratschläge für andere Leute; warum muss es dann beim eigenen Kind versagen? Werde ich wohl auch einmal so? Ich wäre so gerne wieder einmal von Herzen glücklich! Am Montag war Zibelemärit. Unsere Klasse beschloss, sich zu treffen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Wir landeten im Kursaal, und es war wirklich nett. Nach einem Bummel über den Rosengarten gelangten wir, d.h. Stigi und ich und dazu noch Riesli mit Änni, zu Hause an. Änni schlief bei mir. Es wäre aber wieder zu schön gewesen, denn Mueti war wütend. Man glaubte, wir seien erst um halb drei heimgekommen, anstatt wie in Wirklichkeit um 12.30 Uhr! Grosse Entrüstung! Das genügt aber noch nicht. Heute Abend erklärte mir Vati siegesgewiss, er sei nicht so dumm, dass er nicht gemerkt hätte, dass Stigi und ich gar nicht im Kursaal gewesen seien, wie die andern! Herrgott, und dabei soll man nicht verrückt werden!

Sonntag, 1. Dezember 1946 

Ja, so erschöpft war ich, dass ich heute den ganzen Tag im Bett geblieben bin! Es wirkte so vieles zusammen. Am Donnerstag musste ich in der Insel Blut spenden, d.h. wir haben uns freiwillig gemeldet. Es schwächte mich aber mehr, als ich geglaubt hätte! Anstatt an jenem Abend früh zu Bett zu gehen, machte ich Dorothee einen Besuch und kam erst um 12 Uhr nach Hause. Am Freitagabend repetierte ich mit Huguette Botanik und gestern war ein wichtiger Tag! Büsu und ich feierten 6-jähriges Jubiläum seit unserem ersten Gymerball! Wir haben uns sehr auf diesen Abend gefreut. Schon am Nachmittag war es mir gar nicht gut, aber um Büsu die Freude nicht zu verderben, ging ich doch mit ihm aus. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich im „Chicito“. Es ist ja vielleicht ganz gut, dass ich dieses Dancing einmal gesehen und erlebt habe, aber es war deprimierend zu sehen, wie lächerlich und zum Teil abstossend sich die Leute benahmen. Ob diese ungesunde Atmosphäre wohl nur zeitbedingt ist oder ob sie früher auch vorhanden war? Zu alledem kommt noch die ungemütliche Stimmung zu Hause. Wann wird das wohl wieder besser? - Morgen will ich, wenn möglich doch wieder an die Uni. Es wird jetzt schon wieder gehen.


(3) Büsu (Edgar Buser) - lebenslanger Freund, Götti von Stephan.

Büsu (Edgar Buser) - lenenslanger Freund, Götti von Stephan.

Mittwoch, 11. Dezember 1946 

Am letzten Dienstag lud mich Stigi ins Theater ein: „Rose Bernd“ von Gerhart Hauptmann. Am Samstag war dann der langersehnte Uniball. Ich machte mich so schön wie möglich, denn Hans sollte sehr glücklich sein! Ich hatte einfach das Gefühl, es sei das letzte grosse Fest für uns. - Und wir waren glücklich! Huguette wurde glücklicherweise auch eingeladen. Zu Hause liessen sie mich auch wieder einmal an einen Anlass mit Hans gehen, ohne böse zu sein. Die Uni strahlte in höchstem Glanz, die trockenen Hörsäle hatten sich in orientalische Cafés, in Wiener-Stuben und andere nette Ecken verwandelt. Nur eines war: Ich dachte trotz allem viel an Rico. Ich sah ihn oft von weitem, ich dachte daran, dass ich vor drei Jahren fast mit ihm am Uniball gewesen wäre, ich dachte so manches – und ich war sehr lieb mit Hans. Es ist eigentlich lächerlich, aber ich hatte gedacht, Hans würde mich nach diesem Anlass küssen. Bin ich enttäuscht, dass er es nicht getan hat, oder bin ich ihm dankbar dafür? Ich weiss es selber nicht recht. Es wird schon gut sein so! 

Rico grüsst mich kaum mehr in der Anatomie. Hat wohl auch ihm der Samstagabend ein wenig weh getan? Jetzt habe ich sehr viel zu tun für den Vorklinikerabend. 

Weihnacht 1946 

Ich weiss gar nicht, ob ich beginnen soll, etwas Freudiges aufzuschreiben, denn das Traurige wird doch überwiegen! Am 9. Dezember hatten wir also den Vorklinikerabend und alles ging sehr gut. Nun muss ich doch mir gegenüber ehrlich sein und etwas festhalten, was ich seit fast einem Monat gemerkt habe. Ich glaube, Peter Huber beschäftigt mich mehr als gut ist. Ich glaubte, es werde von selbst wieder vergehen, aber seit wir nicht mehr am gleichen Tisch sezieren, fehlt er mir sehr. Ich kann nichts dafür, aber die Anatomie, die gleiche Arbeit an den Toten, das gemeinsame Wissen um viel Schweres, das verbindet, mehr als man glaubt. Ich mache mir keine Illusionen, aber festhalten musste ich es.

Gestern feierten wir Weihnachten. Die Gesellschaft wird jedes Jahr grösser. Jetzt waren noch Lotti und Hanni Tritten dabei. Hans und Büsu kamen natürlich auch. Schon am Morgen konnte ich vor Überraschung kaum mehr sprechen, als ich das Geschenk von Huguette erhielt: Eine traumhaft schöne Abendtasche! Am Abend gingen mir auch sonst alle Wünsche in Erfüllung, doch ich war nicht glücklich. Ich spürte, dass Hans sehr bedrückt war, doch glaubte ich, er sei so müde vom ungewohnten Postdienst. Heute morgen ging ich dann schnell zu Steigers, um der Mutter und der Grossmutter frohe Festtage zu wünschen. Da erfuhr ich dann bald, warum Hans gestern nicht froh war. Er hätte doch zu Hause Weihnachten feiern sollen! Ich kann ja Frau Steiger wirklich verstehen, dass sie einen sehr schweren Abend hatte. Die Grossmutter ist krank im Bett, der Mann gehört einer anderen Frau und der Sohn verlässt sie an diesem Abend mit den harten Worten: „Bei zwei alten Frauen sei es ihm zu langweilig.“ Hans weiss ja genug, dass er einen grossen Fehler gemacht hat und mich dauerte er so in seinem Zorn gegen sich selbst und gegen die ganze Welt. Ich weiss, wie elend ihm heute zu Mute ist, aber ich konnte ihm in diesem Falle nicht helfen. Wenn er es nur lernen könnte, sich zu beherrschen! Was wird einmal aus ihm, wenn ich nicht mehr helfen kann?! Ich möchte ihn so gerne auf einem sicheren Weg sehen! 

Am Nachmittag sind Vati, Mueti und ich auf dem Friedhof gewesen und bis jetzt waren wir mit der Sarepta bei Trittens. Frau Tritten ist nur noch ein armseliges Häufchen Leben. Sie leidet furchtbar! Ich muss noch sehr viel Kraft erhalten, um in meinem Beruf alles Schwere ertragen zu können!

Jetzt hat Mueti gerade eine Magen-Krise und ich bin machtlos dagegen. Wenn ich nur nicht so müde wäre! Es ist das erste Mal, dass ich an Weihnachten gar kein Zeichen von Rico erhielt.

Freitag, 27. Dezember 1946 

Es ist so seltsam. Seit sehr langer Zeit haben Hans und ich zum ersten Mal wieder Streit. Doch Streit ist vielleicht nicht das richtige Wort; aber ich möchte nicht, dass er aus einer Spannung entsteht, die uns beide nicht glücklich macht. Morgen hat er noch einmal Postdienst, wenn er nur noch ein wenig an den Brief denken würde, den er mir am heiligen Abend gab! Ich wäre heute sehr gerne mit ihm auf den Gurten gegangen, aber mein Kopf gab es mir nicht zu, Hans zu fragen. Jetzt machten wir (d.h. Vati, Mutti und ich) den drei Fräuleins Minnig eine grosse Freude, indem wir ein wenig musizierten.

Samstag, 28. Dezember 1946

Hans hat mich heute angefragt, ob ich ein wenig Zeit hätte für ihn. So sind wir ein Stück weit in die Elfenau gegangen. Ich wollte, es wäre nur ein Traum gewesen; denn wir haben uns gar nicht verstanden. Hans war enttäuscht über mein Weihnachtsgeschenk, er fand es lächerlich. Und ich hatte so grosse Freude an der Eisenbahn! Dann sagte er mir auch, dass die Haltung meiner Eltern, besonders die von Mueti, ihm furchtbar lästig sei. Seit er vom Dienst zurück sei, habe er ja kaum mehr etwas von mir gehabt. Was sollte ich auf alle diese Anschuldigungen antworten? Von seiner Seite aus gesehen hat er vielleicht zum Teil recht, was kann aber ich dafür? Er weiss ja kaum, wie oft ich schon mit Mueti Schwierigkeiten hatte, weil es findet, ich sei zu nachgiebig mit Hans. Er weiss ja nicht, wie ich jeden Abend mit ihm erkämpfen muss. Heute Abend benahm ich mich wohl sehr dumm. Ich konnte einfach nicht mehr reden, - und es wäre doch so nötig gewesen! Hans ist ganz verzweifelt über dieses Sichnichtverstehen. Ich muss mir Mühe geben, denn so darf er nicht einrücken.

 

Donnerstag, 2. Januar 1947 

Am Montag war ich mit Hans auf dem Gurten. Gott sei Dank, es ist wieder gut gekommen! Es ist nicht mein Verdienst, denn Hans war es, der die Offenheit und den festen Willen zum Verständnis für uns beide hatte! Wir waren wieder so glücklich! Am Silvesterabend ging ich ganz froh und zufrieden mit meinen Eltern und Hanneli ins Kino und nachher nach Hause. Das alte Jahr endete also in ganz guter Stimmung. Am Neujahr habe ich der Grossmutter und Frau Steiger einen kurzen Besuch gemacht und ich glaube, es hat sie gefreut. Gezeigt haben sie es natürlich nicht, aber das liegt eben nicht in ihrer Natur! (Dafür kann es Hans und das ist die Hauptsache!)

Meine Eltern und ich waren zum Mittagessen in Belp und am Abend kamen Dr. Gloors noch ein wenig zu uns. Heute kochte uns Hanni das Mittagessen. Ich räumte den Schreibtisch auf und Hans half mir dabei. Wenn es jetzt nicht gut kommt! Morgen verreist er in die Skiferien. Chips kam zum Kaffee und blieb dann allerdings bis um halb sechs. Wir schmiedeten Pläne für eventuelle Frühlingsferien auf der Lenzerheide, d.h. ein paar von der Klasse. Hans wird allerdings dann im Dienst sein. Er rückt am 20. Januar ein. 

Jetzt grad bin ich von einem Besuch bei Maria-Nina heimgekommen. Der grosse Traum mit Jacques ist aus! Maria-Nina ist in einem furchtbaren Zustand. Ach ja, sie glaubt nun, nie mehr glücklich zu werden. Vergessen können wir unser erstes grosses Erlebnis ja nie, aber glücklich werden wir doch wieder – nur eben, nicht mehr auf die gleiche Art. Eine Enttäuschung kann man mit der Zeit fast liebgewinnen, und wenn es auch drei Jahre braucht dazu!

Sonntag, 12. Januar 1947 

Mir ist ganz seltsam zu Mute. Ich habe Hans ja so lieb! Gestern Abend waren wir zusammen im Bellevue; denn in einer Woche rückt er wieder ein und da erlaubten wir uns einen Samstagabend! Ich war wohl sehr glücklich, aber ich habe Angst. Ich bin Hans ja dankbar, dass er mit mir über seine Probleme spricht, ach es sind ja für alle Studenten dieselben – nur wie kann ich ihm helfen? Ich kann es einfach nicht recht begreifen, dass das Jungsein für sie so schwer sein soll. Warum müssen sie in uns Mädchen immer vor allem „das andere Geschlecht“ sehen, warum macht ihnen das reine Denken so viel mehr Mühe als uns? Es ist eigentlich fast absurd, dass nur ich die grössten Schranken aufstelle, während Hans sich unaussprechlich nach Zärtlichkeit sehnt. Was werden die langen Monate Dienst aus ihm machen? Ich will ihm zeigen, dass ich ihm vertraue. Ach, es müsste schön sein, offen zu ihm stehen zu dürfen! Aber nun ist man eben Medizinstudentin, nun muss man die Gedanken schnell wieder aus dem Traumland zurückholen!! Ich habe es ja so gewünscht. Ich arbeite jetzt jeden Abend, um auf dem Laufenden zu sein. Momentan haben Huguette und ich ein Beinpräparat.

Dienstag, 21. Januar 1947 

Ach, ist das herrlich, wieder einmal ganz alleine zu Hause zu sein! Natürlich sollte ich arbeiten, aber das hat ja noch Zeit, Mueti und Vati sind im Theater. 

Hans ist gestern eingerückt in die U.O. Vorher aber geschah noch etwas und zwar am Freitag. Äusserlich ist es nicht wichtig, aber in mir drin wurde etwas wach, was ich bis jetzt nicht kannte. Ich habe den „Sturm“ wohl überstanden, und ich bin jetzt auch wieder ruhig, aber ich habe Angst vor dem nächsten Mal. Huguette und ich waren am Freitagabend im Kino. Hans kam uns abholen und dann begleiteten wir Huguette mit dem Tram bis zum Tennisplatz. Und dann – hatten wir den wunderbaren Heimweg durch den Wald. Unser Wald! Wie oft schon haben wir ihn durchwandert: kindlich froh im Gymer, traurig nachher, weil wir wussten, dass jene Zeit vorbei war. - Nun aber war es wieder anders. Ich spürte, wie ich die Vernunft verlor, ich fühlte, wie mein Blut rauschte, ich wusste, dass eine Schranke gefallen war. Hans hat mich in seinem Arm gehalten, ach nicht mehr wie ein Kamerad! Spielt es noch eine Rolle, dass er mich nicht geküsst hat? Es hat mich verwirrt. Am Sonntag kam er sich verabschieden. Mein Gott, wir wurden rot wie kleine Kinder, als wir uns allein gegenüberstanden. Mueti mit seinen Argusblicken bemerkte es natürlich, als es dazu kam. Konnten wir ihr sagen, warum? Es ist so seltsam für mich! Vielleicht ist es gut, dass Hans einrücken musste! 


(4) Hans muss einrücken.

Hans muss einrücken.

*

Sonntag, 25. Januar 1947 

Letzten Freitag hatte Hans eine nette Idee: Er läutete mir am Abend an aus Colombier. Den ganzen Freitagnachmittag hatte ich mit Mueti unsere Wohnung ummöbliert. Doch dort, wo das Schlafzimmer war, ist nun unsere Wohnstube und im grossen Zimmer entstand ein feudales Schlafzimmer. Die kleine Stube ist noch ziemlich leer und wartet darauf, einst ein Salon zu werden! Nach dieser Umzugsarbeit war ich sehr müde, und da freute mich das Telefon doppelt! Und heute konnte er schnell heimkommen. Ach Mueti war wieder einmal schrecklich! Hans wäre so gerne ein wenig mit mir allein gewesen – ein kurzer Spaziergang hätte ihn glücklich gemacht – doch da fand es Mueti zuviel, weil er ja eben von halb zwei bis halb drei schon bei uns gewesen sei! Überdies wollten wir die neue Stube geniessen etc. Gut, ich gab, wie meistens, nach und blieb zu Hause. Nachdem aber Mueti erreicht hatte, was es wünschte, wurde es müde und ging schlafen – und ich sass allein und strickte, und ich dachte, wie dumm ich eigentlich sei! Vor dem Nachtessen rief Hans noch einmal an. Ich erlaubte ihm nicht, nochmals hinüberzukommen. So ist er jetzt sehr enttäuscht von seinem ersten Urlaub abgefahren!

Mittwoch, 5. Februar 1947 

Ich bin ein furchtbar eingebildetes Wesen, - und das ist schade! Ich werde von den Kolleginnen als „Leithammel“ angesehen, ich habe Punkte bei den Professoren. Wünsche, die ich nur ganz still dachte, werden erfüllt. - All dieses ist nicht gut für mich! 

Vor allem ist Hans jetzt wieder enttäuscht. Er hat auch allen Grund; denn ich bin grässlich ehrgeizig. Deshalb habe ich ja auch Marco Christen zugesagt für den Zofingerball am nächsten Samstag, obschon ich genau wusste, dass Hans sich auf diesen Abend gefreut hatte! Aber eben, der Zofingerball wäre ja sicher ohne Lilly Staub nicht gegangen! 

Am Sonntag Abend bin ich eingeladen mit Peter Huber zu Professor Lehmann. Er will sich für den Vorklinikerabend revanchieren. 

In der Anatomie sezieren wir jetzt ein Neugeborenes. Es ist furchtbar. Ich kann es kaum anfassen! 

Ich will versuchen, Hans einen vernünftigen Brief zu schreiben.

Dienstag, 11. Februar 1947 

Das war wohl der bewegteste Geburtstag, den ich bis jetzt hatte! Am Samstagmorgen fing es an mit einem Päckli von Omar. Dazu ein netter Brief mit einer Einladung für den 1. März an einen Klassenabend. Dann kam Huguette mit einem netten Geschenk. Mir wurde aber immer trauriger zu Mute; denn von Hans kam nichts! Am Nachmittag läutete er an, ob er mich schnell sprechen könne. Natürlich war es ja nicht möglich, sich in aller Ruhe zu sehen, denn bei uns ist immer etwas los. Er kam mich dann zu Frau Bleuer abholen und zum Glück versprach er, am Sonntagvormittag mit mir einen Spaziergang zu machen. 

Am Nachmittag war ich gerade daran, Büsu Beethoven vorzuspielen, da läutete es und Rico stand vor der Türe. Er schenkte mir ein neues Gedicht. 

Am Abend war es dann ganz nett mit Marco. Wir sassen am gleichen Tisch mit Aimée und Kai. 

Am Samstag schien die strahlendste Frühlingssonne, und Hans und ich gingen in die Elfenau. Es war alles wieder gut. Hans hat mir meinen Fehler verziehen.

Am Sonntagabend bin ich dann mit Peter zu Professor Lehmann gegangen. Das Interessanteste war der Heimweg. Allerdings habe ich eingesehen, dass es noch sehr vieles gibt, von dem ich nichts verstehe. Griechische Philosophie und neuere Ansichten über Jung und Freud sind mir ganz fremde Dinge. Peter hat sich damit schon sehr intensiv beschäftigt. Er wird mir nächstens einmal Klavier vorspielen.

Hans ist gestern wieder eingerückt. Ich habe so sehr gewünscht, heute Post von ihm zu erhalten!


(5) Hans (Stigi) in Uniform.

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Montag, 3. März 1947 

Es ist alles sehr schwer. Das Semester ging zu Ende, und man ist wieder einen Schritt dem Ziel näher. Ich war die letzte Woche krank und kaum hatte ich mich erholt, musste Mueti ins Bett – und ich machte wieder einmal den Haushalt! Das hätte ich ja alles gerne gemacht, wenn Mueti nur nicht so hart wäre mit Hans und mir! Es hat mir heute Abend wieder erklärt, dass es nie einverstanden sein werde mit Hans. Es sieht nur schlechte Eigenschaften an ihm, und er studiert eben nicht Medizin! Ach, das wissen wir beide ja auch, und ich glaube, dass wir noch schwer kämpfen müssen, um den rechten Weg zu finden. Nur sprechen wir nicht darüber. Man kann eben sein Schicksal nicht auf Jahre hinaus bestimmen wollen. Ist es uns aber nicht erlaubt, dann glücklich zu sein, wenn es das Schicksal gut meint mit uns? Müssen wir immer daran denken, dass es einmal zu Ende sein wird? 

Mueti hat „zufällig“ einen Brief von Hans an mich gelesen. Ich finde das ja sehr hässlich, aber es ist menschlich. Wenn nur Mueti nicht immer an meiner sauberen Lebensauffassung zweifeln würde! Ich möchte so gerne noch einmal jung sein, ich möchte so gerne lieb sein dürfen mit Hans, ich möchte nur einmal wissen, wie es ist, wenn man zu jemandem gehört, ich möchte einmal sehr, sehr glücklich sein – und dann will ich meinem Beruf gehören. 

Ich weiss nicht, woher es kommt, ich spüre es nur, dass ich noch manchen schweren Kampf haben werde. Vielleicht wäre es schön, keine Verantwortung zu haben! 

Ich werde erst am Montag nach Mürren verreisen (gegen den Willen von Mueti), damit ich noch einmal mit Hans zusammen sein kann am Samstag. Wenn Mueti nur einmal versuchen würde, mich zu verstehen!

Freitag, 7. März 1947 

Ja, meinen festen Vorsatz, nicht am Samstag, habe ich zwar durchgesetzt – aber Mueti sprach dafür wieder zwei Tage nicht mehr mit mir. Am Mittwoch gingen wir dann zu Frau Arnholz, und da wurde Mueti plötzlich wieder lieb. Wahrscheinlich musste es doch einsehen, dass es neben einem so grossen Leid sehr kleinlich ist, mit seinem Kind so hart zu sein!  

Am Abend sind Büsu und ich bei Huguette eingeladen gewesen. Es war ja sehr nett, aber Hans hat gefehlt! 

Ja, und nun habe ich umsonst um den Samstag „gekämpft“, Hans hat die Grippe und kann nicht heimkommen. Wir werden uns einen ganzen Monat nicht sehen. Ich hatte mich sehr auf Samstag gefreut! Doch es ist ja wichtiger, dass er bald wieder gesund wird!

Mürren, 10. März 1947 

Nun bin ich wieder in meinem lieben Mürrenzimmer bei Frau Meyer. Es regnet und es ist sehr warm. - Und ich werde geduldig auf die Sonne warten. 

Am letzten Samstag hat mir Peter Ferienliteratur gebracht, d.h. Stifter, Sokrates und Rilke!! Am Abend bin ich mit Mueti im Kino gewesen (Ein Baum wächst in Brooklyn). Am Samstag sagte mir Vati, Frau Steiger habe telefoniert, dass Hans doch nach Hause gekommen sei. Allerdings musste er sofort ins Bett, aber ich habe ihn doch noch gesehen! Nun werde ich von Herzen faulenzen.

Bern, 29. März 1947 

Ich weiss wieder einmal, wie elend einem zu Mute sein kann! Ach Gott, ich kann es gar nicht glauben, dass ich vor ein paar Stunden noch ein strahlendes, fröhliches Menschenkind war. Doch eben, da war ich noch in Mürren – und jetzt ist alles, was glücklich und hoffnungsvoll war wieder grau und zertreten! Ach, wäre es doch nur ein Traum und ich könnte wieder in Mürren erwachen! Bei diesen einfachen, aber von Herzen zufriedenen Leuten. Gestern noch lebte ich in ihrer Mitte, ich durfte froh sein mit ihnen, ich hatte sie alle lieb, besonders Ruedi. Ich denke an die gestrige Föhnnacht mit ihren „Nöten“, ich denke an die Jass-Abende, an die herrlichen Tage in der Sonne auf dem Schiltgrat – ach an alles, was glücklich war. Ich durfte ja drei Wochen einmal ganz ich selbst sein – und doch habe ich mich wieder für nach Hause gefreut, ich wollte lieb sein mit meinen Eltern, ich wollte fröhlich arbeiten – doch sie haben schon in einer Stunde wieder unsäglich viel zerstört. Es ist wieder wegen Hans.

Er hat heute Geburtstag, und seit drei Wochen haben wir uns nicht gesehen. Meine Eltern sind nun schon wieder so böse, dass ich mit ihm ausgehen will.

Ich bin drei Stunden mit Hans in der Nacht herumgewandert. Ich vergass wieder, was vorher war und ich schäme mich, dass ich ein solches Geschöpf bin, das von einem Augenblick zum anderen lebt. Jetzt bin ich unbeschreiblich müde.

Ostermontag, 7. April 1947 

Das Leben scheint uns Junge hart anpacken zu wollen! Ich selbst bin ja so dankbar, dass sich wieder ein Sturm gelegt hat bei uns zu Hause. Gestern war ich sogar sehr glücklich. Meine Eltern und ich gingen in die Kirche – und ich durfte sehr viel mitnehmen von dieser Osterpredigt! Dann holte mich Hans ab und wir machten unseren Friedhofsbesuch. Auf dem Heimweg konnte ich nicht anders, als mit Hans auch Pläne zu machen, wie es sein könnte – ja eben wenn man drei Jahre älter wäre Runele hat sich verlobt!  

Doch der letzte Donnerstag war ein schwerer Tag: Huguette ist zum zweiten Mal durch die Phys. geflogen. Ich weiss noch nicht, wie es sein wird, ohne meine Dédette neben mir! Wie schnell doch Pläne, die man jahrelang hegt, vernichtet werden können. Wie schwer wird es für Huguette sein, nun plötzlich einen ganz anderen Weg suchen zu müssen! 

Soeben komme ich von einem Besuch von Rita Schär nach Hause. Sie kommt morgen dran und ist in einer trostlosen Verfassung vor Angst. Wenn ich ihr nur helfen könnte!! Ach, man ist vor einem Examen immer so entsetzlich allein! Ich war heute mit Vati per Velo in Vechigen. Ich bin so dankbar für die letzten zwei guten Tage für mich.

Dienstag, 15. April 1947 

Rita ist glänzend durchgekommen! Es war ein ziemlich schwerer Tag für mich. Ich mag es ihr ja schon gönnen, aber ich musste immer an Huguette denken. - und es war nicht leicht, Rita Freude zu zeigen, denn ich war ja so traurig! Huguette kann es immer noch fast nicht glauben, dass sie nun nicht mehr mit uns weiter studieren darf. Ich kann es mir ohne Dédette auch nicht vorstellen. Ich werde sehr einsam sein!

Aber ich will arbeiten. 

Letzte Woche habe ich Mueti geholfen, die Frühlingsputzete zu machen. Ich half freudig und mit guter Laune, aber es hatte halt einen Hintergrund. Ich hoffte, Mueti würde dann am Samstag begreifen, dass ich mit Hans ausgehen möchte! Es war auch so: ich durfte von Herzen glücklich sein. 

Ich bin wie ein Tier, das man nicht erschrecken darf. Man muss unsäglich behutsam sein mit mir, und doch nicht schnell die Geduld verlieren. Das hat Hans gelernt, und vielleicht habe ich ihm auch deshalb so lieb! Jetzt habe ich schon den Mut, meinen Kopf an seine Schulter zu legen und seinen Mund auf meiner Stirn zu fühlen. Es ist schwer für ihn, mich in solchen Augenblicken nicht zu küssen, ich weiss es, und ich bin ihm für sein Verstehen so dankbar! Ich bin so glücklich bei ihm, und wenn ich schwere Arbeit habe, denke ich an ihn und an einen herrlichen Platz, von wo aus man die liebe Stadt mit ihren alten Häusern sieht…. 

Gestern habe ich mit Mueti grosse Wäsche gemacht. Vielleicht ist es gut, dass das Semester wieder beginnt. Ich ertappte mich in letzter Zeit oft bei dem Gedanken, das es schön sein müsste, ein eigenes Heim zu haben und eigene Kinder; aber das sind nur liebe Feriengedanken, die schon wieder vergehen werden!

Mittwoch, 23. April 1947 

Ich bin in letzter Zeit so oft verträumt und glücklich. Und dann kann ich auch wieder ganz plötzlich Angst haben vor etwas, das mich gar nicht zu erschrecken braucht. Z.B. gestern Abend, als Vati Holz hackte, hatte ich von einem Augenblick an eine würgende Angst, er könne sich verletzen. Ich hatte keine Ruhe mehr und als Vati wohlbehalten und fröhlich vom Garten heraufkam, wurde mir fast schlecht vor Freude. Was ist das wohl?  

Das neue Semester hat begonnen. Wir sind jetzt nur noch fünf Mädchen und das ist keine gute Zahl, denn eines wird einsam sein. Sie sind zwar alle sehr nett zu mir, aber eines fehlt mir doch… 

Die Studenten tragen schon wieder die müden Gesichter zur Schau wie nach dem langen Wintersemester. Damals konnte man es als Müdigkeit deuten, aber jetzt dünkt es mich einfach unerlaubt. Mir schien heute, man sollte sich fröhlich begrüssen nach so langer Trennung – doch für die meisten scheint dieses Bedürfnis nicht vorhanden zu sein. 

Peter fragte mich, warum ich ihm nicht geschrieben habe. War es denn an mir? Heute Nachmittag habe ich mit Bernard im Garten gespielt. Ein paar Holzklötze, Zapfen und Schnüre, auch ein Beil und ein Messer, welches Bubenherz wäre da wohl nicht begeistert? Die Bern-Thun-Bahn samt Bahnhof und Tunnel wurde ein Meisterwerk. Ach, ist das schön, mit Kindern zu spielen. Da kommt mir wieder ein Satz aus einem Aufsatz in den Sinn: „In sonnendurchfluteten Sommergärten sollten nur spielende Kinder sein.“ Letzte Woche hatte ich einmal einen „Rückfall“. Ich dachte viel an Rico, aber das kommt wohl davon, weil Elsbeth hier war und wir viel von jener Zeit sprachen. 

Hans konnte am Samstag nicht heimkommen. Mueti spricht in letzter Zeit oft nett von ihm. Ich wünsche so sehr, dass es ihn auch gern hätte! Dass Beten glücklich macht, hätte ich mir gedacht. Vielleicht sind schon die „Vorbereitungen“ dazu gut. Man muss sich doch aus aller Hast der Gedanken in sich selbst zurückziehen und dann müssen wir manches sehen, was uns ohne dieses Besinnen verloren ginge oder nur verhüllt zu uns tritt. In dieser Stille mit uns selbst aber gibt es kein Ausweichen. Wir müssen Stellung nehmen zu dem Geschehenen oder den Gedanken, und da ist es so tröstlich, an einen Lenker über uns zu glauben. 

Man sollte vor allem Friede mit sich selbst und mit seinen Gedanken haben, um anderen ein wahrer Freund sein zu können. Ich selbst habe nicht oft Ruhe in meinem Innern, aber ich will mir Mühe geben. Mit viel Mut und Vertrauen soll ja vieles möglich sein!

Donnerstag, 8. Mai 1947 

Es scheint mir fast nicht möglich, dass ich alles hingenommen habe, ohne einmal in dieses Buch zu schreiben! Der Semesteranfang war sehr schwer. Doch nun sieht man schon ziemlich kühl zu, wie die Frösche in der Physiologie getötet werden! Selbst habe ich dieses Morden aber noch nicht zustande gebracht. 

Hans konnte letzten Freitag schon nach Hause kommen, und wir durften wieder einmal unseren Elfenaubummel machen. Auch am Samstagabend gingen wir aus. Ach, dieses Gefühl des „Zu Hause seins“ ist so wunderbar! Ich habe allerdings diese Woche eine Dummheit gemacht – und sie scheint Folgen zu haben. Warum konnte ich nicht widerstehen, als Peter mich gestern fragte, ob ich mit ihm Velofahren komme? Es war ein strahlender Frühlingstag. Wir sassen den ganzen Nachmittag an der Aare und liessen uns von dem Sonnenglanz und dem leisen Rauschen einhüllen. Peter zeigte mir kleine Tiere, die ich noch nie gesehen hatte, er erzählte mir vieles aus seinen Lieblingswerken von Goethe und Rilke. Wir besahen uns das Schlösschen Allmendingen (ich kam mir wie ein Verräter an Hans vor; ich behauptete, es noch nicht zu kennen!!) - kurz, es war ein Nachmittag, um Peter Hoffnungen zu machen.

Ach, und heute hat er mich nun wieder nach Hause begleitet – ich schäme mich, dass ich so ein Feigling bin. Wenn doch nur Hans heimkäme. Ich möchte ja so gerne treu bleiben.

Sonntag, 11. Mai 1947 

Es scheint sich wieder alles gegen Hans und mich zu wenden! Gestern telefonierte er nur schnell, dass er heute Nachmittag kurz nach Hause kommen könne. Er sieht sehr müde aus, Mueti war sehr nett und wir sassen ganz gemütlich im Garten, da schlug Frau Steiger in einer Wut ihr Fenster zu und schrie, sie warte schon über eine Stunde auf Hans! Ihre Stimme fuhr wie ein Donner über uns hinweg. Mueti war natürlich entsetzt über dieses unhöfliche Benehmen – und Hans blieb einen Augenblick wie gebannt. Ach, es wird nie gut kommen. Frau Steiger hat keine Ahnung von Anstand und dieses Missverhältnis zwischen ihr und Mueti wird für Hans und mich immer ein Hindernis sein! Oh, warum muss Hans eine solche Mutter haben?! Es könnte ja alles so schön sein. Er ist nun wieder in einer trostlosen Laune eingerückt. Vati und Mueti hören nicht auf, mir düstere Zukunftsbilder vorzumalen und raten mir tausendmal, Hans aufzugeben. Doch das kann ich nicht! Er sprach heute Abend selbst davon, dass die sogenannte Gesellschaft wohl ihr Opfer haben müsse. Mueti sucht alles zu untergraben, indem es behauptet, ich handle nur aus Mitleid. Auch das ist nicht wahr; aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich nach Hause gehöre. Er selbst hat Heimweh nach einem Heim, nach seiner kleinen Schwester, - ach, warum macht man es mir so schwer!

*

Mittwoch, 14. Mai 1947 

Ich bin in den letzten zwei Tagen älter geworden! Am Montag war ich im Busch-Quartett, und ich durfte einige Augenblicke lang wieder die Musik verstehen. Ich möchte nur wissen, ob man in solchen Momenten ausnahmsweise sein innerstes, eigenes Wesen spürt – oder ob man im Gegenteil dann eben nicht sich selbst gehört.

Als ich in dieser Stimmung nach Hause kam, erfuhr ich, dass Mueti wieder einen Brief von Hans an mich gelesen habe. Und Vati sprach wieder das harte Wort, wir hätten Dinge hinter ihrem Rücken abgemacht, die sie nie billigen werden. In mir stritten Stolz, Verachtung und Auflehnung gegen die Schranken und Vorschriften, die meine Eltern um mich aufrichten!  

Am Abend erhielt ich einen Brief von Hans, in dem er mir mit schwerem Herzen den Vorschlag macht, uns jetzt zu trennen, weil er mir die harten Kämpfe und die unhaltbaren Verhältnisse nicht mehr zumuten dürfe. Er bittet mich, mich selbst zu prüfen, ob meine Liebe zu ihm tief genug sei, um die Konsequenzen zu tragen, wenn ich zu ihm halte. 

Nun hielt ich es nicht mehr aus ohne fremde Hilfe – und ich suchte sie bei Köbi. Seit Monaten hat mich wohl kein Mensch so verstanden wie er. Eigentlich hat das mich erschreckt; denn es liess mich auf Gedanken kommen, die das Problem von einer ganz anderen Seite beleuchten. Köbi hatte den Mut, von einem Komplex bei mir zu sprechen, von dem ich weiss, dass er leider existiert und das ist die Abhängigkeit von meiner Mutter. Wenn ich jetzt meinen Eltern wieder nachgebe und Hans verlasse, so werde ihre Macht über mich wieder so gross sein wie nie zuvor. Ich glaube, ich werde jetzt den Mut haben, meinen Weg selber zu suchen. Obschon ich nun selber glaube, dass Hans und ich uns einmal trennen müssen, so werde ich jetzt diesen Schritt nicht tun! Ich glaube, es war gut, dass ich mit Köbi gesprochen habe. Es war, wie wenn man bei einem Haus anklopft, von dem man zwar von aussen sieht, dass wertvolle Leute drin wohnen, aber dann durfte man merken, dass wir diesen Menschen bis in unser Tiefstes bekannt sind. Ich ging reicher nach Hause, als ich es seit langem war. Ich werde viel Mut und Zuversicht brauchen in der nächsten Zeit! Ich werde Hans das nächste Mal so vieles zu erzählen haben! 

*

Meggen, den 24. Mai 1947 

Es ist wie in einem Märchen, und ich kann es noch gar nicht recht begreifen! Huguette hat mich über Pfingsten eingeladen! Schon in Luzern erlebte ich die erste grosse Überraschung! Wir fuhren mit einem Motorboot (das allerdings mehr einer Luxuslimousine gleicht!) hierher. Das Bootshaus liegt ganz in einer romantischen Bucht, eine Treppe führt durch Baumgruppen hinauf ins Grüne und mitten in einem riesigen Rasen steht auf dem Hügel das Haus! - Und welch ein Haus! Jedes Plätzchen ist durchdacht, jeder Winkel mit Liebe ausgestaltet. Und dazu die Aussicht auf den See und auf die Berge!! Es fehlt einfach nichts. Ach, hier muss man glücklich sein. Ich wollte heute Abend Hans anläuten, um ihm ein wenig von meinem Glück zu erzählen. Er war aber noch nicht zu Hause.

Hier soll ich nun fünf Tage bleiben dürfen!

Bern, Donnerstag, den 29. Mai 1947 

Das waren traumhaft schöne Tage! Herr Bernheim führte uns mit dem Boot auf dem ganzen See herum und das Wetter war jeden Tag strahlender. Wir badeten am privaten Strand, wir waren vom Morgen früh bis am Abend im Freien und der Wind wie die Sonne umspielten uns! 

Am Dienstag kam Lorly auf Besuch und spielte im Bootshaus „Rebecca“!! Es fiel nämlich ins Wasser beim Aussteigen aus dem Schiffchen. 

Zum Nachtessen waren Huguette und ich bei Dr. Weys eingeladen. Dort erlebten wir eine grosse Überraschung: Das Haus und die Einrichtung ist in ganz grossem Stil! So recht eine alte wohlhabende Familie. Das Schönste aber ist, dass sie alle musizieren. Es war ein ausserordentlich glücklicher Abend in ihrem Kreise. Der Bruder spielt sehr gut Geige. Wir spielten Mozart vom Blatt zusammen – und es ging ohne Probe, wie wenn wir uns schon seit langem kannten. Lorly spielte Cello und Ruth Klavier. Sie besitzen also ein richtiges Hausorchester! Ach, wie ich sie um dieses Familienleben beneide! Um das Bild vollständig zu machen: Sie haben zwei reizende Hunde und eine Katze!! 

Herr Dr. Wey führte uns dann mit dem Auto wieder nach Meggen, wo Dédette und ich bis nach Mitternacht einander unsere Eindrücke erzählten. Heute Nachmittag ging ich mit Lorly baden. Nun sollte ich mich wohl wieder an das Leben in Bern gewöhnen. Ich lebe aber noch ganz in der Erinnerung der letzten Tage. Heute hatte ich sehr Heimweh nach Hans. Es ist gut, dass er bald heimkommt; denn ich habe ja so vieles erlebt, das ich ihm erzählen muss. Auch sonst sehne ich mich nach ihm. Ob es wohl der Frühling ist? Peter war heute sehr kühl. Ich glaube, er hat die Geduld verloren. Vielleicht ist es gut so!

Sonntag, 1. Juni 1947 

Ich bin sehr erschreckt. Ein Traum, den ich heute Nacht hatte, ist zum Teil Wahrheit geworden. Ich träumte, ich sei von zu Hause verstossen worden und sitze bitterlich weinend auf der Treppe im Garten. Der Druck dieses Traumes lag so auf mir, dass ich am Morgen mit Staunen merkte, dass es doch Mueti war, die mich weckte. Allerdings war es so gereizt, und es lag in der Luft, dass es Streit geben wird. Was folgte, wickelte sich so planmässig (allerdings nach keinem guten Plan!) ab, dass ich mich eigentlich selbst wie einen Schauspieler betrachtete. Hans läutete an, er sei zu Hause und möchte fragen, wann er mich sehen dürfte. Vati erklärte, es sei ihm gerade recht, er möchte sowieso mit ihm sprechen. Was dann kam? Ich erklärte vor Vati und Mueti, dass sie mich in ihrer Gewalt hätten wegen dem Geld. Mueti sagte ich, dass es mir zeitweise nicht mehr viel bedeute, und dass es mich gar nicht verstehe. Dies löste einen Hysterie-Anfall aus, wie ich ihn selten gesehen habe. Mueti erklärte, wir seien von heute an für immer getrennt. Wieviel von diesem Gerede ernst zu nehmen war, weiss ich noch nicht. Eines aber ist sicher, nämlich dass die Kluft, die ich mit gutem Willen zu überbrücken hoffte, eine ungeahnte Tiefe angenommen hatte. Ob ich Mueti liebe? Eigentlich ist das ja eine müssige Frage; denn jedes Kind liebt seine Eltern, aber ich will und muss nun einmal frei sein! Das Beste wäre, ein auswärtiges Semester; aber das geht nicht vor der Anatomie. Wie ist es nur möglich, dass ich so ruhig von all dem Schweren sprechen kann? Ich möchte meine Eltern nicht enttäuschen, aber wie soll ich arbeiten können in einer solchen Atmosphäre? Vor allem dauert mich Vati. Er will ja sicher für mich das Beste. Hans hat mir noch einmal den Vorschlag gemacht, aufzuhören. Wenn ich überzeugt wäre, dass dadurch in unserer Familie eine grundlegende Änderung zum Guten eintreten würde, täte ich es. Aber es würde nicht lange dauern! Nun werden wohl noch zwei Tage Schweigen folgen zu Hause, dann verreisen Vati und Mueti – und ich werde allein sein! 

Ich möchte so gerne auf meinem geraden Weg vorwärts kommen!

Sonntag, 15. Juni 1947 

Hans hat mich geküsst! Es musste so kommen, denn die letzte Woche brachte uns so viel Neues. Es war eine einzige Urlaubswoche! Hans muss morgen in die O.S. einrücken. Ich möchte nicht sagen, dass wir die Abwesenheit meiner Eltern ausgenützt hätten, aber wir sahen uns doch öfter als sonst. Gestern Abend nun war der Patriaabend. Huguette wollte so gerne hingehen – und ich selbst hätte dieses Fest auch gerne noch einmal mitgemacht. Es sind doch damit so viele Erinnerungen an meine Jugend verbunden! Hans war nicht begeistert, dass ich kam, er musste doch als Rover helfen und durfte bis um 1 Uhr nicht tanzen. Ausserdem hatte er versprochen um 1 Uhr heimzugehen. So war es eine gequälte Sache für beide. Es fragten mich viele zum Tanzen, aber ich lehnte es ab. Wer hätte gedacht, dass ich imstande wäre zu so etwas? Huguette konnte zum Glück auch tanzen. Plötzlich fasste ich den Entschluss, mit Hans nach Hause zu gehen. Ich wusste, dass ich ihm damit eine grosse Freude machen konnte. Huguette liess ich in der Obhut von Buser zurück.

Vor unserer Haustür konnte ich einfach nicht mehr! Ich verlor den Verstand und liess mich von Hans in die Arme nehmen. Ich spürte, wie Hans sich nach mir sehnte, ich wusste, dass ich ihn sehr lieb habe. Es ist keine leidenschaftliche Liebe, aber sie ist schwer und ruhig. Ich weiss, dass Hans nun zum ersten Mal in seinem Leben von einem lieben Menschen Verständnis und Zärtlichkeit findet. Ich weiss, dass es ihm eine ganze trübe Jugend ersetzt. Hätte ich da anders handeln können? Er wird nun wieder 13 Wochen im Dienst sein, und ich will die letzten Tage als schöne Erinnerung behalten. Sie haben mir so viel gebracht! Erstens hatte ich eine Zeit lang volle Freiheit. Mit den Vorklinikern machten wir den Maibummel, und ich lernte, ein richtiges fröhliches Studentenfest mitzumachen. Man war jung und glücklich unter Kollegen und ich landete mit ihnen im Chikito!! 

Am letzten Samstag fuhr ich zu Mueti auf die Haltenegg und es wurden zwei gute Tage. 

Die letzte Woche wurde geprägt durch den Urlaub von Hans. Nun ist aber diese Zeit vorbei, und ich muss zu arbeiten beginnen. Ich freue mich, dass Mueti zurückkommt, das wird meine Gefühle und Gedanken wieder auf ernsthafte Dinge richten!! - Und doch möchte ich die letzte Woche nicht vermissen!! -

*

Sonntag, 30. Juni 1947 

Ich bin so glücklich und dankbar! Es geht sehr gut mit Mueti. Gestern kam Vati aus dem Bündnerland heim auf Besuch, und am Abend rief Hans an. Er fragte, ob er mich sehen könne, doch glaubte ich, es sei besser, ich blieb daheim, weil doch Vati nur für kurze Zeit hier war! Da geschah es, dass Mueti den Vorschlag machte, ich solle nur mit Hans ausgehen, ich sei ja die ganze Woche am Abend zu Hause geblieben. Wie viel schöner doch alles ist, wenn die Eltern uns Junge zu verstehen suchen! Ich bin Mueti so dankbar. Heute verlief der Sonntag sehr ruhig und als Hans sich verabschieden kam, fand er eine recht frohe Stimmung bei uns vor. 

Die letzte Woche hat mich wieder ein Hindernis überwinden lassen. Ich habe die erste Venenpunktion gemacht! Es ging gut; aber ein wenig schwarz vor den Augen ist es mir doch geworden. Lorly versicherte mir zwar nachher, sie habe gar nichts gespürt, so sicher hätte ich gestochen! Übrigens werde ich nun langsam sportlich. Ich schwimme jeden Tag in der Aare (was allerdings bei 37° C im Schatten keine Heldentat ist!!) und spiele neuerdings Tennis. Vachi hat mich in seinem Klub angemeldet. Morgen werde ich den Magenschlauch schlucken; das kann man ja mit gutem Willen auch zum Sport zählen!

Donnerstag, 31. Juli 1947 

Frau Tritten durfte endlich sterben. Ich habe mich ja schon lange darauf vorbereiten können, aber es ist so seltsam, jemanden, der die ganze Kindheit mit uns erlebte, plötzlich nicht mehr sehen und hören zu können. Wie mancher Sonntag wurde erst als vollständig empfunden, wenn man der guten Frau Tritten in der Sarepta einen Besuch gemacht hatte! Ich möchte Hanny gerne eine Hilfe anbieten, denn es muss für sie sehr schwer sein, so ganz ohne Familie und ohne befriedigenden Beruf dazustehen. Ich glaube aber, dass man seine Hilfe niemandem aufdrängen soll, sondern die Leute müssen nur wissen, dass man für sie bereit ist, wenn sie das Bedürfnis nach Trost haben. Seit zwei Wochen haben wir Ferien an der Uni. Ich habe Hans drei Wochen nicht gesehen. Es war eigentlich das erste Mal, dass ich diese Zeit als sehr lang empfand! Ich erlebte inzwischen allerhand. Ich war unter anderem auch an einen Ball beim ungarischen Handelsattaché eingeladen. Dort war ich so richtig dankbar, dass ich Hans habe! Wie ehrlich ist doch seine Liebe! Er kam letzten Freitag in den grossen Urlaub und am Samstagabend wanderten wir weit in die Sommerlandschaft hinaus. Es war unsäglich schön! Der Heuduft, der Mond und die Stille rings um uns… Ach, was sind wir doch für glückliche Menschenkinder! Es ist seltsam, dass ich bei seinem Kuss keine Erregung empfinde, ich fühle mich dann ganz einfach geborgen. Es bleibt aber auch kein Schuldgefühl zurück, und ich weiss, dass einmal, wenn alles zu Ende geht, ich nichts zu bereuen habe! Ich sollte arbeiten; aber bei dieser Hitze (39° C) im Schatten ist es nicht möglich. Morgen reise ich mit Mueti nach Menziken.

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Donnerstag, 21. August 1947 

Seit Sonntag habe ich noch keinen Brief von Hans erhalten, und das regt mich schon auf. Ja, ich bin schon so gewohnt, bei ihm im Vordergrund zu stehen, dass ich fast eifersüchtig bin auf den Dienst, der ihn so sehr in Anspruch nimmt. Doch ich will nicht so egoistisch sein. Letzten Sonntag waren wir sehr glücklich. Die kleine Françoise war wohl ebenso stolz auf ihren Onkel Hans wie ich! Er kam zum ersten Mal in Stiefeln. Er war aber sehr müde und hatte Fieber. Heute Nacht starten sie auf den 100 km-Marsch. Wenn es nur gut geht!! Übrigens arbeite ich viel zu wenig für meine Anatomie. Ich stricke einen Pullover, gehe baden, spiele Tennis und faulenze ganz bedenklich. Vorgestern war ich mit Rico im Kino und nachher im Casino. - Alles „senza emozione!“ Welcher Fortschritt. Ja, Hänschen hat viel erreicht bei mir! Am Sonntagabend überraschte ich ihn am Bahnhof. Ich glaube, es machte ihm auch ein wenig Freude, mich vor dieser strengen Woche noch einmal zu sehen. 

Zu Hause geht es ganz gut mit Mueti. Es wäre alles schön und recht, wenn nur Frau Steiger und Mueti einander etwas freundlicher begegnen würden!

Samstagabend, 23. August 1947 

Es kam wieder einmal anders, als wir glaubten: Hans ist im Krankenzimmer und wird diesen Urlaub dort verbringen. Ich werde ihn auch nächsten Samstag nicht sehen, er geht mit seinem Cousin auf den Hasliberg. Der 100 km-Marsch ist glücklich überstanden, aber die Anstrengung war eben doch zu gross für Hans. Er hat heute Abend angeläutet und mir versichert, es gehe ihm schon wieder ziemlich gut, aber er glaube, es sei besser, er schone seine Kräfte nun noch für den Endspurt. Heute morgen hat Huguette von Meggen telefoniert, und es hat mir so gut getan, ihre Stimme wieder einmal zu hören! Ich glaubte fast, Huguette habe mich etwas vergessen und besonders Mutti fand, es sei nicht mehr so anhänglich wie früher. Mueti ist eben immer sehr schnell beleidigt und jetzt zürnt es Bernheims ein wenig, weil sie mich noch nicht nach Meggen eingeladen haben. Ich selbst habe in dieser Beziehung eine glücklichere Natur: Ich lerne (allerdings langsam!) meine Person nicht immer in den Vordergrund stellen zu wollen. - Ja, und so gehe ich nun brav ins Bett; ich werde morgen eine fröhliche Laune haben, trotz allem! - und wahrscheinlich Hans einen langen Brief schreiben.

Mittwoch, 27. August 1947 

Eigentlich hätte ich gestern einschreiben sollen; ich glaube, die Stimmung wäre dann besser zum Ausdruck gekommen. Heute wird alles schon gemässigter tönen. Also, ich bin schrecklich enttäuscht! Der Aspirantenball, auf den ich mich schon so lange gefreut hatte, wird wohl für mich nicht stattfinden. D.h. ich werde nicht dabei sein! Von Hans habe ich noch keinen definitiven Bericht – und am Freitag verreisen wir ins Bündnerland zu Vati. Mueti wird es natürlich so einrichten, dass wir bis über das kritische Datum (6. Sept.) hinaus fortbleiben. Es gibt nur noch eine Möglichkeit, nämlich dass Hans morgen Abend anläutet, so dass ich dann Mueti klar die Einladung unterbreiten könnte. Wenn er nicht telefoniert – ja dann muss ich mir eben Mühe geben, die fröhliche Tochter zu spielen, die froh ist, dass sie auf Reisen gehen darf.

Sonntag, 28. September 1947 

Ich bin ein undankbares Geschöpf! Es ist so, dass ich immer meine Sorgen schriftlich niederlege, aber meine guten Augenblicke nehme ich wie sie kommen und lasse sie vorübergehen, ohne dass ich ihre Stimmung schriftlich festzuhalten versuche.  

Die Bündnerreise war wunderbar! Hanny begleitete uns, und Vati hatte uns in einem richtigen Hotel angemeldet! Wir besuchten das Averser-Tal und genossen so recht die goldige Herbststimmung in diesem Bergtal. Ich erlebte wieder einmal das herrliche „Müdesein“ nach einer schönen Tour“ mit Vati…., ich erlebte auch das traurige Ankommen an einem Bahnhof mit dichtem Nebel und ohne ein Zimmer bestellt zu haben, nämlich in Göschenen auf der Heimfahrt, Mueti und ich meisterten aber die Lage mit guter Laune – und ein Telefon vom Bahnhof aus nach Bern mit Hans richtete mich wieder ganz auf. Die Herren hatten keinen Aspirantenball, so dass ich also nicht traurig zu sein brauchte. 

Am 13. September wurde Hans entlassen und kam als frischgebackener Leutnant nach Hause. Ob ich stolz war? Ach Gott, ich habe mich ja schon so lange darauf gefreut! Allerdings konnten wir an jenem Samstag nicht tanzen, weil es eine Woche vor dem Eidg. Bettag war, aber glücklich waren wir doch.  

Es folgte dann ein Besuch von Tante Erna, die lud Hans und mich zu einem Abendschoppen ein – und an einem Abend landete die ganze Familie im Kursaal. Am Montagnachmittag war ich bei strahlendem Herbstwetter mit Hans auf dem Gurten und am Dienstag verreiste er nach Frankreich für 10 Tage (von wo ich bis heute übrigens noch keine Post erhielt!)  

Vorgestern kam Huguette für einen Tag auf Besuch. Ach, hätte ich sie doch oft näher bei mir! Jetzt gerade bin ich mit Lotty im Kino (A stolen life) gewesen. Büsu steht mitten im Anatom. Schluss des Tatsachenberichtes …

*

Freitag, 10. Oktober 1947 

Büsu ist sehr gut durchs Anatom gekommen! Zuri ebenfalls – und nun muss ich beichten. Also der gestrige Tag hat mir viel Neues gebracht. Am Morgen begleitete mich Hans mit dem Velo nach Mühlenen, wo ich Bergers etwas bringen musste. Wir hatten uns schon lange gewünscht, wieder einmal froh beisammen zu sein. Wir machten Halt an einer Stelle, wo man weit über das Land hinausschauen kann, wo man den Thunersee und die Alpen im Herbstglanz geniessen konnte. Wir waren so zusammen, wie ich es mir immer gewünscht hatte, nämlich ruhig und ohne Scheu voreinander. Wir waren uns sehr nahe. Wir hielten uns bei der Hand und ergaben ein Bild von zwei glücklichen jungen Menschen. 

Am Nachmittag fuhr Frau B. mit uns, d.h. Mueti, Büsu und mir, in die La-Sange. Büsu und ich sassen hinten im Wagen, und auf dem Heimweg hat mich mein „Bruder“ recht zärtlich in die Arme genommen. Das schrieb ich natürlich der Wirkung des gut gelungenen Anatoms zu, und so beunruhigte es mich weiter nicht. Am Abend kamen Büsu und Zuri zu uns, um ihre Examens-Tröpfchen bei uns zu trinken. Um 23. Uhr kamen sie dann auf die Idee, noch mit mir in die Stadt zu gehen und zwar ins „Chikito“. So, und nun kommt endlich das, was mich heute so beschäftigt hat: Ich glaube, ich bin gar nicht so brav, wie ich es bis jetzt gemeint habe! Zuri tanzte wunderbar und ich tanzte mit ihm wie ich es bis jetzt noch nie getan habe. Ich vergass, dass es noch andere Leute um uns herum hatte, ich fügte mich seinem leisesten Druck, ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust – und schämte mich nicht! Ja, ich dachte nicht einmal mehr an Hans. - Und doch bin ich nicht verliebt in Zuri, warum konnte ich denn doch so sein mit ihm? Ich habe Angst. Ich werde morgen mit Hans darüber reden; aber er wird meine Handlungsweise nicht verstehen. Da predige ich ihm immer, er müsse sich Mühe geben und sich nicht an das Problem „Frau“ zu verlieren, ich rede davon, wie man auf dem geraden Weg bleiben muss – und dann genügt eine Stimmung und 2 Gläser Wein, um mich aus dem Geleise zu werfen. Ich kann mich ja entschuldigen und sagen, dass die meisten Mädchen meine Gewissensbisse in dieser Hinsicht nicht verstehen würden, weil es für sie selbstverständlich ist, aber ich möchte nicht jene Mentalität beginnen. Ganz langsam aber merke ich, dass Treue gar nicht so leicht ist, wie ich glaubte. 

Nebenbei: Ich habe eine neue Frisur – und auf dem Scheitel schon etliche graue Haare…. War es eigentlich Goethe, der die Worte von den „zwei Seelen in der Brust“ prägte? Mein Gott, der muss noch glücklich gewesen sein, nur scheint es oft, ich hätte eine ganze Anzahl von sich widersprechenden Seelchen in mir!

Dienstag, 14. Oktober 1947 

Es ist wohl gut, dass ich erst jetzt über den vergangenen Samstag und Sonntag berichtete! Hans nahm meine Beichte ohne viel zu sagen auf. Als ich wahrheitsgetreu beendet hatte, sagte er nur, es wäre gut. Er habe alles bereits gewusst, da ein Dienstkamerad von ihm an jenem Abend auch im Chikito gewesen sei.  

Am Samstagabend wollten wir zusammen ins Bellevue gehen, aber die Stimmung war bei uns beiden gar nicht geeignet dazu. Erstens hatte ich zu Hause wieder Streit wegen Hans und zweitens plagte mich immer noch der Donnerstag. So wanderten wir der Aare entlang bis weit gegen das Elektrizitätswerk Felsenau. Hans erklärte mir, dass er arbeiten möchte, aber dazu brauche er Ruhe und die hoffte er, bei mir zu finden. Mein Benehmen am Donnerstag habe ihm sehr weh getan. Er machte mir nicht Vorwürfe; aber ich will mir doch Mühe geben, auf meiner bisherigen Bahn zu bleiben. Wir versöhnten uns, und dass er mich küsste, gehört wohl dazu. 

Mueti sprach den ganzen Sonntag nicht mit mir. Heute kam zum Glück Frl. Bühler, und Hans und ich mussten für sie eine Kommission machen. Ich muss gestehen, die Stunden heute Nachmittag haben mir besser gefallen als der Samstagabend. Wir feierten nämlich sein wieder gefundenes Portemonnaie mit 10-er Stückli, die wir auf einer Mauer am Rand der Aare verspeisten. Sonne, Wasser und schmutzige, fröhliche Kinder, die um uns herum spielten; unser „Freiluftrestaurant“ war nämlich in der Matte unten. Zuri ist seit letztem Donnerstag nie mehr gekommen. Peut-ètre c‘est très bien ….

Sonntag, 26. Oktober 1947 

Die Herbststürme haben begonnen. Das Wetter ist fast ohne Regen zur sehr kalten Wintertemperatur umgeschlagen. 

Das Semester hat begonnen und bis zum Anatom sind es nur noch 16 Wochen. Noch nie ist mir die Umstellung aus dem häuslichen Leben mit seinem geruhsamen Alltag in die Anatomie so schwer geworden. Es gilt jetzt wieder Abschied zu nehmen von vielen kleinen alltäglichen Begebenheiten, die uns in der Ferienzeit lieb geworden sind. Ich muss es mir immer wieder sagen, dass ich nun Medizinstudentin bin und dass der Ernst des Lebens wirklich begonnen hat!

Gestern Abend löste ich ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen ein. Ich ging mit Jean Louis Perrin aus. Es ist wohl das letzte Mal gewesen, denn er ist ja nun verlobt. Wir gingen ins Bellevue, und da traf ich so viele Bekannte aus der Gymerzeit. Alle Schwarzweissen waren dort als junge Leutnants (Jean-Louis war auch in Uniform). Wie man doch einen Bekanntenkreis aus der Jugendzeit mit besonderen Augen betrachtet! Ach, es war auch eine schöne Zeit, und jetzt, aus ein wenig Distanz, erscheint sie natürlich noch viel sorgloser…. 

Hans war natürlich wieder sehr traurig, dass ich nicht mit ihm ausgehen konnte. Er war vorhin schnell hier, und ich habe ihn noch ein paar Schritte begleitet. Ich musste einfach noch ein paar Minuten bei ihm sein.

Ich sollte nun arbeiten, arbeiten … und mich durch nichts mehr ablenken lassen!

Sonntag, 9. November 1947 

Ich habe soeben meine Tagebuchnotizen nachgelesen und daraus gesehen, dass seit einem Jahr die Streite in unserer Familie immer aus demselben Grund losgehen. Was letzte Woche geschehen ist, wird allerdings schwere innerliche Folgen haben. Die Atmosphäre war nach und nach geradezu unerträglich geworden durch das ewige Misstrauen von Mueti mir gegenüber. Tage, an denen man nichts mit mir sprach, wechselten ab mit solchen, wo man mir alles kaufte, was ich gerne hätte. An einem Tag konnte Mueti Hans ganze Familiengeschichten erzählen und am nächsten Tag war es wütend, wenn ich am Abend ein paar Schritte mit ihm spazieren ging. Ich gab mir sehr Mühe, das Gleichgewicht zu behalten, besonders weil ich es nun ausserordentlich streng habe an der Uni. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht mehr viel auszugehen und hart zu arbeiten.

Am Samstag vor einer Woche fanden meine Eltern, es sei nun günstig, mir wieder (und wie mein Vater behauptete, zum letzten Mal!) das Ultimatum zu stellen: „Entweder Hans oder das Studium“. Vati erklärte, er bezahle mir das Semester nicht mehr, denn ich werde ja später doch diesen Juristen heiraten!! Vor dieser Drohung musste ich ja endlich kapitulieren. Ich erzählte es Hans und bat ihn, wir wollten uns trennen (solche Worte lassen sich viel leichter niederschreiben, als aussprechen!) Wir irrten drei Stunden lang wie zwei verlorene Kinder im Bremgartenwald umher und suchten die Worte zu verstehen. Am Sonntag war es mit meiner Kraft zu Ende. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Man fand natürlich zu Hause angebracht, mir zu sagen, ich sollte es nun einsehen, wie tief meine Gefühle schon geworden seien, dass eine solche Reaktion eingetreten sei. Sie vergassen dabei nur ganz, dass dieser Zusammenbruch von ihnen ganz systematisch aufgebaut worden war. Durch ihr ganzes Verhalten seit Wochen hatten sie mich so weit gebracht, dass es nicht mehr viel brauchte bis zur Kapitulation. Ich wurde nun richtig krank. Vater pflegte mich; denn Muetis Anblick regte mich so auf, dass ich mich wieder viel schwächer fühlte. Ich weinte einen Tag und eine Nacht und meine Nerven schmerzten mich beim leisesten Geräusch. Es regte mich auf, zu hören, wie Mueti eine Türe schloss, seine gehetzte Art zu arbeiten, machte mich fast verrückt. Ja, ich war wirklich sehr krank. 

Am Montagnachmittag musste ich endlich mit jemandem reden – und ich bat, dass Köbi zu mir kommen dürfe. 

Ich musste nicht viel sagen. Er verstand mich wieder und seine Nähe brachte mir Ruhe. Er sprach dann lange mit Vati und er versicherte mir, es werde alles gut kommen. (Bis heute aber hat mein Vater noch kein Wort mit mir über das brennendste Thema gesprochen). Am Dienstag erschien Frl. Dr. Hofstetter und auch sie versprach, mir zu helfen. 

Am Mittwoch schleppte ich mich an die Uni, weil ich unbedingt aus dem Milieu zu Hause entfliehen wollte. Ja, und dann packte es mich von neuem. Darmgrippe und Bronchitis. Heute bin ich zum ersten Mal wieder an der frischen Luft gewesen. Meine Eltern waren sehr bemüht, mich wieder auf die Beine zu bringen; aber wie gesagt, über das wie es nun weiter gehen soll, hat bis jetzt noch niemand mit mir gesprochen. Morgen starte ich wieder und ich hoffe, ich werde bald genug Kraft haben, den besten Weg zu finden.

Sonntag, 16. November 1947 

Es war ein schwerer Tag heute. Es ist als hätte ich ein Stück von mir selbst abgelegt und weitergegeben. Ich aber stand daneben und lernte, wie man fröhlich zuschaut, wenn jemand anderes in unsere Fussstapfen tritt. Büsu hat Lotty an den Uniball eingeladen und Lotty freut sich darauf wie eben ein junges Mädchen sich freut auf den ersten Ball! Wie war das doch? Mein Gott, dieses Gefühl steigt aus der Erinnerung auf wie ein herrlich frischer Duft. 

Lotty wird ein traumhaft schönes Abendkleid tragen – es war für mich bestimmt, aber ich brauche es ja nicht – und so half ich heute Lotty sich schön zu machen, so schön, dass Büsu seine Freude haben wird! Mein Gott, und warum weine ich nun doch? Ist denn das so schwer, an einem Ball nicht dabei zu sein? Ach, wenn mein Stolz sich wieder regt, werde ich zu mir sagen: „Du, wie war es doch gestern, wie war der gestohlene Nachmittag auf dem Gurten mit Hans? Denk an den brausenden Wind auf der Ruine, denk an das Gefühl in einem Sturm von heran wirbelnden Blättern zu stehen weit weg von allen Menschen, nur mit Hans – und dann frag Dich, ob es nicht einen Ball wert ist in engen Räumen, in künstlichem Licht und im Blickfeld von Leuten, die dich nichts angehen? 

Die Arbeit an der Uni ist sehr hart, und man beginnt langsam immer einsamer zu werden. Es gibt Augenblicke, in denen ich die Anatomie hasse wie einen Feind, aber er ist stärker als ich und so gehorche ich. Dann wieder bin ich oft glücklich, wenn am Abend die Uhr 12 Uhr schlägt und ich so gearbeitet habe, dass ich das Vorrücken der Zeit gar nicht gemerkt habe. Ach, und oft stürmt es in mir, und ich frage mich, warum ich all das auf mich nehme, warum ich es mir so schwer mache. Ist es nur Stolz? Denke ich denn überhaupt noch daran, dass ich all das lerne, um später helfen zu können? Oh nein, ich denke nur an das nächste Examen und dass ich dann von zu Hause weggehen kann, dass ich dann beginnen werde – ich selbst zu sein.

Donnerstag, 20. November 1947 

Die Stimmungen wechseln bei mir sehr oft in letzter Zeit. Zu Hause herrscht eine Friedhofsruhe, wie Hans trefflich bemerkte; aber ich habe mich schon ziemlich daran gewöhnt. Man macht mir mein Zimmer, gibt mir gut zu essen (- und ich habe zum Glück wieder einen Riesenappetit!), man sagt sich Grüss Gott und adieu, sonst aber scheint man sich nicht um mich zu kümmern. Liberté absolue? Allerdings habe ich es mir schon etwas anders vorgestellt. Hans macht mir nun sogar Vorwürfe, dass ich diesen Zustand so ruhig hinnehme. 

Mit der Arbeit ist es so, wie wenn man mir einen Suppenlöffel in die Hand gedrückt hätte mit dem Befehl, den Genfersee auszuschöpfen. Ich bin auf das Resultat gespannt. Im Seziersaal geht es gar nicht gut. Ich habe einfach zu wenig Geduld und Fingerspitzengefühl. Hintzsche war gar nicht begeistert heute, aber er fand es dann doch nötig, uns den Rat zu geben, wir sollten ja das Examen nicht verschieben! Bis jetzt hoffe ich, dass es nicht nötig wird. Hans muss nächsten Sommer noch nicht abverdienen, und so will er versuchen, das Juristenexamen schon im Herbst zu machen. Mir gefällt sein Eifer, und ich bin überzeugt, dass es ihm gelingt. Am Montag waren wir im Konzert. (Arthur Schneiderhahn spielte das Brahmsviolinkonzert). Nach der Pause entschlossen wir uns, dem Kasino den Rücken zu kehren und dafür die frei werdende Zeit im Du-Théâtre zu verbringen. Es wurde ein sehr froher Abschluss. Köbi, der auch dabei war, hat mich nun auch wieder einmal in einer „läbigeren“ Situation gesehen, als die beiden letzten Male, wenn er als rettender Engel erscheinen musste!

Von Huguette habe ich einen lieben Brief erhalten.

Samstag, 6. Dezember 1947 

Der gefürchtete Samstagabend des Uniballs ist nun endlich da – und nach einigen aufgeregten Stunden ist wieder wohltuende Ruhe um mich. Jetzt macht es mir schon nichts mehr, dass ich nicht dabei bin, aber die letzten Tage waren hart. Auf dem Seziersaal sprachen alle nur noch von diesem Fest, und ich wäre ja so gerne hingegangen. Lotty konnte vor Aufregung fast nicht mehr stillsitzen – und es sah auch wirklich sehr hübsch aus. Mein Schreibtisch bot ein seltsames Bild: Auf der einen Seite türmten sich Anatomiebücher, in der Mitte thronte der Totenschädel und davor hatte ich alle Toilettengegenstände aufgestellt, die eine junge Dame braucht, um an den Ball zu gehen. Lotty fürchtete sich aber vor dem Schädel, der mit seinen hohlen Augen gespenstisch neben dem Spiegel hervorblickte. So drehte ich halt meinen lieben Gefährten gegen die Wand. Nun steht in meinem Zimmer noch der leicht erregende Duft von Parfum, der Frisiermantel liegt über dem Physiologiebuch, eine Schuhschachtel steht auf dem Ofen – und die jungen Leute wiegen sich wohl schon im Tanz. 

Ich war letzten Samstag mit Hans an einem Roverfest. Ich stellte mich sehr glücklich, war lieb mit Hans – und fühlte mich sehr einsam. Sollte ich wirklich nicht mehr dorthin gehören? Ich habe auf dem Heimweg mit Hans Zukunftsbilder gemalt. Er ist in letzter Zeit so vernünftig. Gehöre ich wohl doch zu ihm? 

Ich mag heute Abend nicht arbeiten. Was soll ich mir nur über „Nierentätigkeit“ den Kopf zerbrechen, wenn die andern tanzen …? Morgen mache ich mit Hans einen Spaziergang.

Freitag, 12. Dezember 1947 

Es ist komisch, aber man kann wirklich vor zu viel Arbeit nicht mehr wissen, was man eigentlich tun soll! Ich weiss überall ein bisschen etwas, aber nirgends genug, um ein gutes Gewissen zu haben. Übrigens ist es mir heute Abend wieder gar nicht ums Arbeiten. Wir hatten gestern Abend Klassenzusammenkunft. Mich hat der Abend sehr gefreut. Hans war sehr lieb. Aber ich habe trotzdem Sorgen um ihn. Er hat eben doch das Blut der Steiger in sich. Er kämpft ja dagegen an, und solange er an mich glaubt, wird er schon auf dem guten Weg bleiben! Er holte mich heute nach der Anatomie ab, und wir tranken dann ganz gemütlich in der Stadt Kaffee. Ach, ich muss ihn halt lieb haben, ob ich will oder nicht! Nur eben, es lenkt mich doch ab, obschon ich mich wehre dagegen…...

Donnerstag, 18. Dezember 1947 

Gestern waren es 6 Jahre seit Gustis Tod. Am Morgen bin ich vor der Anatomie mit Hans auf dem Friedhof gewesen. Die Gräber sind alle verschneit, und die Winterstille war gross und tief. 

Am Abend war Vorklinikerweihnacht. Ach und wir gehörten schon zu den „Grossen“, die hoffentlich nächstes Jahr nicht mehr dabei sind. 

Es ist doch seltsam: Wenn ich mir etwas ganz sehnlich wünsche, kommt es sicher einmal dazu; nur eben oft zu spät. So hätte ich letztes Jahr vieles gegeben, wenn mich Peter heim begleitet hätte. Jetzt sass er den ganzen Abend neben mir und auf dem Heimweg spürte ich erst recht, dass er „Feuer fing“. Nun, zum Glück schneite es, so dass er sich wohl rasch abkühlte. Heute in der Vorlesung sass er zwar wieder neben mir und vergnügte sich, meinen Namen auf eine Schachtel Farbstifte zu schreiben. Eigentlich ist es ganz nett, wieder einmal eine Eroberung gemacht zu haben. (Ich bin ein schlechter Kerl, das zu schreiben!) Mutti hat heute seinen so lang ersehnten Pelzmantel erhalten.

Sonntag, 21. Dezember 1947 

Gestern war klar blauer Himmel und die Stadt strahlte in ihrem Winterkleid. Hans und ich machten uns auf den Weg nach Vechigen. Wir wollten die Weihnachtsgeschenke bringen. Der tiefverschneite Wald nahm uns auf und ringsumher war nur die grosse Stille. Hie und da fiel die Last von einer Tanne; der Schnee, den die Sonne aufgeweicht hatte. In mir war Friede. Hans sah mich an und fragte, ob ich das Blut auch so ungestüm rauschen höre. Nein, das fühlte ich nicht; aber ich wusste, wie Hans wieder seine Ruhe finden konnte. Ich nahm seinen Kopf in beide Hände und bot ihm, was ein junger Mensch braucht: ein wenig Zärtlichkeit. - Und ich wusste, dass ich das Richtige tat! Wir stapften durch hohen Schnee und meine Füsse wurden nass und kalt, aber der Himmel strahlte und das Bauerndorf leuchtete in der Sonne. Wir wurden herzlich empfangen bei unseren Bauern und nach einem reichlichen Z‘Vieri mussten wir ans Heimgehen denken. Was nützt es zu sagen: Der Tag ging viel zu schnell vorbei? Er war ja so voll Licht und Glücklichsein! Am Abend kehrten wir als müde strahlende Menschen zurück. 

Morgen beginne ich zu arbeiten. Ich möchte so gerne, dass es mir gelingt im Frühling! Ich bedaure nur, dass die Worte immer zu arm sind, um das auszudrücken, was man fühlte. Und ich bedaure auch, dass ich nicht einmal dem Tagebuch alles anvertraue, was ich denke. Habe ich eigentlich Angst vor mir selber? Oder ist es nur die Scheu, Gefühle zu analysieren, die man nicht genau versteht? Ach, man versteht ja so vieles nicht!

Sonntag, 8. Februar 1948

Was soll ich Dir sagen
- mein Mut ist so müd...
Die Tropfen am Fenster,
das traurige Lied...
Ein Herz ohne Hoffnungen
Die Welt voller Hass.

Was nützen die Blumen,
die ängstlich noch blühn?
Bald werden die Winde
ins Dunkel sie zieh'n.

Die Angst, sie umschleicht uns
wie modernder Duft.
Geliebter, ach kennst Du
die Stimme, die ruft?

Ja, ich fürchte mich aus tiefster Seele, und ich weiss nicht warum, und ich weiss nicht vor was?! Ich bin müde und mutlos, und mein Geburtstagstisch scheint nicht zu mir zu gehören. Ich bin leer und sehne mich doch nach grenzenloser Fülle. Ich liebe, aber ich liebe auf eine beängstigende Art: ich bin nicht gebend. - Ich horche … ich suche, und ich verirre mich. Ich möchte bergen und doch geborgen sein. Ich könnte die Stunden vergessen, wenn ich in seinen Armen bin – und doch ist alles ohne Leidenschaft. Ich bin in den vertrautesten Augenblicken doch immer allein; und doch möchte ich gehen, um immer bei ihm zu sein!! Mueti ist nun sehr krank. Mein Examen beginnt in zwei Wochen. Bis gestern stand immer noch der Ball mit Hans als Lichtblick davor – nun ist es vorbei und ich weiss nicht, woher ich die Kraft nehmen muss, um durchzuhalten. Mein Gott, warum hast Du die Welt so schlecht gemacht? Wo ich mich hinwende, ist Leid und die Wege sind dunkel.

 




(6) Redlap House.

Redlap House.

 Redlap House“

E n g l a n d

Dartmouth

Samstag, 31. Juli 1948 

Ein ganzes Kapitel habe ich gelebt, ohne etwas einzuschreiben! Mein gefürchtetes Examen ist vorbei und schon erscheint es aus der Ferne, als ob es gar nicht so schlimm gewesen wäre. Peter hat mir geholfen, soviel er konnte und ich habe an ihm einen guten Kameraden gewonnen. Drei Monate studierte ich dann in Genf und dort erlebte ich manche schwere Stunden. Ich fing an zu zweifeln an meinem Beruf, ich habe Angst vor der Verantwortung. Familie Fischer, bei der ich mein Zimmer hatte, war wie eine schützende Heimat für mich. Ich konnte ihnen meine Sorgen anvertrauen, besser als meinen Eltern. In Genf hatte ich wohl den glücklichsten Tag mit Hans. Er durfte bei uns wohnen, und einmal wenigstens durften wir uns geborgen fühlen! Wir erlebten zusammen zwei goldene Sommertage, und auf dem See liess sich träumen, dass einmal unser Leben gemeinsam sehr schön sein könnte. So sehr glaubte ich damals an die Liebe von Hans. Das war vor sechs Wochen und inzwischen ist alles anders geworden. Hans ist müde geworden von meiner Liebe, und er hat die Kraft nicht, um mich zu kämpfen. Er hat mich aus seinem Leben gewiesen von einem Tag auf den andern. Er will mir meine Ruhe wiedergeben – und er vergisst, dass er mich heimatlos macht. Meinen Eltern bin ich fremd geworden durch den Trotz, den ich ihnen entgegenbrachte. Zu Hans gehöre ich auch nicht mehr. Mir ist das noch so fremd und unfassbar! Hier ist es so unsäglich schön, dass ich meine Sorgen nur wie im Traum fühle. Der Heidedunst liegt über dem Park und der Meerwind verfängt sich rauschend in den alten Bäumen. Es riecht nach tausend Blumen, und die grosse Ruhe wiegt den Kummer ein.

Dartmouth, Donnerstag, 5. August 1948 

Ich habe von Hans einen Brief erhalten. Er klagt mich an, ich sei nicht tapfer gewesen. Man habe mir jede Chance gegeben, Reisen, Studien auswärts etc. und jedes Mal sei ich gleich unselbständig zurückgekommen. - Vielleicht hat er recht; aber er hat mir eben auch nicht helfen können. Vielleicht hat auch mein Englandaufenthalt keinen Erfolg, weil ich hier viel zu sehr verwöhnt werde. Gestern war ich den ganzen Tag mit unserer Yacht auf dem Meer, und ich durfte segeln lernen. Heute fuhr Mrs. Mitchell und Phillida mit mir per Auto nach Torquay, um Einkäufe zu machen. Wir assen im Grand-Hotel in Torquay zu Mittag. Ich gewöhne mich viel zu schnell an dieses grossartige Leben. Von zu Hause habe ich keinen Bericht. Aimée hat mir einen lieben Brief geschrieben. Auch es hat kapituliert und seinen Eltern nachgegeben. Warum haben wir gar keinen eigenen Willen?

*

Montag, 9. August 1948 

Am Abend, wenn das Meer im Mondschein durch die Bäume schimmert, dann sehne ich mich nach Hans. Obschon ich ihm geschrieben habe, er soll mir nicht schreiben, solange ich in England sei, schaue ich jeden Morgen, ob kein Brief von ihm da sei. Nach meinen Eltern habe ich kein Heimweh. Seit drei Tagen haben wir schlechtes Wetter und das Strohdach rinnt…. Der Dachdecker „Mr. Ticky Whisker“ arbeitet, was er kann und morgen rückt der Rest seiner Familie (9 Kinder!) an, um hier zu kampieren.

Donnerstag, 12. August 1948  

Ich war gerade im Begriff, etwas Ernsthaftes in mein Tagebuch zu schreiben, als Phillida mich stürmisch aus dem Bett holte und erklärte, wir wollen Musik machen. Und was für Musik. Tamburin, Triangel, Gong, Klavier und Gesang, kurz wir taten richtig ausgelassen. Mr. und Mrs. halfen kräftig mit und der Mond glänzte dazu freundlich durch die Wolken. Morgen wollen wir eine Maskerade starten. 

Den ganzen Nachmittag lag ich im Liegestuhl an der Sonne. Gestern erhielt ich einen Brief von Vati, in dem er mir mitteilt, dass Muetis Gesundheitszustand gar nicht gut sei. Auch bittet er mich, doch endlich mit Hans Schluss zu machen. Nun, dieser Wunsch ist ja bereits erfüllt. 


Freitag, 13. August 1948 

Dem Tag nach: Freitag, 13.!! hätte es schlecht gehen sollen. Es begann aber schon mit Sonnenschein im Fenster und dann erhielt ich einen Brief von Luc Kaufmann, was ich mir eigentlich schon lange gewünscht habe. Er scheint das Genfer Musizieren noch nicht vergessen zu haben. Am Nachmittag schien die Sonne und wir genossen die Bucht und den Strand. Ich fühle mich jeden Tag glücklicher hier.



(7) Lilly im Garten vom Redlap House.

Lilly im Garten vom Redlap House.

  

Samstag, 14. August 1948 

Ein strahlender Tag. Am Morgen half ich Madame in der Küche und am Nachmittag lag ich zwei Stunden an der Sonne. Zuerst war ich ganz allein an der Bucht, dann kamen die kleinen Lambeth‘s Kinder mit Rob. Am Abend waren wir bei ihnen eingeladen zu einer Musiksoirée. Ein prächtiger Flügel in einem weiten hellen Raum. Blumen und nette Leute. Wie schnell man doch mit Musik die Herzen öffnen kann! Rob ist ein ellenlanger, rothaariger Engländer mit einem Schnäuzchen; aber er spielt ganz gut Klavier und ist nett.

Sonntag, 15. August 1948 

Auch die herrlichste Umgebung macht, wie es scheint, manchmal Langeweile. Es war so ein Sonntag mit Sonne und Wind; aber nach dem Mittagessen im Castle begab sich jeder auf sein Zimmer und es herrschte Stille. Ich war zuerst lange im Garten, dann schlief ich, und nach dem Tee übte ich Chopin-Etuden. Die Abendsonne glitzerte in den Spinnennetzen und ein Vogel jubilierte vor dem Fenster. „In mir klingt ein Lied...

Montag, 16. August 1948 

Die Möven wachen auf, getäuscht von einer glitzernden Helle und wir stehen staunend vor dem Licht. Der Mond ist aufgegangen und zwischen den dunklen Bäumen liegt eine goldene Strasse auf dem Meer. Ein Duften und ein leises Rauschen, ein Klang und Unendlichkeit. Man würde wohl kaum ertragen können, diese Stimmung mit einem Geliebtem zu erleben; denn zuviel Wunderbares erträgt die Menschenseele nicht….

Mittwoch, 18. August 1948 

Armer Mr. Mitchell! Er liebt Musik nicht – und nun tönt den ganzen Tag entweder Gesang aus dem Salon oder Klavier aus dem Rittersaal! Mrs. Mitchell lebt ganz auf dabei. Heute habe ich überhaupt fast nichts anderes getan als Klavier gespielt. Ich hatte Heimweh nach Hans. Es müsste so schön sein, ihm von meinen Eindrücken und Gedanken hier zu erzählen. Es ist eine traurige Sache, wenn man etwas Schönes nur für sich selber erlebt!!

Freitag, 20. August 1948 

Gestern kamen Lambeth‘s zum Nachtessen. Wir musizierten; aber die Stimmung war nicht gerade gut zum Spielen. Es war allen mehr ums Reden zu Mute. Heute ist Phillida zurückgekehrt und wir haben Besuch. Mrs. MacDonald eine Cousine von Mr. Mitchell. Sie kommt aus Amerika.

Samstag, 29. August 1948 

Die Zeit vergeht so schnell! Ich bin hier jeden Tag glücklicher. Letzte Woche hatte ich einmal einen Rappel: so eine Selbstmärtyrerstimmung und eine Art wie sie Mueti oft hat. Ich versuchte möglichst viel zu arbeiten mit einer ernsten Miene. Das muss für die andern nicht nett sein! Nun, gottlob war ich dann vernünftig genug, mich wieder aufzufangen. Am Donnerstag begannen die Segelregatten und unser kleines Boot gewann den ersten Preis. Die grosse Yacht hatte kein Glück. Mrs. Mitchell verfolgte mit Feldstecher und Teleskop bewaffnet die Boote. Seit drei Tagen haben wir strahlendes Wetter. Gestern Abend fuhren wir nach Dartmouth, um das Feuerwerk zu sehen und nachher kam Col. Mitchell mit Phillida, July u. Early und mir auf die Messe, so eine Art Schützenmatte. Es ist zum ersten Mal, dass ich all die Sachen mitmachte. Ich war auf dem Riesenrad, auf der Geisterbahn in den tanzenden Sesseln etc. todmüde und „sturm“ fuhren wir um 23 Uhr heim. Ich habe mich gefreut wie ein Kind.

Heute war ich den ganzen Nachmittag am Strand und baute Sandhäuser mit July und Early. Letzte Woche erhielt ich einen sehr lieben Brief von Köbi. Er betrachtet es als gut, dass ich mich von Hans losgesagt habe. 

Hier in dieser Umgebung habe ich ganz ruhig über Hans und mich nachgedacht, und ich fand, dass wohl nicht alles war, wie es sein sollte. Wenn ich jetzt Heimweh habe nach Hans, so ist es mehr ein Heimweh nach dem Wesen, das alle meine Fehler kannte, das so viel mit mir erlebt hat in all den Jahren, dass es ein Stück meines Lebens geworden ist, als nach den Zärtlichkeiten, die in der letzten Zeit das grösste Bedürfnis für Hans waren. Wir sind wohl beide geschaffen, einander gute Kameraden zu sein. Ich hoffe, dass es mir möglich sein wird, den rechten Ton zu finden, wenn ich zurückkehre!

*  

Brief von Rico:

Bern, 3. September 1948

Liebes Lilly,

Herzlichen Dank für Deinen Brief, der mich natürlich alles andere als gelangweilt hat. So sehr glaube ich nun dennoch nicht von mir selber eingenommen zu sein, dass mich die Schwierigkeiten und Nöte der Anderen – besonders, wenn es so alte Freunde sind – nicht berühren und mit Teilnahme erfüllen.

Doch bevor ich auf Deinen Brief eingehe, will ich mich noch für zwei Dinge bei Dir entschuldigen. Erstens, dass ich mit der Maschine schreibe. Ich gedenke den Brief per Luftpost zu schicken, und da sollte er nicht allzu dick werden. Du weisst ja, wieviel Papier meine grosse Handschrift beansprucht.

Überdies wäre es wohl möglich, dass mir im Verlaufe des Schreibens noch viel in den Sinn kommt, so dass auch auf diese Weise die Anzahl der Blätter genügen dürfte – das weiss ich ja noch nicht so genau.

Zweitens entschuldige ich mich dafür, dass ich Dir erst jetzt antworte. Dein Brief hat mich gerührt (bitte fasse das Wort nicht in seinem kitschig- sentimentalen Sinne auf!) und ich beabsichtigte, Dir noch am selben Tage zurückzuschreiben. Doch erstens kommt es anders…. Ich war damals (und bis vorgestern) mit einer ziemlich dringenden Arbeit beschäftigt, und so habe ich Dich halt doch um fast eine Woche „zurückgestellt“.

Und noch etwas: speziellen Dank sage ich Dir für das Blümlein, das Du so poetisch in Deinen Brief gesteckt hast. Was soll es bedeuten? Du weisst ja, Botanik ist eine meiner vielen schwachen Seiten; aber ich habe den leisen Verdacht, es könne sich bei diesem Heideblümchen um eine Erika handeln. Ist dem wirklich so?

Und nun zu ernsteren Dingen: zu Deinem Brief und seinen Problemen. Ich habe wirklich Dein Mueti in einem Zustand getroffen, der viel zu wünschen übrig liess. Und aus einigen Andeutungen konnte ich auch schliessen, dass Du ein klein wenig mitschuldig bist daran. Nun hat mir Dein Brief erst recht die Augen geöffnet und gezeigt, was die Spannungen sind zwischen euch beiden. Aber sonderbar, ich, der ich mich selber immer gegen Zwang und Widerspruch so heftig auflehne, der ich mich doch gemäss meiner eigenen Natur eher auf Deine Seite stellen sollte, habe Deine Äusserungen ziemlich kritisch aufgenommen. Es ist ja sehr unpsychologisch von mir, Dir dies gerade zu Beginn an den Kopf zu werfen und so das scheue Reh noch weiter zu erschrecken. Aber erstens bin ich (noch?) kein Psychiater, und zweitens sträube ich mich dagegen, in Dir einen Kindskopf zu sehen, der einem offenen Wort nicht zuhören kann, ohne sich gefühlsmässig gegen seine Aufnahme und Erwägung zu verschliessen. (Allerdings bin ich schon Kindsköpfen begegnet, welche – nach Jahren – noch viel älter waren als Du!)

Du hast – und ich wage daran zu zweifeln, dass es ganz bewusst und aus logischer Überlegung heraus geschehen ist – gleich zu Anfang Deines Briefes das erwähnt, was meiner Meinung nach wirklich des „Pudels Kern“ (und fast ebenso mephistophelisch wie in Goethes „Faust“) ist: Deinen Widerspruchsgeist und Dein Gehemmtsein. Du scheinst Dir dabei so ziemlich im Klaren darüber zu sein (oder glaubst zumindest, es zu wissen) wie das Verhältnis zwischen Veranlagung und elterlicher Erziehung liegt. Meiner Ansicht nach sehr zugunsten der Veranlagung! - was ja übrigens auch die „Schuld“ Deiner Eltern ist.

Und nach dieser Erwähnung gehst Du gleich zum Pudel selbst über: zu Hans. Er, so sagst Du habe es mit viel Geduld zustande gebracht, sich Dir zu nähern, ohne Dich zu erschrecken. Er habe es dabei wegen des Widerstandes Deiner Eltern doppelt schwer gehabt usw.

Nun, mein Liebes, siehst Du den Widerspruch nicht, den Du selbst noch unterstrichen hast, indem Du die beiden Antagonisten unmittelbar nebeneinander gestellt hast? Erkennst Du, wie unlogisch Deine Folgerungen sind? Und begreifst Du, dass ich zu Deinen Darlegungen nicht ja und amen sagen kann, weil sie ja falsch sind?

Darf ich Dir wohl, ohne Dich zu erzürnen oder Dich zu beleidigen, die Sache darstellen, wie ich sie sehe – und überzeugt bin, dass sie sich auch wirklich verhält? Aber bitte, sage nicht sofort nein, ohne reiflich darüber nachgedacht zu haben (selbst wenn Deine Gedanken schon so sehr nach Deiner Ansicht eingedrillt – gebahnt – sind, dass Dich meine ketzerischen Worte zutiefst erschrecken!) Ich beginne:

Es war einmal eine kleine, schöne Prinzessin, die von zwei mehr oder weniger edlen Rittern umschwärmt wurde. Alle beide waren sie voll Bewunderung für die Schönheit und mädchenhafte Anmut der Holden, alle beide liebten sie sie. Und da die Schöne keinen der beiden bevorzugte (zumindest nicht sichtlich) rivalisierten sie sich gegenseitig und verwöhnten sie wechselweise. Jeder meinte, der andere erfreue sich ihrer Huld. So kam es, wie es kommen musste (und wahrscheinlich auch sonst gekommen wäre): der erste der beiden Ritter wurde zum kühlen Freund und Vertrauten der Prinzessin, der andere aber zog in ein fremdes Land, zu anderen Prinzessinnen und auch zu solchen, die keine Prinzessinnen waren. (Grund: Hemmung der Prinzessin, ihre Gefühle einzugestehen!)

Die Schöne fühlte sich nun vernachlässigt und geradezu einsam. Es waren wohl viele andere Ritter um sie, doch sie bedeuteten ihr damals noch nicht sehr viel. Langsam aber gewöhnte sie sich an die neue Umgebung und wandte anderen ihre Huld zu. Vornehmlich aber schloss sie sich an einen Ritter aus dem Lande der aufgehenden Sonne, welcher sie schon früher heftig umschwärmt hatte, aber doch ziemlich im Hintergrund geblieben war. Dieser wurde nun der Bevorzugte ihres Herzens. (- Grund: Bedürfnis nach Freundschaft und Trotz gegen die Abgegangenen.) Die Eltern der Prinzessin hatten zuerst nichts gegen den neuen Anbeter ihrer geliebten Tochter. Als aber deren Zuneigung – aus Gründen, die noch zu behandeln wären – immer grösser wurde, wehrten sie sich dagegen. Sie sahen eben Dinge, die die Prinzessin selbst in ihrer Verblendung nicht sehen konnte, weil sie noch nicht die Menschenerfahrung ihrer Eltern hatte. Und nun begann das Herz der Prinzessin erst für den Ritter zu entbrennen und ihn heiß zu lieben. (- Grund: Mitleid, dann aber vor allem Trotz gegen den Widerstand der Eltern.) So entstanden unliebsame Spannungen in der Familie der kleinen Prinzessin. Der Vater drohte, die Mutter zürnte und die Tochter trotzte und schmollte. Und weil sie nicht gestorben sind, dauert es noch heute an.

Hast Du verstanden, was das Märchen soll? Ich setze mit Erläuterungen dort ein, wo Du Dich in Hans zu verlieben beginnst. Die Gründe sind ganz einfach: es waren zwei Plätze auf einmal zu besetzen, eine mehr oder weniger kleine Leere auszufüllen. Dass Du aber gerade Hans aus der Zahl Deiner Verehrer vorgezogen hast, das beruht wohl darauf, dass Du am meisten mit ihm verkehrtest (er wohnt ja so nahe bei Dir) und dass Du Mitleid mit ihm empfandest, weil er es zu Hause so schwer hatte. Hinzu kommt eine gewisse – bewusste oder unbewusste – Schlauheit und Verschlagenheit seinerseits, welche Dich zu nehmen wusste.

Als Deine Eltern erkannten, wie nah er Dir stand, begann wahrscheinlich sofort ihre Ablehnung. Und nun kommt das Unlogische an Deinem Brief: Der Widerstand Deiner Eltern machte es Hans nicht doppelt so schwer, sich Dir zu nähern, sondern zehnmal leichter. Grund: der mehrmals erwähnte Widerspruchsgeist unseres lieben Lilly!

Also weiter: W e i l Deine Eltern dagegen waren, begannst Du ihn erst wirklich zu lieben. All seine „Künste“ (Du sagst: seine Geduld) all Dein Mitleid mit seinem unschönen Zuhause hätten nicht vermocht, was die Einmischung Deiner Eltern zustande brachte. Sie erweckten Deinen Trotz und schadeten so ihrer Sache unendlich stark. Das soll nun aber beileibe nicht etwa nur ein Vorwurf gegen Deinen – von Dir selbst zugegebenen - „Trotzkomplex“ sein, sondern die Feststellung von etwas ganz natürlichem: Jeder Mensch, und besonders der junge, versteigt sich gegen jegliche Einmischung in diejenigen Dinge, die er als seine eigensten, nur ihn angehenden, betrachtet und für unantastbar hält.

Warum aber mischten sich Deine Eltern überhaupt ein? Was hatten sie gegen Hans? Das weiss ich nicht, aber ich will es aus meinem eigenen Urteil zu interpretieren versuchen. Wenn ich dabei gegen Hans spreche, so halte Deinen Zorn zurück, lies es ruhigen Blutes und glaube mir, dass es wirklich nur ein auf oberflächlicher Bekanntschaft beruhendes Urteil, keinesfalls aber ein Vorurteil ist. Ich wüsste ja nicht, was ich gegen Hans haben könnte. Mich geht die Sache im Grunde genommen herzlich wenig an, und ich möchte mich nicht dadurch, dass ich Partei ergreife, bei irgendjemandem unbeliebt machen und mir die Finger verbrennen! - Andererseits lasse ich den Einwand, den ich jetzt auf Deinen Lippen brennen fühle, nicht gelten: dass wir alle Hans zu wenig kennen und ihn infolgedessen v e r kennen. Siehst Du, Deine Eltern haben jedenfalls eine grössere Lebenserfahrung und Menschenkenntnis als Du. Eltern haben eben – wir Kinder geben es nur nicht gerne zu – meistens recht. Und auch meiner Wenigkeit traue ich (hoffentlich bin ich nicht bloss eingebildet) mehr Urteilskraft zu als Dir – schon nur wegen der Tatsache, dass Du ein Mädchen und offenbar überdies ein verliebtes Mädchen bist.

Also los: Ich halte Hans für vollständig unbedeutend. Er schwimmt an der Oberfläche (vielleicht nicht in dem Dich betreffenden Gefühlsleben, sicher aber in geistigen Dingen) und was Du für Tiefgründigkeit, Verständnis und andere Tugenden hälst, das sind nur wohlgelungene Exkursionen. Denn etwas muss man ihm eingestehen: er ist intelligent, sogar schlau. Aber unbedeutend. Ich möchte dabei etwas erwähnen, das ich aus Deinem Mueti herausgefrägelt habe: das Urteil Scampolos über Hans, dessen Kürze und präzise Prägnanz ich bewundere. Sie soll gefragt haben: Aber Lilly, Du liebst doch nicht etwa diesen Bub – oder so etwas ähnliches. Ja, das ist er, ein Bub. Ein unbeschriebenes Blatt. Glatt, wie sein (entschuldige bitte den Ausdruck!) „Kinderfudigesicht“ aalglatt und aschfahl ist.

Nein Lilly, sei nicht beleidigt: ich meine es nicht ganz so böse, wie es klingt. Aber ich liebe sein Gesicht ganz und gar nicht, gerade um dieser Glätte willen. Es ist etwas Schlüpfriges darin. Seine runde Stirn, seine lauernden Augen, seine allzu oft verkniffenen Lippen und eben die schlangenschuppenhafte Glätte seiner gelbbleichen Haut gefallen mir nicht. Das ist vielleicht das einzige, was ich gegen ihn habe – aber es ist viel, falls sich wirklich der Charakter eines Menschen im Antlitz spiegelt. Oh, es steckt nichts Schlechtes hinter diesem Gesicht; vielleicht etwas Egoismus (wer hat den nicht?) und Bösartigkeit im Falle eines Angriffs auf das, was er errungen hat oder erringen will (und mir gegenüber noch eine uralte, aber recht gut versteckte und bestimmt abgeleugnete Abneigung). Ausserdem aber etwas, das – unter Medizinern – bedeutend schwerer wiegt: eine nicht zu übersehende Dosis von elterlicher Belastung! Und vielleicht auch nicht allzuviel Kultur und Kinderstube.

Alles in allem wie gesagt: mehr unbedeutend als böse. Ein etwas eigenwilliger Knabe. Und ein Knabe, der nie zu einem Manne wird. Jedenfalls nie zu dem, was ich unter einem Manne verstehe.

Ich zitiere wiederum Scampolos erstaunlich treffendes Urteil: Was hat der Betreffende wohl gedacht, als er ihn zum Leutnant brevetierte? - Und noch etwas in diesem Zusammenhang: vergleiche einmal Hansens Konterfei mit einem Bild Deines Bruders….

Du wirst mich anmassend finden und richtig erzürnt sein gegen mich. Ich begreife es. Allein, ich wünschte nur, dass Du Hans einmal ins Gesicht schaust, als wäre er ein Fremder, dem Du zum ersten Mal begegnest. Dann, wenn Dir das gelingt, verzeihst Du mir. Vielleicht nicht den Umstand, dass ich Dir ein Urteil gebe, wo Du keines erfragt hast, doch bestimmt das Urteil selber. Und wenn Du ihn einmal – kritischen Sinnes – in einer Lage sehen könntest, wie ich selber ihn noch nie gesehen habe: nämlich, wenn er einer ihm ganz zuinnerst peinlichen Widerwärtigkeit begegnet, dann – ich bin davon überzeugt – lächelst Du mir vollends Vergebung. Und musst mir zugeben, dass mein Urteil zumindest nicht unbedacht und voreilig ist.

Warum jedoch äussere ich mich dermassen gegen jemanden, der Dir teuer ist? Warum tue ich das, sogar im Bewusstsein, Dich zu beleidigen oder Dir weh zu tun? Das ist vielleicht unbedacht gehandelt. Denn ich weiss selbst nicht recht, warum ich als Aussenstehender nicht einfach schweige. Du hast ja in Deinem Briefe nirgends eine Antwort erbeten. Und doch antworte ich, antworte auf eine Art und Weise, die Dir unliebsam sein muss. Warum – ich frage noch einmal – tue ich das?

Auch hierfür, mein liebes Lilly, könnte ich Dir mehrere Gründe angeben. Der erste ist vielleicht der, dass ich Deinen Eltern recht geben möchte und wünschte, dass, wenn Du siehst, wie auch ein ausserhalb eurer Familie Stehender und von Deinen Eltern Unbeeinflusster nicht allzu begeistert ist von Deinem Hans, Du ihm gegenüber etwas kritischer würdest. Begreifst Du das: Ich äussere mein Urteil auf keinen Fall, um es Dir aufzuzwingen, sondern nur deshalb, weil ich Dich die ersten Schritte auf den langen Weg eigenen Erkennens führen möchte. Es ist an Dir, die weiteren Schritte zu tun oder eben nicht zu tun. Alles, was gegebenenfalls ändern sollte, muss allmählich aus Dir selber herauswachsen. Nichts darf von aussen her erzwungen werden. Sonst wirst Du trotzig und argwöhnisch – und ich könnte es Dir nachfühlen.

Dennoch, wenn meine Tochter sich in einen solchen Hans „gefährlich“ (d.h. mit Hintergedanken) verlieben würde, auch ich würde energisch eingreifen. Wahrscheinlich nicht mit Drohungen: der dadurch erweckte Widerspruchsgeist würde ja sowieso alle meine Argumente entwaffnen. Aber ich würde mit meiner Tochter sprechen, ruhig und sachlich, wie ich es jetzt mit Dir tue. Würde das jedoch nichts nützen, fühlte ich, dass ich gegen eine Wand spräche, so würde ich mich keineswegs scheuen, zu einem ganz anderen und viel radikaleren Mittel zu greifen. Ginge z.B. meine Tochter trotz meines Verbotes weiterhin mit dem Betreffenden aus, ich würde sie übers Knie nehmen wie ein kleines Kind, und wenn sie auch volle dreiundzwanzig Lenze zählte. Was sind denn schon die Sprüche von Volljährigkeit und dergleichen, solange wir von unseren Eltern abhängen? Ein Schaum, der in Zwergen brodelt. Ein Flitterglanz, um sich selber damit zu blenden. Grosse Worte vor einer Leere an Taten. Und – um zu meiner Tochter zurückzukommen - : Verliebte sind erst recht unmündige Kinder. Sind unendlich sorgsam zu führen und zu hegen, wenn alles gut gehen soll. Wenn sie aber auf falschen Spuren wandeln, darf man ihre Träume zerreissen. Und warum sie nicht schlagen? Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie. Das weckt sehr rapide….

Siehst Du, ich bilde mir ein, dass ich ein sehr toleranter Vater wäre – solange die Sache nicht gefährlich würde. Dann aber würde ich eingreifen. Und warum? Weil es um das Glück meiner Tochter ginge. Es gibt ganz einfach junge Männer (und ich zähle Hans zu diesen – übrigens auch mich selber, nur aus ganz anderen Gründen) die nicht zum Heiraten sind. Sei es, weil sie der Frau nach dem ersten Liebesrausch ganz einfach verleiden m ü s s e n , wie eine fade Suppe. Nach der Heirat ist eine solche Erkenntnis aber zu spät, um nicht viele Reibungen, Zwistigkeiten und aufreibende Gehässigkeiten zu erregen. Oder sei es, dass es jener Schlag von Männern ist, die ihre Frauen aufsaugen bis zum letzten Blutstropfen, indem sie sie sich unterwerfen wollen oder sie mit endloser Eifersucht zur Erschöpfung hetzen oder was dergleichen Gründe mehr sind. Ich glaube, Hans gehört in eine der beiden eben genannten Männerkategorien (wobei ich mit „Mann“ nur das Geschlecht meine, nicht aber den Charakter!) Ja, gerade ausgesprochen unmännliche Männer werden sehr oft zum Terror zum Despoten der Familie und vornehmlich der armen Gattin.

*

Samstag, 11. September 1948  

Dorothee ist eine Woche bei uns zu Gast gewesen. Seit einer Woche haben wir eine neue Köchin und ihr Mann (ein ehemaliger Offizier!) macht Butlerdienste. Ich habe nun wirklich überhaupt nichts mehr zu tun. Mrs. Mitchell und Phillida sind auch für eine Woche fort, und ich bin mit Col. Mitchell allein zu Hause. Am Tisch werden wir vom Butler bedient. Nach dem Nachtessen sitzen wir gemütlich im Wohnzimmer; Col. Mitchell flickt seine Socken und ich stricke. Dazu stopft er mir Pralinés in den Mund und ist wie ein netter Vater zu mir. Ich fühle mich so glücklich und ohne Hemmungen. Nur eines tut mir leid. Mister erwähnt seinen armen Sohn mit keinem Wort. Er ignoriert überhaupt sein Dasein. Gestern hat er Mrs. Mitchell angeläutet (sie ist bei Hugh) und er fragte nicht einmal wie es ihm gehe .. 

Von Rico habe ich einen sehr langen Brief erhalten, in dem er mir zu beweisen versuchte, dass ich einem unwürdigen Ziel nachgestrebt habe, indem ich für Hans kämpfte. Eines ist sicher wahr, nämlich dass Hans noch keine Persönlichkeit ist; aber so unbedeutend wie Rico ihn zeichnet, ist er sicher nicht. 

Hier wird es Herbst. Am Morgen liegt Tau auf den Blumen und häufig wehen stürmische Winde vom Meer her. Ich erlebe die herrlichsten Schatten- und Sonnenstimmungen auf dem unendlich blauen Wasser. Ganz langsam muss ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich dieses herrliche Stück Erde wieder verlassen muss. Das nächste Semester werde ich nun sicher wieder in Bern machen. Ich hoffe, dass ich auch dort in der Entwicklung meines „Selbst“ nicht stillstehe!

Dienstag, 14. September 1948 

Am letzten Sonntag wütete ein richtiger Herbststurm. Ich machte mit Col. Mitchell und „Wendy“ einen weiten Spaziergang und sonst spielte ich Klavier und las. Heute ist der 30. Hochzeitstag von Mitchells. Wir sind gerade in Dartmouth gewesen, da Col. M. seiner Missis Nylon-Strümpfe kaufen wollte. Aber eben, was bei uns in der Schweiz jedem Dienstmächen selbstverständlich ist, hier ist es leider nicht möglich, sie zu erhalten. England schickt alles ins Ausland, damit es Geld erhält. 

In Gedanken bin ich heute in Bern, wo die Examen beginnen. Ich hoffe sehr, dass Hans nicht zu unüberlegt drauflosredet! 

Leider wird nichts aus einer gemeinsamen Heimreise mit Büsu, da er schon Ende dieser Woche zurückfährt.

Dienstag, 23.00 Uhr 

Wir waren zur Feier des Tages bei Lambeth‘s zum Nachtessen eingeladen. Mrs. Mitchell, Phillida und ich trugen lange Kleider, Mrs. Lambeth erschien in einem smarten langen Hausdress. Obschon es nur in ganz kleinem Rahmen war, sah es doch sehr festlich aus. Vier grosse schlanke Kerzen waren die einzige Beleuchtung, und Mrs. Mitchells Brillianten funkelten märchenhaft! Als wir mit dem Auto nach Hause fahren wollten, ratterte es gar erbärmlich hinter uns her. Lambeth‘s hatten dem „Hochzeitspaar“ eine Blechbüchse hinten am Wagen angebunden!! 

Jetzt glänzt der Mond wieder über dem Meer – wenn er das nächste Mal in vollem Glanze sein wird, werde ich ihn wohl wieder in der Schweiz betrachten.

Freitag, 17. September 1948 

Obwohl es schon elf Uhr schlägt, muss ich einfach noch mein Glück festhalten. Das Leben kann so herrlich sein. Ich bin nicht verliebt – und doch möchte ich am liebsten alles umarmen. Ich beginne nun so ganz zur Familie zu gehören hier, ich verliere meine Hemmungen und bin unsäglich glücklich. Am Mittwoch hatten wir hier einen „Drink“. Ich schlüpfte mitten drin heraus und fütterte die Hühner. Das ist so nett hier, jedes versucht, dem andern die Arbeit weg zu haschen und so eine kleine Überraschung zu bereiten.  

Gestern Nachmittag begleitete ich Mrs. Mitchell zur Bucht, wo wir auf die „Envys“„eingeschifft“ wurden. Wir segelten zum Hafen zurück und dort erlebte ich eine Abendstimmung am Wasser mit rotglühendem Abendhimmel. Dazu roch es nach Herbst und der Wind wehte kalt. 

Heute fuhren wir mit dem Auto nach Torquay und Col. Mitchell wartete geduldig im Wagen bis wir alle Einkäufe für Phillida beendigt hatten. Dann assen wir im „Imperial-Hotel“ (das soll das Beste in England sein!) und fuhren heim. Jetzt sassen wir gemütlich im Wohnzimmer. Col. Mitchell flickte seine Socken und Mrs. und ich strickten. Dazu lachten wir viel und von Herzen; mein Englisch muss wohl manchmal zum Lachen reizen. Never mind, wir sind alle bei guter Laune!!

Dienstag, 21. September 1948 

Auch in England liegt der Herbst in der Luft. Obschon die Sonne an einem wolkenlosen Himmel leuchtet, fühlt man den Herbstton und die Bäume geben rauschend die sommermüden Blätter her. Über den weiten Feldern zieht der Rauchdunst der Feuer und ein bitterer Erdgeruch steigt auf. 

Heute fuhren wir mit Phillida zurück zur Schule. Wie anders war diese Fahrt als vor zwei Monaten! Damals war ich noch ein Fremdling, und ich hatte keine Ahnung, wie wohl Phillida sein wird. Heute schieden wir als gute Freunde. Sie zeigte mir den Schlafsaal und stellte mir ihre Lehrerinnen vor. Ich muss immer staunen über die Selbständigkeit und Selbstbeherrschung von Phillida. Ich weiss nicht, ob ich so frohen Mutes in eine Schule zurückkehren würde! Es ist zwar ein prächtiges Haus in einem grossen Park, aber der Unterschied zwischen dem Leben hier, das für Phyd in Segeln, Autofahren und Baden bestand, ist doch sehr gross. Das College ist natürlich nur für Mädchen. Was wohl da für Illusionen heranwachsen??

Freitag, 24. September 1948 

Gestern hatten wir Besuch von dem früheren Hausherrn auf Redlap. Er war ein berühmter Schauspieler – und nun sah er als 86 jähriger alter Mann sein ehemaliges Heim wieder. Er versicherte immer wieder: „It is like a dream for me to come back!“ Er zeigte mir die alten Bäume, die er vor dreissig Jahren selbst gepflanzt hatte, und er nahm einen Zweig heim von dem weiss blühenden Strauch vor dem Haus; denn den pflanzte er aus einem Strauss, den Jenny Lindt nach einem Konzert erhalten hatte. Heute war Dorothee wieder hier. Wir sassen noch einmal zusammen an der Bucht… 

Col. Mitchel fragte vorhin Mrs., ob sie nicht glaube, es wäre gut für Phyd, in den Winterferien nach Madeira zu fahren! Diese Menschen sprechen von den fernsten Ländern als wäre es ein Nachbardorf. Was muss das wohl für ein Gefühl sein, reisend und schauend die ganze Welt zu besitzen? - und nach jeder Reise hierher zurückkehren zu dürfen!!

Mittwoch, 29. September 1948 

Mrs. Mitchell hatte heute ihren Ruhetag, d.h. sie blieb im Bett. Ich sass viel bei ihr und wir nähten Vorhänge. Jetzt gerade hielt Col. Mitchell Hauptprobe für die Hochzeit. Er muss Brautführer sein. Er erschien in seinen blauen Gärtnerhosen – Frack und Zylinder. Wir lachten wieder einmal viel und von Herzen. Ich glaube, in einer normalen Umgebung würde auch ich normaler sein. Ich liebe die „Mitchells“ herzlich, eingeschlossen Hund und Hühner und alles was zu Redlap gehört!

Sonntag, 30. September 1948 

Nun wäre auch der letzte Sonntag hier vorbei! Gestern habe ich das Hühnerhaus geleert – und unfreiwillig auch mich selbst ein wenig. Sonst lag ich an der Sonne, hörte den Rotkehlchen zu, die jubilierend in den Bäumen herumhüpften. Am Nachmittag kletterte ich mit Mrs. Mitchells Schwester auf den Hügel und genoss noch einmal den weiten Blick von der Bucht bis zu Slapton Sands. Heute
durfte Dorothee hier bis um 22 Uhr bleiben und dann wurde sie per Taxi heimgeführt. Mrs. Mitchell ist wohl der gütigste Mensch, den ich bis jetzt kennen lernte! 

Dorothee machte eine Ausstellung unserer „Souvenirs“. Ich hätte Hans so gerne etwas mitgebracht, aber die Freude, ihm etwas zu schenken, darf ich mir nicht mehr gönnen. Ich habe Angst vor dem ersten Wiedersehen.

London, 5. Oktober 1948 

Da bin ich wieder im Palace Hotel wie vor 9 Wochen. Inzwischen habe ich die glücklichste Zeit meines bisherigen Lebens gehabt. Heute morgen noch leuchtete die Sonne über dem Meer und ich küsste zum letzten Mal Wendys schwarze Hundenase und deckte meinen Wendy Darling sorglich in ihrem Korb zu. Ich pflückte Blumen und Brombeeren und plötzlich war es Zeit, und wir fuhren ab. Es ist ja so herrlich, dass Mrs. und Col. Mitchell mitfuhren bis London! Dorothee kämpfte tapfer gegen die Tränen am Bahnhof in Dartmouth. Ich wurde wieder verwöhnt. Wir assen im Speisewagen und noch einmal glänzte Torquay in der Sonne. Hier in London sahen wir den Film „Esther Waters“ und nachher hatten wir ein herrliches Nachtessen bei Scotts. - Und nun ist meine Englandzeit vorbei und die Luft der weiten Welt wird bald nicht mehr um meine Nase wehen. (Brigadier Oeskin ist in Singapore gelandet.)

Bern, 9. Oktober 1948 

Ich brauche wohl nicht zu schreiben, dass ich schon jetzt Heimweh habe nach der Ruhe von Redlaps House!  

Am Mittwoch morgen brachten mich Mrs. und Col. Mitchell zur Bahn und beide haben mich herzlich in die Arme genommen beim Abschied. Auf der Reise habe ich mich sehr allein gefühlt. Bis Paris hatte ich nette Gesellschaft von einem Zürcher Studenten. Wir assen im Speisewagen, was ich wohl vor meinem Englandaufenthalt niemals gewagt hätte! In Paris musste ich sechs Stunden auf meinen Zug warten und um Mitternacht fuhr ich heimzu in einem Raucherabteil ohne Heizung und mit einem schrecklich schnarchenden Mann. Am Bahnhof in Bern holten mich meine Eltern und Büsu ab und nun lebe ich wieder das Berner Leben – nur ohne Haus. Ich war heute Abend mit Vati im Kino. Wir wanderten durch den Herbstnebel heim, und ich dachte, dass es früher ein liebes Gefühl gewesen ist, am Arm eines Freundes heimzugehen! Aimée scheint die Schwierigkeiten zu Hause überwunden zu haben, und so beschäftigt auch es sich mit Heiratsplänen wie Maria-Nina.

Sonntag, 10. Oktober 1948

Ich habe Hans gesehen. Es wird mir doch schwerer fallen, als ich glaubte. Er sieht gar nicht abgearbeitet aus, trotzdem er nächsten Donnerstag noch einmal Examen hat. Er scheint ruhig und selbstsicher. Er sprach wohlwollend und etwas von oben herab mit mir, und ich befolgte Köbis Rat und zeigte mich fröhlich. Ja, ich blieb auch nachher froh, als ich mit meinen Eltern nach Simeringen zum Mittagessen ging. Wir besuchten meinen Göttibueb Ruedeli in Vechigen, und ich dachte an jenen Wintertag, an dem Hans und ich nach Vechigen gewandert sind. Jetzt bin ich traurig; aber vielleicht noch mehr gekränkt, dass Hans mich beiseite gestellt hat wie ein gelesenes Buch.

Mittwoch, 13. Oktober 1948 

Hans hat angeläutet, dass er gerne mit mir reden möchte. Ich begriff das sehr gut, denn morgen hat er sein Examen. Er suchte doch wieder Ruhe bei mir – und ich bin so froh, dass ich sie geben konnte. Ich hoffe so sehr, dass wir gute Freunde bleiben! 

Am Morgen fuhr ich mit Büsu nach Vechigen und nun schmerzt mein Rücken vom Aepfelauflesen. Ich bin so ruhig – trotzdem Hans nun mit einem rotlackierten Daumennagel herumläuft…

Bern, Samstag, 13. Oktober 1948 

Es ist Zeit, dass meine Arbeit wieder beginnt! Es kommt mir vor, als sei ich weit, weit weg von Hans und jener Zeit. Ich bin voller Erwartung auf etwas, das kommen sollte – und ich weiss gar nicht was. Manchmal habe ich Heimweh; dann glaube ich, Hans überall zu sehen – in jedem Autobus, an jeder Strassenkreuzung, dann wieder fühle ich mich plötzlich froh, allein und frei zu sein. Ich gebe es zu: Ich suche einen neuen Freund, denn einsam sein ist so schwer!  

Seit Montag bin ich in Genf gewesen bei Fam. Fischer. Genf! Wo ich mit Hans zwei Sommertage lang vom Glück geträumt habe – Genf, das uns aufgenommen hat als junge, verliebte Menschenkinder – und Genf, das so vieles versprochen hat, was nun alles unerlebt bleibt… 

Hans und Köbi sind sehr gut durch ihr Examen gekommen. Heute kam Peter schnell vorbei – und er scheint nun sehr glücklich mit seiner Lausanner Freundin zu sein. Alle finden langsam den Rank – was wird wohl aus mir? Ich fühle mich voll Lebensmut und Kraft; aber muss mein Beruf mir wohl das einzige Ziel sein?

Mittwoch, 17. November 1948 

Ach ja, alles geht weiter. Die Menschen in der Klinik werden zu „Fällen“ im Kollegheft mit Datum versehen. Man spricht mit einem Mann – und zwei Tage später sagt der Professor, dass er gestorben sei. Ich habe auch die Bewegungen eines Kindes im Mutterleib gespürt, und es rann wie ein warmer Strom durch mein Herz. Oh wie habe ich die werdende Mutter beneidet um das winzige Leben, das sich regte! Ich drängte alle Gefühle zurück und bin eine gute Kameradin. Ich höre zu, wenn man mir Sorgen erzählt, ich bin fröhlich und zeige guten Mut. Wer braucht schon zu wissen, wie einsam ich bin? Ja, vielleicht habe ich wohl geglaubt, dass Luc es spürt. Es war eine winzige Hoffnung, und ich werde sie sehr behutsam beiseite legen. Es ist ja so gut, dass Luc den Weg zu seiner Freundin wieder zurückgefunden hat. Wie durfte ich nur glauben, dass ich ihm mehr bedeuten könnte? Hoffte ich auf die Musik? Die ist wohl gut, um mir oft eine Heimat zu sein, wenn alles fremd und kalt ist um mich herum. - So werde ich weiter eine gute Kameradin sein. Was tut es, dass ich die kleine blaue Blume zu sehen glaubte? Ich will mich ja freuen, dass sie wenigstens andern blüht!

Sonntag, 4. Dezember 1948 

Heute muss ich wieder so mühsam das Tapfersein erkämpfen! Aus dickem Nebel regnet es und auch in der warmen Stube friert es mich. Mueti ist krank – und so sehe ich Luc nicht; heute nicht und morgen ist Sonntag. Bin das wirklich ich? Ich zähle die Stunden bis das Kolleg am Montag beginnt, und atme erst wieder auf, wenn Luc dort ist. Ein paar Worte von ihm lassen mich die traurigsten Fälle vergessen. Die grässliche, grausame erste Sektion, die ich gesehen habe, machte mich glücklich, weil Luc mich dann zu trösten versuchte. 

Einen Abend lang habe ich geglaubt, dass auch er mir nah sei. Ich sage mir vor und spüre es noch; wie warm war es doch vor dem Kaminfeuer und einmal doch hat er meine Hand in seine genommen. Es war halt auch nur ein Märchen, wie das, welches ich ihm und den Flammen erzählt habe. Gestern Abend war Klassenabend. Ich bin von Hans so weit weg, dass ich nicht einmal mehr empfinde, wie er leidet. Mein Gott, wie trete ich auf seine Seele; und ich möchte ihn doch glücklich sehen. Er vergisst die Welt und alle Sorgen, wenn er seinen Kopf an meine Schulter legt; auch er ein Träumer, der Verlorenes nicht vergisst und Neues nicht aufnehmen kann. Wie verworren alles ist. 

Mittwoch, 8. Dezember 1948 

Es war ein grässlicher Tag! Ich hatte nur einen Gedanken: Luc – und er übersah mich ganz! So weit war ich, dass ich aus einem Kurs davon lief, einfach um ihn vielleicht zu sehen. Und ich sah ihn – mit Ursi Hug, strahlend, glücklich. Ich lief die Stadt hinunter, in meinen Ohren sauste es und die Menschen schienen weit weg von mir. Ich möchte mich freimachen – und denke doch: Luc! Ich sage mir, dass er diesen Aufruhr nicht wert ist. Doch ich denke nur: Luc! Ich habe Angst vor mir selber. Bin das noch ich? Himmel, ist das demütigend, sich so zu verlieren!

Montag, 20. Dezember 1948 

Das halbe Semester ist zu Ende, und ich arbeite in der Stoffhalle als Verkäuferin, um ein paar Rappen zu verdienen. Ich spüre am Abend kaum, dass ich noch Beine habe. Vom Rücken abwärts ist alles schwer und müde! Ich lerne freundlich zu sein den ganzen Tag, ich sage tausend Dinge, die ich gar nicht meine – doch ich bin fast glücklich dabei. Ich habe keine Zeit zum Nachdenken, und am Abend sinke ich müde ins Bett. Luc hat mich letzten Mittwoch heimbegleitet nach der Klinikerweihnacht. Ich schäme mich nun nicht mehr, dass er weiss, wie ich denke. Er hat es ja doch schon lange gespürt und wenn er sich dagegen wehrt, so wird er wissen warum. Ich möchte ihn gerne noch einmal sehen, bevor er heimreist; aber wie oft schon sah ich vergebens nach der Türe in der Stoffhalle. Es wird schon gut sein, wie es ist. Ich will mich nun freuen auf den Aufenthalt in Mürren, wo ich meine Familie Mitchell treffen werde. Eigentlich bin ich fast glücklich, dass ich wegen Luc traurig sein kann….

Samstag, 25. Dezember 1948

Weihnacht 

Die Stoffhalle-Zeit ist vorbei und mit dem Lohn konnte ich einmal von Herzen einkaufen und Geschenke machen. Gestern Abend feierten wir Weihnachten, und ich dachte an Hans und wie es ihm wohl zumute sei. Ich fühle, wie er sich in seiner Welt verliert, und ich versuche nicht einmal mehr, ihn zu verstehen. Wo ist überhaupt ein Massstab, der die Dinge einordnen lässt? Wir selbst ändern uns stetig; die Gedanken drehen sich und das Gefühl führt uns so seltsame Wege. - Und dennoch haben wir immer wieder den Mut zu glauben, dass es Augenblicke gibt, in denen man sogar die Verworrenheit eines Mitmenschen versteht und mitfühlt – dennoch glaubt man in einem Schweigen des andern das Mitschwingen einer eigenen Regung zu spüren. Oh, dass wir doch nur mit mehr Innigkeit und Geduld horchen würden! 

Von Peter habe ich Blumen bekommen – und Luc schweigt.

Am Abendhimmel

Zufriedenheit? Vielleicht das, eine warme Stube mit Blumen und ein Duft vom Tannenbaum – und das Lauschen auf eine Melodie von Bach, die in einer Fuge vorüberzieht; oder die Augen schliessen und Vati und Mueti singen hören. So will ich sagen, dass es ein reicher und schöner Weihnachtstag gewesen ist für mich….

1949 

Dienstag, 4. Januar 1949 

Mürren 

In meinem Leben hätte in der Neujahrsnacht eine Wendung eintreffen können. Ich war mit Peter und Barry in einer Skihütte. Drin standen zwei Betten und wir waren vier (nämlich noch Ursula). Die Nacht schien endlos. Peter ist sehr stark, und ich habe mich vielleicht zu wenig gewehrt gegen seine Küsse. Er meint es ehrlich und hat mich lieb, ich aber sehnte mich nach dem Morgen und nach frischer Winterluft. Es gab dann am nächsten Tag einen Aufstieg bei Föhnsturm – es gab auch eine zweite Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, weil Peter mit seinem jungen Blut zu nahe war. Seltsam, ein atmendes Wesen neben sich zu haben, das mit jeder Faser einem verlangt – und dabei ganz ruhig zu bleiben. Ich sehnte mich nur nach Schlaf, der mir alleine gehörte. Nur wie ein Hilferuf klang in mir: Luc! 

Peter schrieb: „Verzeih mir“… Was soll ich verzeihen? Ich sollte ihn nur lieben können; dann wäre alles gut. 

War es eine Versuchung? Dann habe ich sie bestanden. So hat das neue Jahr begonnen…. 

Nun bin ich in Mürren. Auf der Dorfstrasse nahm mich Col Mitchel in die Arme und Mrs. und Phyd waren plötzlich wieder wirklich da, nicht nur wie so oft in manchen Träumen. Phyd fährt ganz ordentlich Ski, und heute strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Ich werde wohl im Frühling wieder nach England fahren.

Bern, 11. Januar 1949 

Ich bin wieder zu Hause und es scheint mir, die sonnigen Mürren-Tage hätten mir viel Kraft gegeben. Mit Phyllida erlebte ich gestern morgen noch ein herrliches Nebelmeer auf dem Schiltgrat. 

In Bern war niemand am Bahnhof, weil ich eine falsche Zeit auf der Karte angegeben hatte. Peter wollte mich abholen. Ich habe ihn dann getroffen. Heute kam er noch einmal zu mir, bevor er nach Lausanne reiste. Er möchte, dass ich von nun an wieder ernsthaft zu arbeiten beginne. Ich will es ja auch; denn die Zufriedenheit mit sich selbst hängt doch viel davon ab von dem, was man leistet. Auch vergisst man dabei manches, was einem sonst verwirrt. 

Zweimal in der Woche helfe ich auch noch mit im Radio beim Frühturnen; aber eben, man verdient dabei! - Mir scheint, als sei ich unendlich weit in einem fernen Land gewesen und endlich sollte ich wieder einmal bei Hans sein und sagen: „Sieh, hier bin ich“ - und dann möchte ich schweigen und wieder einmal zu Hause sein. Die Zeit sollte dann still stehen und alle Unruhe würde von mir gehen. Und ich möchte, dass Hans sagen würde: „Ja Kleines, ich verstehe“ - dann würde ich weiter gehen auf meinem Weg.

Bern, Mittwoch, 19. Januar 1949 

Nachdem mir meine Mitkollegin Rita heute erklärte, ich sei wohl etwas aus dem Gleichgewicht, lohnt es sich sicher, darüber nachzudenken! Mir scheint, wir schaffen uns unsere Umwelt weitgehend selbst. Die genau gleichen Menschen, mit denen man jeden Tag zusammenkommt, stellen täglich einen anderen Hintergrund dar. Mal Schauspieler, mal Staffage und man selbst glaubt oft, Hauptakteur zu sein. Da findet man die andern plötzlich sonderbar, weil sie ihre Rolle spielen. - Ich verlange immer von den andern, dass sie Beifall spenden, sehr oft unbewusst – und doch ist da so gar nichts, was Beifall verdiente! Da ist Luc – und ganz innen, wo das Denken aufhört und nur noch das Fühlen wohnen darf, - da gehört er mir. Einen Augenblick lang, oft nur die Dauer eines Lächelns … Da ist das Fliehen vor sich selber nutzlos. 

Ich frage nicht, wie es weitergeht. Ich werde wie die andern Mädchen durch mein Leben gehen, oft verzweifelnd wünschend, dass meine Spur die tiefste sei. Dass man so viel zu hoffen wagt!

Dienstag, 8. Februar 1949 

Leben? Ich ass meinen Geburtstagskuchen und im oberen Stock liegt Herr Berger im Sterben. Seine Kinder eilen herbei – aus Genua kam Betty, Madeleine ist abgereist von Strassburg. Ein alter Mann will von uns gehen. Er ist mit Gott im Frieden und sehnt sich auszuruhen. Warum lehnt sich alles in mir auf auch gegen diesen Tod? 

Seltsam dieser Geburtstag. Niemand vergass mich – und Hans schrieb, dass er fest glaubt an meinen guten Weg. 

Ich war den ganzen Nachmittag mit Luc zusammen, ich wartete auf ein kleines, gutes Wort; doch er allein vergass, dass ich Geburtstag hatte. 

Wir besuchten die Vorlesung von Prof. Klösi in der Waldau. 

Dass das möglich ist, an einem Menschen vorbeizugehen und nicht zu fühlen, wieviel man in seinem Leben bedeutet!

 *

Samstag, 12. Februar 1949 

Fünf Tage lang starb er! Ich bin entsetzt über die Grauenhaftigkeit des Todes. Ich betete wahrlich darum, er möge endlich tot sein. Ist das noch Leben überhaupt: Ein Röcheln und nach Atem ringen, gelähmt und halb verwesen; aber dennoch sagen sie dem „Leben“. Ich sollte nun ruhig sein; denn es ist zu Ende. Und doch weinte ich, unbeherrscht, auflehnend und voll Angst. Ich hörte, wie man den Sarg brachte, ich erlebte, dass man ihn hineinlegte. Nun sagen sie, er ruhe sanft und sei schön unter den Blumen. Ich bin ein Feigling, denn ich habe den Mut nicht, ihn noch einmal anzusehen. Vielleicht wäre alles nicht so schrecklich, wenn man glauben könnte!

Ich aber stehe im Leben, das mich verwirrt. Da ist nun auf einmal Köbi, mich wieder verstehend und auf einmal weiss ich auch, dass er mich liebt. Wahrscheinlich war es immer so; aber jetzt steht es plötzlich gross zwischen uns. Was tue ich? Ich habe keinen Willen. Ich weiss, dass ich einen Abend lang geborgen und glücklich war bei ihm; ich weiss, dass ich in seiner Umarmung fast zerbrach. Es ist da wohl nichts, worüber ich mich zu schämen brauche. - Doch hätte Luc vielleicht besser nicht nach Basel gehen sollen! Was bin ich eigentlich, Medizinstudentin? Wie muss ich lügen, um ja zu sagen. Ich sehne mich danach, Frau sein zu dürfen! Was aber auf mich wartet, ist die Arbeit auf ein Staatsexamen…

Mittwoch, 23. Februar 1949 

Das Semester geht zu Ende und damit eine Zeit, in der ich für kurze Augenblicke unendlich glücklich war! Die meiste Zeit aber lebte ich in einer fast unerträglichen Spannung. Mit aller Vernunft sage ich mir vor, dass ich im Leben von Luc nichts zu suchen habe – und mit Angst sehe ich , dass er in mir einen Kameraden sieht, - nichts sonst. Er spricht mit mir von Inge, als ob ich seine Schwester wäre.

Nun wollen meine Eltern, dass ich im Frühling nach Mürren fahre, um meine Gesundheit zu festigen. Meine Englandpläne verlieren an Wirklichkeit. Aber bin ich denn krank? Ich bin wohl unruhig und oft müde, aber vielleicht wenn Luc abgereist ist, wird sich alles ändern. Warum er mich wohl nicht lieb haben kann? Am Montag fährt er nach Paris und vielleicht finde ich meine Ruhe wieder. Morgen haben wir kein Kolleg – so sehe ich ihn nur noch am Freitag. Wir würden noch einmal ausgehen diese Woche hat er gesagt – doch er hat es wohl ebenso schnell vergessen wie ausgesprochen.

Freitag, 25. Februar 1949 

Ja, Luc hat es vergessen, und ich habe mich darauf gefreut… Ich hätte noch so vieles sagen wollen! Er kam heute ins Kolleg, und am Morgen waren wir noch zusammen. Am Nachmittag war er plötzlich nicht mehr da – ohne ein Abschiedswort. Sollte er wirklich so nach Paris abreisen? Ich habe noch die Musikhefte und ein Buch von ihm. So hoffe ich nun, er möge wenigstens das zurückverlangen. Mir ist so elend zu Mute und gegen aussen muss ich fröhlich scheinen. Auch die Arbeit gibt mir keine Ruhe. -

Und in den Gärten fängt es schüchtern an zu blühen.

Montag, 28. Februar 1949 

Am Samstag morgen war ich voll Unruhe. Ich musste haushalten; denn Mueti war krank – Und als es läutete wusste ich, dass es Luc sein musste. Nun bin ich so froh, dass noch ein paar gute Worte zwischen uns sind – vielleicht als Abschluss und vielleicht als Anfang. Es kann noch beides sein. Die Zeit während der wir uns nicht sehen werden, kann vieles klar machen.

Samstag, 5. März 1949 

Am letzten Donnerstag war die Hochzeit von Maria-Nina mit Jacques Es gab ein grosses Fest mit vielen Gästen, und ich kam mir seltsam jung und unbeholfen vor. Susy Merz-Lüdin erwartet auch schon das zweite Kind. Vielleicht habe ich es noch am unbeschwertesten; aber so ein wenig am Leben vorbei gehe ich wohl schon!  

Letzten Dienstag habe ich Frieden geschlossen mit Büsu. Man darf doch eine schöne Jugendfreundschaft nicht wegen einer falsch aufgefassten Bemerkung verlieren. Für Mueti ist es eine Beruhigung, dass Büsu wieder kommt.

Dienstag, 8. März 1949 

Ich warte auf ein Telefon von Mrs. Mitchell aus England. Ich bin sehr aufgeregt. Es scheint etwas nicht zu klappen und morgen sollte ich abreisen. Mueti hatte heute Abend wieder eine Art Nervenkrise. Vielleicht hätte ich das vermeiden können, wenn ich nicht ausgesprochen hätte, was mich so beschäftigt. Ich sagte, dass es wohl möglich sei, dass Köbi und ich uns heiraten werden. Wir haben gestern voneinander Abschied genommen mit Gedanken, die viel offen lassen bis zum Wiedersehen. Bei Köbi bin ich ruhig und glücklich. Er steht dem Leben so bejahend gegenüber ohne das zermürbende Grübeln wie Luc. Da steht der Boden plötzlich wieder gerade und die Probleme scheinen lösbar.

22.15 … ich warte immer noch auf das Telefon!

22.30 Telegramm erhalten. Mrs. Mitchell holt mich im Grosvenor Hotel ab.

Redlap House,

Samstag, 12. März 1949 

Da finde ich nun einfach die Worte nicht mehr! Ich komme von London, wo ich in grossen Hotels ass, ich war in der Royal Opera und die Unruhe einer Weltstadt war wie ein Wirbel, in dem ich versank. Heute morgen noch betrachtete ich eine Menschenschlange von 350 Personen, die auf ihren Bus warteten, um zur Arbeit zu fahren – und nun bin ich geborgen in der unendlichen Ruhe dieses Landhauses am Meer. Hier ist es Frühling und die Osterglocken leuchteten bei unserer Ankunft im Abendsonnenschein. Nun stehen die Sterne hoch über dem Park und der Schrei der Möven übertönt das leise Rufen der Eule. Ich bin wie verzaubert in einer Zeit der Ritter. Das Haus ist still – und über das Holz im Kaminfeuer fliegen blaue Flammen. Hie und da atmet der Hund etwas lauter in seinem Korb neben mir und zum Fenster herein weht ein kühler Wind vom Meer her. Im Zimmer nebenan räumt der Butler lautlos das Geschirr weg. Ich lausche träumend in die Stille und fühle die Ruhe einkehren in mich hinein. 

Es hat wohl kein Wort so manche Bedeutung wie „Leben“. Das tiefste Glück empfinden heisst Leben – und Verzweifeln an sich und den Nächsten, auch das ist Leben. 

Das Holz singt und ich warte staunend, dass ich aus dem Traum erwache….

Redlap, 17. März 1949 

Redlap House ist beinahe ein Spital. Ich war am Dienstag nicht mehr fähig aufzustehen. Der Doktor kam und erklärte, es sei die Grippe. Mrs. Mitchell pflegte mich rührend, mit dem Erfolg, dass es mir nun besser geht, aber dafür ist sie jetzt im Bett. Phyllida kam heute heim von der Schule, und ist schon wieder am Packen, um zu Lamberth‘s zu gehen. Sie hat gerade die Masern überstanden und womöglich sollte jetzt nicht gerade ein Grippe folgen! Nun müssen wir halt sehen, wie es weiter geht!

Montag, 21. März 1949 

Heute hatte ich einen recht düsteren Tag. Es ist schweres, warmes Wetter, und die Ruhe, die im und um das Haus herrscht, machte mir heute fast Angst. In den Zimmern ist es kalt, und als ich versuchte, die Brahms-Violin-Sonate zu spielen, irrten die Töne traurig und verloren durch den Raum – ohne Geige! Vielleicht nennt man das Heimweh. Ich habe gelesen, dass man nach einer Grippe oft psychisch auch etwas mitgenommen sei. Auf jeden Fall bin ich grässlich müde. Schweizer Kost würde mich vielleicht auch etwas schneller wieder auf die Beine bringen!

 *

Redlap House, 30. März 1949 

Man isst Curry-Reis mit dem Löffel und ein Kompliment am Tisch über gutes Essen wird als unhöflich empfunden. Ich lerne verschiedene englische Häuser von innen kennen und merke, dass viele der guten Sitten nur für die Gäste angewendet und gezeigt werden. Ich beginne, zu beobachten, dass auch ein englischer Ehemann ein Tyrann sein kann, obschon er mit dem Wort Darling viel freigiebiger ist, als es wohl ein Schweizer wäre. All dies könnte den Eindruck erwecken, ich sei von England langsam desillusioniert. Das stimmt aber gar nicht. Nur lerne ich dieses Mal auch, etwas hinter die Kulissen zu schauen. Die Atmosphäre in Lambert‘s Haus ist voll Sonnenschein und in der grossen modernen Küche, in der das Geschirr in bunten Farben leuchtet, steht meist ein froher Blumenstrauss. Oma Pfister wird dort wohl sehr glücklich sein. Ich habe begonnen Phyllida Französischstunden zu geben. Eigentlich ist sie ein recht einsames Kind. Was nützen ihr Landhaus, Park und Yacht, wenn sie keine jungen Menschen um sich hat? Ich bin so froh, dass wir uns gut verstehen, und wenn wir im Garten herumtollen, so sieht plötzlich das alte Devon-Haus drein, als ob es wieder jung werden möchte.  

Die liebsten Briefe, die ich erhalte, sind von Köbi. Ich bin oft so glücklich! Nur meine Gesundheit beunruhigt mich. Ich fühle mich zwar nicht krank, aber ich habe einfach das Gefühl, es stimme etwas nicht, auch wiege ich nur noch ca. 53 kg, obschon ich einen Riesenappetit habe. Vielleicht sollte ich mich einmal gründlich untersuchen lassen. Seltsam ist nur, dass man selbst als cand. med. Hemmungen hat!

 *

Redlap, Samstag, 2. April 1949 

Draussen tropft der Regen mit schwerem Rauschen im Strohdach, und es riecht nach Erde und Frühling. Ich bin den ganzen Nachmittag bei Anneli im Cottage gewesen, und dort haben wir viel von „unseren Philippes“ gesprochen. In Stoke Fleming habe ich ein winziges „Krämerlädeli“ gesehen, in diesem soll der engl. König jeweils seine Bonbons gekauft haben, als er in Dartmouth im Naval College war! Was man doch hier alles sieht und hört!

Redlap, 0.35 Uhr, 5. April 1949 

Soeben sind wir vom Ball im Naval College heimgekommen. Ich hatte wieder einmal mehr die Gelegenheit, meine Mrs. Mitchell zu bewundern. Nachdem der Ball zu Ende war und nach und nach alle Gäste verschwanden, warteten wir in dem kalten, grossen Gang auf unseren Col. Mitchell, der auch verschwunden war und zwar in die Offiziersmesse, wo er bei einem gemütlichen Drink seine drei wartenden Damen einfach vergessen hatte. Als es uns dann doch zu lange dauerte, holte ihn Mrs. Mitchell höflich und selbstsicher heraus. Dabei und auf dem Heimweg hörte man kein einziges Wort eines Vorwurfs oder einer Unhöflichkeit. Wie lange braucht es wohl, bis eine solche Selbstbeherrschung möglich wird?

Redlap, 8. April 1949 

Endlich schien heute wieder die Sonne! Ich sah ja ganz gerne einmal wie die Nebelfetzen vom Sturmwind gepeitscht durch die Bäume hetzten; aber das Meer mit dunkelviolettem Leuchten in der Abendsonne und Sonnenschein auf den Klippen – das lässt mich noch immer den Atem anhalten. Ich versuchte heute, ein paar Bleistiftskizzen zu machen von einigen besonders schönen Baumgruppen im Park. Gestern Abend sind Phyd und ich bei Mrs. Maxwell zum Nachtessen gewesen. Als wir nachher am Kaminfeuer sassen, kam mir für einen kurzen Augenblick ein anderes Feuer in den Sinn, eines, an dem ein kurzer Traum geträumt wurde.. 

Meine Redlap-Zeit naht schon wieder dem Ende, und somit wohl auch eine herrliche Zeit der Entspannung. Doch noch bin ich ja hier, und die Möven rufen und lachen oder weinen und miauen, als wäre es eine Menagerie.

Ostern, Sonntag, 17. April 1949

Redlap House 

Sonnenwärme und Frühlingsduft, klingende, lockende Weite über Park und Meer und blühende Sträucher, in denen die Vögel locken und singen, als gälte es den Himmel zu verdienen – Osterglocken vom Wind über die Felder zu uns getragen. Ich bin so voll Dankbarkeit für den Frieden des heutigen Ostertages.

Bern, 12. August 1949 

Semesterferien jedoch anders als bisher… Ich mache ein Praktikum in der Irrenanstalt Waldau. Drei Monate! Ich lerne Geduld- und habe Augenblicke, in denen ich glücklich bin. Ein Wort von einer Katatonika gesprochen, die seit Wochen schwieg, kann so viel bedeuten. 

Im übrigen habe ich mich in einen Assistenzarzt verliebt, der sich allerdings nichts daraus macht. Da er Psychiater ist, wird er es wohl gemerkt haben. Aber eben, es gab wohl ein Mädchen, das ihm vor mir begegnet ist (eigentlich sehr überheblich von mir zu denken, er hätte mich sonst beachtet!) Ich war Samstag und Sonntag in Meggen bei Huguette. Sie segelt der Verlobung mit Gérard de Haller zu. Bin froh für sie. 

Mueti ist aus den Ferien zurückgekehrt, es klagt aber schon heute wieder über die alten Beschwerden. 

Ich bin jetzt abends meist zu Hause, lese oder höre Musik. Bin zu müde zum Ausgehen und ich wüsste ja auch nicht mit wem!! Peter kommt hie und da.

Donnerstag, 1. September 1949 

Ich habe von den andern vernommen, dass er schon verheiratet war. Gestern hat er es mir selber gesagt und noch viel mehr von seiner Jugend, von seiner Defensivstellung wegen den roten Haaren. Ja, so vieles … und ich habe einfach geschwiegen, weil ich doch nicht sagen konnte: „Ich liebe Dich!“ Ich bin glücklich, wenn ich ihm eine Arbeit abnehmen kann, und ich hoffe immer vergebens auf ein kleines anerkennendes Wort. Die Zeit geht so schnell vorbei, und jeden Morgen denke ich, dass es wieder ein Tag weniger ist, an dem ich ihn sehen kann. 

Mein Gottekind Majeli ist heute für ein paar Tage auf Besuch gekommen, es ist schon 6-jährig!

Dienstag, 6. September 1949 

Das Gutachten, das ich geschrieben habe, ist schlecht. Er hat daran herumgedoktert, soviel er konnte und mir gnädig Ratschläge erteilt. Oh ja, er ist freundlich zu mir… Heute liess er mich zu sich rufen, weil er etwas besprechen wollte mit mir. Es gibt ein Gerede auf der Abteilung, die Schwestern haben sich beklagt, er habe von ihnen gesagt, sie führten einen schlechten Lebenswandel – und er hat das wirklich zu mir gesagt. Ob ich es jemandem weitererzählt habe? Nein, das habe ich nicht. Voilà. Er glaube es mir, aber seltsam sei es schon, weil er es nur mir erzählt habe. Voilà. Dann ging das Telefon. Er strahlte: Ja, bist Du frei um 5 Uhr, fein, ich komme Dich abholen. Gehen wir baden… Da ging ich zum Zimmer hinaus und mir war hundeelend zu Mute. Warum? Ich bin ja nur sein „Lehrbub“. Wenn er geruht, freundlich zu sein mit mir, bin ich im siebenten Himmel; aber das bin ich schon nicht zu oft! Herrgott, bin ich dumm! Ich ging dann heute Nachmittag mit meinen Kollegen nach Ostermundigen, wo wir jassten und ein Bier tranken. Mitten von der Arbeit weg. Sein Grundsatz lautet: Jeden Tag so leben, dass es der letzte hätte sein können, nur ja nichts verdrängen, ausleben. Zu Befehl, Herr Doktor, der Rat ist gut, aber ich glaube, ich werde verrückt, wenn ich noch lange in Deiner Nähe sein muss und so tun, Du gehest mich nichts an! Ich hatte schon den Gedanken, ihm einfach zu sagen, wie es steht mit mir. Ich habe das Gefühl, es würde mir dann wohler; aber ich bin halt so gut erzogen und ich würde mich schämen; also weiter: Guten Tag Herr Doktor, ja, ich komme sofort. Ach, sie waren im Theater? Hoffentlich haben sie sich gut unterhalten. Ja, ich liebe Theater auch sehr (Wenn ich nicht spielen muss!!) Ja, ich komme, es ist Zeit zum Tee-Trinken. (Anstaltstee mit Brot und Käse. Ob Du wohl mit der andern ein gutes Nachtessen gehabt hast?) Wie interessant – wenn man zwei Jahre in der Waldau gearbeitet hat, kann einem nichts mehr erschüttern; aber ich habe noch nicht so lange hier gearbeitet und mich schüttelt es kräftig. 

Lilly, sei nicht verrückt, geh mit Peter spazieren, er ist ja so lieb! Spiel Klavier und vergiss nicht ganz, dass Du immer noch Medizin studierst. Voilà.

Samstag, 10. September 1949 

Man findet es anerkennenswert bei einem Menschen, wenn er nett ist mit jemandem, der ihm nicht sympathisch ist. Ich glaube, dass das nicht so schwierig ist, wie wenn man jeden Tag eine Person nicht merken lassen möchte, dass man sie gern hat, Gleichgültigkeit heuchelt. Ich weiss, dass ich nichts erzwingen kann. Es tut so seltsam weh, wenn ich zuhören muss, wie er erzählt, dass im Kanton Aargau die Gesetze larger seien, man könne sich dort in den Hotels als „Herr und Frau“ so und so eintragen, auch wenn es nicht stimme. Ich habe seine Freundin gesehen. Sie kam letzten Mittwochabend, er fuhr ihr strahlend entgegen; Warum sollte er auch nicht? Was nützt es, wenn ich mich immer frage, warum er sich wohl nichts aus mir macht? Seit gestern habe ich einen neuen Anziehungspunkt in der Waldau: Die Orgel in der Kapelle. Wenn meine Unruhe zu gross wird, flüchte ich zu ihr. Die kühle Stille wirkt – ernüchternd. 

Donnerstag, 29. September 1949 

Ich war eine Woche mit Agnes in Rimini. Herrlich: Sand, Meer und Sonnenschein! Ausgeruht und voll Mut kam ich zurück. Heute hat mir eine Patientin erklärt, sie sei in Herrn Dr. Bischoff verliebt. Ich glaube, diese Patientin kann ich wohl am besten verstehen! Er wollte in die Ferien gehen; aber jetzt sind zu wenig Ärzte auf der Abteilung… Wie mich das freut!

Samstag, 4. Dezember 1949 

Uni-Ball! Gestern Abend mit Peter. Ich bin ein gemeines Geschöpf, ich spiele Theater, ging hin in einem neuen entzückenden Kleid, strahlte und war froh, dass mich jemand eingeladen hatte. Ich sah den ganzen Abend nur nach Dr. Bischoff, meinem Chef. Ja, er hat gegrüsst – die schwarze Katze sei jetzt schlecht erzogen und fresse Vögel, aber sie habe immer noch so schön blaue Augen. Darf ich vorstellen? Fräulein – (ich habe den Namen vergessen) – Lilly, mein Lehrbub. Vergnügten Abend! Peter tanzt sehr schlecht, schaute mich dafür immer verliebt an, ich hielt es zeitweise kaum aus; aber das Lächeln auf dem Gesicht nur ja nicht verschwinden lassen, man könnte sonst meinen … Vor der Haustür, Peter „will“, dass ich ihn küsse, er habe mich lieb, aber ich kann nicht! Ich möchte gerne, doch in mir ist nichts als Abwehr. Peter glaubt es nicht, er hofft, will warten, glaubt, dass ich mich ändern werde. 

Heute holte er mich ab im Theater. Ich war hässlich zu ihm, grausam, er muss verletzt sein. Jetzt habe ich geheult, mir ist elend, die Eltern entsetzen sich über mich. Mein Gott, und ich glaubte, ich sei endlich etwas reifer geworden! Ich schäme mich, und habe Angst. Ich will immer das, was ich nicht haben kann.

Brief von Peter Huber: Bümpliz, 4.12.1949 abends 

Liebstes Lilly, 

Sei mir bitte nicht böse, dass ich Dir heute noch schreibe und an Dinge rühre, die Du vielleicht lieber vergessen möchtest. 

Ich sitze in meinem Zimmer vor der kleinen Eule und denke an unseren ersten Ball. Ein Gedanke zieht so den andern nach sich und ganz deutlich sehe ich Dich wieder Atem schöpfen beim Aufstieg zur Hütte in Grindelwald. Die Kette reicht viel weiter zurück, vielleicht liegen die ersten Glieder im Hörsaal von Schopfer. Du erinnerst Dich noch, wie wir nebeneinander meist etwas gelangweilt durch das Mikroskop das Phlorin vom Xylen unterscheiden mussten. 

Vor einem Jahr habe ich Dir etwas von der Liebe gesagt, die ich langsam zu Dir gefasst habe. Du hast damals nicht anders geantwortet als heute nach dem Ball. Und trotzdem ist diese Liebe immer weiter gewachsen, was immer auch dazwischen kam. Liebes Lilly, dagegen kann ich nichts tun. Ich stehe unter einer Macht, die ich anerkennen muss und von der ich mich nicht dadurch lösen kann, dass ich sie verneine. Ich kann auch nicht gegen sie ankämpfen, da sie zu mir selbst gehört. Woher soll ich die Kraft nehmen, um einen Teil aus mir zu reissen, der vielleicht zu meinem Wertvollsten gehört? 

Du, Lilly, musst Dir deshalb keine Vorwürfe machen. Gewiss schmerzte es mich gestern am Ball, als ich plötzlich sah, wie sich alles in Dir zusammen krampfte, gewiss schmerzte es mich heute, als ich Dich beim Theater abholte und Du so unsäglich traurig und verschlossen warst. Aber das verstehe ich ja selbst so gut, dass ich ganz verzweifelt bin, Dir nicht helfen zu können. 

Ich kann mir gut vorstellen, Lilly, dass Du heute Abend in Dein Kissen weinst, weil Du allein bist. Lilly, kannst Du daran ermessen, wie einsam ich bin? Es ist manchmal grauenhaft, und Du weisst, dass ich oft genug schweren Herzens zu meinem unseligen Matten gegangen bin. 

Darum bitte ich Dich, nachsichtig zu mir zu sein. Ich will gewiss versuchen, ob ich eine Lösung finden kann. Aber manchmal muss ich gleichwohl hart auf die Zähne beissen, um Dich nicht zu bitten, auch mich ein bisschen zu lieben. 

Lilly, Du verstehst das. Lilly.

Tagebuch (1950 - 1959)
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3.3.  Tagebücher (1938 - 1944) – Tagebuch (1950 - 1959).

Samstag, 4. Februar 1950 

Weihnachten ist weit weg – und das Wissen, dass Mueti ein Karzinom hat, ist schon erträglicher geworden, schon eingeordnet in den Gang des täglichen Lebens. Es scheint wie aus einer anderen Welt, die Erinnerung an einen sonnigen Dezembertag, wo ich wartete auf den Bericht des Arztes, der Mueti operierte und wo die gelben Wände vor dem Operationszimmer höhnisch Wache hielten.

Peter wartete mit mir auf den Bericht des operierenden Arztes. Er besuchte dann Mueti oft im Spital, brachte sogar einmal die Labormäuse, an denen er ein Medikament erforschte! - Alles ging gut, aber es gibt Tage, an denen die Angst gross wird, weil man eben Medizin studiert und weiss, dass Metastasen in der Achselhöhle da sind, und weil man weiss, wer am Ende siegen wird. Man kann auch Momente lang die Angst vor dem Tod fühlen. Meistens schiebt man diese Gedanken weg und ist glücklich, dass Mueti wieder zu Hause ist, und man denkt wie ein Laie, dass schon manches wieder gut gekommen ist. 

Es ist schon gut, dankbar zu sein; denn man hat Grund dazu. Mueti lebt, noch und es gibt auch jemanden, der einem „la petit prince“ geschenkt hat zu Weihnachten und der hie und da fragt: „Tu comprends?“

(=Budi) Pierre König

Mittwoch, 8.2.1950 

Entweder ist man sehr von sich eingenommen, oder man verliert den Mut. Warum aber ergreift man ausgerechnet einen Beruf, dessen Verantwortung zu tragen so schwer ist? Wie kann ich denn ohne zu lügen behaupten, mein Bestes geleistet zu haben? Ich weiss doch, wie unzulänglich mein Denken und besonders mein Handeln oft ist! Solange es nur um mein Leben geht, mag das Vertrauen ausreichen, aber wie will ich mir denn anmassen, in die Leben anderer Menschen einzugreifen? An mir liegt es, den andern Mut zu geben. Ein Arzt sei Seelsorger. Wie kann ich das sein, wenn die Kraft, die ich habe, bis jetzt nur aus einer Art Trotz entstanden ist? Warum rede ich mit leicht geringschätzigem Ton von der Lösung des Problems mit der Religion? 

Ich habe Geburtstag heute. Blumen, Schokolade und viele Briefe. Alte Freunde gratulieren, neue schicken Blumen. In der Küche wäscht nun ein Dienstmädchen ab. Man kann sich trotz vielen Geschenken wünschen, einmal so zu sein wie das Dienstmädchen, denn es erwartet ein Kind.

Freitag, 10. Februar 1950 

Ich hatte heute Heimweh; ich weiss nicht nach wem oder nach was – vielleicht bin ich auch nur müde, denn gestern Abend hatten wir eine Einladung. Mueti hatte seine Insel-Aerzte eingeladen und Budi, Ziegler und ich spielten das Concerto grosso in d-Moll von Vivaldi. Ich glaube, der Abend war nett. Allerdings war ich in Gedanken oft in der Waldau; denn am Morgen habe ich seit langem wieder einmal mit Dr. Bischoff gesprochen. Ich erzählte ihm auch von meinen Problemen und Ängsten – und ich holte Mut bei ihm. Meine Kollegen und Freunde sind wohl nett; aber ich glaube, Dr. Bischoff ist eben älter als ich, und zwar ziemlich viel – deshalb hat das, was er sagt, mehr Grund. Es ist seltsam, dass ich nun gar nicht mehr daran denke, ob er eine Freundin oder Braut habe, sondern dass es mir genügt zu wissen, dass er mich versteht und dass ich ihm sagen darf, wenn ich Mühe habe.

Montag, 27. 2. 1950 

Ich war letzten Dienstag als Zigeunerin am Maskenball in der Waldau. Mein Fuss schmerzte noch sehr; aber in den Zoccoli konnte ich sehr gut tanzen, besonders mit dem Ungeheuer in Grün mit den Stielaugen – alias Dr. Bischoff. Ich verlor wieder einmal alle Steifigkeit und als ich gar den letzten Tanz mit ihm tanzen durfte, war ich unverschämt glücklich. Es ist wahrscheinlich gut, dass Güggs Mueti versprochen hatte, mich mit dem Auto heimzubringen, sonst wäre ich noch geblieben bis um 3 Uhr morgens – so lange wurde ohne Patienten dann noch weitergefestet…. 

Am Donnerstag war ich in der Poliklinik, wo ich Dr. Bischoff noch einmal sah, wahrscheinlich für lange zum letzten Mal; denn in die Vorlesung gehe ich nicht mehr und nächste Woche reist er nach Berlin für ein Jahr. Auch das ist gut. 

Samstag und Sonntag lernte ich einmal das Skihüttenleben von einer sehr sehr schönen Seite kennen. Budi, Ziegler, Mani, Pat und die Schwestern Salvisberg und ich, wir wanderten im viel gerühmten „Bodmi“. Ich bin so glücklich, dass ich dabei sein durfte! Da war so viel Freude und gute Laune ohne Sentimentalität.

Freitag, 31. März 1950

Vor einer Woche lud mich Deppeler in ein Konzert ein – ich vernahm dann, dass Dr. Bischoff vor zwei Wochen geheiratet hat und mit seiner Frau nach Berlin abgereist ist. Ich reagierte seltsam…. Mir war auf einmal, als ob ein grosses Gewicht von mir genommen wurde. Wenn seine Frau ihn nur gut versteht! 

Mit Maria-Nina verbrachte ich zwei Wochen in Mürren. Ausruhen und Skifahren. Seitdem ist allerdings mein Fuss wieder schlimmer geworden, und die letzte Woche ging ich immer in die Insel, wo mir Dr. Senn Penicillin spritzte. Ich bin bis am Schluss gerne hingegangen. Dr. Senn‘s ruhige Freundlichkeit tat so gut! Am Montag kommt leider Dr. Blöchlinger wieder aus den Ferien zurück. 

Huguette und Gérard de Haller haben sich verlobt letzten Samstag. Qu‘ils soient heureux!! Grossartiges Fest in la Chaux-de-Fonds, am nächsten Tag mit Col. u. Madame de Haller nach Genf, schnell bei Maria Nina, kurze Plauderstunde mit Luc, Empfang und Nachtessen bei de Hallers und im Nachtschnellzug nach Hause. 

Am Dienstag fuhr ich per Velo bei strahlendem Wetter nach Thun zu Zimmerlis. Heute verreisen Budi, Ziegler und Mami für ein paar Wochen nach Paris. Ich glaube, ich werde recht Heimweh bekommen nach ihnen. 

Vati hat Sorgen im Büro. Er sieht müde und alt aus. Ich glaube, wir haben Mühe mit dem Geld. Wenn ich nur etwas verdienen könnte! Ich komme mir ziemlich unnütz vor diese Semesterferien. Allerdings arbeite ich theoretisch; aber man hat so das Gefühl, das sei keine rechte Arbeit. Im Übrigen liegt mir halt auch der Frühling im Blut, und ich wünschte, ich wäre richtig verliebt.

Sonntag, 15. Mai 1950 

Muttertag. Wie seltsam, dass es erst ein Jahr ist, seit ich nach Muhleren fuhr, um Mueti durch mein Kommen zu zeigen, dass ich den guten Willen hatte, gut auszukommen mit ihm und die Geschichte mit Köbi zu vergessen! Seither habe ich gelernt, Angst zu haben um das Leben meiner Mutter – und heute war ich wieder im Chalet, zusammen mit meiner Mutter, meinem Vater und Frau Berger. Man lebt so viel bewusster, wenn man einmal angefangen hat, zu überlegen, dass eines der Nächsten eine Krankheit hat, die grausam seine Kräfte aufbraucht – und man wird dankbar für jede gute Stunde, die man zusammen verbringen darf. Heute waren wir glücklich. Morgen wird es sich entscheiden, ob ich meine Praktikantenstelle vom Sommer in Bern in der Chirurgie absolvieren kann anstatt in Langenthal. Ich lasse Mueti nicht gerne allein zu Hause. Es kommt jetzt halt auf Prof. Lenggenhager an, ob er mich hier arbeiten lassen will. Ich muss morgen zu ihm. Es wird sicher gut sein, so wie es kommt.

Montag, 22. Mai 1950 

Ich darf hier bleiben im Sommer. - Übrigens habe ich letzte Woche viel erlebt. Ich glaube, dass ich recht gut lerne, andere neidlos glücklich zu wissen. Luc hat sich in Ruth Sturzenegger verliebt. Wir hatten eine Mai-Bowle letzten Mittwoch im Chalet und die zwei waren im siebenten Himmel. Wie das bei andern ganz einfach geht! Am Donnerstagmorgen machte Mueti eine kleinere Szene. Ruth und ich hatten nämlich im Chalet übernachtet und Mueti hatte plötzlich das Gefühl, wir hätten uns schlecht aufgeführt und läutete weinend an. Auch dieser Sturm hat sich gelegt – und schlecht aufgeführt haben wir uns eigentlich auch nicht, abgesehen davon, dass wir ein paar Raketen in die Regennacht aufsteigen liessen, was aber die Bauern in der Nähe nicht gestört hat.

Freitag, 26. Mai 1950 

Der Mai ist nun bald vorbei und ich bin froh, denn so ganz ohne Freund ist der Frühling recht traurig. Auch das „Quartett“ zieht sich zurück. Warum wohl? Ruth ist jetzt in dem Stadium, wo sie den Kopf verliert, wenn Luc in der Nähe ist; auch sie kann nun in der Stadt herumirren und nur noch denken, dass sie es nicht mehr aushält, ohne ihn zu sehen. Auch sie zählt jetzt mit Angst die wenigen Wochen bis zum Semesterende, weil sie weiss, dass es wahrscheinlich nachher zu Ende ist; denn man kann sich nicht darauf verlassen, dass er einem weiter liebt. Wie ich Ruth verstehe! 

Heute ging ich ganz allein in die Ausstellung der „Fauves“. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was das war – und ich schämte mich. Ich weiss so wenig über Kunst und Kunstrichtungen. Seltsamerweise ist mir gerade heute der Hirtenknabe von Murillo, der nun schon lange über meinem Bett hängt, verleidet. Das war aber bevor ich in der Ausstellung die Bilder von Matisse gesehen habe! Jetzt sehne ich mich nach Farben, nach leuchtendem Gewirr ohne viel Form! 

Ruth und ich spielten gestern die letzte Sonate für Cello und Klavier von Beethoven. Der letzte Satz mutete fremd und neu an. Luc entsetzte sich, als er erfuhr, dass wir ihn fröhlich fanden. Er sei in einer sehr schweren Zeit Beethovens entstanden und er habe wohl kaum echte Fröhlichkeit ausdrücken wollen damit. Ob wir denn das Gekonnte und Vorgemachte nicht gespürt hätten? Nein, ich nicht. Ich spüre eben oft nicht das Richtige. 

Ich liebe die Vorlesung bei Prof. Klaesi. So manches über das man nachdenkt und von dem man das Gefühl hat, es sei wohl recht geistreich und einmalig, wird bei ihm mit wenigen Worten so hingestellt, dass es plötzlich ganz einfach und klar erscheint. „Armselige Menschen, die Gott um Wohlergehen bäten! Denn leben im konfliktlosen Wohlergehen könne jeder, das sei kein Verdienst; aber sagen: Schick mir etwas, an dem ich meine Kraft und meinen Mut zeigen kann – das erst sei Leben!“ Das tönt so schön, ist aber sicher nicht weniger schwer, als das Wort vom „fröhlichen Christen“.

Sonntag, 3. September 1950 

Ich erlebte den Sommer intensiv und unruhig. Die letzten zwei Monate hatten einen vollen Klang. Ich glaube, ich darf nun wohl wagen zu gestehen, dass ich verliebt bin. Kay war plötzlich da, zur rechten Zeit. Vielleicht ist es nur das. Es begann an einem Klinikerfest in der inneren Enge. Mueti war in den Ferien und Vati auf dem Feld. Kay brauchte ein Mädchen – und ich war da. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Mann geküsst, ohne Angst vor dem „nach Hause gehen“. Ich habe die Zeit vergessen und noch am nächsten Tag wandelte ich ganz benommen umher. Das geschah allerdings erst eine Woche nach jenem Fest. Obschon ich weiss, dass es erst ein halbes Jahr her ist, seit er von seiner Freundin, mit der er drei Jahre lang Bekanntschaft hatte, verlassen wurde, ich bin trotzdem glücklich bei ihm. Er hat sie nicht vergessen, und ich bin wohl nur Ersatz – es macht nichts. Ich bin in den letzten Wochen anders geworden; freier und meiner mehr bewusst. Vielleicht ist auch zum Teil meine Arbeit schuld. Chirurgie und gute Kameradschaft mit meinen Kollegen. Mir ist, als würde die bisher weiche Masse meiner Persönlichkeit langsam eine bestimmte Form annehmen. Übrigens lerne ich Autofahren. Jetzt sollte ich den Kater ausschlafen, den ich gestern erworben habe. Ein Fest bei Königs in Thun. Musizieren und Tanzen bis morgens um 4 Uhr. Kay war dabei. Ich schlief bei Zimmerlis in Thun und reiste mit Kay heute morgen nach Bern. Besuch von Tante Erna und Ruedi aus Menziken.

Sumiswald, 2. 10. 1950 

Ich vertrete einen Assistenten im hiesigen Bezirksspital, d.h. bis jetzt habe ich noch nichts getan. Heute morgen bin ich hierher gereist und den ganzen Nachmittag sass ich in meinem Zimmer und las in den Lehrbüchern meines Vorgängers. Ich habe das Telefon und ein Radio. Das Essen wird mir aufs Zimmer serviert. Ja, und ich habe eben schon etwas Heimweh nach meinen Berner Patienten und nach dem Assistentenzimmer in der Insel. Aber hier verdiene ich etwas und überhaupt ist es gut, wenn ich hie und da „verpflanzt“ werde; denn ich neige dazu, Wurzeln zu treiben und es fällt mir schwer, sie zu lösen, wenn es Zeit ist. Jetzt beginnt es zu regnen, - und ich denke an Kay und daran, dass er mir jetzt fremder ist als am Anfang unserer Freundschaft. Er hat mich wohl gern, aber ich muss es merken an Kleinigkeiten. Er tut mir zuliebe, was er kann; aber bei ihm habe ich Heimweh nach Zärtlichkeit, und das gibt er mir nicht. Ich verlange wohl zu viel – und vielleicht bin ich auch selber schuld, denn ich verstecke vieles hinter einem burschikosen Wesen – dabei hoffe ich aber, der andere merke, wie mir wirklich zumute ist!

Dienstag, 3.10.1950 

Mein erstes Tagewerk in Sumiswald ist zu Ende. Ein grosser Unterschied zu demjenigen in der Insel! Der Tag beginnt mit Spritzen – und hier ist niemand, der sie dann macht, wenn ich nicht in die Vene gelange! Dann kommt die Visite mit einem der drei hier befehlenden Ärzten. Ein sonderbares System! Zwischenhinein treten Patienten ein; also Status aufnehmen. Heute kamen zwei Soldaten. Männer müssen hier halt auch von mir untersucht werden. Um 11.30 beschloss Dr. Müller, einen Blinddarm zu operieren. Selbstverständlich nahm er an, dass ich assistiere. Ich wagte nicht zu sagen, dass es mir bis jetzt meistens übel wurde in der Insel. Hier gings, Gott sei Dank! Die Fälle von heute:

Gastritis

Unklarer Status febrilis

Oberschenkelbruch bei 3 jährigem Knaben

Appendektomie. 

Jetzt bin ich schon im Bett, obschon es erst 21 Uhr ist. Die Schwester Louise meinte tröstend, ich soll schlafen, so lang ich könne, man müsse noch genug nachts aufstehen!

Samstag, 7. 10. 1950 

Mir ist noch kaum eine Woche so schnell vorbeigegangen wie die letzte. Es geht schon ganz gut, nur wenn ich etwas freie Zeit habe und in der strahlenden Herbstsonne einen Bummel über die Felder mache, habe ich Heimweh nach jemandem, der sich mit mir freuen würde. 

Ich bin heute dem Arzt auf der Tbc Station zugeteilt gewesen. Ein trauriger Morgen. Durchleuchten,
ein Raum nur spärlich beleuchtet und dann die elende Prozession derer, die resigniert oder gleichgültig den Bericht entgegennehmen: „Status quo – oder: keine Besserung“. Dann die Visiten. Viele unzufriedene Gesichter. Sie meinen alle, es sei uns eine Freude, sie hier zu behalten – sie glauben, wir wissen nicht, dass sie Heimweh haben. Keiner denkt daran, dass ihre offene Tbc eine Gefahr für die zu Hause wäre. Alle wollen leben. Die Frauen sind viel zufriedener hier. Sie arbeiten. Ja, wenn das Stricken nicht wäre! 

Dr. Blatter machte mir heute einen Mentoux 1:1000. Wenn er negativ ist, darf ich nicht mehr auf die Tbc Abteilung. Er will die Verantwortung nicht übernehmen. Seltsam, wir Jungen denken gar nicht daran, welchen Gefahren wir ausgesetzt sind. Es ist weder Fatalismus noch Heldentum. Man denkt einfach, es geschehe einem nichts. Mit Dr. Müller komme ich schon ganz gut aus. Er ist ein hässlicher Mann und als er heute ein Myom abtastete, sah er aus wie eine groteske Figur aus einem Theater. Langsam merke ich aber, dass er ein goldiges Herz hat. Für seine Patienten hat er immer Zeit. 

Nun ja, Samstagabend, ich habe gebadet, vergeblich auf ein Telefon von Kay gewartet und noch ein wenig Radio gehört.

Sumiswald, Freitag, 20. Oktober 1950

Meine Assistentenzeit hier ist zu Ende – und wieder habe ich viele Menschen kennen und lieb haben gelernt. Ich weiss jetzt, dass man vor Müdigkeit erbrechen kann, ich weiss, wie einem zu Mute ist, wenn man mitten in der Nacht geweckt wird, um beim Operieren zu assistieren. Ich habe gelernt, mit Gleichmut auf einen angemeldeten Notfall zu warten – und noch etwas: Nämlich, dass der Operationssaal einem lieb werden kann mit seiner Ruhe und seinem Licht. Alles, was draussen geschieht, ist nicht mehr wichtig. Herrn Dr. Müller zu assistieren ist wunderbar. Beim Operieren wird er plötzlich ausgeglichen und glücklich – das wirkt ansteckend. Wer hätte gedacht, dass ich imstande wäre, bei einer Sectio zu helfen? Bei Dr. Müller ging es gut. Auch bei einer supravaginalen Uterusamputation war ich dabei, dann Nabelhernien, offene Beinbrüche, einen perforierten Blinddarm, Zwillinge! 

Über Mittag oft eine freie Stunde auf der Terrasse oder ein Spaziergang über die herbstlichen Felder – es war eine gute Zeit. 

Am Sonntag kamen meine Eltern auf Besuch. Es war ein glücklicher Tag.

Bern, Dienstag, 7. 11. 1950 

Ein grauer Tag innen und aussen. Seit zwei Wochen bin ich wieder auf der Chirurgie und zwar jetzt bei Dr. Wepf auf der neurochirurgischen Abteilung, Oberarzt Dr. Markwalder. Ich durfte sogar einen Magen assistieren helfen. 4 ½ Std. - und es wurde mir nicht übel. Heute morgen hielt ich nur mit Müh und Not – und Coramin Kaffee durch. Am Abend habe ich nun den ersten Menschen sterben sehen. Nicht dramatisch. Ich wurde auch nicht traurig. Er gehörte einfach plötzlich nicht mehr zu uns – und der Verband an seinem Kopf wirkte wie ein Hohn. 10 Min. vorher hatte ich ihm noch Strophosid gespritzt; die Frau weinte grässlich und glaubt nun wahrscheinlich, dass wir schuld sind am Tod ihres Mannes. Wer weiss, ob wir es wirklich sind? Wir wissen ja nicht, ob es sich um einen Hirntumor gehandelt hat. Die Diagnose war unklar, folglich die Therapie nicht zielgerichtet – ja sind wir nun schuld? 

Dann bin ich zu Frau Hubolz gegangen. Sie hat mich gerade noch erkannt. Ich habe sie lieb gehabt diese Frau, die bei uns im Spital sterben wollte. Ich lehne mich nicht mehr auf gegen den Tod; aber ich liebe das Leben wie ein teures Geschenk.

Donnerstag, 16. November 1950 

Da glaubte ich, nun mit ruhigem Ernst arbeiten zu können – und jetzt bin ich schon am ersten Tag des neuen Semesters wieder ziemlich hilflos. Was ist mit Kay? Er behandelt mich wie Luft. Ich weiss nicht, ist er nur abweisend oder ist er verwirrt. Er weicht mir aus – oder glaube ich das nur? Oh, wäre ich doch noch auf der Klinik. Da war ich glücklich und da habe ich vergessen, dass ausserhalb so vieles unklar ist! Ich habe eine Hernie operieren dürfen zum Abschied meines Praktikums. Ich erzählte es strahlend Kay und hoffte, er würde sich ein wenig freuen. Ich merkte dann, dass es wohl nichts Gleichgültigeres gab, als das für ihn. Ich habe nicht gewusst, dass Gleichgültigkeit so ekelhaft ist. Man stösst ganz einfach in einen luftleeren Raum. Es geht mir bei Kay oft so, dass ich etwas mit Freude erzähle, darauf wartend, dass er reagiert; sieht er mich dann erstaunt und ohne ein kleines Lächeln an, dann komme ich mir so blossgestellt vor, so wie wenn ich vor vielen Leuten etwas Dummes gesagt hätte. Ich habe Angst vor ihm.

Weihnachten 1950 

Es war nicht leicht. Jetzt aber bin ich so glücklich wie noch nie. Kay dachte nur noch an seine Freundin, er konnte sie nicht vergessen. Nachdem er es mir gesagt hatte, war ich viel tapferer. Ich begriff auch, dass er mit ihr an den Uni Ball ging – ich begriff plötzlich alles. Leichter gewesen wäre es schon, wenn ich mich erzürnt zurückgezogen hätte. Meine Eltern verstanden mich nicht, liessen mich aber diesmal handeln, wie ich es für gut fand. 

Inzwischen hat Kay mich wohl auch etwas lieb gewonnen. Er wird Bohni nicht vergessen, aber das verstehe ich. Wir haben nun auch schon vieles erlebt. Und ich weiss, dass Kay bei mir glücklich sein kann. 

Ich bin sehr dankbar für diese Weihnacht. Mueti lebt noch und ich habe einen Menschen so lieb, dass ich mich fast ein wenig fürchte vor den 10 Tagen, die ich jetzt ohne ihn sein werde.

Donnerstag, 1.2.1951 

Die 10 Tage im Engadin mit Familie Sturzenegger waren herrlich. Wohliges Ausruhen, Pelzschlittenfahrten und nette Menschen. 

Seither habe ich schon wieder vieles erlebt. Budi hat mir gestanden, dass er mich sehr lieb habe und mich heiraten möchte. Er glaubt, dass ich mit Kay nicht glücklich werden könne. Wie dankbar wäre ich gewesen, wenn Budi letzten Sommer ehrlich und mutig zu mir gestanden wäre! Jetzt ist es zu spät. Es schmerzte schon, als er alles antönte, was mir lieb war. Unser Musizieren, viele Feste, manche schöne zusammen verbrachte Stunde. Aber ich wusste, dass ich zu Kay gehöre. Das erste Mal in meinem Leben habe ich den Mut, ja zu sagen zu meinen Gefühlen. So also ist es, wenn man glücklich ist – und einen andern Menschen glücklich macht!

Dienstag, 20.2.1951 

Wir haben letzte Woche Mani besucht. Er hat wieder ein Infiltrat im linken Lungenlappen; das heisst für ihn, dass er das Staats jetzt nicht machen kann und dass er wieder ein halbes Jahr nach Montreux gehen muss. Wir haben am Samstag noch einmal zusammen musiziert. Es ist so schwer, zu sehen, wie unser Mani, der das Frohsein so sehr lernen musste, nun auch das Tapfersein zeigt. Ich werde nicht vergessen, wie er müde am Fenster stand, mit seiner grünen Weste, wie seine langen überzarten Hände nachlässig und verloren auf der Stuhllehne lagen. 

Prof. Klaesi fragte mich heute nach der Vorlesung, ob man eigentlich etwas davon habe. Er fürchtete, allzu ideenflüchtig geredet zu haben. Er dauert mich. Mit seiner ganzen geistigen Überlegenheit ist er doch einsam. Er gibt uns so viel. Was aber geben wir ihm? Vielleicht hätte man die Pflicht, selbst einem Professor, wenn man doch merkt, dass er es nötig hätte, zu helfen. Nur ist das sehr schwer, denn vor dem Staatsexamen sähe das allzu sehr nach Schmeichelei aus – und das möchte ich vermeiden. 

Kay lebt ganz auf. Jeder Tag ist ein kleines Fest für uns.

Donnerstag, 1. März 1951 

Heute ist alles wieder besser. Es ist sicher leichter, in einem fremden Land zu sein und Heimweh zu haben nach einem lieben Menschen, als bei ihm zu sein und unsägliche Sehnsucht nach Weite und Unabhängigkeit zu haben. Wir haben wohl noch vieles zu lernen, Kay und ich. Obschon Budi mich besser versteht, obschon er gewandter und gesellschaftsfähiger ist, was mich an meinem Hausball letzten Samstag freute – bleibe ich bei Kay. Es wäre wohl gut, wenn wir bald heiraten könnten. Ob wir einmal zusammen kommen? In seiner Familie ist alles wohlgeordnet, streng und gediegen. Ich habe dort immer das Gefühl, etwas falsch zu machen.

Mittwoch, 18. April 1951 

Ich hatte nicht den Mut, einzuschreiben, wie glücklich ich bin. Kay ist im Staats, es geht ordentlich bis jetzt – und ich liebe ihn. Gestern sah ich zum ersten Mal seit einem Jahr Dr. Bischoff wieder. Ich freute mich über das Wiedersehen, ich war froh, ihm mitteilen zu können, dass es unserem Schützling Alice gut geht, ich gratulierte zu seinem Sohn – es war keine Spur Unruhe in mir. 

Nur eben, es war doch ein schwarzer Tag, Mueti erhielt zwar wieder guten Bericht über seinen Gesundheitszustand, wir pflanzten ihm zur Vorsicht eine Perandren Tablette ein; aber Dr. Blöchlinger hat mich sehr dumm hingestellt. Er findet, ich sollte unbedingt im Herbst ins Examen steigen. Da hat er mich an einem wunden Punkt erwischt; eigentlich möchte ich das schon tun, aber mit meinen zwei Monaten Poliklinik und der beabsichtigten Englandvisite wird es nicht möglich sein. Meine Unzufriedenheit mir gegenüber äusserte sich in Gehässigkeit gegen Mueti, welches wiederum nicht verstand, dass es meine schlechte Laune am besten allein verpuffen lassen sollte – so dass wir seit langem zum ersten Mal wieder richtig Streit bekamen. Bei mir ist der Ärger längst vergangen; aber Mueti hat nun Mühe wieder den Rank zu finden. 

Heute habe ich meiner Schwiegermutter in spe einen Geburtstagsstrauss gebracht, was ihr sehr Freude bereitete. Zum schwarzen Kaffee wurde ich dann in den Tantenkreis an der Helvetiastrasse eingeladen. Ich habe sie alle ein wenig gern (die Tanten nämlich!), denn sie gehören zu Kay; seiner Mutter hoffe ich, mehr als nur oberflächlich nahe zu kommen; denn unter ihrem Wesen der Strenge, vor allem gegen sich selbst, und ihrer Korrektheit, hoffe ich, viel Herzensgüte und Humor zu finden.

Sonntag, 29. April 1951 

Jetzt ist mir wieder so zu Mute wie früher jedes Mal nach einem Fest. Vielleicht ist es Katertraurigkeit. Ich war gestern mit Kay am Patriaabend; am Anfang war es schwer, denn ich spürte, dass Kay durch alles an Bohni erinnert wurde. In solchen Augenblicken kann ich jeweils nichts machen als warten. Mir fällt das schwer, obschon ich weiss, dass „Geduld und Güte“ nötig sind (besonders die Geduld macht mir Mühe)! Wie anspruchsvoll wir sind. Noch vor einem halben Jahr wäre ich glücklich gewesen, wenn Kay sich bei mir wohlgefühlt hätte, jetzt wünschte ich schon, er hätte Heimweh nach mir!
*

Donnerstag, 3.5.1951, Auffahrt. 

Ich habe das letzte Mal nicht weiterschreiben können, weil Kay kam! Ich glaube einfach, ich verdiene gar nicht ihn kennengelernt zu haben. Selbst Mueti hat ihn gern. Wie das wohl herauskommt? 

Ich habe jetzt 2 Monate Poliklinik.

Dienstag, 15.5.1951 

Drei Tage mit Kay im Schilt in Quinten, drei Tage wie in einem Märchen; wohl behütet von Tante Lisa und Götti „Geiss“. Endlich einmal Kay gelöst und glücklich gesehen. 

Mütter sind sicher weise Wesen; aber sie sollten nicht so selbstsicher über ihre Kinder urteilen! So sollte nie eine Mutter versichern, ihr Kind sei so erzogen, dass sie es ruhig mit einer jungen Dame in die Ferien gehen lassen könne, ohne dass man Angst zu haben brauchte. Eine Mutter kennt halt ihren Sohn wohl jahrelang als Kind, wie er als junger Mann ist, das muss sie wohl der jungen Frau überlassen, es zu wissen. „Brav sein“ wie wir es noch verstehen, ist hart. Wie lange wir es noch sein können, weiss ich nicht.

Sonntag, 21. 10. 1951 

Inzwischen habe ich mit meinen Eltern herrliche Ferien in England verlebt – und Kay und ich gedenken uns bald einmal zu verloben. Als nur wir beide davon sprachen, wünschte ich mir den Moment sehnlichst herbei; aber jetzt ist unsere Zukunft schon nicht mehr ein Geheimnis, nun werden bereits Pläne von Seiten der Eltern gemacht, und unsere schönste Zeit ist vorbei. Ich war heute mit meinen Eltern in der La Sange. Mir schien, es könne nicht möglich sein, dass es nun 20 Jahre her sind, seit ich dort mit Gusti herrliche Ferien verlebt habe. Nirgends ist mir die Erinnerung an meinen Bruder so lebhaft wie dort – ich fühlte, wie wir hintereinander den langen Damm zum See überschritten, ich atmete den Schilfgeruch und dachte, nun müssten seine Hände mich führen wie damals, als ich noch seine kleine Schwester war. Ich weiss nicht, ob ich Heimweh nach Gusti hatte, oder nach meiner Kindheit. Fast scheint mir, das sei nun dasselbe. Was zurückliegt scheint so geborgen, doch vor dem Kommenden fürchte ich mich.

Samstag, 3. 11. 1951 

Kay ist in Paris für eine Woche – und meine Gedanken sind bei ihm. Wir werden ein eigenes Heim haben … einmal. Lieber Du, so hast Du nun aus mir das gemacht, was viele vor Dir versuchten: einen glücklichen Menschen.

Samstag, 10. Mai 1952 

Ich werde wohl nie sagen, dass das Staatsexamen eine schöne Zeit sei! Dazu noch verlobt zu sein ist auch keine Erleichterung, besonders wenn der Bräutigam 17 Wochen im Dienst ist und dort mit Schwierigkeiten aller Art fertig werden muss. Trifft man sich dann am Wochenende, ist die Spannung so gross, dass man sich plötzlich ganz fremd und sogar feindlich gegenübersteht. Mueti zeigt für Examenssituationen auch nicht gerade grosses Verständnis. So pendelt das Verhältnis immer zwischen Gereiztheit und Nörgeleien. Kay und ich haben eine sehr vage Zukunft. Wann und wo wir endlich zusammen sein dürfen, wissen wir nicht. Es ist keine gute Zeit.

Bern, den 29. 5. 1952 

Da wird man dann weich, sie schmelzen einem – und wenn sie soweit sind, lassen sie uns erstarren; doch denken sie nicht daran, dass das einmal Geschmolzene härter wird. Nun, es kann eben nicht alles zum Blühen kommen, was sich darnach sehnt. Und dann gibt es zum Trost ja noch eine Schwiegermutter, die einen lehrt, auch mit einem müden Rücken aufrecht am Tisch zu sitzen.

Freitag, 13. Juni 1952 

Nun bin ich angestellt für den 1. August in der Anstalt Münsingen. Ganz plötzlich, so plötzlich, dass ich gar nicht froh bin – und doch ist es eine gute Lösung. Kay kann nun nicht nach Interlaken auf die Chirurgie. - Und am Dienstag beginnt der mündliche Teil des Staats….

Freitag, 28. November 1952 

Jetzt ist es schon wieder Herbst, innen und aussen. Kay hat seine Stelle in Holland vor zwei Wochen angetreten – Walter und Aenni haben geheiratet und ich fahre jeden Tag in die Irrenanstalt. Bevor Kay für ein Jahr wegging, waren wir zusammen in Paris. Nicht ganz zusammen – immer noch nicht. Langsam fürchte ich mich nun, dass dieses Warten auf eine Erfüllung allzu lange dauern muss bei uns. Ich fürchte mich auch vor der Veränderung, die wir beide in dieser Zeit der Trennung durchmachen werden. Wie wir uns wieder finden? Kay ist erst zwei Wochen fort – und wenn ich die Augen schliesse, kann ich mir sein Gesicht schon nicht mehr deutlich vorstellen. Seitdem er fort ist, bin ich leer. Es freut mich nicht, am Morgen aufzustehen, die Tage scheinen lang und sinnlos. Ich weiss, dass ich das nicht sagen dürfte, wo ich doch jeden Tag zu meinen Patienten gehe. Oft wenn ich sie aber in ihren Betten liegen sehe, sind sie mir plötzlich gleichgültig. Fremde Menschen und fremde Schicksale, die mich nichts angehen. Dann reisse ich mich zusammen, versuche zu trösten – und hoffe, dass sie nicht merken, dass sie eigentlich die Betrogenen sind. Oft bin ich gereizt, ich habe Launen, dann wieder habe ich Lust, bei irgend einem fremden Mann zu fühlen, dass ich ihm gefalle.

Freitag, 19. 12. 1952 

Vor einem Jahr war Poliklinikweihnacht – und dann sind Kay und ich auf den Gurten gegangen und haben uns verlobt. Eine Ewigkeit verging seither! Es geht ihm gut, die Briefe werden seltener, dafür länger und man spürt gute Laune drin. Zum Glück. Mir scheint, die Zeit stehe still. Ich beginne, meine Arbeit zu hassen. Eine neue Abteilung Männer, ich weiss nicht einmal wieviele es sind. Dr. Walther hat sich überhaupt nicht mehr um den Betrieb gekümmert, bevor er wegging. Nun weiss ich nicht wo anfangen. Man sollte Zeit, Geduld und Fähigkeiten haben. Komischerweise scheint mir letztere fehlen am wenigsten. 

Die Träume werden hässlich. Gestern träumte ich, ich sollte bei einem Patienten an seinem schon halb amputierten Fuss einen Faden entfernen. Er versuchte, mich zu umarmen, hakte mit dem amputierten Bein nach mir, und ich schrie um Hilfe. Die Schwester war im Nebenzimmer, und ich hatte das Gefühl, sie höre mich, kam aber trotzdem nicht. Es war grässlich. Im gleichen Traum war dann Kay. Lebendig und tröstlich hielt er mich in seinem Arm, ich wollte einschlafen bei ihm – da erwachte ich.

Mittwoch, 11.2.1953 

Wieder ein Traum; einer der mich den ganzen Tag nicht recht los liess, und dem ich wohl auch nicht entgehen darf: Ich fahre im Topolino mit meinen Eltern auf einer sehr glatten Strasse (das ist momentan so) und wir verunglücken. Der Wagen überschlägt sich ein paar Mal und wir bleiben umgestürzt liegen. Wir leben alle, aber ich habe das Gefühl, dass der Wagen in einen Abgrund stürzen wird, sobald sich einer drin bewegt. Da beginnt Mueti sich zu regen und versucht, eine Türe zu öffnen, was mich erschreckt. Plötzlich kann ich ganz leicht das Verdeck öffnen und aussteigen – was mit den Eltern geschieht, weiss ich nicht. Ich bin aber verletzt und fühle mich schwindlig und die Kollegen von Münsingen sagen, ich hätte eine Hirnerschütterung. Auch einen Zahn habe ich eingeschlagen. - Nachdem ich nun schon so viel über Analyse gehört habe, komme ich schon in Versuchung, den Traum zu deuten. Momentan ist ja die Situation zu Hause so, dass ein Gleichgewicht nur durch grösste Anstrengung möglich ist. Und dass das „Aussteigen“ nicht ohne Kampf und Verletzung vor sich geht, ist auch offensichtlich.

Holland, Donnerstag, 20. August 1953 

Am 22. Juli haben wir geheiratet. Ein Monat ist vorbei. Ich habe einen neuen Namen, sitze in einem fremden Land und bin traurig. Es ist nicht immer so, es gibt Augenblicke, wo ich glaube, dass es gut kommen wird, wo ich eine tiefe frohe Liebe zu Kay habe. Aber jetzt habe ich Heimweh, früher nannte ich es Sehnsucht nach Kay, jetzt kann ich dem Gefühl wohl nicht mehr diesen Namen geben, obwohl er immer noch passen würde. Wie wenig eines vom andern weiss. Was geht in ihm vor, wenn er schweigt? Versuche ich, ihm von den Gedanken, die oft ziemlich wirr durch meinen Kopf gehen, zu erzählen, so ist die Antwort meistens: Nimms nicht tragisch!“ Denkt er wirklich nichts dabei oder will er sich einfach nicht aussprechen? Unsere Ehe sollte doch mehr werden als ein höfliches Nebeneinanderleben. Nun sitze ich bereits wieder abgekapselt da und schreibe, anstatt das Zimmer aufzuräumen und Geschirr zu waschen – und ich weiss doch, dass ich fröhlich sein sollte, ich kann es ja, war es doch so von Herzen in England. Ist die Ehe wohl doch etwas eine Flucht von zu Hause?

8. Dezember 1956 

Die Jahre gehen wie Tage dahin. Warum gerade heute das Bewusstsein des Lebens, des In-die-Welt-gestellt-seins? Wohl durch den Tod eines Kindes. Peters Kind Fränzeli wurde heute beerdigt! Unsere Kinder aber leben, atmen, träumen nebenan in ihren Bettchen. Sie gehören uns noch, ach und wie ist unser Leben gross und voll geworden durch sie – und wie dankbar möchte man sein für das erfüllte, gute, herrliche Leben. Dies schreibe ich nach dreijähriger Ehe mit meinem Kay, den zu lieben ich jeden Tag wieder neu empfinde und dem ich so nahe gekommen bin, wie nie einem Menschen zuvor. 

Unsere Familie wächst – sie wächst mir sozusagen über den Kopf. In unseren drei Zimmern verteilen sich ausser Thomas und Anneli noch zwei Ungarinnen. Flüchtlinge. Antonia, die Braut eines todkranken jungen Mannes und seit 4 Tagen auch noch dessen Mutter, die in einem Lager in Oesterreich den Bericht erhalten hat, dass ihr Sohn nicht mehr lange leben wird. Beide Frauen sind rührende Seelen, die mir gerne bei jeder Arbeit helfen; aber es ist ihnen alles so fremd und neu hier, dass es oft schwierig ist, sie zu beschäftigen. Dazu bedrückt es einem einfach auch, nie allein in der Wohnung zu sein – wie verwöhnt man doch ist! 

Das Wichtige ist ja nur, dass Kay und ich so sehr zueinander gehören. Kay spielt seit einem Jahr Klarinette und hat riesig Freude daran. Wir möchten nun ein Klavier kaufen, damit wir in der kurzen Freizeit zusammen wenigstens Musik machen können. Zuerst wollten wir eigentlich eine Waschmaschine, aber ein Klavier ist billiger, wenigstens ein altes, und für das Gemüt sicher besser!...

16. 2. 1957 

Wie sich das Gesicht des Samstags verändert: In der Schule, im Gymer, vor allem bestand es immer in einem grossen Warten; man machte zuerst mit der Mutter in der Stadt Kommissionen, trank auch wohl noch etwa Tee und erhielt, wenn es hoch kam, eine Bluse oder ein Paar Schuhe – und wartete, ob zu Hause schon ein Velo im Garten stünde, das einem Freund gehörte. Ach, selige Samstagabendfahrten! Oft auch ein Fest am Abend. Später wurde es noch schöner, da war es immer der gleiche Kay, der kam …. Und jetzt? Ja, nun hat man eben selber die Einkaufstasche am Arm und rennt von einem Laden zum anderen, denkt, ob das Brot wohl reicht und ob etwas im Speiseschaft stehe für unerwartete Besuche. Man geht mit den Kindern spazieren, wie jeden Tag, man hat die Wohnung geputzt und sieht mit leiser Trauer, dass bis am Samstagabend nicht mehr viel Glanz übrig bleibt. Es wartet auch kein Velo mehr vor der Haustür – ja und ein Fest gar ist so weit weg aller Möglichkeiten wie das Besitzen eines Klaviers; aber Anneli knabbert dafür zufrieden an seinem Zwieback, bringt mir seine Puppe zum Spielen und ruft herzig: „Mamiii!“ Z‘Nacht essen darf ich mit Kay im Spital. – Sind das etwa nicht auch kleine Feste?! Und morgen kommt Thomas aus den Ferien mit dem Grossmueti heim.

10.2.1959 

Manchmal liegt plötzlich mitten über einem strahlenden Sonnentag dumpf das Gefühl eines Verhängnisses über mir. Ich weiss nicht, ist es eine Angst um einen geliebten Menschen, eine unbestimmte Angst, mein Kay könnte krank werden oder das drohende Ungewisse über unserem Menschenschicksal überhaupt. Ausser einer Unruhe, die sich in einer etwas planlosen Überbeschäftigkeit äussert und ausser dem Drang, Märchen oder Briefe zu schreiben, merkt man mir wohl diese Gefühle nicht an. Ich bin auch nicht eigentlich unglücklich. Es ist als ob ich jeden glücklichen Moment doppelt geniessen dürfte und dafür jeden Tag dankbar sein sollte. Kay und ich verstehen uns so, wie man denkt, dass es nur selten zwei Menschen vergönnt sein kann, sich zu verstehen. Unser jüngstes Kind, unser Walti ist ein Sonnenschein, und Thomas und Anneli entwickeln sich zu munteren Knirpslein.

24.8.1959 

Sechs Ehejahre und ein halbleeres Tagebuch sehen mich an und mahnen. Ich will doch versuchen, aus der Erinnerung zusammenzutragen, was mir besonders deutlich blieb. Ja, da war jener heisse, beinah beängstigend windstille und klare Hochzeitsmorgen im Juli 1953. Wie immer hatte ich gut geschlafen, trotz des Bewusstseins, dass ich für immer mein grün tapeziertes Mädchenzimmer mit dem gemusterten Bettüberwurf und den gleichen Vorhängen verlassen würde. Wie meist in wichtigen Augenblicken, war meine Mutter nervös, fand sich zu wenig elegant im neuen Kleid, hatte rote Flecken im Gesicht und war dem Weinen nahe. Wie ein unruhiger flatternder Vogel irrte sie in der Wohnung umher, gab Anweisungen, schluchzte ein wenig, versuchte zärtlich zu mir zu sein und fand den richtigen Ton nicht. Ebenso wenig fand sie ihn zu meinem Vater, welcher mit plötzlichem Fieber glühend im Bett lag. Armer, lieber Vater! Es war für Deine stille Art wohl der einzige Weg, doch auch beachtet zu werden und zu zeigen, wie sehr Du an mir hängst. Hab Dank dafür! Mit Herzklopfen und Lächeln erwartete ich Kay, den ich ja erst am Tage vorher nach monatelanger Abwesenheit wieder gesehen hatte. Er war durch seine Assistentenzeit auf der Pathologie in Holland sehr anders geworden, fremder, männlicher, und ich hatte Mühe, in ihm den gleichen jungen Mann wieder zu sehen, mit dem ich mich ein Jahr vorher verlobt hatte. Nur eines war ganz gleich: seine Augen, seine beruhigende Gegenwart, das Gefühl, bei ihm geborgen zu sein. Man sagte, er sei hübsch, ich weiss es nicht. Alles was ich spürte, war Kraft, alles, was ich sah an ihm, war Güte – und etwas geheimnisvoll Verschlossenes. Vielleicht das, was man in Geschichten an einem jungen Arzt zu rühmen pflegt…. 

Der Morgen wurde heisser, der Vater stand auf und machte sich zurecht. Jan, der Brautführer, Agnes die Brautjungfer rückten an und kamen mit auf‘s Zivilstandsamt. Seltsam, aber ich kann nicht mehr sagen, welches Kleid ich trug! In meiner Hand hielt ich das kleine Paket, welches mir Kay mit einem Kuss überreicht hatte. Ich wollte ernst sein, doch sorgte der Zivilstandsbeamte dafür, dass diese Stimmung nicht aufkam. Mit viel pompösen und leeren Worten sprach er über die Ehe. Ich sah nur den zappligen Mann hinter einem Tisch, sah magere Blümchen in einer Vase, die Gratulation des Staates an ein neuvermähltes Paar. Ich sagte, wie es sich gar nicht gehört: „Auf Wiedersehen“ zu dem trockenen Beamten und wanderte mit meinem Mann am Arm und dem verheissungsvollen Päcklein in der Hand zum Hause des Gesetzes hinaus. Doch sollte ich von nun an ja in einem neuen Gesetze wohnen. Nun, der Ernst der Stunde wurde übertönt durch unsere gute Laune, durch unser – wohl etwas forciertes – Lachen. Wir rückten unserem Durst in einem kleinen Restaurant zu Leibe und wechselten dort die Getränkekarte mit der uns mitgegebenen Namensliste: „Wie soll ihr Kindlein heissen?“ aus und kamen uns sehr originell vor! An unser „Kindlein“ hatten wir eigentlich noch gar nicht sehr gedacht im Augenblick. Zu Hause waren inzwischen die Gäste angerückt, sie strömten in Scharen in unseren Garten, wimmelten bunt die graziösen Damen in langen Kleidern und erfrischten sich an verschiedenen Säftlein. Mitten drin die Tanten. Ein Begriff. Tante Hanni, ledig und alt; aber mit Schmuck behangen, fromm und redselig und überzeugt, dass ihr Neffe, also jetzt mein angetrauter Gatte, der beste Arzt, der beste Mensch und natürlich auch der allerbeste Ehemann sei. Überzeugt, dass das Mädchen, welches das Glück hatte, diesen Menschen zu gewinnen, auf ewig dem lieben Gott dankbar sein sollte. Daneben aber eine gütige Seele, wie ich später immer deutlicher sehen lernte! Tante Emilie, ebenso ledig, ebenso fromm und alt, aber mit gütig verschmitzten Äuglein, die oft so schelmisch blickten, wenn sie ihren geliebten Neffen betrachtete, als wollten sie sagen: „Wir lieben Dich sehr, doch erinnern wir uns an manchen Streich und wir wissen, dass Du auch als kleiner Knirps Deinen Willen hattest.“ Als wollten sie sagen: „Gott behüte Dich und lasse Dich und Deine junge Frau glücklich werden.“ Ja, vielleicht sogar mehr: „Lass sie fröhlicher werden als ihre Eltern es je waren“… Wir sind aber mit der Tantenschar noch nicht zu Ende, prangt doch im Seidenkleid und grossem weissen Hut die Tante Lisa, fast möchte man sagen: ihre Majestät. Dem Neffen gleichend, doch mit stolzer Haltung alle Gäste musternd und begrüssend gleicht sie einer Herrscherin, die die Parade abnimmt. Und sie hat auch Paraden abgenommen, drüben im holländischen Südamerika, wo sie ihren Mann, den Botanikprofessor 25 Jahre lang begleitete. Meine Tanten und Onkel? Ach ja, da wäre eine einzige zu nennen, doch sie ist nicht hier. War sie zu wenig vornehm, die kleine rundliche Schwester meines Vaters? Ich bin in keinem Verwandtenkreis aufgewachsen und habe mich oft gesehnt nach jenem „Onkel“, der immer zur Stelle war, wenn man ihn nötig hatte. Die Sonne glühte immer noch, während ich in das weisse Kleid schlüpfte, mich hinter einer Wolke von Tüll geborgener fühlte und von der Terrasse auf die Menschen im Garten blickte. Unter meinem Lieblingsbaum auf dem ich – war es nicht erst gestern? - wilde Träume geträumt und Vater und Mutter mit unreifen grünen Früchten boshaft beschossen hatte – trieb die Menge Konversation. Menschen aus Holland, Freunde von Kay, von mir, von unseren Eltern, stellten sich vor, wogten über den Rosen – und freuten sich über das bisschen Schatten, das jeder Baum bot. Dann kam mein Kay. Mein kleines Päcklein war geöffnet und an der silbernen Puderdose freute ich mich doppelt. An ihrer zierlichen Form und dem kleinen Spiegel; aber mehr noch weil ich wusste, wie sehr Kay gegen jede künstliche Aufmachung war. Ach, wie oft hatte ich ja schon mein etwas gefärbtes Mündchen – oder seien wir doch ehrlich, meinen sonst schon nicht zu übersehenden Mund wieder abgewischt beim Nahen meines Liebsten! Dass er sich nun doch zu etwas „Tünche“ bekannte, machte mir riesig Freude. Nun ging ich mit Kay hinunter zu all den Gästen, ich liess mich tragen von einer Wolke aus Rührung, Freude, Erwartung – und etwas Angst. Man fuhr zur Kirche, ganz nah, sie war mit Blumen geschmückt und herrlich kühl. Wir wären so gern in unserem treuen alten „Bijou“, dem Topolino, hingefahren, doch schickte es sich nicht in diesem Augenblick – und wir gehorchten. Ich glaube kaum, dass wir einem unserer Kinder diesen Wunsch nicht erfüllt hätten… 

Herr Pfarrer Oettli, der gemeinsame alte Familienpfarrer, der uns auch unterwiesen hatte, traute uns. Zwei kleine Kinder hätten Blumen streuen sollen, doch brachten sie es nicht übers Herz, die schönen Wicken einfach wegzuwerfen und so trugen sie die Körbchen voller Blüten behutsam vor sich her. Es ist mir nichts geblieben von der Predigt, ich fühlte mich seltsam fremd und weit weg und ich war froh, Kay neben mir zu spüren. Zur Wirklichkeit kehrte ich zurück bei den Klängen eines Trio, das unsere Freunde Budi, Mani und Ziegler sich vom Herzen rissen. Meine Güte, die Hitze und die Aufregung, die schlecht gestimmten Instrumente, der gute Wille und die klägliche Melodie, die in der Kirche so suchend umherirrten, dann das Ende des letzten Satzes, von Mami auf dem Cello noch lange weitergeführt, als die andern längst mutig den letzten Strich getan hatten, das alles löste die Spannung und brachte Heiterkeit – wohl nicht nur in unsere Gemüter! 

In der „Inneren Enge“ folgte das Essen und das Fest. Papa, wie mein Schwiegervater ja nun auch für mich hiess, hielt eine Rede über die grosse Vereinigung der „Sippen“, es gab Produktionen und man tanzte. Die ersten älteren Herren zogen die schwarzen Röcke aus – ich liess mir von Kay den Schleier abnehmen für den ersten Walzer.
 

24.3.2020 

Es folgen keine „Tagebuchnotizen mehr – nach 66 Jahren Ehe nur noch Gedanken – Ideen – Erinnerungen.

Seit dem letzten Eintrag (1959) sind 60 Jahre vergangen, gelebt mit meinem Kay, der mich am 9.April
2019 verlassen hat, gestorben nach 66 gemeinsamen Jahren.
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Briefe 1967 - 1979
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4.  Briefe 1967 - 1979

Freitag, den 17. 2. 1967 

Mein liebster Kay, 

während Du jetzt gerade wohl in einer Hütte am grossen Berg hausest, beschliesse ich den Tag in unserem heimeligen Schlafzimmer und lese noch einmal Deinen lieben, interessanten und eigentlich nicht nach Zahnweh tönenden Brief. Wir haben natürlich mit Sehnsucht darauf gewartet und danken ganz herzlich. 

In unserem „Reservat“ tauchen zwar nicht unvermutet Giraffenköpfe auf, dafür täglich neue Besucher des schönen Oberlandes, so sind treue Gäste der Wolf und seine Kinder, Susy Wildholz plus Anhang (aber ohne Hausfreund!), heute erschien noch Lisbeth Schiltknecht und haust mit Stephan, Hanneli und Urseli hier bis morgen Samstag. 

Die Kinder sind recht lieb; Stephan hat jeden morgen gefragt, ob der Papa nun wieder zurück sei. Heute meinte er dann: „Gäll, är chunnt no lang nid.“ Das grosse Los haben wir mit unserem Vertreter gezogen. Er passt so gut in unseren Betrieb und macht seine Sache ausgezeichnet. Heute hatten wir 25 Personen in der Sprechstunde, und nun kam er grad vom letzten Besuch zurück. Wenn er eine freie Minute hat, findet man ihn bei Thomas oder Anni, wo er Geographie und Rechnen repetiert und den Kindern rührend hilft. Er liebt den Mutz und findet es bei uns „maximal“. Ich glaube, als Assistent am Spital wirst Du ihn sicher einmal schätzen. Auch die Schwester von Lisbeth Schiltknecht (Staats in 1 ½ Jahren) interessiert sich für eine Assistentenstelle. Wir sollten bald das Spital vergrössern, um allen Anfragen gerecht zu werden… (Frutigen zählt für den FMH für Innere, nur nebenbei). Dich wird wohl im Moment all das wenig interessieren, da Du buchstäblich in „Höheren Sphären“ lebst. Findest Du wohl den Weg wieder zu uns biederen Bergbewohnern zurück! 

Meine Mutter ist im siebenten Himmel über die offizielle Einladung über das Tonband zu Reinis Hochzeit. 

Nächste Woche erhalte ich 24 Stunden Urlaub, da gehe ich ganz allein in die grosse Stadt Bern – und gehe vielleicht an eine Bären-Safari mit meinem tollen Fotoapparat (sei nicht neidisch, Du darfst ihn auch einmal brauchen). Noch schnell ein Ausspruch von Stephan. Ich suchte heute einen Teil des neuen Zusammensetzspiels und meinte, ich stelle das ganze Zimmer auf den Kopf bis ich es finde, darauf Stephan: „Aber nid uf mine, gäll Mami!“ 

Vernimmt man wohl bei Kuoni, wann man Euch in Zürich abholen kann? Ich fahre schon am Sonntag, um dann sicher dort zu sein. Herr Rufener hütet gern bis Donnerstag, damit wir nicht auf dem direktesten Weg heimreisen müssen. 

Ich freue mich schrecklich. Alles Liebe

Deine Lilly


(1) Grossvater mit Enkel Thomas.

Grossvater Zimmerli (?) mit Thomas.

*

Zweisimmen, 10. 6. 1968, morgens 07.30 

Liebster Kay, 

Eine recht nebliger und kühler Morgen macht einem das Leben etwas trüb. Walti marschiert grad in die Schule, Anni fürchtet eine Lat. Probe, Thomas hat sich wieder einmal verschlafen und Stephan liegt noch wohlig eingehuschelt im warmen Bett. Heidi sieht sehr verschlafen aus nach dem Tanz am Samstagabend und Kinobesuch am Sonntagabend…, während Marie Therese und ich „natürlich“ blühend aussehen und uns voller Elan ans Tagwerk machen. 

Ein Abschied am Bahnhof ist auch nicht schön – das nächste Mal komme ich doch lieber grad mit! 

Es war lieb, Dich noch aus Kloten zu hören, merci vielmal. 

Und nun nimm auf, was sich Dir bietet, und denk, dass zu Hause alles in Ordnung ist. In Gedanken begleite ich Dich überall hin.

Allerherzlichst Deine Lilly

Zweisimmen, 18.6.1968, abends 

Mein lieber Kay, 

Nun ist es direkt schön, dem Pösteler zu begegnen, da er jeden Tag ein Versucherli aus der Fremde bringt. Die Kinder sind begeistert von den Karten - und sogar Walti fand, das sei der interessanteste Gruß, den er je von Papa bekommen habe! Quel compliment…. er muderet jetzt grad ein wenig, es ist ihm schlecht, und er hat Kopfweh – liest aber munter die geistlosen bunten Blättli. 

Morgen fahre ich zum Zahnarzt, am Donnerstag hat Walti auf Vorschuss schon seine Geburtstagseinladung, am Freitag kommt Huguette auf Besuch und bringt Walti einen Fotoapparat zum Geburtstag, das wird eine grosse Überraschung für ihn! 

Am Samstag fahren wir wohl an den Judo-Abend in Château d‘Oex. Therese hat noch keinen Bericht von Jan, erwartet ihn aber aufs Wochenende. Es ist enttäuscht, dass Jan ihm die Wohnungssuche für den Assistenten überlässt und alle übrige Arbeit. Es habe extra seine Amerikareise abgeblasen, damit es Zeit habe, nun sein Leben zu leben, wie Tennis Spielen und Freunde besuchen und nun sei das alles wieder nicht möglich. Ich wagte dann schüchtern einzuwenden, dass wir glaubten, es ginge auch ein wenig den Kindern zuliebe nicht weg… 

Ich hoffe so sehr, dass Du doch noch zu den Anden gelangst, und ich drücke fest die Daumen, damit das Gepäck zur Zeit gefunden wird, hoffentlich noch mit dem meisten Inhalt komplett! Immerhin wäre die Reise ja sicher auch als Foto-Safari schon lohnend, oder? 

Bei uns ist richtiges Herbstwetter, am Morgen Nebel und so gegen Mittag aufhellend. Sr. Greti reist für 10 Tage nach Italien – nun ist dann wirklich alles weg. Dr. Bracher räumt das Spital auf. Für Steph. Zellers Hernien Op hat er grad Fr. 600.-- einkassiert!! Hans findet es ganz in Ordnung, er hat ja diese Privatversicherung. Mir blieb aber doch etwas „die Spucke“ weg. Hoffentlich reist dieser Brief wieder so schnell – und kommst Du noch an dieselbe Adresse. 

Die Zeit vergeht noch recht schnell und man kann sich schon bald auf ein Wiedersehen freuen – was ich sehr tue. 

Herzlichst Deine Lilly 

Von Tante Lisa hörten wir noch nichts, geniesst sie es wohl?

Zweisimmen, 31. 10.1969 

Mein lieber Kay, 

Man gewöhnt sich zwar daran, einen weitgereisten Ehemann zu haben – ans Abschiednehmen wird man sich wohl nie gewöhnen. Es gramselet so um Herz- und Magengegend! Ich bin zwar einfach glücklich, dass Du wieder etwas erleben kannst, freue mich auf‘s Wiedersehen, auf das Zuhören und Schauen, und schliesslich ist das Verhältnis zu den Kindern nun so interessant, dass mir die Zeit wohl nicht allzulang vorkommen wird. 

Schade, dass ich Dir nicht schreiben kann – es war jeweils fast wie ein Plauderstündchen oder eine Kaffeepause... 

Nun, das kleine Begleit-Ding ist natürlich ein Witz. - Du kannst es dann brauchen, um Dich ev. irgendwo loszukaufen, wer weiss. 

Also geniess es – und komm ganz wieder. 

Herzlichst Deine Lilly 

P.S. Wenn Du den Knopf hereindrückst, stellt die Musik ab.

Lilly und Stephan aus Italien 

Hotel Principe, 25. 9. 1979 

Mein lieber Kay, 

Also, ich muss schon sagen – so „rauschend“ habe ich Italien noch nie erlebt! Im Moment sitze ich im Bett – nicht etwa aus Müdigkeit oder Krankheit, sondern weil es hier am wärmsten ist – und draussen rauscht das Meer, und der strömende Regen und die windgeschüttelten Pinien rauschen auch, aber sonst ist es sehr gemütlich und bei solchem Wetter sind Rytzens einfach die idealsten Feriengenossen, die man sich vorstellen kann. Noch keinen Moment war die Stimmung bis jetzt ungemütlich oder langweilig. Beim kleinsten Sonnenstrahl stürzen wir uns ins Meer und plantschen wie die See- oder Walrosse, lassen uns von den Wellen überrollen, spucken und schlucken Salzwasser literweise, meine sinus entleeren sich noch stundenlang später, so dass ich mich frage, ob wohl doch die „Hirnflüssigkeit“ auch gleich ausrinnt…. Stephan lebt bei Sonne und oft auch Wind und Regen fast ganz am und im Meer, spielt Fuss-, Hand- oder Faustball mit andern Jungen, isst für drei, trinkt für vier, schläft wie ein Murmeltier und fühlt sich wohl. Wenn es dann noch warm wird – und das hoffen wir doch alle ein wenig - , so sind diese Ferien perfekt.


(2) Von links: Walter ( ), Anna ( ), Lilly, Kai, Thomas ( ), vorne Stephan ( ).

Von links: Walter ( ), Anna ( ), Lilly, Kai, Thomas ( ), vorne Stephan ( ).

 

Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig
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5.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig

Am 28. Juli 1982 vollendet der ehemalige eidgenössische Jagdinspektor Dr. iur. G. N. Zimmerli in Quinten am Walensee bei geistiger Frische und körperlicher Gesundheit sein 95. Lebensjahr. Wir gratulieren ihm und wünschen bestes Wohlergehen.

Im Jahr 1930 wurde Zimmerli bei der Eidg. Inspektion für Forstwesen, Jagd und Fischerei als Sekretär – Kassier angestellt. Als 1941 der Mitbegründer und langjährige Oberaufseher des Schweiz. Nationalparks, Herr Dr. S. Brunies, zurücktrat, wurde Zimmerli Oberaufseher des Parks. Mit grosser Sachkenntnis und Hingabe hat er diese Aufgabe bis zu seiner Pensionierung erfüllt. In diese Zeit fielen die harten und langwierigen Auseinandersetzungen um die Nutzung der Wasserkraft des Spöls, die Erneuerung der Verträge mit den Parkgemeinden und die Vorbereitung des Bundesbeschlusses über den Nationalpark. Dabei prallten die verschiedenen Standpunkte oft aufeinander. Zimmerli hat die Verhandlungen stets ruhig, freundlich und sachlich geführt und abgewogene Lösungen erarbeitet.

Von 1946 bis 1961 war er Präsident der Beratenden Jadgkommission. In dieser Eigenschaft hat er entscheidend an der Revision des Jagdgesetzes vom 10. Juni 1925 mitgearbeitet. Dieses revidierte Gesetz hat sich bewährt. Es hat die Jagd geordnet und den Schutz der wildlebenden Säugetiere und Vögel verstärkt. Als Präsident dieser Kommission hat er den Bundesrat beim Vollzug des Gesetzes beraten.

Als eidgenössischer Jagdinspektor war er einer der Hauptverantwortlichen für die Wiedereinbürgerung des Steinbocks in den Alpen der Schweiz. Er begnügte sich nicht mit Büroarbeit, sondern war viel unterwegs, um sich vom Erfolg der getroffenen Massnahmen zu überzeugen. Viele ältere Wildhüter der  Eidgenössischen Jagdbanngebiete erinnern sich noch mit Freude und Stolz an seine Inspektionen.


(1) Grossvater mit Enkel Thomas.

Grossvater mit Enkel Thomas.

Herrn Zimmerli waren vielfältige und wichtige Aufgaben zugeteilt. Trotzdem fand er immer wieder Zeit für eine Wanderung durch den Nationalpark und für ein Gespräch mit Wildhütern und Jägern. Er kannte und liebte seinen Park und schätzte die Leute um den Park. Sein Bild lebt noch heute in der Engadiner Bevölkerung fort. Sie alle grüssen ihn und danken ihm.

Wieso sind wir überhaupt nach Zweisimmen gekommen?
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5.1.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Wieso sind wir überhaupt nach Zweisimmen gekommen?.


(1) Kai Zimmerli

Kai Zimmerli

Erinnerungen eines Landarztes

Wie sind wir überhaupt nach Zweisimmen gekommen?

Meine Frau und ich sind beide in Bern aufgewachsen und haben beide mit Ausnahme eines Welschlandsemesters in Bern studiert. Wie sich herausstellte kam mir meine recht breitgefächerte Weiterausbildung später sehr zugute. So begann ich meine Assistentenzeit im Loryspital in Bern, anschliessend am pathologischen Institut der Universität Leiden, dann erneut in Bern auf der Medizin, später auf der Chirurgie in Interlaken, weiter wieder in Bern im Frauenspital und auf der medizinischen Poliklinik, um schliesslich als Oberarzt auf die medizinische Abteilung in Interlaken zurückzukehren. Dort liess sich auch der erkrankte alte Zweisimmer Arzt Fritz Thönen wiederholt behandeln, und als er eines Tages nicht mehr in der Lage war, seine ärztliche Tätigkeit in Spital und Praxis wieder aufzunehmen, wurde ich angefragt, ob ich seine Nachfolge übernehmen möchte. Nachdem ich schon am Ende des Studiums, wie auch später immer wieder den sehr bekannten und beliebten Arzt Dr. Rudolf Steiger in Grindelwald vertreten konnte, schwebte mir schon seit langer Zeit eine ähnliche Praxis in den Bergen vor. Zudem bot sich die günstige Gelegenheit, gleichzeitig die medizinische Abteilung des Spitals zu übernehmen.

So bewarb ich mich denn ohne langes Zögern um die Stelle. Auf dem kleinen Bänkli ob dem alten Spital wurde ich von der damaligen Spitalkommission, bestehend aus dem Präsidenten Gottfried Knubel, dem nebenamtlichen Kassier Ernst Perren und den beiden Beisitzern Werner von Grünigen und Gottfried Müller empfangen. Wir wurden bald einmal handelseinig, so dass ich am 1. Januar 1960 meine Arbeit am Spital aufnehmen konnte. Gleichzeitig übernahm ich auch die Praxis von Dr. Thönen. Damals war es noch üblich, dass man eine Praxis dem Vorgänger mit einer recht grossen Abfindung, einem sog. Goodwill, abkaufen musste, einem Betrag, den wir im Laufe der nächsten zwei Jahre abstottern mussten. Dafür hinterliess uns Dr. Thönen seine recht altertümlichen Instrumente und seine Medikamente, u.a. grössere Mengen von Morphium, Kokain, Codein und sogar Sublimat, welche er offenbar seinerzeit als Kriegsvorrat angeschafft hatte und die er zur Herstellung eigener Medikamente oder zur Desinfektion verwendete. Jahrelang hielten wir diese ungemütlichen Substanzen unter Verschluss, bis dass wir sie endlich einem Apotheker zur Entsorgung übergeben konnten.

Mein Vorgänger Fritz Thönen und die Anfänge in der Praxis und im Spital
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5.2.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Mein Vorgänger Fritz Thönen und die Anfänge in der Praxis und im Spital.

Fritz Thönen musste ein sagenhaftes Gedächtnis gehabt haben, führte er doch keine Krankengeschichten, einzig einen grossen Folianten, wo er auf einer einzigen Zeile Name und Diagnose des Patienten und gleich noch das Honorar eingetragen hat. Daneben war er jedoch ein guter, eigenwilliger und autoritärer Arzt gewesen, und in der Bevölkerung zirkulierten noch jahrzehntelang nach seinem Tod zahlreiche Anekdoten über ihn.

Da mein Vorgänger sein Patientenregister streng unter Verschluss hielt, wartete eine recht grosse Aufgabe im Spital auf mich, musste ich mich doch erst einmal in die Vorgeschichten der vielen neu übernommenen Patienten einarbeiten. Dabei war mir mein damaliger chirurgischer Kollege Dr. Arnold Stucki behilflich, der mir und meiner damals schon fünfköpfigen Familie auch die Ferienwohnung im zweiten Stock seines Hauses als provisorischen Wohnsitz überliess.

Das damals schon fast 60-jährige und in der Zwischenzeit kaum sanierte Spital befand sich bei meinem Antritt in einem entsprechend etwas bedenklichen Zustand. Die Verletzten oder Schwerkranken musste man erst einmal eine Treppe hinauftragen, bis sie zu dem oft streikenden Lift gelangten. In einzelnen Zimmern regnete es bei Unwetter herein. Die Patienten waren meistens zu sechst im gleichen Raum, und eine Trennung zwischen Chirurgie und innerer Medizin existierte nicht. Einzig die Geburtshilfe war im obersten Stock für sich untergebracht. Da in der ersten Zeit kein oder höchstens ein einziger und meist ausländischer Assistent vorhanden war, wurden die Patienten oft gemeinsam betreut, und wir beiden Spitalärzte halfen uns so gut es ging gegenseitig aus.


(1) Bezirkspital Obersimmental, Zweisimmen, Edition Guggenheim & Co., Zürich, aus dem Simmentaler Heimat-Buch, 1938, Verlag Paul Haupt, Bern; mit Dank von G. Pfander durch Vermittlung von A. Zimmerli, beide aus Zweisimmen, erhalten.

Bezirkspital Obersimmental, Zweisimmen, Edition Guggenheim & Co., Zürich, aus dem Simmentaler Heimat-Buch, 1938, Verlag Paul Haupt, Bern; mit Dank von G. Pfander durch Vermittlung von A. Zimmerli, beide aus Zweisimmen, erhalten.

Es gab damals keine Pflegefachfrauen, aber noch Krankenschwestern mit hübschen Häubchen, die keine feste Arbeitszeit kannten, sondern von morgens früh bis spätabends arbeiteten, solange es eben nötig war.

Für die ambulante Praxis wurde mir das ehemalige Kinderzimmer im Spital zugewiesen, welches als Büro, Untersuchungsraum und Apotheke diente, und wo Schwester Ruth hinter einem Vorhang die einfachsten Laborarbeiten verrichtete, die Pillen abzählte und die Instrumente sterilisierte. Mit Sr. Ruth hatte ich schon in Interlaken zusammengearbeitet. Und als ich beabsichtigte, nach Zweisimmen zu gehen, fand sie, man könne mich doch nicht einfach ohne Hilfe dorthin ziehen lassen - und wurde so meine erste Arztgehilfin. Sie war ein unermüdliches Arbeitstier, war von morgens früh bis abends spät in der Praxis, hielt alles peinlich sauber und massregelte auch mich und meine Frau, wenn wir nicht Ordnung hielten. Damals hatte man noch kein Einweg-Material. Jede Spritze, jede Nadel musste gereinigt, ausgekocht und wieder steril verpackt werden, was eben oft stundenlange Nachtarbeit erforderte. Oft begleitete sie mich selbst auf die Besuche, z.B. wenn wir irgendwo im Abseits einen Gipsverband anlegen oder eine kleine Wundnaht vornehmen mussten.

Zum Start hatte mir mein ehemaliger, hochgeschätzter Chef, Prof. Walter Baumgartner aus Interlaken einen Kriminalroman geschickt, damit ich mich nicht langweile, wenn das Wartzimmer leer sein sollte. Es war es nie. Im Gegenteil, schon vom ersten Tage an ging es recht harsch zur Sache. Dazu erschien fast täglich vor dem Mittag Dr. Thönen in seinem schwarzen Poncho, und während draussen zahlreiche Patienten warteten, setzte er sich ins Sprechzimmer, und ich war gezwungen, mit ihm mindestens eine halbe Stunde zu plaudern und seine Ratschläge anzuhören.

Auch verlangte er, mich in der ersten Zeit auf meine Hausbesuche zu begleiten, was zumeist auch mit einem belastenden Zeitverlust verbunden war, und dies um so mehr, als ich dabei immer ganz langsam fahren musste.

Dr. Thönen betrieb noch sogenannte Filialsprechstunden in Boltigen, St.Stephan und sogar in der Lenk, letztere auch etwas zum Leidwesen des dortigen Dorfarztes Dr. Hans Zeller. Ich versuchte, diese Auswärtssprechstunden aufzugeben, doch verlangte die Gemeinde Boltigen, dass in ihrem Dorfe eine solche weitergeführt werde. So fuhren denn Sr. Ruth und ich jeden Dienstagnachmittag nach Boltigen, ich mit dem Arztkoffer und sie mit einem Körbchen, gefüllt mit den notwendigsten Medikamenten. Als Sprechzimmer war uns im Hotel Bären das Zimmer der beiden Wirtstöchter zur Verfügung gestellt worden, wo wir auf einem Sofa inmitten von Puppen und Plüschbären unsere Patienten empfangen und untersuchen mussten, welche draussen auf der dunklen Steintreppe gewartet hatten. Diese Art Sprechstunde zu führen war unbefriedigend und nach zwei Jahren liess sich dann auch die Gemeinde dazu bewegen, diese Filialpraxis aufzuheben.

Die Arbeit und meine Frau
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5.3.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Die Arbeit und meine Frau.

Wir waren damals nur drei Ärzte im ganzen Amtsbezirk, der Chirurg Dr. Ar­nold Stucki und ich als Internist mit der Doppelbelastung Spital und Hausarztpraxis, sowie Dr. Hans Zeller in der Lenk. Unser Arbeitsbereich reichte von der Lenk bis nach Abländschen und von Pfaffenried bis auf die Saanenmöser. Zudem mussten wir uns gegenseitig aushelfen und vertreten, und da wir im Spital anfänglich keinen oder höchstens einen gemeinsamen Assistenten hatten, war man tagsüber mit Spital und Sprechstunde voll ausgelastet, und die Besuche konnten fast immer nur nachts ausgeführt werden. Hausbesuche waren damals noch viel gefragter als heute, da viele der Fahrwege zu den abgelegenen Weilern und Alpen erst in den 60iger und 70iger Jahren erstellt wurden, und die Motorisierung der Bevölkerung auch noch weniger verbreitet war. So musste man halt oft auch zu Fuss oder im Winter mit Rucksack Ski und Stirnlampe ausrücken, sei es auf den Heimersberg, in den Ruhren, ins Fermeltal oder in den Obersteg. Die Patienten mussten dann eben oftmals bis gegen Mitternacht warten, was sie jedoch im allgemeinen einsichtig und geduldig taten.

Meist wurde ich auf meinen nächtlichen Exkursionen von unserem treuen Mutz, einem Appenzeller Mischling begleitet, den ich als Welpe von einer Alp heimgebracht hatte, wo man ihn gerade den Zigeunern zur Hundschmutzgewinnung verkaufen wollte. Wahrscheinlich zuvor schlecht behandelt, blieb er zeitlebens ein scharfer Hund, der Familie treuergeben, doch für Fremde etwas furchterregend. Vor allem uniformierte Personen konnte er nicht leiden, und so erhielten wir einmal vom katholischen, meist schwarzgekleideten Pfarrer in Gstaad einen eingeschriebenen Brief, in dem er drohte, das Spital nicht mehr zu besuchen, sollte unser Hund ihn noch einmal anbellen.

Meine Arbeit hätte ich sicher auf die Dauer nicht leisten können ohne die tatkräftige Hilfe meiner Frau. Selber Ärztin verzichtete sie unserer vier Kinder wegen auf eine eigene Praxisausübung, nahm mir aber sehr viel ab. So sprang sie öfters ein, wenn ich im Spital aufgehalten oder mitten aus der Sprechstunde zu einem Notfall gerufen wurde, wobei sie als Frau allerdings am Anfang gelegentlich von männlichen Patienten etwas kritisch unter die Lupe genommen wurde. Die Kinderimpfungen und Tuberkulinproben in den Schulen konnte ich ihr überlassen, ebenso betreute sie zeitweise Kinder- und Altersheim. Sie nahm die unzähligen Telephonate entgegen und konnte manches schon am Hörer erledigen. Sie wusste mich auch immer wieder auf meiner nächtlichen Besuchstournee zu erreichen, obschon man damals noch keinen Funk und kein Handy zur Verfügung hatte. Psychiatrisch vorgebildet nahm sie mir auch immer wieder problematische Patienten und Patientinnen ab, wo ich selber nicht mehr weiterkam.

Wahrscheinlich wären wir nie auf einen grünen Zweig gekommen, hätte meine Frau nicht die ganze Buchhaltung, das Rechnungswesen, die Abrechnungen mit dem Spital, die Entlöhnung der Angestellten und die Mahnungen übernommen und dies alles noch handschriftlich. Ich selber war in dieser Beziehung völlig inkompetent, kümmerte mich nicht um die Tarife und wollte niemals wissen, ob ein Patient bezahlt hat oder nicht.

Die Geografie, Besuche und Unfälle
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5.4.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Die Geografie, Besuche und Unfälle.

Auch in geographischer Hinsicht gab es anfänglich einige Probleme. So suchte ich einmal um Mitternacht in Matten (St. Stephan) vergeblich nach einem noch erleuchteten Fenster und musste mich erst von einem unsanft aus dem Schlaf gerissenen Hausbewohner erklären lassen, dass es sich halt möglicherweise um Matten bei Boltigen handeln könnte. Und in der ersten Silvesternacht sollte ich nach einem Besuch im Reichenstein noch in die Oeschseite hinüber. Ich wusste um einen Steg oder eine kleine Brücke, fand aber in der Dunkelheit keinen Übergang und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit Arzttasche und Medikamentenkoffer durch die kleine Simme zu waten. Auch sonst war die Erreichbarkeit der Patienten nicht immer ganz einfach. So wurde ich einmal im Winter zu einem fraglichen Herzinfarkt am Rinderberg gerufen. Ich war gezwungen die völlig abgefahrene und durch einsetzenden Regen gänzlich vereiste Skipiste mit EKG-Apparat und Arztkoffer in den Händen zu überqueren, was einfach nicht möglich war. So musste ich nochmals nach Hause, um meine Steigeisen zu holen.


(1) Das letzte 2CV Jahrgang 1984 mit Liebe gehalten und gepflegt von der Familie. Vorherige Exemplare in Jahren haben alle die klassische beige Farbe.

Das letzte 2CV Jahrgang 1984 mit Liebe gehalten und gepflegt von der Familie. Vorherige Exemplare in Jahren haben alle die klassische beige Farbe.

Über 30 Jahre hatte ich als Praxisfahrzeug einen Citroen 2 CV, ein wunderbares Gefährt, zwar im Winter nicht heizbar und sehr luftig, dafür aber um so sicherer auf der Strasse und im Gelände. Mit Spikes auf den grossen Rädern konnte ich auf vereister Strasse jedem Porsche vorfahren, und wenn es vorwärts nicht mehr ging, so fuhr man eben rückwärts mit dem Gewicht auf den vorderen Antriebsrädern. Streikte einmal der Starter, liess sich der Motor immer noch mit der Handkurbel in Bewegung setzen.

Natürlich blieb ich auch gelegentlich im Schnee stecken, und wenn ich den Wagen nicht selber wieder flott machen konnte, musste ich im nächsten Haus meiner Frau telefonieren, mit der Bitte zu kommen und mich mit dem anderen Wagen hinaus zu ziehen. Später führte ich dann aber stets einen grossen Flaschenzug mit.

Einmal hatten wir auch Glück. Ich hatte damals vorübergehend eine Assistentin, die mir gelegentlich einen Besuch abnahm. Auf der Rückkehr von St.Stephan bremste sie in einer Kurve der vereisten Strasse, schleuderte und fuhr einen Hang hinauf, worauf sich das Auto überschlug und auf dem Dach landete. Die junge Ärztin wurde hinausgeschleudert und stand zuletzt völlig unverletzt neben dem gänzlich demolierten Wagen.

Einen Ambulanzdienst gab es noch jahrelang nicht, und so mussten wir bei jedem Unfall immer selber ausrücken, sei es bei Unfällen auf der Strasse, im Holz oder in den Bergen und dies meist mitten aus der vollen Sprechstunde. Bevor überall Leitplanken angebracht wurden, sind jedes Jahr mindestens ein bis zwei Autos zwischen Zweisimmen und Saanenmöser über die Strasse hinaus zur kleinen Simme hinuntergestürzt. So auch einmal eine Tante von mir, welche mich schwer verletzt noch erkannte, bevor sie dann kurz nach der Einlieferung ins Spital starb. Für den Abtransport der Verletzten, aber auch der Toten musste jeweils der Taxi-Peter herbeigerufen werden, der durch die Entfernung der hinteren Sitze Platz für eine Tragbahre oder auch einen Sarg schaffen konnte.

Bergunfälle gehörten natürlich auch zu meinen, zum Glück nicht alltäglichen, aber doch nicht ganz seltenen Einsätzen und dies um so mehr, als ich während 10 Jahren auch als Rettungschef unserer SAC-Sektion amtete. Wohl am schwersten traf mich das Lawinenunglück am Reulissenhorn, dem mein hochgeschätzter letzter Chef, der bereits erwähnte Prof. Baumgartner aus Interlaken mit einem seiner Söhne zum Opfer fiel. Es war dies am Bärzelistag 1961, d.h. genau ein Jahr nach meinem Beginn in Zweisimmen. Walter Baumgartner, übrigens ein sehr erfahrener Bergsteiger, geriet bei der Abfahrt vom Wistätthorn im heftigen Schneetreiben in ein grosses Schneebrett, welches ihn und zwei seiner Söhne verschüttete. Er selber konnte nur noch tot geborgen werden, ein Sohn konnte sich selber noch befreien, während sein Bruder bewusstlos hinuntergeflogen wurde. Wir hatten damals in Zweisimmen noch keine Helistation, und so verstrich viel Zeit, bis einer von Interlaken herkommend bei den misslichen Wetterverhältnissen den Abtransport schaffen konnte. Leider verstarb auch der Sohn noch vor der Ankunft im Spital, und alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Frau Baumgartner war auf dem Lasenberg in einer Alphütte zurückgeblieben, konnte weder per Funk, noch per Telephon erreicht werden, so dass gegen Mitternacht Fritz Gerber und ich dorthin aufstiegen, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen.

Traurig war auch der Absturz der beiden jungen Zweisimmener in der Spillgerten-Nordwand. Wir andern waren an diesem Sonntagmorgen im Rahmen einer Sektionstour auf der normalen Route aufgestiegen, wogegen sich die beiden an der Nordwand versuchten. Ich selber war längst abgestiegen und bereits wieder auf einem Krankenbesuch in Abländschen, als mich dort die Nachricht vom Unglück erreichte. Mit der SAC-Rettungsmannschaft und mit dem geländegängigen Haflinger meines Bruders, damals Veterinär in Château-d'Oex, mussten wir dann die beiden Toten bergen und zu Tale bringen.

Eine weitere Bergungsaktion erfolgte einige Jahre später im Sattel zwischen Türmlihorn und Gsür, d.h. zuhinterst im Fermeltal. Um Pfingsten stiess dort ein Skitourist auf eine Hand, die aus dem Schnee herausragte. Es handelte sich um die Hand eines seit dem November in Adelboden vermissten Fremdarbeiters, der sich offenbar auf einer einsamen Wanderung verirrt hatte und in erschöpftem Zustand vom stark einsetzenden Schneefall zugedeckt wurde, Der Abtransport erwies sich als recht schwierig, musste doch der Schlitten mit dem Toten am Seil über mehrere Felsstufen abgeseilt werden.

Unvergesslich bleibt mir natürlich vor allem auch der Unfall meines Cousins Wolf Zimmerli, der 1963 ein Assistenzjahr an unserem Spital verbrachte. Wie des Öftern machte er an jenem freien Nachmittag im Mai eine Ausfahrt mit seinem neuen VW, ohne zu sagen wohin. Als er bis abends 10 Uhr nicht zurückgekehrt war, wurde mir etwas ungemütlich zu Mute. Wo mochte er stecken? Plötzlich kam mir in den Sinn, dass er mich einige Tage zuvor über die Gastlosen ausgefragt hatte. Also fuhr ich kurz vor Mitternacht nach Abländschen, wo ich tatsächlich sein Auto vorfand. Aber wo war er? Da halfen mir mehrere glückliche Zufälle. Es war eine wunderschöne Vollmondnacht und auf einigen bis noch fast bis ins Dorf hinunter reichenden Schneeflecken fand ich eine Fussspur, die senkrecht hinauf in Richtung Sattelspitze führte. Was konnte ich aber allein tun? Ich fuhr die 30 km nach Zweisimmen zurück, trommelte nächtlicherweile drei berggewohnte SAC-Kameraden zusammen und gemeinsam kehrten wir nach Abländschen zurück. Der Spur folgend stiegen wir bis an den Fuss der Felsen hinauf, wo wir auf eine eigenartige Zeichnung, im Schnee stiessen, welche wie Gesässabdrücke aussah, begleitet von seitlichen Handzeichen. Diese Spur führte über eine kleine Krete hinab zu einer verlassenen Alphütte. Dort fanden wir denn auch meinen Cousin. Er war durch ein Fenster in die Hütte eingebrochen und hatte sich dort an einem Feuer erwärmt. Sein rechter Vorderfuss war gegenüber der Fersenpartie völlig luxiert und konnte natürlich auf keine Weise mehr belastet werden, weshalb der Verunfallte sich nurmehr sitzend hatte fortbewegen können. Wolf war versuchsweise ungesichert ca. 20-30 m hochgeklettert, wonach ein Handgriff ausbrach, er rücklings abstürzte, wobei der rechte Fuss vermutlich vorerst eingeklemmt blieb. Lebensrettend war dabei, dass der Cousin auf ein abschüssiges Schneefeld fiel. Inzwischen war es Tag geworden. Bei einer benachbarten Sennhütte fanden wir einen alten Hornschlitten, allerdings nur noch mit einem Holm, aber immerhin für den Verwundetentransport noch brauchbar. Der Abstieg nach Abländschen erwies sich als äusserst mühsam, da der grosse Föhnsturm im vergangenen November zahlreiche Tannen gefällt hatte. So musste der Schlitten mit seiner schweren Fracht immer wieder über am Boden liegende Baumstämme gehoben werden. Abländschen erreichten wir deshalb erst gegen Mittag, wo uns meine Frau zwischen zwei Stillzeiten (sie hatte eben erst unseren jüngsten Sohn geboren) abholte. Es folgte dann noch die nicht ganz einfache Operation im Spital Zweisimmen, welche sechs Stunden dauerte, um alle Fussknochen wieder in die richtige Lage zu bringen. Es war fast ein Wunder, dass sich der Fuss in der Folge so gut erholte, so dass keine dauernde Behinderung zurückblieb.

Nun, alles hat immer auch sein Gutes. Rosmarie, eine attraktive Krankenschwester pflegte den armen Patienten im Spital so gut, dass er sie einige Monate später heiratete.

Überhaupt war unser Spital jahrelang eine wahre Heiratsvermittlungsstelle. So heirateten zu unserem Leidwesen immer wieder Assistenzärzte unsere besten Schwestern und Röntgen-Assistentinnen weg .

Erholung suchte ich gerne in den Bergen und so war ich glücklich meine Militärdienstpflicht während vieler Jahre in Hochgebirgskursen abverdienen zu können. Dabei entstanden viele Freundschaften mit bekannten Bergsteigern und Bergführern aus der ganzen Schweiz, mit denen ich später auch im zivilen Leben öfters unterwegs war. Mit einer kleinen Gruppe dieser Freunde hatten wir an einer Auffahrt den Mont Velan im Wallis bestiegen, wobei sich bei der Abfahrt ein tragischer Unfall ereignete. Wenige Meter vor mir verschwand plötzlich Thuri K. in einer Gletscherspalte. Eine 120 cm dicke, in der vorangegangenen Föhnnacht offenbar zu wenig verfestigte Schneedecke war eingebrochen und Thuri stürzte über 20 Meter tief in die sich verengende Spalte hinunter. Fest eingekeilt und mit starken Schmerzen, die Skis tief unter sich eingeklemmt, traf ich ihn an, nachdem ich am Seil zu ihm hinunter gelassen worden war.

Fast eine Stunde dauerte es, bis ich ihn aus dem Eise befreit und zum Hochziehen bereit gemacht hatte. Ich glaube, ich habe in meinem Leben nie so geschwitzt wie damals in der Gletscherspalte. Thuri starb leider noch vor Ende der Bergung, wohl an schweren inneren Verletzungen.

Schliesslich denke ich noch an die Lawinensuchaktion im Kaltenbrunnental zurück, wo wir den verschütteten deutschen Skifahrer erst nach Stunden in der Nacht und mit Hilfe eines Lawinenhundes tot auffinden und bergen konnten.

Aber auch im Sommer musste ich des öftern zu Unfällen ausrücken, so zu schweren Verletzungen oder gar Todesfällen bei Holzern im Walde. In Erinnerung sind mir auch zwei Blitzunfälle geblieben. Einmal wurde eine Gruppe von jungen Blankenburgern auf dem Chumi von einem schweren Gewitter überrascht und von einem Blitzschlag getroffen. Zum Glück waren sie völlig durchnässt, so dass der Blitzstrahl über die Körperoberfläche zu Boden fuhr und dort einen eindrücklichen Krater hinterliess. Einzelne Kleider wurden den Getroffenen vom Leibe gerissen, ein gewisser Schockzustand, leichte Verbrennungen und Krämpfe, sowie einzelne Trommelfellrupturen waren zum Glück die einzigen Folgen,

Das zweite Mal wurde ich zu einer kleinen Alphütte am Albristhubel gerufen, in welche der Blitz eingeschlagen hatte. Der eine der beiden anwesenden Brüder kam mit dem Schreck davon, der andere wies dagegen stärkere Verbrennungen am Körper, sowohl an der Eintritts- wie Austrittsstelle des Blitzes auf, und das eine Trommelfell war völlig zerfetzt. Er war auch psychisch stark mitgenommen und musste für einige Zeit hospitalisiert werden. Die beiden hatten trotzdem Glück, spaltete der Blitz doch die schwere Steinplatte vor dem Herd und erschlug eine Ziege. Das Pikante aber war, dass die beiden Sennen gerade damit beschäftigt waren, einen Blitzableiter zu montieren.

Waffen, Selbstmorde und andere tragische Erreignisse
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5.5.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Waffen, Selbstmorde und andere tragische Erreignisse.
Ein trauriges Kapitel waren die vielen Selbstmorde, die sich zu gewissen Zeiten häuften und zu denen man als Arzt oft noch vor der Polizei herbeigerufen wurde. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die aus Verzweiflung mehrere Meta-Tabletten zu sich genommen hatte und unter heftigen Krämpfen starb. Oder an das deutsche Ehepaar, welches in seiner Ferienwohnung tot im Bette aufgefunden wurde, wobei die Frau noch das Glas in der Hand hielt, mit dem sie das Kaliumcyanid hinuntergespült hatte. Oder wiederum an eine Patientin, die nach Einnahme einer grösseren Menge Kokain völlig verwirrt eingewiesen wurde, stundenlang halluzinierte und ständig ein Flugzeug im Zimmer herumfliegen sah.

Andere Vergiftungen endeten weniger tragisch. So trank einmal ein alter Äthyliker ein ganzes Fläschchen seiner Herztropfen (in alkoholischer Lösung!) auf, ertrug das überdosierte Digitalispräparat erstaunlicherweise jedoch gut, beklagte sich aber eine Woche lang, die ganze Welt nur noch in gelber Farbe zu sehen. Oder die Vergiftungen mit dem Tigerpilz, der immer wieder mit dem essbaren Perlpilz verwechselt wurde, was uns in mehreren Saisons beschäftigte. Oft kamen ganze Familien, die sich dann über Nacht im Spital erholen mussten. Amüsant war dabei die Geschichte eines sonst offenbar bedächtigen Lehrers, welcher mitten in der Nacht das Bett verliess, auf die Terrasse trat und von dort eine Rede an die Nation hielt, worauf die verängstigte Frau, im Glauben ihr Mann sei übergeschnappt, um Hilfe rief. Am anderen Morgen war der Spuk vorbei.

Einmal wurde ein älterer Mann vermisst, vermutlich auf dem Wege nach dem Ruhren. Alle Suchaktionen, selbst mit dem Militär und Suchhunden in dem zerklüfteten Gebiet blieben erfolglos, bis nach 6 Wochen ein Wanderer den Toten zufällig am Rande eines Fusspfades sitzend fand. Die wochenlang Sonne und Wetter ausgesetzte Leiche befand sich in einem schrecklichen Zustand, völlig von Maden zerfressen, welche aus allen Körperöffnungen hervorquollen.

Gelegentlich wurde ich auch zu bedrohlichen Situationen gerufen. Einmal versuchte ein wütender Mann, seine Frau mit einem grossen Küchenmesser anzugreifen, wobei es mir erst nach längerem Zureden gelang, ihn zu beruhigen und ihm das Messer abzunehmen. Ein anderes Mal wurde ich mitten in der Nacht alarmiert, da ein Mann seine Frau mit dem geladenen Karabiner bedrohte. Warum man nicht die Polizei anvisiert habe? Ja, schon. Diese habe aber gesagt, man solle doch erst den Arzt rufen, sie sei erst dann bereit zu kommen, wenn dieser nichts ausrichten könne. Bei meinem Eintreffen war dann glücklicherweise die Gefahr bereits gebannt, indem die recht gewichtige Ehefrau auf dem am Boden liegenden, betrunkenen Mann sass und es so problemlos gelang, ihm das Gewehr zu entwinden.

Zwei geladene Pistolen lagen in einem anderen Fall auf dem Nachttisch und der Mann drohte sich damit zu erschiessen, ehe es mir gelang, ihn zu überreden mir doch lieber die Waffen auszuhändigen. Im Laufe der Zeit kam ich so bei mir zu Hause zu einer recht reichhaltigen Waffensammlung.

Durch die in den Gebirgskursen geschlossenen Freundschaften fand ich auch Zugang zur Zürcher Sektion des akademischen Skiklubs SAS, mit welcher ich an Expeditionen in den Anden, in Ostgrönland und im Kaukasus teilnehmen konnte. Als Dank des Schahs für das Mitschleppen einer Gruppe persischer Gebirgssoldaten in unseren Gebirgskursen durfte ich mit einer kleinen Delegation Persien besuchen und dabei den Demavend besteigen. Und schliesslich konnte ich auch noch mit mehreren befreundeten Bergsteigern und Bergführern an einem alpinen Trekking im Himalaya-Gebirge teilnehmen.

Dank der im Verlauf der Jahre erworbenen Erfahrung im alpinen Rettungswesen wurde ich auch in einige entsprechende Kommissionen aufgenommen. So war ich Mitglied der SAZK (der schweiz. Ärztekommission für Rettungswesen und Notfallhilfe des SRK), der zentralen Rettungskommission des SAG und auch der IKAR (der internationalen Kommission für alpines Rettungswesen), welche alljährlich irgendwo auf der Welt tagte, was meiner Frau und mir u.a. zu Reisen nach Österreich, Italien, Norwegen und Kanada verhalf.

Arztgehilfinnen und besondere Patienten
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5.6.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Arztgehilfinnen und besondere Patienten.

Das Ansehen und der Ruf einer Praxis wird weitgehend durch die Arztgehilfinnen geprägt. Auch da haben wir verschiedene Erfahrungen gemacht, wobei wir uns im allgemeinen nicht beklagen konnten, hatten wir doch vorwiegend gute, pflichtbewusste Mitarbeiterinnen, die uns oft über manche Jahre die Treue hielten. Es gab aber auch Ausnahmen. So hatten wir einmal eine Praktikantin, die dauernd Lügengeschichten erzählte, stahl und sogar den Patienten anstelle von Medikamenten Stuhlproben einpackte. Sie blieb nur kurz. Ein anderes Mal kündigte eine offenbar recht liebesbedürftige Gehilfin mit der Begründung, dass sie der Chef innerhalb eines halben Jahres noch nie an ein „Aerfeli" genommen habe. Wir erfuhren später, dass sie in der früheren Stelle gehen musste, weil sie ein Geschleipf mit dem Arzt angefangen hatte. Während die meisten freiwillig manche Überstunden leisteten, gab es doch auch wieder solche, welche die Praxis nach ihrer Arbeits- und Freizeit einzurichten wussten.

Einmal erschien unangemeldet ein für seine autoritäre Art bekannter Nationalrat aus Boltigen, der verlangte sofort dranzukommen. Unsere damalige sehr adrette und ebenso standfeste Arztgehilfin liess sich nicht einschüchtern, wies ihn ins volle Wartzimmer und bedeutete ihm, dass er dann schon berücksichtigt werde, wenn die Reihe an ihm sei, ein Verweis, dem er sich schliesslich grollend fügte. Als er dann bei mir eintrat, beschwerte er sich lautstark: „du hesch da es frechs Saumeitschi - aber sie gfallt mir."

Apropos besondere Patienten: einmal eilte eine Arztgehilfin zu meiner Frau und fragte fassungslos: "jitz isch eini da, wo als Bruef Prinzessin agit. Gits das?" Es gabs, war die Betreffende doch die Schwester des Fürsten von Liechtenstein. Und ein anderes Mal erschienen zwei kleine schwarze Kinder mit einer Gouvernante. Es waren zwei kleine Kasawubus, Kinder des damaligen kongolesischen Präsidenten. Nach einer langen Sprechstunde, als ich schon glaubte fertig zu sein, meldete die Gehilfin, dass noch ein Mann schon fast eine Stunde im Wartzimmer warte. Es sei ein gewisser Ritschard, angeblich Bundesangestellter. Es war Bundesrat Willi Ritschard. Ich entschuldigte mich für die ausgestandene Wartezeit, wahrscheinlich hätte er doch seine Zeit dringender nützen können. Nein, er sei in den Ferien und geniesse das ruhige Ausspannen. Nachher haben wir uns noch recht lange über gemeinsame Solothurner Bekannte unterhalten. Anders als der Magistrat haben sich aber gelegentlich andere Patienten verhalten und in übelster Weise über ihre Wartezeit ausgerufen.

Der Beruf des Hausarztes birgt auch gewisse Gefahren in sich. So liess mich eines Nachts eine jüngere Frau, deren Ehemann gerade im Militärdienst weilte, zu ihrem angeblich schwer erkrankten Kinde kommen. Dieses war aber kerngesund und schlief ruhig, dagegen empfing mich die Mutter in einem durchsichtigen Nachtgewand und streckte mir als erstes 500 Fr. entgegen. Ich verabschiedete mich sehr rasch und liess mich bei späteren Hausbesuchen in jenem Haus stets von meiner Frau begleiten.



(1) Kühe am Rinderberg oberhalb Zweisimmen; Bewilligung zur Uebernahme vom Tourismusbüro mit Dank erhalten.

Kühe am Rinderberg oberhalb Zweisimmen; Bewilligung zur Uebernahme vom Tourismusbüro mit Dank erhalten.

Es gab aber auch noch andere seltsame Anliegen. So rief z.B. einmal um Mitternacht ein Mann aus einem Nachbardorfe an. Sein Zechbruder liege betrunken im Strassengraben und wünsche ärztliche Begleitung nach Hause. Warum er denn nicht ein Taxi bestellt habe? Ja, sie seien übereingekommen, ein Taxi käme zu teuer, wogegen den Arzt die Krankenkasse bezahle.

Geburte
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5.7.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Geburte.

Während meinen ersten 20 Jahren existierte weit und breit kein Gynäkologe. Da ich glücklicherweise während meiner Ausbildungszeit auch im Frauenspital gearbeitet hatte, konnten wir uns, d.h. der Chirurg und ich, in der Geburtshilfe teilen. Ich tat dies sehr gerne, da dabei doch - im Gegensatz zur übrigen Medizin - immer etwas Positives herausschaute. Und so nahm ich es auch gerne in Kauf, dass ich halt durchschnittlich jede Woche ein- bis zweimal nachts zu einer Geburt gerufen wurde, da die neuen Erdenbürger meist diese Tageszeit bevorzugten, um auf die Welt zu kommen.

Mein erster geburtshilflicher Einsatz hier im Obersimmental erfolgte schon vor meinem Amtsantritt in Zweisimmen, nämlich im Jahr 1956, anlässlich des Ungarnaufstands. Die Schweiz musste damals zahlreiche Flüchtlinge aufnehmen, unter ihnen viele Kranke und Behandlungsbedürftige, welche in den Militärbaracken in der Lenk untergebracht und von der Armeesanität betreut wurden, ich hatte damals die Frauenabteilung zu leiten, wo sich unter anderen auch eine hochschwangere Frau befand. Eines Nachts ging es dann unerwartet los und mit Hilfe der Lenker Dorfhebamme Frau Freidig konnte die Frau im Lager komplikationslos entbunden werden.

Noch lange Zeit wünschten viele Frauen zu Hause zu gebären und die Hausgeburten bildeten in meinen Anfängen fast noch die Regel. Jede Gemeinde besass ihre Hebamme, welche die Schwangeren bis zur Geburt und später im Wochenbett betreuten und uns Ärzte dann im allgemeinen zur Entbindung beizogen. Ich hatte sie gern, diese Hausgeburten, auch wenn sie hie und da auch nicht ganz reibungslos verliefen. Hier einige Müsterchen: Einmal rief mich eine Bäuerin aus dem Ruhren an, die Nachbarin sei seit drei Tagen am Gebären, aber sie glaube etwas stimme nicht. Die dortige Hebamme hatte drei Tage lang bei der Kreissenden ausgeharrt. Als jedoch nichts passierte, ging sie heuen. Als ich kam, lag die Frau in einer Blutlache und zwischen ihren Beinen zappelte das Neugeborene, noch an der Nabelschnur hängend. Es ging dann aber alles gut.

Ein andermal, es war in einer Gewitternacht, rief mich die Hebamme aus dem Fermeltal an, nach einer Sturzgeburt sei die Frau völlig zerrissen. Ich nahm mein stets bereites Nähbesteck zur Hand und eilte hin. Es sah wirklich ziemlich schlimm aus, der ganze Damm war bis ins Rektum aufgerissen. Im Moment, als ich mit der Naht beginnen wollte, schlug in der Nähe der Blitz ein und das ganze Tal lag im Dunkeln. Während die Hebamme die Beine der Patientin im Querbett stützte, zündete mir der Mann mit einer Kerze und einer Taschenlampe. Aber es ging schliesslich auch so, und die Naht hielt.

Im Anschluss an jede Hausgeburt mussten Hebamme und Arzt jeweils noch Kaffee trinken und sich der Brezeln bedienen, welche die Frau zum Voraus gebacken hatte. Das durfte man unter keinen Umständen ablehnen, obschon man sich lieber gleich nach Hause begeben und noch eine Stunde zum Schlafen hingelegt hätte.

Wegen starken Bauchschmerzen meldete sich eines Nachts ein mir bis anhin unbekanntes Mädchen. Es handelte sich eindeutig um Geburtswehen, aber ich hatte grösste Mühe dies der Gebärenden plausibel zu machen. Dies sei völlig unmöglich, und sie sei ganz bestimmet nicht schwanger gewesen. Ich packte die Patientin zusammen und raste mit ihr ins Spital, wo es dann schon im Lift zur Geburt eines ausgewachsenen Neugeborenen kam.

Bei einer Frau, welche in einem abgelegenen und nur zu Fuss erreichbaren Gehöft geboren hatte, löste sich die Nachgeburt nur unvollständig und es kam zu einer lebensbedrohlichen Blutung. Ein Abtransport ins Spital war nicht mehr möglich. Die Nachgeburt musste an Ort und Stelle gelöst und der schwere Blutverlust mit mehreren Bluttransfusionen ersetzt werden. Wir hatten damals noch einen spitaleigenen Blutspendedienst und die Spender aus dem Dorf mussten ad hoc aufgeboten werden. Während unsere Oberschwester die Spender mobilisierte und im Spital die Blutentnahmen vornahm, fuhr meine Frau ständig hin und her und brachte das Blut, welches ich dann der ausgebluteten Frau infundieren konnte. Es ging auch diesmal gut.

Eines nachts erfolgte der Hilferuf einer Hebamme, dass in Schwärzenmatt ein Kind in Steisslage steckengeblieben und die Geburt bei halb entwickeltem Beckenende zum Stillstand gekommen sei. Erfahrungsgemäss überlebt ein Kind in dieser Situation nur wenige Minuten und ich machte mir keine Hoffnung, es noch lebend zur Welt zu bringen. Bei der Gebärenden handelte es sich um ein junges, mir unbekanntes Mädchen, das sich von auswärts zu seiner Grossmutter geflüchtet hatte, um da sein uneheliches Kind zu gebären. Es war eine unvergessliche Situation, die ich in diesem schlecht erleuchteten Raum vorfand: das Mädchen erschöpft auf dem Querbett, das Kind zur Hälfte entwickelt, die verstörte Grossmutter, eine alte, etwas hilflose Hebamme und ein Hund, der überall herumraste. Es gelang das glücklicherweise recht kleine Kind, welches wider Erwarten noch lebte und meines Wissens auch ohne Geburtsschädigung am Leben blieb, zu extrahieren, wobei sich gleichzeitig mit dem Kind auch die Nachgeburt und ein Schwall Blut und Fruchtwasser über meine Hosen ergoss. Und während ich mit der einen Hand das Kind hielt, mit der andern die Schere, um es abzunabeln, musste ich mit dem Fuss den Hund abwehren, welcher dauernd nach der Nachgeburt schnappte. Die junge Mutter habe ich nach der Geburt nie mehr gesehen.

Die jüngste Gebärende, welche ich erlebt habe, stand kurz vor ihrem 13. Geburtstag. Sie weilte zur Sommer-Aushilfe auf einer Alp, wo sie von einem älteren Alphirten geschwängert worden war, meldete sich aber erst kurz vor dem Termin. Die Geburt verlief völlig problemlos und der kleine Otto fand dann bei Adoptiveltern eine gute Aufnahme. Ich erinnere mich auch an eine Mutter und Tochter, welche am selben Tag je ein Kind auf die Welt stellten, d.h. Onkel und Neffen.

Schöne Momente waren auch immer dann, wenn eine verheiratete Frau nach vielen kinderlosen Jahren doch noch schwanger wurde. So fiel mir einmal eine Frau nach der frohen Eröffnung um den Hals und überschüttete mich mit Dankesworten, obschon ich, weiss Gott, nichts dafür konnte.

Ein anderes bewegendes, wenn auch traurigeres Erlebnis wird mir stets in Erinnerung bleiben. Ich betreute ein etwa siebenjähriges Mädchen, welches an einem Knochensarkom am Bein litt, Es wurde mehrmals operiert, doch - wie sich bald herausstellte - erfolglos. Zuletzt war es völlig bettlägerig und hatte grosse Schmerzen. Ich besuchte es mehrmals täglich, um ihm die erforderlichen Schmerzmittel zu spritzen und um noch einige Zeit an seinem Bett zu verbringen. Eines Abends schickte es plötzlich seine Mutter aus dem Zimmer, bedeutete mir mich zu ihm hinab zu beugen, schlang seine abgemagerten Ärmchen um meinen Hals und küsste mich. Am nächsten Tag war es tot.

Ich glaube, dieses Erlebnis hat mir noch lange über manche Widerwärtigkeiten, die es in jeder Hausarztpraxis gibt, hinweggeholfen.

Die Treue zu Zweisimmen und der Lohn dafür
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5.8.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Die Treue zu Zweisimmen und der Lohn dafür.

Vor eine schwere Entscheidung wurde ich bereits ein Jahr nach meinem Start in Zweisimmen gestellt, d.h. nach dem Lawinentod meines ehemaligen Chefs, Prof. Baumgartner in Interlaken. Vom dortigen Bezirksverein wurde mir nahegelegt, mich für die Nachfolge zu bewerben. Man wünschte sich angeblich eher einen Internisten mit praktischer Erfahrung in einem Landspital als einen Akademiker aus Bern. Wir waren während meiner Ausbildungszeit ja längere Zeit in Interlaken und gerne dort gewesen, hatten sogar gelegentlich überlegt, vielleicht später einmal dort eine Praxis zu eröffnen. Nach längerer Überlegung verzichtete ich dann aber doch auf eine Bewerbung, da ich nicht bereits nach einem Jahr wieder aufgeben wollte, was ich in Zweisimmen aufzubauen begonnen hatte. Überhaupt hätte ich wohl auch keine grosse Chance gehabt gegenüber den wesentlich prominenteren Kandidaten aus Bern. Nie habe ich es später bereut, an Zweisimmen festgehalten zu haben. Das Spital Interlaken entwickelte sich bald einmal zu einem grösseren Klinikbetrieb mit entsprechend grossem administrativem und organisatorischem Aufwand, während mir der praktische Umgang mit den Patienten wesentlich mehr bedeutete.

Die engen Verbindungen mit Interlaken blieben jedoch während meiner ganzen Aktivzeit erhalten, und so war es zum Beispiel möglich, mit der Unterstützung der dortigen Nephrologie später auch bei uns eine Dialysestation aufzubauen.

Mein Entschluss hier zu bleiben, wurde auch belohnt, indem sich die Gemeinde einsetzte, uns zu günstigen Bedingungen einen Bauplatz in Spitalnähe zu vermitteln. So konnten wir bereits nach drei Jahren unser neues grosses Haus mit Praxis an der Bolgengasse beziehen. Selber ohne Geld, wurde uns dies mit finanzieller Unterstützung durch die Familie und einem grosszügigen Entgegenkommen der einheimischen Banken ermöglicht. Solange unsere vier Kinder noch zu Hause waren und die Arztgehilfinnen und die Haushalthilfe bei uns wohnten, waren wir sehr froh über das grosszügig konzipierte Gebäude. Als dann aber die Jungmannschaft mit 13, 14 Jahren auswärts zur Schule gehen musste und auch die Angestellten immer mehr eine eigene sturmfreie Behausung vorzogen, wurde dann auf einmal Platz frei für die Aufnahme und Betreuung unserer beidseitigen, vom Alter und von Krankheiten gezeichneten Eltern, welche bis zu ihrem Tode bei uns blieben, für uns, besonders für meine Frau, eine dankbare, aber doch auch recht kräfteraubende Aufgabe.

Die Stunde am Donnerstagabend von 19 bis 20 Uhr war jahrelang heilig und unantastbar, und alle nicht höchst dringlichen Notfälle mussten bis nachher warten. Es war der Termin unseres sog. Turnens, d.h. einer wilden Korb- oder Fussballschlacht, durchaus freundschaftlich, aber nicht immer ohne Verletzungsfolgen. Mit dabei waren mehrere Lehrer, der Tierarzt, der Bäcker, der Architekt, die Polizei und ich. Es war der einzige Moment, wo man sich so richtig austoben konnte. Und das tat gut. In diesem Freundeskreis kam auch der Gedanke auf, einen Tennisklub zu gründen, ein Projekt, das nach Lösung der Platz- und Finanzierungsfrage schliesslich realisiert werden konnte.


(1) Zweisimmen im Winter; Aquarell des einstigen Chefarztes A. Zimmerli

Zweisimmen im Winter; Aquarell des einstigen Chefarztes A. Zimmerli

Neben dem Hund, den Katzen, Meerschweinchen und Springmäusen hatten wir auch Schafe. Und das kam so. Unter meinen Patienten auf der Chroniker-Abteilung des Spitals befand sich längere Zeit auch ein alter Viehhändler aus Boltigen. Da sein Zustand stationär war und ich bei der täglichen Visite nicht dauernd über seine Gesundheit sprechen konnte, unterhielten wir uns gelegentlich auch über seine berufliche Vergangenheit, wobei ich mich offenbar auch einmal unvorsichtigerweise über die Schafzucht erkundigte. Einige Tage später überraschte er mich mit der Eröffnung, er habe für mich günstig ein trächtiges Mutterschaf gekauft. Ich war völlig paff, aber das ganze Spital wusste schon davon und mokierte sich über die künftige Schafzucht des Chefs. So blieb mir nichts anderes übrig als auf den Handel einzugehen. Schliesslich hatten wir ja auch eine Grasfläche unten im Garten und so blieb mir vielleicht in Zukunft das Mähen erspart. Aber wohin mit den Tieren? Vorerst errichtete ich einen kleinen Unterstand, aber der genügte natürlich nicht für den Winter. So sahen wir uns halt gezwungen einen kleinen Stall zu bauen. Aber oh weh, meine Schafzucht wurde rasch immer aufwendiger, vermehrten sich doch die fruchtbaren Tiere mit der Zeit bis auf sieben Stück. Vor der Spitalvisite am Morgen und am Abend musste ich füttern und misten und anschliessend duschen und alle Kleider wechseln. Glücklicherweise konnte ich die Schafe wenigstens im Sommer auf die Alp geben, was aber andererseits bedeutete, dass ich unseren Abhang doch wieder selber mähen und heuen musste, all dies immer unter den interessierten Augen und dem Gaudi des Spitals. Profitabel war die Sache auch nicht gerade, mussten wir doch im Winter noch grosse Mengen Stroh und Heu hinzukaufen und die Wolle hatte schon damals fast keinen Wert mehr. Immerhin wurden mir einmal als subventionsberechtigtem Schafzüchter vom Staate Fr. 3.50 ausgerichtet!

Fast zehn Jahre hielten wir das Experiment durch, doch dann verschenkten wir die Tiere. Später wandelte dann meine Schwiegertochter den Schafstall in einen Hühnerhof um, dem aber, dem Fuchs sei’s gedankt, kein langes Leben beschieden war. Mit meinen Kollegen pflegte ich stets einen guten, ja freundschaftlichen Kontakt, und dies sowohl mit dem Chirurgen am Spital, dem Dorfarzt Hans Zeller in der Lenk, wie auch mit den Ärzten in Saanen und Erlenbach. Wir waren alle recht überlastet und versuchten jahrelang vergeblich einen weiteren Hausarzt nach Zweisimmen zu locken, was dann aber oft an der Weigerung der Frauen scheiterte, welche nicht bereit waren, sich in den Bergen niederzulassen. Immerhin erhielten wir schliesslich mit Peter Marko doch noch einen Kollegen, mit dem ich mich gut verstand und der auch von der Bevölkerung sehr geschätzt wurde. Doch auch er verliess auf Drängen seiner Frau nach ca. 10 Jahren unsere Gemeinde wieder, um sich in der Ostschweiz niederzulassen.

Was mein Glück vorübergehend trübte
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5.9.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Was mein Glück vorübergehend trübte.

Unglücklich verlief dann aber einzig die Zusammenarbeit mit Dr. B., dem dritten Chirurgen, den ich während meiner Spitaltätigkeit erlebte. Er hatte schon zuvor seine Chefarztstellen in Wattwil und Siders wegen Unstimmigkeiten mit Behörden, Personal und Krankenkassen verlassen müssen und hatte auch bei uns grosse Mühe, sich in einen geordneten Spitalbetrieb einzufügen. Misstrauisch gegenüber jedermann, überwarf er sich mit fast allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und versuchte immer mehr seine Abteilung gegenüber dem übrigen Spital hermetisch abzugrenzen. Sicherlich ein technisch guter Chirurg wurde er von seinen eigenen Patienten verehrt, und als schliesslich nach langem Zögern die Spitalkommission ihn freistellte, bildete sich in der Bevölkerung eine Pro-B.-Bewegung, welche mit einer Unterschriftensammlung sein Verbleiben in Zweisimmen erzwingen wollte.

Für mich war es eine sehr belastende Zeit, wurde doch unter der Hand im Volke verbreitet, dass ich die Schuld an den Spannungen im Spital und letzten Endes an der Entlassung von Dr.B. trage. Ja, es ging soweit, dass ich und meine Familie anonyme Morddrohungen entgegennehmen mussten.

Dies führte auch zu einem sonderbaren Zwischenfall, fanden wir doch eines Tages einen von unbekannter Hand vor der Küchentüre abgestellten enorm schweren Koffer. Misstrauisch geworden avisierten wir die Polizei, welche das verdächtige Objekt von allen Seiten her begutachtete und nach längerem Zögern schliesslich doch öffnete. Und was war darin? Grabsteinmuster für das Grab meines kürzlich verstorbenen Schwiegervaters.

Besondere Erlebnisse und Ereignisse
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5.10.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Besondere Erlebnisse und Ereignisse.

Meine recht weitgefächerte Ausbildung kam mir später auch in anderer Hinsicht zugute. So hatte ich seinerzeit während den Semesterferien unter anderem einen Zahnextraktionskurs besucht. Noch unter meinem Vorgänger wurde ein schmerzender Zahn kurzerhand gezogen und Dr. Thönen trug immer eine Zange in der Rocktasche, mit welcher er diesen Eingriff vornahm. Natürlich ohne jegliche Anästhesie. Jedenfalls solches wurde mir überliefert. In meinen ersten Zweisimmer Jahren wurde auch ich immer wieder angegangen, einen quälenden Zahn zu entfernen, ungeachtet einer möglichen zahnärztlichen Sanierung. So sah ich mich denn nicht allzu selten gezwungen, mit den ererbten mittelalterlichen Instrumenten die verlangten Extraktionen vorzunehmen. Später allerdings widersetzte ich mich solchem Begehren und wies die Patienten an den Zahnarzt, und halt auch manchmal mitten in der Nacht.

Auch mein seinerzeitiges Assistentenjahr auf der Pathologie in Leiden kam mir noch des öfteren zustatten, konnte ich doch bei unklaren Todesfällen nicht so selten selber die erforderliche Obduktion vornehmen. Im alten Spital musste dies dann im sehr engen Aufbahrungsraum unter der Eingangstreppe vor sich gehen, meist mit Assistenz der Oberschwester. Diese war eben damals nicht nur Einsatzleiterin des Pflegepersonals, sondern gleichzeitig auch für die Narkosen zuständig. Zudem half sie überall aus, wo Not am Mann war, organisierte den Blutspendedienst, ordnete die Krankengeschichten und überwachte streng die sturmfreien Buden der jungen Krankenschwestern im Schwesternhaus. Sie war meist am Morgen die erste und am Abend die letzte im Spitalbetrieb

Zurück zum kleinen Aufbahrungsraum unter der Treppe. Dort wurden also die Verstorbenen gelagert, manchmal dicht nebeneinander zu zweit oder zu dritt. Einst lag dort ein im Urlaub verstorbener Holländer neben dem alten Herrn W. aus dem Altersheim. Als um die Mittagszeit ein Bestatter aus Holland erschien, um seinen toten Landsgenossen in dessen Heimat zu überführen, wurde er von der diensthabenden Schwester einfach auf den Aufbahrungsraum verwiesen, wo dann aber der Falsche verladen wurde. Die Reise des Herrn W. im Leichenwagen endete erst an der deutsch-holländischen Grenze, wo der Transport von der inzwischen mobilisierten Interpol gestoppt und zurückbeordert wurde. Das Pikante an der Sache war indessen, dass sich Herr W. immer wieder beklagt hatte, dass er zeit seines langen Lebens nie ins Ausland reisen konnte.

Ein Schreckensmomemt für Zweisimmen ereignete sich im Mai 1981. Ich befand mich gerade im Spital auf Krankenvisite, als eine Mirage wenige Meter über das Spital brauste und wenige Sekunden später in das sog. Stampfi­haus prallte, mit lautem Krach und anschliessender riesiger Stichflamme. Das Flugzeug war anlässlich einer Luftkampfübung über der Grimmialp mit einem Tiger kollidiert. Die beiden Piloten konnten sich mit dem Schleudersitz retten, wogegen die Mirage herrenlos Richtung Zweisimmen weiterflog. Eine ältere Hausbewohnerin starb, zwei weitere Personen wurden verletzt. Nicht auszudenken, wenn das Flugzeug wenige Meter tiefer das Spital getroffen hätte.

Einst führte die Tour de Suisse über den Jaunpass ins Simmental. Ein deutscher Fahrer war gestürzt und über eine steile Böschung hinuntergekollert. Ich wurde wegen dem angeblich schweren Unfall zu Hilfe gerufen. Als ich eintraf, fand ich einen völlig unverletzten Mann vor, der aber verzweifelt sein verlorenes Toupet im hohen Gras suchte. Es war sicher nicht das einzige Mal, dass ich unnötigerweise alarmiert wurde. Manchmal verloren die Angehörigen bei einem Notfall den Kopf und riefen gleichzeitig mehrere Ärzte an. So kam es etwa, dass ich mich mit meinem chirurgischen Kollegen unvermutet irgendwo in der Landschaft am selben Krankenbett fand, was uns dann Gelegenheit bot, auf dem Heimweg noch schnell in einer Beiz auf das unerwartete Zusammentreffen anzustossen.

Abschied vom Spital und der Praxis
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5.11.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Abschied vom Spital und der Praxis.

Nach 21 Jahren kam der Moment, wo ich mir sagen musste, dass die Doppelbelastung mit Spitalleitung und überquellender Hausarztpraxis mein Leistungsvermögen zu übersteigen drohte und ich - trotz oft 18-Stundentag - beiden Anforderungen nicht mehr zu genügen glaubte. Ich musste mich für Spital oder Praxis entscheiden. Da ich einerseits sehr an meinen jahrelangen Patienten hing und andererseits die Spitalatmosphäre damals durch das Verhalten des Chirurgen Dr.B. und das lange Zaudern der Spitaldirektion, diesem Missstand ein Ende zu bereiten, sehr getrübt war, fiel mir der Entscheid nicht allzu schwer. Ich trat als Chefarzt am Spital zurück und widmete mich anschliessend noch während 10 Jahren meiner Allgemeinpraxis, allerdings nicht ohne meinen Nachfolger am Spital, Dr. Marty, mit dem ich mich sehr gut verstand, in dieser Zeit an einem Wochentag und in den Ferien zu vertreten.

Im Gegensatz zu mir erhielt mein Nachfolger nun vom Spital von Anfang an einen Vertrag mit fester Entlöhnung und Pensionskassenbeiträgen, wogegen mit mir bis zuletzt einfach pro Patienten und allenfalls Aufwand abgerechnet wurde, so dass z.B. während den Ferien, dem Militärdienst oder den Fortbildungskursen jedes Einkommen aussetzte und auch kein Anspruch auf eine Pensionskasse geltend gemacht werden konnte. Nun, auch wenn wir keinen Reichtum anhäufen konnten, so reichte doch das Geld für ein sorgen- und schuldenfreies Leben und für die Möglichkeit, unsere vier Kinder auswärts ins Gymnasium und zur weiteren Ausbildung zu schicken.

Ich war sehr glücklich, als sich mein ältester Sohn Thomas nach seiner Ausbildung zum Internisten und einem zweijährigen Einsatz an einem Spital in Tansania bereit erklärte, meine Nachfolge anzutreten. So konnte ich ihm im Jahre 1991 Praxis und Haus übergeben. In der ersten Zeit danach war es mir möglich, ihn zu vertreten, wodurch ich noch weiterhin mit vielen meiner alten Patienten in Kontakt blieb, was mir den Übergang in den sogenannten Ruhestand wesentlich erleichterte.

Heute bin ich bald 90 Jahre alt. Vieles hat sich in der Zwischenzeit geändert. Im Spital, dessen Zukunft ohnehin auf dem Spiele steht, sind nicht mehr nur ein Chirurg und ein Internist mit ein bis zwei Assistenten für die ärztliche Betreuung einer wesentlich geringeren Patientenzahl verantwortlich, sondern eine ganze Anzahl von Chef-, Leitenden-, Spezial- und Assistenzärzten, meist Ausländern. Wegen der Fallpauschalen werden die Kranken und Operierten nur noch möglichst kurz zurückbehalten und die Geburtshilfe wird demnächst nach Thun verlegt. Ich bin sehr froh, dass sich Thomas nicht für die Nachfolge von Hans Marty beworben hat, müsste er sich doch nun seit Jahren mit den zum Teil gehässigen Auseinandersetzungen und Intrigen um die Weiterexistenz des Spitals befassen.

Auch in der Praxis ist vieles anders geworden. Die Hausbesuche sind weitestgehend zurückgegangen, die Unfall- und Notfallhilfe besorgt der eigenständige Rettungsdienst mit seinen Ambulanzen, Hausgeburten gibt es längst nicht mehr und der nächtliche Notfalldienst wird dem Spital überlassen. Trotzdem sich die Zahl der im Bezirk niedergelassenen Hausärzte verdoppelt bis verdreifacht hat, sind die Sprechstunden über­voll, und die administrativen Arbeiten des Arztes auf ein fast unerträgliches Mass angestiegen. Zudem finden unsere Hausärzte, die alle kurz vor dem Pensionsalter stehen, kaum noch einen Nachfolger, so dass die ärztliche Versorgung in unserer Region sehr bald gefährdet ist.

Ich weiss nicht, ob ich unter diesen Umständen nochmals frisch anfangen wollte. Aber ich habe eine wohl anstrengende, aber doch sehr interessante, bereichernde und schöne Zeit hier verlebt. Und diese möchte ich nicht missen.

Zweisimmen, 2015.

Mission in Osteuropa 1945
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5.12.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Mission in Osteuropa 1945.

Chronologisch würde dieses Kapitel zum Anfang von Kais Erinnerungen gehören. Es ist aber interessant, umgekehrt zu sehen, wie der Verfasser schon als Medizinstudent war: neugierig, abenteuerlustig, aufopferungsfähig, gutmütig, mitfühlend, ein nüchterner Beobachter, schon der Schrift nach sehr beherrscht und diszipliniert, der ohne Verschreibungen und Korrekturen druckreif fesselnd schrieb.

*


(1) Kais Reiseheft 6,6 x 16 cm

Kais Reiseheft 6,6 x 16 cm


(2) Kais handschriftlichen Aufzeichnungen

Kais handschriftlichen Aufzeichnungen

 

 

29.11.1945, Donnerstag:

St. Margrethen – Tag der Vorbereitung u. Zusammenstellung des Zuges. Hierbei zeigt s. wieder einmal die Fähigkeit unseres wackeren Militärs, alles verblüffend kompliziert zu organisieren. Dieser befiehlt jenes, jener befiehlt dieses, doch meint dieser dieses und jener meint jenes – der Sanitätssoldat steht da, staunt – und begreift… aber nicht dieses und jenes.

Interessant finde ich die Weisungen für das Verhalten im Ausland (bei allfälligem Ausgang?!): Ausgangskittel muss verschwinden – keine Erinnerungen an die alte Wehrmacht erwecken, Stahlhelm und Taschenmesser sind zu verstecken – würde die friedliebende Bevölkerung in Erregung bringen, Absätze zusammenschlagen, Melden etc. strengstens verboten, denn solches ist preussisch und preussisch ist nichts für zarte Amerikaner – Franzosen – und Russenherzen. «Me muess sech halt äbe apasse» – und deshalb darf der liebe Schweizer den letzten Rest seiner militärischen Haltung vergessen.

Der Zug setzt sich schliesslich zusammen aus 5 C4-Wagen für die zu repatrisierenden Polen, 2 C4 für das gewöhnliche – und 1 AB für das bessere Schweizerpersonal, 1 umgebauter Küchenwagen und einem Speisewagen [mehr funktionalisiert), einen C3-Sanitäts- und mehrere Güterwagen für Gepäck und Lebensmittel, en tous cas 17 Wagen.

Als Begleitper. fahren mit: Zugskommandant, drei Aerzte, 2 Funker werden die einzige Verb. mit der Regier'g  aufrecht zu erhalten haben, 22 (Mepo) u. 8 Sanitäter, nebst Four., sowie Küchenchef u.a.


(3) Trasse St. Margrethen - Dziedzice.

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30.11.45


Gegen Mittag erinnere ich mich plötzlich, dass mit heute meine Unmündigkeit ja eigentlich zu Ende ist und zur Bekräftigung dieser Tatsache zünde ich mir am Abend mit gutem Gewissen eine Cigarette an, nachdem ich mein Versprechen im Laufe der Jahre redlich gehalten habe.

Vormittags dieselbe Geschichte wie gestern. Die Polen, es sind ihrer rund 400, werden in die Wagen hineingepresst, Mütter mit kleinen Kindern für sich, sonst alle zusammen. Jeder Sitzplatz ist belegt, in der Nacht müssen sie entweder sitzend auf dem Boden schlafen oder aber es sich irgendwie bequem machen. Die Leute, ausschliesslich Zivilisten, sehen im allg. ausgezeichnet aus, sind die meisten doch schon seit dem Frühjahr in der Schweiz. Auch die Kleinen sind dick und munter, schreien auch Gott sei Dank relativ wenig. Über die Stimmung weiss ich noch zu wenig Bescheid, doch sieht man nirgends rechte Fröhlichkeit, im Gegenteil scheinen die Leute eher etwas unsicher in Bezug auf das Schicksal, welches sie in dem von mancherlei Störungen und Zerstörungen heimgesuchten Vaterland erwartetet.

Eines begreife ich nicht, nämlich warum man eine stark geisteskranke Frau mitnimmt, die zudem dauernd in ihren wirren Reden die Russen beleidigt u. beschimpft. Was wird aus ihr werden, wenn man sie in einem Lande aussetzt, wo wohl keine Organisation sich ihrer annimmt und wo zudem ihre geschworenen Feinde Herr im Hause sind? Unser «Schizo-Vreneli» spricht den ganzen Tag vor sich hin, kennt – wie alle diese Polen nur spärliche Deutsch, doch erfährt man mit einiger Kombinationsgabe, dass die Russen sie übel zugerichtet haben und wohl Schuld an ihrem Leiden sein müssen.

Nach Aussagen all der anderer Landsleute waren es jedoch die Deutschen, welche die Polin drei Jahre lang in e. Zuchthaus festhielten.

Um 12.30 startet der Zug in St. Margrethen. Statt direkt über Bregenz – Lindau hinaus zu fahren, macht man zuerst einen Abstecher nach Buchs – Feldkirch, um dann in Bregenz doch in die normale Route einzuschwenken. Nun, so kommen wir noch ein kürzeres Stück weit durch Oesterreich!
Mit der Sicht indes war es herzlich wenig weit her, dicker Nebel verschleiert die Bergrücken, Menschen zeigen s. überhaupt fast keine.


(4) Bahn St. Margrethen - Feldkirch.

Bahn St. Margrethen - Feldkirch.

 

In Bregenz erkennt man zum ersten Male deutlich die Spuren des Krieges: vor einem hohen Gebäude, wahrscheinlich einer ehemaligen Fabrik, ragen nur noch einige mächtige Zacken gen Himmel empor, alles übrige liegt in Schutt u. Trümmer. Sonst scheint aber diese Gegend doch weitgehend verschont.

Von Lindau an fahren wir per Dampf. Langsam pusten wir durch die flache Schneelandschaft vorwärts, der Zug eingehüllt in eine Wolke von Rauch, Dampf und Nebel.


(5) Feldkirch - Lindau.

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Um ca. 23 Uhr in einem Bahnhof von Kempten. Ein Jeep rast auf dem Perron ein, entlässt einige amerikan. Offiziere, die mit unserem Zugskommandanten in Verbindung treten. Wir sind also bereits aus der französ. in die amerikan. Besatzungszone herübergewechselt. Von dem Occupationstruppen sieht man zwar relativ wenig, hin und wieder rast ein Militärcamion in übersetztem Tempo auf den verwaisten Strassen daher oder man bemerkt einen Franzosen, der in nachlässiger Haltung eine Gruppe arbeitender Kriegsgefangener überwacht.  


(6) Bahn Lindau - München

Bahn Lindau - München

 

Mitten in der Nacht hält der Zug recht unsanft auf freiem Felde. Wie aus den schimpfenden Worten des deutschen Bahnvorstandes, welcher streckenweise den Zug begleitet, zu entnehmen ist, soll ein Pole die Notbremse entriegelt haben.

Mit fortschreitender Fahrt lichtet sich der Nebel und auf der Strecke Bodeloe– Passau – München bietet sich uns ein ganz trauriger Anblick: wie Kulissen heben s. die dunklen Umrisse der an der Linie gelegenen Ruinen gegen den sternbeschienenen Hintergrund ab. Einige Gebäude sind bis fast auf die Erde abgetragen, andere zeigen noch wenige gespenstische Mauerzacken oder ein vereinzeltes, stehengebliebenes Fabrikkamin, dem dritten fehlt kurzerhand der ganze Mittelteil. Längs unserem Geleise reihen s. kilometerweise halbzerschossene Eisenbahnwagen aneinander, z.T. völlig ausgebrannt, nirgends mehr e. ganze Scheibe.
Morgens um 3 Uhr Ankunft in München.


(7) Bahn München - Prag.

Bahn München - Prag.

 

1. Dezember, Samstag:

Von München sehen wir kaum was. Wir stationieren kurz im eigentl. Bahnhof und fahren noch in der Dunkelheit weiter.
Um halb acht ca. in Landshut.


(8) Landshut nach dem Krieg 1945. Mit Dank aus www.niederbayern.de

Landshut nach dem Krieg 1945. Mit Dank aus www.niederbayern.de

 

Hier ist, soweit man sieht, alles drunter und drüber. Bombenkrater, Schutt und Trümmer
überall. Der ganze Bahnhof bildet einen einzigen, ungeheuren Eisenbahnfriedhof. Wagen liegen in allen mögl. Lagen herum, Schienenstücke, verkrümmt, aufgerissen, ragen aus dem Haufen heraus; eine Lokomotive liegt zuoberst auf einem Trümmerberg alle Viere nach oben streckend. Doch mitten durch diese Wüste hindurch geht bereits wieder eine intakte Gleisanlage und selbst die einstige Eisenbahnbrücke ist mit Brettern u. Steinblöcken wieder notdürftig ausgebessert worden. Wer aber besorgt diese Arbeit?

Gerade während unseres Aufenthalts rücken diese Arbeiter ein, Männer u. Frauen jedes Standes, welche in Rucksäcken ihr Znüni mit s. tragen und s. offenbar alle zuerst bei einem Militärposten zu melden hatten. Jedenfalls standen diese Leute Schlange, um zu der angewiesenen Arbeit zugelassen zu werden.

Gegen Mittag halten wir für länger im Güterbahnhof Regensburg. Auch hier hat der Krieg seine Spuren gelassen, während die eigentliche Stadt in der Endphase des Krieges kampflos übergeben wurde und relativ wenig geschädigt daraus hervorging. Immerhin fielen sämtliche Donaubrücken im ersten Augenblick nach der Zerstörungswut der SS zum Opfer und auch wir traversieren den Fluss auf einem noch sehr improvisierten Übergang.


(9) Regensburg 1945. Mit Dank aus www.niederbayern.de

Regensburg 1945. Mit Dank aus www.niederbayern.de

Trotzdem man sich offensichtlich überall ans Aufräumen macht – auch hier schaufeln ehemalige eifrige Nazis, die emsigen Herren, den Dreck von den Bahnwagen weg – so sind doch die Trümmer noch lange nicht abgetragen und täglich stösst man von neuem auf Leichen, die wohl bereits seit einem halben Jahr hier herumliegen. Die Bahnarbeiter sind sehr zuvorkommend und ausserordentlich dankbar für Cigaretten.

Schwandorf, ca 4 Uhr. Maximale Verwüstungen überall. Man versteht kaum, dass hier noch etwas Lebendiges existieren kann. Bei einem einzigen Luftangriff, dem ersten, sollen von den 20 000 Einwohner bereits 7 000 umgekommen sein. Und doch kann man schon wieder Zimmerleute beobachten, die mit dem Aufbau neuer Schuppen und Häuser beginnen. Am stärksten ist natürlich der Bahnhof mitgenommen, Ruinen von deutschen Eisenbahngeschützen, daneben noch einigermassen ganze Wagen, die aber ihre Richtung im Raume verloren haben und wie Spielzeugbahnen auf dem Rücken oder auf der Seite liegen.

Wir schleppen einen gemütlichen Niederbayrer, der als Begleitpersonal unseren Zug bis zur Grenze begleitet in unser Coupé und nach der zweiten Cigarette beginnt er von selber zu erzählen. Er erzählt von seiner antinationalsozialistischen Einstellung (was man ihm sogar glaubt), wie er seinen Jungen jedesmal verhauen hat, wenn er von der HJ zurückkehrte (wohin sie von der Schule aus zwangsweise rekrutiert wurden) und er beteuerte auch, dass der Nationalsozialismus in der Gegend, einer sehr kathol., auf starken Widerstand stiess, der er sich im Gegensatz zu der Kirche stellte. Weiter berichtet er von seinem Kriegseinsatz, seinen Auseinandersetzungen mit den Schulbuben von Offizieren. Dass er sich damit brüstet, ein möglichst undisziplinierter Soldat gewesen zu sein, berührt indessen etwas unangenehm. Schon beim Einrücken an die Ostfront habe er nämlich z.B. sein Bayonett fortgeworfen, da es ihm zu schwer schien, in den Karpaten habe er statt zu schiessen, oftmals sich mit den Russen von Graben zu Graben unterhalten und so manchen anständigen russischen Kameraden angetroffen. Schliesslich erhielt er aber doch von einem dieser Kameraden einen Bauchschuss, wurde gefangen genommen und nach dem Waffenstillstand entlassen.

Im Allgemeinen ist die Stimmung in Bayern sehr antirussisch. In Furth z. B., der bayrisch-tschechischen Grenzstadt, sagte uns ein besserer Bahnangestellter auf unsere Frage nach dem Verhältnis zu den Besatzungsmächten: mit den westlichen Mächten gehe es so recht, wenn die Deutschen auch streng gehalten werden, doch die Russen plündern und rauben. Ja, meine Herren, mit diesen Russen werden wir alle noch einmal sprechen.

Von Kempten bis Pilsen sind wir in der amerikanischen Besatzungszone, vorher waren wir in der französischen, nachher werden wir in der russischen sein.


2. Dezember,
Sonntag:

Um drei Uhr morgens fahren wir in Pilsen ein. Mein Kamerad und ich sind noch wach, da wir die berühmte Stadt der Skodawerke und des Biers nicht verpassen wollen. Man erkennt in der Dunkelheit nur das riesige Lichtermeer und die endlosen grossen Fabrikkomplexe. Zerstört scheint nicht allzu viel. Überhaupt scheint die Tschechoslowakei in dieser Beziehung auffallend weniger gelitten zu haben als das anstossende deutsche Gebiet.


(10) Pilsen - Skoda-Werke vor dem Krieg. Mit Dank aus Google-Bilder.

Pilsen - Skoda-Werke vor dem Krieg. Mit Dank aus Google-Bilder.

Der erste Haupteindruck, den wir von der Tschechoslowakei gewinnen, ist die ausgedehnte Industrie.Gerade Bernau, halbwegs zwischen Pilsen und Prag, scheint überhaupt nur aus Bergwerken und Fabriken zu bestehen. Die kalten, grauen Häuser erscheinen bei dem trüben Wetter noch doppelt öde und leer.

In Bernau nehmen wir 2 russische Militärs auf, die uns, solange wir in russischer Besetzungszone fahren, begleiten werden. Der eine ist ein Leutnant, der, solange er nüchtern ist, vollkommen undurchdringlich, teilnahmslos und unberechenbar erscheint. Als er mitten am Vormittag in unseren Zug einsteigt, ist er bereits vollkommen betrunken. Der andere, mit Namen Wladimir, ist dagegen ein ausserordentlich sympatischer Mensch, wie man sie wohl in der russischen Armee finden wird. Er ist Techniker und kommt aus Kiew. Im Krieg war er Oberleutnant, wirkte in der Endphase als Partisanenführer hinter den deutschen Armee , geriet in Gefangenschaft und wurde deswegen degradiert. Jetzt ist er bereits Feldweibel. Er mag wohl kaum 25 Jahre alt sein. Die Deutschen haben ihm so ziemlich alles genommen. Die Frau wurde erschossen, das Kind fiel in einen Sodbrunnen. Alles kaputt, erklärt er lächelnd in seinem sehr mangelhaften Deutsch. Während man überall auf russ. Soldaten u. Offiziere stösst, an deren Händen die schönsten Uhren u. Ringe prangten, trägt unser Feldweibel nichts. Warum er denn nicht auch einem Deutschen, die ihn selber völlig ausgeraubt haben, eine Uhr genommen habe? Stalin verboten, erklärt er, in seinem Namen nicht. Er spart jetzt eifrig Schweizergeld zus., um s. auf ehrlicherem Wege eine Uhr zu erwerben und das Geld, das ich eines Abends an ihn verspielt habe, reut mich im Grunde nicht.

Gegen Mittag kommen wir in Prag an. Sogleich wird der Zug von einer Menge Leuten umschwärmt, die sich irgendwie Cigaretten zu erhaschen oder zu erbetteln hoffen (denn im Gegens. zu den Deutschen und Polen betteln die Tschechen direkt für diese Artikel). Ein höherer Bahnbeamter bietet mir für ein Päckli 80 Kronen; ich jedoch – in Unkenntnis des Wertes dieses Geldes, zog mich so gut es ging aus der Affäre, da ich den Mann nicht um ein solches Vermögen bringen wollte. Später erfahre ich dann, wie wenig die tschechische Krone bedeutet und dass man normalerweise für die 20 Cigaretten 100 Kronen zahlt. Immerhin ist das Durchschnittseinkommen der tschech. Bahnangestellten nicht mehr als 1500 Kr.


(11) Prag nach der Bombardierung am 14.2.1945. Mit Dank aud Google-Bilder.

Prag nach der Bombardierung am 14.2.1945. Mit Dank aud Google-Bilder.

Von Prag bekommen wir indessen nicht viel zu sehen, viele zerstörte Häuser deuten auf den Aufstand des letzten Frühlings hin.

Abfahrt gegen Abend. Kolin, Pardubitz, Böhmisch Triblitz – ca. um 4h morgens Olmütz.

 

3. Dezember, Montag: 


(12) Bahn Prag - Ostrau.

Bahn Prag - Ostrau.

Im Laufe des Vormittages treffen wir in Mährisch Ostrau ein. Diese Stadt mit ihren  Tausenden von Fabrikkaminen scheint mir riesig gross. Über dem Bahnhof erheben s. riesige, vielleicht 50 m hohe Kohlenberge – ein ungewohnter Anblick für das Schweizerauge. Auf den Gleisen arbeiten viele deutsche Kriegsgefangene, und trotzdem sie scharf bewacht werden, gelingt es uns doch, mit ihnen ein Gespräch anzufangen und ihnen im geheimen etwas zuzustecken. V. a. interessiert uns das Schicksal eines 16jährigen HJ mit wunderbar blauen Augen. Er wurde zuletzt noch an der Oder eingesetzt, eingekreiselt u. in russ. Gefangenschaft abgeführt. Daraus entlassen u. heimgeschickt, wurde er mit vielen anderen Kameraden von den Tschechen unterwegs abgefangen und in ein Arbeitslager gesteckt. Er hat einen kranken Fuss und muss auch sonst viel ertragen haben. So hatte er einen Totenkopfring, den ihm seine Freundin einst schenkte vor den Russen versteckt, und, als sie ihn dennoch aufspürten, so lange verteidigt, bis sie ihn völlig zusammengeschlagen hatten. Nun muss er täglich 8 Stunden Aufräumungsarbeiten leisten unter der strengen Knute der Tschechen. Aber am Abend, lernt er im Lager insgeheim – Englisch, um seine freie Zeit recht auszunützen.

Ein zweiter, schon älterer, eine typ. Haudegengestalt ist ehemaliger SS. Er lässt deutlich erkennen, dass der Nationalsozialismus in ihm noch weiterlebt und zum Schluss erklärt er, dass ihre Lage unerträglich wäre unter den verhassten Tschechen, wenn nicht die best. Hoffnung bestünde, dass ihnen einst doch noch die Wahrheit widerfahren würde. Ich begreife nicht ganz.

Dass auch sonst massenweise Züge mit deutschen zurückkehrenden Gefangenen von den Tschechen abgefangen werden, können wir überall wieder bestätigt sehen.


(13) Trasse Ostrau - Dziedzicze.

Trasse Ostrau - Dziedzicze.

Hinter Ostrau nimmt das Bild der Zerstörung plötzlich wieder zu. Wir kommen in ein Gebiet, welches in den letzten Wochen vor dem Waffenstillstand noch erbitterter Kriegsschauplatz war. Überall zeigt s. hier die gründliche Arbeit der s. zurückziehenden Deutschen. Die Schienenschwellen sind kilometerweit wie Zündhölzer entzweigebrochen, in den Bahnhöfen sind überall aus den Schienen kleine Stücke herausgebrochene, dazu gesprengte Brücken, deren traurige Überreste in einiger Entfernung herumliegen.

Um ca. 16 h treffen wir in der polnischen Grenzstation ein. Den ersten Eindruck, den wir von Polen erhalten ist nicht sehr friedlich: Wir sind nämlich gerade Zeugen, wie ein russ. u. poln. Offizier mit Dolch u. Bajonett aufeinander losstürmen und nur im letzten Augenblick am blutigen Zusammenstoss gehindert werden. Der Anlass soll ein ganz unbedeutender gewesen sein. Der Russe, offenbar betrunken und Anstifter des Streites, wird abgeführt, doch versichert uns unser russ. Feldweibel, dass die Geschichte am Abend noch mit der Pistole fertig ausgetragen werde. Kaum ist dieses Ereignis vorbei, kommt schon die Meldung, dass ein russ. Munitionszug in der vorhergegangenen Nacht in die Luft geflogen sei. Heitere Aussicht! Wir können aus diesem Grunde nicht direkt an unseren Bestimmungsort fahren, sondern müssen einen grössern Umweg über Rielsko machen. Über die Ursache der Zugskatastrophe gehen die Meinungen übrigens auseinander: die Russen behaupten, dass poln. Sabotage am Werke war, die Polen ihrerseits aber beschuldigen das betrunkene russ. Zugspersonal, durch dessen Fahrlässigkeit die Geschichte explodiert sei. Sei es, wie es wolle; jedenfalls zeigt sich darin, wie überall die Feindseligkeit zwischen Polen und Russen.

Als wir am Abend irgendwo halten, gelingt es mir mit Hilfe einer Cigarette, von einem Bahnangestellten das Wichtigste über die bevorstehenden Verhältnisse zu erfahren. Der Mann, der da in der Dunkelheit draussen steht, kann ich nicht genau erkennen, jedenfalls aber scheint er mir ganz auf dem Laufenden, wenn nicht sogar etwas gebildet zu sein. Das Gebiet, in dem wir uns befinden, soll nach seinen Worten einer der erbittertsten Kriegsschauplätze im ganzen Ostkrieg gewesen sein. Selbst die Russen erklären, dass neben Stalingrad und Sebastopel nirgends schwerer gekämpft wurde als dort während der Schlussphase des Krieges. Die Deutschen konnten ja dann auch jenen Industriebezirk im Zentrum Maehrisch Ostrau bis zum 1. Mai halten. Auf Dziedzicze, unser Endziel, sollen die Russen sieben Tage lang Sturm gelaufen sein. Über die augenblicklichen Zustände befragt, erklärt uns der Pole: Sehen Sie, für uns ist die Sache noch nicht zu Ende, wir jubeln noch nicht, wir werden erst jubeln, wenn auch die Russen unser Land verlassen haben werden. Unser Krieg mit den Deutschen war irgendwie ein politischer, einwandfreier. Die Sache war offen und ehrlich. Mit den Russen ist die Geschichte aber viel schlimmer. Sie sind unsere Feinde, wir aber sollten sie als unsere Befreier betrachten. Was wir von den Deutschen im Versteckten retten konnten, das graben uns jetzt die Russen aus. Über das Verhältnis zur Schweiz erklärt er: Wir wissen, dass die Polen in der Schweiz nicht sehr beliebt sind (?!), dennoch wünschen wir sehr, mit der kleinen Demokratie gute Beziehungen zu halten. Es wäre uns aus diesem Grunde auch sehr peinlich, sollte diesem Zuge in unserem Lande etwas zustossen.

Wir wollen noch in derselben Nacht Dziedize erreichten und wir fahren langsam durch das dunkle Land. Wiederholt müssen wir halten, wobei der poln. Lokomotivführer – mit den Schweizer Bremsen offenbar zu wenig vertraut – ständig viel zu plötzlich stoppt, so dass dann gewöhnlich der ganze Zugsinhalt über den Haufen fliegt. Ein solcher schockartiger Stopp beweist schlussendlich, dass eine Wagen-Stange bricht und unser Zug mitten entzweigerissen ist. Unsere russischen Begleiter wittern sogleich Sabotage des Lokomotivführers, dem sie auch gleich ihre Pistolen auf die Brust setzen. Unsere Offiziere können sie schliesslich beschwichtigen, so dass wir wenigstens mit unserem Zugführer die Fahrt zu Ende führen können. Der Schaden wird notdürftig behoben.

Manchmal müssen wir so auf freiem Felde anhalten, da immer wieder Leute versuchen, aufzuspringen und mitzufahren. Die H.P. muss sogar handgreiflich werden, um die unerwünschten blinden Passagiere abzuschütteln. Die Lage wird immer interessanter, jedermann befindet sich mehr oder weniger in inoffizieller Alarmbereitschaft. Wirklich krachen auch plötzlich Schüsse los, alles glaubt den grossen Augenblick für gekommen – da vernimmt man, dass unsere Offiziere mit ihren russischen Brüdern bloss gegenseitig die Ordonanzpistolen ausprobiert haben. Auch sonst betragen sich unsere Vorgesetzten oft etwas seltsam, z.B. wenn sie sich mit Vorliebe Arm in Arm mit den Russen photographieren lassen. Hier wäre übrigens auch noch Verschiedenes über unser Zugskommando zu sagen, aber besser: Schwamm drüber.

Gegen Mitternacht erreichen wir Dziedicze.


4. Dezember,  Dienstag:

Der erste Eindruck soll bekanntlich der entscheidende sein. Wir sehen Dreck, Pfützen, Dreck. Schon auf der Gleisanlage beginnt es. Während im übrigen Europa die Hunde mit ihren Visitenkarten die öffentlichen Verkehrswege verschönern, versorgen dies in Polen die Menschen selber und zwar in einem solchen Masse, dass man gerade im Bahnhof jeden Schritt sehr sorgfältig überprüfen muss.

Vormittags müssen unsere poln. Heimkehrer die Formalitäten erledigen. Wir sollten eigentl. im Zuge verbleiben, verschaffen uns jedoch einen kleinen Auftrag, der uns einen Streifzug durch das Dorf ermöglicht. Die hygienische Situation ist im Dorf nicht viel besser als auf dem Bahnhof, die Strasse ein wahres Schlammbad. Auch die Organisation, welche die Polen aufnimmt, scheint
nicht ganz einwandfrei zu klappen. Indessen können sich die Heimkehrer über einen recht patriotischen Empfang nicht beklagen. Reden werden gehalten, die Vaterlandshymne wird mit grossem Tam-Tam aufgeführt und zuletzt singen noch drei Herren auf das neue Polen. Nötig hat es sie. Später wird ein russischer Offizier, den wir bei einem etwas zu stürmischen Vormarsch beinahe über den Haufen geschmissen hatten, auf uns aufmerksam und verfolgt uns längere Zeit mit drohender Miene. Schliesslich aversiert er die poln. Polizei, die uns sogleich mit der Maschinenpistole entgegentritt, da sie unsere Uniform offensichtlich etwas unangenehm berührt und an die einstigen Herren im Gouvernement erinnert. Wir müssen erst gleich Auskunft über Willhelm Tell erteilen, bevor sie uns glauben, dass wir Schweizer sind. Kaum sind wir dort los, werden wir von 2 gutgekleideten Damen eingeholt, die uns Zeichen machen, dass sie uns irgendwo ohne poln. Augen sprechen möchten. Wir erfahren dann, dass die Damen, Deutsche natürlich, unbedingt nach Bayern zurück möchten und deshalb gerne unseren Zug benützen würden, was natürlich nicht angeht, sie sind übrigens nicht die einzigen, dauernd kommen neue Anfragen in dieser Sache. Auch von unseren poln. Rückwanderer würden viele - denen jetzt plötzlich alle Illusionen geschwunden sind – gerne mit uns zurückkehren. Der endgültige Abschied ging dann auch nicht völlig trocken vonstatten. Besonders tragisch scheint mir die Lage eines Studenten. Während er in der Schweiz war, hörte er indes vom Schicksal seines Mannes in Polen. Doch am letzten Tag vor der Abreise erreicht ihn ein Brief eines Freundes, der ihm den Tod seiner Eltern und die gänzliche Zerstörung seines Gutes mitteilt. Aber er ist für den Zug angemeldet und muss mit seinem Koffer als einziges Gut in das verwüstete Polen.

Man kann sich wirklich fragen, was aus diesen Leuten alles wird. Die Rückwanderer des ersten Zuges (wir sind Polenzug Nr. 2) sollen übrigens bald nach ihrer Ankunft von Banden überfallen und ausgeplündert worden sein, 7 Verletzte und 8 Tote gab es.

Doch was ist bei uns schon ein Toter: jede Nacht werden ja allein in Dziedzice mindestens 6-7 Menschen ins Jenseits befördert.

Die ganze Atmosphäre im Dorf ist immer überaus gespannt, man hat überall das Gefühl, dass die Bombe jeden Augenblick platzen kann. Der Hass zwischen den Polen und den Russen, das Misstrauen gegenüber jedermann verseucht förmlich die ganze Luft. Jeder, der irgendwie kann, trägt eine Waffe auf sich. Man sieht M.P. jedes Modelles, Karabiner aus allen Staaten.

Herren sind die Russen. Überall tauchen russ. Soldaten auf und man bekommt das Gefühl nicht los, ständig streng beobachtet zu sein. Dass aber diese Truppen vor kurzem die so hochklassige Armee wie die deutsche zu schlagen vermöchte, dieser Eindruck geht einem völlig ab. Man begegnet verwahrlosten, z.T. noch blutjungen Kerlen, die schwer bewaffnet den Bahnbetrieb überwachen. Diesen ist auch zuzutrauen, dass sie möglicherweise einen od. mehrere Polen ohne weiteres abschiessen. Einmal kommen wir auch mit einer Gruppe solcher Soldaten aus allen Gegenden Russlands zusammen. Man findet gewöhnlich, einen der sehr dürftig deutsch spricht od. dann hat mal bald einen Polen zur Hand, der beide Sprachen etwas beherrscht. Das erste, was uns diese Soldaten fragen, ist, ob wir uns schon der Polinnen bedient hätten. Für sie sei das der normale Zeitvertreib. Dass die Sitten wirklich so tief sinken, haben wir nicht geglaubt, aber es soll sogar so weit gekommen sein, dass ein Mädchen sich für eine Tafel Schokolade von selbst anbot. Eine andere, etwas weiblichere Polin bestürmt sogar eine Viertelstunde lang einen Korporal, sie zu kopulieren, um so mitfahren zu dürfen.

Auffallend an den jungen Russen sind alle die schönen Armbanduhren und Fingerringe, die bestimmt nicht russischen Ursprungs sind.

Am Abend muss der Zugskommandant mit unserem russ. Zugsbegleiter einer kommunistischen Veranstaltung beiwohnen. Viel Wodka pur … Jedenfalls kommt unser Kader stark berauscht heim. Unser russ. Leutnant fängt aber noch auf dem Heimweg mit einem poln. Offizier Händel an, sogleich greifen weitere Russen und Polen ein und beinahe soll es zu einem blutigen Kampf gekommen sein, als der Russe auf den Gegner schoss. Der poln. Offizier kommt dann mit einem Kopfstreifschuss in unseren Sanitätswagen, ihm auf dem Fusse der betrunkenen Russe und hätte sich nicht eine unserer Schwestern mutig zwischen die beiden gestellt, so hätten sie noch da aufeinander geschossen.


(14) Dziedzicze vor dem Krieg. Mit Dank aus Google-Bilder.

Dziedzicze vor dem Krieg. Mit Dank aus Google-Bilder.

 
5. Dezember, Mittwoch:

Wir wollen das Wespennest so bald als möglich verlassen, besonders da wir noch keine Schweizer aus Polen zurücknehmen können. Eine gr. Anzahl von Leuten aller Nationen versucht noch, die Erlaubnis zur Mitfahrt zu erlangen, doch können wir beim besten Willen nicht darauf eingehen. Während dem ganzen Tag schleichen Menschen um unseren Zug herum, die uns die verschiedensten Sachen anbieten bzw. gegen Cigaretten einzutauschen. Der Tauschhandel, der uns in der Schweiz noch ausdrücklich verboten wurde, blüht in den schönsten Farben; die Offiziere gehen uns mit dem guten Beispiel voran.


(15) Bahnhof in Dziedzicze im neuen Jahrtausend. Mit Dank aus Google-Bilder.

Bahnhof in Dziedzicze im neuen Jahrtausend. Mit Dank aus Google-Bilder.

Gegen Abend, bei Regen und Wind, verlassen wir den wenig einladenden Ort wieder. Diesmal kommen wir auf dem direkten Wege zur Grenze, der damalige Munitionszug ist weggeräumt. Unterwegs glaube ich auch, die Überreste des Zuges zu erkennen, jedenfalls lagen an unserer Seite überall eine grössere Zahl zerstörter Wagen umher.

Wir spielen noch bis in alle Nacht hinein mit unserem russ. Freunde, dem Feldweibel, der sich auf diese Weise Schweizergeld für eine Uhr verschaffen will. Er gewinnt wirklich auch recht hübsch, während ich ebenso hübsch verliere.

Unter «wir» verstehe ich im allg. meine beiden Kameraden Wyss u. Leuenberger, Leidensgenossen aus der RS, mit denen zusammen ich mich von Anfang an für diese Reise angemeldet habe. Mit 2 weiteren Sprösslingen aus einem anderen RS-Zug und drei Mediziner-Korporälen bilden wir das Sanitätspersonal des Zuges, welches seine Sache nie recht macht, dennoch aber wie nett als Mädchen für alles gebraucht wird. Die einzige Arbeit im Sanitär-Gebiet ist vielleicht noch das WC-Putzen, aber auch darüber lässt es sich streiten – und wird darüber auch gestritten.



6. Dezember, Donnerstag:

Diesmal passieren wir Osnau noch bei Nacht, kommen aber am Morgen in Ölmütz an. Hier, wie auch an anderen grösseren Stationen warten wir längere Zeit, so dass wir Prag erst spät am Abend erreichen.

Die Landschaft, die wir durchfahren, ist wundervoll, alle sind begeistert. Im Grossen und Ganzen ist das Gebiet eben, dafür wird es von vielen kleinen Flüsschen und Bächen durchzogen. Und was uns an diesen Gewässern vielleicht gerade am besten gefällt, ist, dass sie nicht ökonomisch, richtig schnurgerade kalanisiert dahinströmen, sondern, dass sie in völliger Freiheit nach ihrem Guttünken kurz und quer das Land durchsetzen, begleitet von Weiden und Pappeln. Auch die Bauernhäuser jener Gegend muten uns fremd an. Alle sind einstöckig und langgestreckt, bilden in sich volle Winkel, so dass sie wenigstens von drei Seiten einen kleinen Hof umschliessen. Nach der Aussenseite sind keine oder bloss winzige Fenster in den dicken Mauern und das Ganze sieht von aussen aus wie eine kleine in sich abgeschlossene Festung. So oder ähnlich habe ich mir bis jetzt die Bauernhäuser aus den russischen Büchern vorgestellt.

Nun etwas über die Sprache. Vom Tschechischen verstehen wir Schweizer tatsächlich kein Wort, während sich z.B. die Russen und Polen noch ganz leidlich mit den Tschechen verständigen können. Für uns bedeutet es darum gerade ein grosses Glück, dass die Deutschen diese Gebiete erobert und ihnen den Deutschunterricht aufgezwungen haben. So versteht doch fast jeder zweite Tscheche einige Brocken Deutsch.

In Prag halten wir neben einem neuen Zug mit einigen besseren u. sauberen Wagen, ein Ereignis, das uns auf unserer langen Reise nicht manchmal begegnet ist. Vor diesem Zuge waren prächtige rote Teppiche bis zum Bahngebäude ausgelegt und man verriet uns, dass soeben der ungarische Ministerpräs. in Prag eingetroffen sei. Trotz diesen Aufmerksamkeiten, die dem Besucher bei seinem Empfang zu Teil wurden, sollen s. aber die Verhandlungen schon nach kurzer Zeit zerschlagen haben.


Wir dislozieren noch in derselben Nacht nach einem Aussenbahnhof, wo wir unsere lebendige Fracht umladen wollen.



7. Dez
ember, Freitag:

Abwechslungsweise hat ein Teil der Mannschaft Ausgang in die Stadt. Wir ziehen am Nachmittag um. Die erste Erfahrung, die wir machen müssen, ist die, dass man uns überall schief ansieht von wegen unserer grünen Uniform und deutschen Sprache. Ja, es geht soweit, dass ein Tscheche, besonders am Abend, wenn noch das Schweizerkreuz an unserem Arm sicht- und erkennbar ist, nur im Flüsterton mit uns spricht und erst wenn er sich vergewissert hat, dass wir ausser jedermanns Hörweite sind. Sobald aber die Prager einmal erfahren haben, dass wir Schweizer sind und zudem gute Cigaretten auf uns tragen, sind sie im allg. sehr liebenswürdig und zuvorkommend. Ja, dank diesen Cigaretten sind wir die grossen Herren. Sie lassen s. ohne weiteres in Banknoten verwandeln und solange der begehrte Artikel uns selber nicht ausgeht, haben wir die Taschen voll tschechischen Geldes. Jeder von uns kann sich so die schönsten Sachen erstehen, viele bringen wunderbares Prager Kristall heim, einer Boxhandschuhe, ein anderer sogar einen kleinen Fox, alle aber tragen plötzlich die neuste Prager Mode, nämlich Pelzmützen, die einst für die deutsche Ostfront bestimmt wurde und jetzt von den Tschechen in grossem Umfang verkauft werden.


(16) Prager Altstadtrathaus nach dem Krieg. Mit Dank aud Google-Bilder.

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Schliesslich laufen wir fast Gefahr, vor lauter Handelstreiben, die Besichtigung der Stadt zu vergessen, was wirklich ausserordentlich schade gewesen wäre, denn ich finde Prag nach meinen vielseitigen Eindrücke gemessen eine sehr schöne Stadt. Nach einer ersten Irrfahrt durch das Zentrum machen wir uns gleich auf zum . Hradschin. Leicht schneit es und so haben wir nichts von der prächtigen Aussicht, die man von der Burg aus haben muss. Im St. Veilts-Dom wird gerade eine Messe gehalten doch nicht vom Erzbischof, der von den Deutschen umgebracht worden ist.

Der Hass, den die Tschechen gegen ihre emsigen Protektoren herumtragen, zeigt s. in allem. Sämtliche amtliche Inschriften sind peinlich genau entfernt, die deutschen Verordnungen aufgehoben, die deutsche Sprache vergessen. Niemand will mehr Deutsch verstehen. Einer von uns soll auf seine Erkundigungen in einer Bar nur verständnisloses Kopfschütteln und leere Blicke geerntet haben. Da er aber kurz darauf einige frivole Witze zum Besten gab, lachten plötzlich alle. Man warnte uns schliesslich direkt, in der Nacht nirgendwo auf der Strasse Deutsch zu sprechen, da wir sonst leider böse Erfahrungen machen könnten. Verschiedene Taxis vor uns seien deswegen niedergeschlagen worden.

In einem Laden fragen wir nach den Kristallgläsern im Schaufenster. Da wir Deutsch fragen, sind die Gläser gerade vor einem Augenblick ausgegangen.

An vielen Stellen erkennt man die Spuren des Aufstandes vom 5.-9. Mai. Vom Ratshaus ragen nur noch brandgeschwärzte rote Ruinen gen Himmel und vor diesem historischem Hintergrund steht die riesige Tribüne des eben zu Ende gegangenen Welt-Studenten-Kongresses. Vor dem Nationalmuseum sind einige deutsche Bomben explodiert, an vielen Häusern sind noch deutliche Schuss-Einschläge zu erkennen. Oft trifft man an Häusern auf Gedenktafeln, vor denen noch frische Kränze liegen. Es sind die Stellen, wo tschechische Kämpfer während der Revolution ihr Leben gelassen haben.

In Prag sieht man sozusagen nur sehr wenig Russen; sie sind bereits in ihrer Mehrzahl zurückgezogen worden, da man offenbar die tschechischen Behörden selber walten lassen will. Die Regierung Benesch ist ausserordentlich populär und die direkte Republik scheint auf festen Füssen zu stehen. Die Schweiz geniesst ein recht grosses Ansehen als eine der ältesten Demokratien und jedermann erkundigt sich sogleich nach Prof. v. Salis, dessen wöchentliche Weltchronik offenbar auch in Prag eifrig abgehört wurde, trotzdem dass rund 200 Menschen aus diesem Grunde von den Deutschen verhaftet und - erschossen worden sein sollen.

Dagegen sind die Gefühle der Tschechen gegenüber Polen und Ungarn weniger freundschaftlich. Man hört viel über jene Völker schimpfen, wahrscheinlich auch deshalb, weil dieser Tage von den genommenen Ländern noch Gebührenabrechnungen gefordert worden sind.

Das Stadtbild wird weitgehend beherrscht durch die bunten Uniformen. Es scheint fast, als ob die Tschechoslowakei diesen Stolz darin sehe, ihre Soldaten in möglichst viele verschiedene Waffenröcke zu stecken.


8. Dezember, Samstag:

Wieder können wir am Nachmittag in Ausgang. Diesmal wollen wir aber keine Geschäfte mehr machen, sondern Prag sehen. Direkt auf den Hradschin. In dem Dom erkundigen wir uns nach den Königsgräbern und können schliesslich in die dumpfe Krypta herabsteigen. In einem mosaikgetäfelten Gewölbe liegen sie beisammen, in prächtigen Marmorsärgen (neueren Datums), Karl IV samt seinen
4 Frauen, Rudolf II, die Jaroslaven u. Boleslaven.

Ein junger Tscheche, der uns bisher ständig nachgelaufen ist, bietet sich an, uns zu führen. Zuerst denke ich, dass er bloss begierig auf Cigaretten ist, dann aber erweist er sich als begeisterten Anhänger der Schweiz und erläutert uns in sehr interessanter Weise die  Sehenswürdigkeiten und ihre geschichtliche Bedeutung. So finde ich mit seiner Hilfe auch das Grab Ottokars, des mächtigen Gegenspielers Rudolf I.1, den Schädel des Kirgisen Wenzel, die Requisiten von Nepomuk, welchen ein übermütiger König über die Karlsbrücke in die Moldau warf.

Auffallenderweise befinden s. in St. Veits-Dom sozusagen keine Sitzgelegenheiten, das Volk hört s. die Messe stehend an. Die ganze Kirche ist – in zwei Ansätzen - gotisch gebaut und macht von innen und aussen einen mächtigen Eindruck.

Dagegen ist der Niklaus-Dom, den wir auf dem Heimweg besuchen, typ. Barock mit einer Unzahl von exstatischen Figuren und Kremänzel.

Am Abend. Die anderen sind schon fort, während ich noch in der Kirche zu tun hatte. So will ich denn für mich einen ausgedehnteren Spaziergang unternehmen. Vom Wallonalthar wandere ich dem rechten Moldauufer entlang aufwärts, immer weiter bis zu den vereinsamten Aussenquartieren.

(17) Dom St. Niklaus. Mit dank aus Dromedar.sk.

Dom St. Niklaus. Mit dank aus Dromedar.sk.

Plötzlich taucht im Dunkeln ein grosser Felsen auf, der bis in den Fluss hinabreicht. Er trägt eine Anzahl kleiner, alter Befestigungen und Türmchen, zuoberst eine Klosterkirche. Es ist der Vysehrad, auf dem einst die sagenhafte Libuse mit ihren beiden Schwestern den auf so seltsame Weise gefundenen Gemahl Premise ermordet haben soll. Die Moldau fliesst indessen sehr träge an der besonderen Stätte vorbei, auch richtige Strömung ist kaum zu erkennen und ich vermisse die schillernde Beweglichkeit und das leise Rauschen aus der herrlichen Dichtung Smetanas.


(18) Vysehrad. Mit Dank aus Google-Bilder.

Vysehrad. Mit Dank aus Google-Bilder.

Grosser Stolz erfüllt mich, als ich wieder kreuz und quer durch die Millionenstadt streifend, ohne einen Menschen zu fragen, in den heimischen Stall zurückgefunden habe und das sogar noch in Zeit. Unsere Offiziere und einige Kameraden irrten noch bis in den frühen Morgen hinein in Prag herum und genossen einmal die Vorzüge der amerikanischen Urlauber w`der Salons, insbesondere die Schwäche des weiblichen Geschlechtes für fremde Uniformen.

9. Dezember, Sonntag:

Leider kein Ausgang mehr. Wir müssen unsere Nachtwanderer aufnehmen und sollten ursprünglich noch am Abend abfahren – sollten!

Als erste treffen rund 45 Auslandschweizer ein, die – in Deutschland wohnend – zum grössten Teil ihr Hab und Gut vollständig verloren haben. Viele kommen aus den armen russ. od. poln. Gebieten. Nach ihren Berichten müssen die «Befreier» dort schrecklich gehaust haben. «Die Russen waren schlimm, die Polen aber noch viel schlimmer.» So erzählt eine alte  Grossmutter, wie sie geschlagen worden ist, ein Mann wie ihm Schuhe u. Kleider buchstäblich vom Leibe gerissen wurden, eine Frau, wie alle Frauen offiziell auf die Kommandatur befohlen wurden, um sich nachher ihrer zu bedienen.

Ein junger Bursche berichtet von den letzten Tagen in Danzig, seinen Erlebnissen im deutschen KZ und in russ. Gefangenschaft.

Unter den Schweizern befinden sich auch zwei ehemalige S’S’, die bei Kriegsende den Tschechen in die Hände gefallen waren. Sie müssen Fürchterliches durchgemacht haben, sind sie doch viele Wochen lang in dunklen, vollen Kellern ohne Fenster, auch noch mit ungenügender Nahrung gefangen gehalten worden. Sie kommen denn auch in einem miserablen Zustand bei uns an, bis auf die Knochen abgemagert, zu keinem aufrechten Gang mehr befähigt. Im Zug werden sie in einem besonderen Abteil gefangen gehalten und bei der Ankunft in der Schweiz müssen sie sogleich verhaftet werden.

Ferner laden wir ca. 100 Masurische Kinder – 5 bis 13 Jahre alt – aus TB-gefährdeten Familien ein, die in Leysin einen Erholungsaufenthalt machen können.

Im selben Augenblick erscheint schliesslich noch eine Wagenladung Italiener, die es auch nach der Heimat zieht, und die deshalb von der Ital. Gesandschaft geschickt in unseren Zug hinein manoevriert worden sind.

Zwei vornehme Herren von der sog. Chariter drängen uns in edler Weise Zucker, Brot, Fleisch und Weggli in bel. Menge auf, wenn auch etwas antike Ware. Was mit den Sachen geschieht, ist ihnen völlig gleichgültig, Hauptsache ist, dass sie das Zeug zu einem guten Zweck abgebracht haben.

Am Abend sind die amerikan. Durchreisebewilligungen noch nicht da, Abreise wird auf nächsten Mittag verschoben.


10. Dezember, Montag:

Um 12 Uhr theoretische Abfahrt, praktische um 21 Uhr, nachdem 4 tschechische Lokomotiven seltsamerweise plötzlich versagt haben.


11. Dezember,
Dienstag:

In aller Herrgottsfrühe muss in Pilsen von Hand Wasser gefasst werden, da alle Schläuche und Leitungen eingefroren. Dafür kommen wir einmal bei Tage an den Skoda-Werken vorüber, eine ganze Stadt für sich. Verwüstungen von Luftangriffen sind kaum zu sehen, bloss einige wenige Gebäude haben Schaden gelitten. Wir kommen jetzt endlich einmal rasch vorwärts, bloss im Böhmenerwald muss die Dampflokomotive hin und wieder etwas Atem holen, um uns den Berg hinauf zu ziehen. Die Fahrt durch die tiefverschneiten, ausgedehnten Waldlandschaften im böhmisch-bayrischen Grenzgebiet ist aber so genussreich, dass man die kleineren Stockungen gerne in Kauf nimmt.

Gegen Abend in Regensburg.

Ein für die Mentalität der Tschechen bezeichnendes Beispiel sollte ich wohl nahelegen. Auf einer tschechischen Station begegnen wie einem Güterzug, dessen Wagen mit viel Stroh u. Kohle gefüllt wird. Plötzlich fängt einer dieser Wagen Feuer u. beginnt lichterloh zu brennen. Das Belegspersonal schaut ruhig die Sache von allen Seiten an und beschliesst schliesslich der Sache ihren Lauf zu lassen und weiterzufahren. Denn solange das Fahrgestell noch nicht aus den Fugen falle, bestehe kein Grund, den Wagen eher auszuräumen. Zum Glück liessen sie sich wenigstens allmählich bewegen, das Feuer etwas aus unserer Nachbarschaft zu entfernen.


12. Dezember, Mittwoch:

Vor München müssen wir lange warten. Die Amerikaner können uns wie es heisst – vor Mittag in dem best. Vorortsbahnhof nicht brauchen. Überhaupt scheinen die Yankees dem schweizerischen Sanitätszug nicht gerade viel Aufmerksamkeit zu schenken. So wollte Hptm. Studer, unser Kommandant, am Sonntagabend auf dem amerikan. Kommissariat das Visum für die Weiterreise holen, der Amerikaner war aber gerade daran, seine Bude zu schliessen und verwies den Schweiz. Offizier auf die Bürostunden des nächsten Tages. Cigaretten halfen da nichts, die Amerikaner haben deren genug und so müssen wir wohl oder übel bis am Montagnachmittag in Prag bleiben.

Im Bahnhof München-Laim, dessen Hauptgebäude zur hohlen Ruine umgeformt worden ist, bietet sich ein gutes Bild von der Tätigkeit der Besatzungsmacht: am Bahnhofeingang steht ein amerikan. Soldat, der offenbar den Verkehr überwachen soll. Die ganze Gestalt ist ein einziger Ausdruck von Langeweile; die Hände im Hosensack, abwechselnd seine Gummis kauend und eine Cigarette paffend, kümmert er sich herzlich wenig um das Getriebe um ihn herum. Ich glaube, dass der längere Aufenthalt im fremden oder gar besiegten Gebiet für den Soldaten eine grosse Gefahr bedeutet. Wir sehen das an uns selbst. Kaum sind wir einige Stunden in Prag gewesen, sind wir bereits in jenen Schlendrian verfallen, der s. mit militär. Disziplin und soldatisch korrektem Auftreten nicht sehr vereinbaren lässt. Noch deutlicher sieht man diese Entwicklung bei den Russen. Diese Truppen, welche einst bestimmt nur durch eiserne Disziplin ihre grosse Siege erreichen konnten, sind jetzt wenigstens was die Besatzungen in den von uns durchfahrenen Gegenden betrifft, mehr oder weniger auseinandergefahren und in vielen Fällen kann man den Soldaten vom Vagabunden nicht mehr unterscheiden. Sollte Russland in nächster Zeit den grossen Krieg doch entfesseln, muss es völlig neue intakte Truppen in Reserve haben oder aber die alten wieder gänzlich umgewöhnen.

Ein für die Mentalität der Tschechen bezeichnendes Beispiel sollte ich noch nachtragen. Auf einer tschechischen Station begegnen wir einem Güterzug, dessen Wagen mit Stroh und Kohle gefüllt sind. Plötzlich fängt einer dieser Wagen Feuer und beginnt lichterloh zu brennen. Das Belegspersonal besieht sich ruhig die Sache von allen Seiten und beschliesst schliesslich, der Sache ihren Lauf zu lassen und weiterzufahren. Denn, solange das Fahrgestell noch nicht auf den Felgen falle, bestehe kein Grund, den Wagen etwa abzuhängen. Zum Glück liessen sie sich wenigstens allmählich bewegen, das Feuer etwas aus unserer Nachbarschaft zu entfernen.

Wieder wird es fast Abend bis wir München verlassen, doch jedermann hofft, noch im Laufe der Nacht die Schweiz zu erreichen.

In Pilsen, Regensburg u. München haben wir noch einige wenige Schweizer aufgenommen.

Eigener Lebenslauf
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5.13.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Eigener Lebenslauf.

Geboren wurde ich am 30. November 1925 im vierten Stock der Monbijoustrasse 91 in Bern. Ich
war das erste Kind des Georg Nathanael Zimmerli (s. Kap. 5.) und der Helene, geborenen Jordi, und wurde auf den Namen "Andreas" getauft - dies angeblich nicht wegen mangelnder Phantasie meiner
Eltern - meine Geburt fiel auf den Andreastag -, sondern ganz zufällig, weil ihnen der Name gefiel.
Später kamen zwei weitere Brüder hinzu, Jan und Reini, und zusammen verbrachten wir eine
harmonische Jugendzeit, wohlbehütet von den Eltern, der Grossmutter und verschiedenen Tanten.
Auch ein damals noch lediger, heissgeliebter Onkel spielte eine ganz wesentliche Rolle.
Mit den beiden Brüdern verband mich zeitlebens eine enge Beziehung und der Verlust des einen
vor nun schon 21 Jahren traf mich sehr.

Meine Schulzeit verbrachte ich gänzlich in Bern. Nach der Primarschule im Spitalacker besuchte
ich das Progymnasium am Waisenhausplatz und schliesslich die Literar-Abteilung des
Kirchenfeldgymnasiums.

Neben der Schule spielte aber auch die Pfaderei in der Abteilung Patria eine grosse Rolle. Da 1939
der zweite Weltkrieg ausgebrochen war und ein Grossteil der Männer einrücken mussten, wurden
auch wir Pfader zu Hilfsdienstleistungen eingesetzt.

Nach der Matur zog es mich zum Medizinstudium hin. Dieser Wunsch wurde von den Eltern
unterstützt, hätte doch seinerzeit auch mein Vater gerne diesen Beruf ergriffen. In kürzester Zeit
musste die erste Prüfung bestanden werden, da unmittelbar darauf das Aufgebot in die
Rekrutenschule erfolgte. Meine militärische Laufbahn begann bei der Sanität, wo ich es im Laufe
der Jahre bis zum Major brachte.

Das Studium absolvierte ich in Bern mit Ausnahme eines Semesters in Lausanne. Das Studium
schloss ich im Frühjahr 1951 mit dem Staatsexamen in Bern ab. Noch im selben Jahr verlobte ich mich mit meiner Studienkollegin Lilly Staub und anderthalb Jahre später konnten wir heiraten.

Unsere erste Ehezeit verbrachten wir unter recht bescheidenen Wohnverhältnissen in Holland: ein
Auslandjahr als Assistent am pathologischen Institut der Universität Leiden. Meine Frau machte
bereitwillig mit, wie sie mir auch später und bis heute stets und in jeder noch so schwierigen
Situation treu zur Seite stand.

Zurück in der Schweiz folgten weitere acht Jahre Assistentenzeit, verbunden mit ständigem Orts-
und Wohnungswechsel: innere Medizin in Bern, Chirurgie in Interlaken, dann wieder Bern am
Frauenspital und an der medizinischen Poliklink und wieder in Interlaken, wo ich zuletzt als
Oberarzt meine Ausbildung zum Spezialarzt für innere Medizin abschloss - ein rechtes
Wanderleben.

Das Gehalt eines Assistenten war zu jener Zeit noch äusserst bescheiden, Lilly half mit
Vertretungen oder Mitarbeit am Schularztamt mit, um unsere inzwischen angewachsene Familie
zu unterhalten. 1954 hatte sich ja Thomas, ein knappes Jahr später Anna und 1958 noch Walther
zu uns gesellt.1963 kam noch das vierte, Stephan, auf die Welt.


(1) Von links: Walter ( ), Anna ( ), Lilly, Kai, Thomas ( ), vorne Stephan ( ).

Von links: Walter ( ), Anna ( ), Lilly, Kai, Thomas ( ), vorne Stephan ( ).

Bei dem Grindelwalder Dorfarzt Dr. Ruedi Steiger lernte ich sehr viel über praktische und einfache,
aber effektive Medizin, und er vermittelte mir die Freude an einer Bergpraxis.
Am 1. Januar 1960 begann meine Tätigkeit am Spital Zweisimmen und zugleich die Arbeit in der
ausgedehnten Allgemeinpraxis (s. Kap. 5.1. und 5.2.).

Für die ärztliche Versorgung des ganzen Amtsbezirkes waren wir damals nur zu dritt: Dr. Arnold
Stucki als Chirurg, Dr. Hans Zeller in der Lenk und ich in Zweisimmen. Die äusseren Verhältnisse
damals sind kaum mit den heutigen zu vergleichen: kaum Assistenten im Spital, häufige
Hausbesuche in abgelegenen Gehöften, kein eigener Rettungsdienst, häufige Hausgeburten - von
Beginn an war ich voll beschäftigt und die Tage waren entsprechend lang. Darum verzichtete meine
Frau auf eine eigene Praxis, arbeitete als treusorgende Hausfrau und Mutter, griff stets ein, wenn
ich nicht zur Stelle war, nahm mir Alters- und Kinderheime ab, auch die Schüleruntersuchungen,
sowie die ganze Buchhaltung. Ohne sie wäre ich dem ganzen Stress nicht gewachsen gewesen.
Ein Jahr nach meinem Amtsantritt in Zweisimmen kam mein ehemaliger Chef am Spital Interlaken
bei einem Lawinenunglück ums Leben. Von verschiedenen Seiten wurde mir nahegelegt, mich für
die Nachfolge zu bewerben. Nach längerem Nachdenken entschloss ich mich, in Zweisimmen zu
bleiben.

Wohnten wir vorerst in einer Ferienwohnung und führte ich die ambulante Praxis in einem
Spitalzimmer, sah mich meine Familie nur ganz selten am Tag. Nicht zuletzt wohl mit Hilfe der
Gemeinde konnten wir aber bald einmal einen schönen Bauplatz in Spitalnähe erwerben und 1963
dort mit Familie und Praxis in ein eigenes Haus einziehen.

21 Jahre lang bemühte ich mich, der Doppelaufgabe Spital und Allgemeinpraxis zu genügen und
erlebte dabei sehr viele schöne, gelegentlich aber auch traurige Momente, sah dank der
Hausbesuche in viele Familien hinein, durfte oft mehrere Generationen und zahlreiche Geburten
betreuen und stets auf das Vertrauen und das Verständnis meiner Patienten zählen, auch wenn
der Hausbesuch gelegentlich erst gegen Mitternacht erfolgte (Kap. 5.1 - 5.8.)..

Irgendwann kam aber dann doch der Zeitpunkt, wo ich einsehen musste, dass beide Aufgaben nicht
mehr verantwortungsbewusst zu erfüllen waren. Und so entschloss ich mich 1981, das Spital einem
Nachfolger zu übergeben und mich auf meine ambulante Praxistätigkeit zu beschränke.
Schon von jung auf liebte ich die Berge, wohin es mich auch immer wieder hinzog. Dabei hatte ich
das Glück, den grössten Teil meiner Militärdienstpflicht in Gebirgskursen leisten zu können, wo ich
unter den bekanntesten Bergsteigern und Bergführern viele Freunde fand und mit ihnen manche
schöne Tour unternehmen konnte.

1945 unmittelbar nach Kriegsende konnte ich einen militärischen Sanitätszug ins unruhige und
völlig verwüstete Polen begleiten, um die geflüchteten und verstreuten Auslandschweizer aus den
Ostgebieten heimzuholen Kap. 5.12.). Wenige Monate später dann noch einmal, um die in der Schweiz während des Krieges internierten Polen in ihre Heimat zu repatriieren.
1956 durfte ich mithelfen, in den Lenker Militärbaracken ein Notspital für Flüchtlinge des
Ungarnaufstandes aufzubauen und zu betreuen. Auf Einladung des Schahs von Persien durfte ich
sogar einmal den Kommandanten der Gebirgskampfschule Andermatt nach Persien begleiten.
Gerade die Freundschaft mit meinen Dienstkameraden führte dazu, dass ich später auch ausserhalb
des Militärs kleinere Expeditionen in die Anden, nach Ostgrönland, in den Kaukasus und in das
Himalaja-Gebirge begleiten durfte. Daneben beschäftigte ich mich immer wieder mit dem
Bergrettungswesen und war Mitglied verschiedener schweizerischer und internationaler
Rettungsorganisationen, was mir auch die Gelegenheit bot, zusammen mit meiner Frau entsprechende
Kongresse in verschiedenen Ländern zu besuchen.

Grosse Freude und Genugtuung erfüllte mich, als sich mein ältester Sohn Thomas im Jahre 1991
bereit erklärte, meine Praxis zu übernehmen und wir uns ins Stöckli zurückziehen konnten. In der
ersten Zeit habe ich ihn noch gelegentlich vertreten, so dass mir der Übergang in den Ruhestand
und der Abschied von meinen alten Patienten nicht allzu schwer fiel (Kap. 13.).

Noch beschäftige mich eine neue Aufgabe während mehreren Jahren meines sogenannten
Ruhestandes: ich durfte am Aufbau und der Betreuung einer Gemeinde und Spitalpartnerschaft mit
der kleinen Gemeinde Aprilzi in Zentralbulgarien mitwirken. Im Verlaufe zahlreicher Besuche durfte
ich das schöne, aber völlig verarmte Land und die Gastfreundschaft seiner Bewohner
kennenlernen.

Zudem hatten wir nun - und dies namentlich meine Frau - noch besser Zeit, uns um unsere alten
Eltern zu kümmern, welche alle vier ihren Lebensabend bei uns verbrachten. Daneben war es uns nun möglich, vermehrt unseren geliebten Ferienort am Walensee aufzusuchen (Kap. 5.) und regelmässige Wanderungen, vor allem in Griechenland und der Türkei zu unternehmen. Auf diesen Wanderungen bildete sich mit der Zeit eine feste Wandergruppe von Freunden aus der ganzen Schweiz, die sich bis heute noch regelmässig trifft.

Als jedoch unsere Beine müder wurden, vertauschten meine Frau und ich das Wandern vermehrt
mit unserem Altershobby, dem Malen. In zahlreichen Kursen und Malferien, ebenfalls oft in
Griechenland, aber auch in Italien und alljährlich im norddeutschen Worpswede, lernten wir nicht
nur die Landschaft aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sondern fanden auch unter
Gleichgesinnten viele neue Freunde. Und dass ich selbst jetzt noch im hohen Alter und mit zitteriger
Hand hie und da noch zum Pinsel greife, ist sicher unserem kleinen Malerzirkel zu verdanken, der
sich regelmässig in anregender und freundschaftlicher Atmosphäre zusammenfindet.

Im September 2018 konnten Lilly und Andreas Zimmerli ihre letzte Bilderausstellung unter dem Titel "Retrospektive" eröffnen und viele FreundInnen und Bekannte treffen. (Thoma Zimmerli 5.5.2019).      

Heute bin ich fast 91 Jahre alt und sicher schon recht vom Alter gezeichnet. Und wenn ich auch
vielleicht in absehbarer Zeit von dieser Welt abtreten muss, so darf ich doch auf ein reichhaltiges,
spannendes, zeitweise etwas anstrengendes, aber glückliches Leben zurückblicken, das ich vor
allem meiner lieben Frau zu verdanken habe, welche mich nun schon 63 Jahre lang treu begleitet,
unterstützt und betreut hat. Auch unsere Kinder umsorgen uns getreulich und ermöglichen uns
immer noch einen selbständigen Haushalt zu führen. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt.

Zweisimmen, Oktober 2016

Grosse Freude bereitete Andreas Zimmerli die Geburt von 2 Urenkelkindern Leano und  Yael; die Geburt der Grosstochter Carla Ende April 2019 hat er dann leider nicht mehr miterlebt. ((Thoma Zimmerli 5.5.2019).

Grabrede (Nekrolog) von Thomas
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5.14.  Erinnerungen eines Landarztes - Der Vater Dr. Georg N. Zimmerli – 95 jährig – Grabrede (Nekrolog) von Thomas.
Im Herbst 1991 bin ich mit meiner Frau Barbara und unseren drei Kindern nach einem zweijährigen Aufenthalt in Tanzania nach Zweisimmen gekommen, um in die Fussstapfen unserer Eltern zu treten. Ich habe dann die frisch umgebaute Praxis übernommen, mit äusserst hilfreichen, von zum Teil mehrbändigen Krankengeschichten, die Du mit Deiner Hermes-Schreibmaschine geschrieben hast. Ich bin stolz gewesen, Dein Lebenswerk zu übernehmen und habe gehofft, die Praxis in Deinem Sinne und mit Deinen Qualitätsansprüchen weiterführen zu können. Ich konnte immer Deinen Rat holen, wenn ich selber unsicher gewesen bin, aber Du hast mir nie Vorschriften gemacht, wie ich etwas machen soll.

Du hast mein Interesse an der Medizin schon in meiner Schulzeit geweckt, sei es, dass ich Dich bei den Hausbesuchen begleitet habe (häufig der einzige Moment, wenn wir etwas Wichtiges zu besprechen hatten…) Einmal durfte ich Dir helfen, wenn Du einen Patienten mit Lungenentzündung vom Fermeltal mit einem Hornschlitten zum Döschwo im Matten-Dorf transportieren musstest, weil die verschneite Strasse unpassierbar war, oder wenn eine grosse Wunde in der Praxis zu später Stunde versorgt werden musste … Dein Spektrum von Medizin war viel umfangreicher als das von uns heutigen Hausärzten. Du hast neben der Praxistätigkeit und den abendlichen Hausbesuchen noch die Medizinische Abteilung im Spital Zweisimmen geleitet, jeden Eintritt selber mit einem Assistenzarzt besprochen, daneben hast Du geholfen, Kinder auf die Welt zu stellen, ob bei einer Spontangeburt oder mittels Vakuum oder Zange, oft sogar noch zu Hause bei den werdenden Eltern. Es hat Hausbesuche gegeben, wo es nicht selten um Leben und Tod gegangen ist, weil ein Transport ins Spital nicht mehr möglich war! Gelegentlich bist Du zu Bergrettungen ausgerückt – Ambulanzen oder sogar Helikoptertransporte standen nicht zur Verfügung! Du hast psychisch angeschlagenen Patienten geholfen, mit schwierigen Lebenssituationen zurecht zu kommen – und manchmal dabei Karabiner, Revolver und Pistole eingesammelt, wenn Gewalt gegen Angehörige, Beamte oder gegen sich selbst gedroht hat.

Die Sprechstunde war meistens übervoll, und Wartezeiten von mehr als einer Stunde keine Seltenheit wegen Notfalleinsätzen. Meistens haben auch prominente Patienten (unter ihnen ein Bundesrat) das Warten ohne Murren akzeptiert. Andere Patienten haben damit mehr Mühe gehabt und das auch laut und deutlich den Arztgehilfinnen mitgeteilt. Die Bürokratie hat noch viel weniger Raum eingenommen: statt die Abende am Schreibtisch mit Aktenstudium und Briefdiktaten zu verbringen, hast Du Hausbesuche, oft mehr als fünf pro Tag, gemacht. Telefonbeantworter und Natel hat es noch nicht gegeben, die Besuchs-Tour wurde in Deinem kleinen Kalender mit den Telefonnummern der Patienten aufgeschrieben, und so konnte Mami, die das Telefon hütete, reagieren, wenn wegen einem Notfall die Tour geändert werden musste. Manchmal wurden auch wir Kinder in die Pflicht genommen, wenn beide Eltern nicht da waren. Kam ein Telefon mit einem französischsprechenden Patienten, mussten wir folgendes Sprüchlein aufsagen: «Le docteur n’est pas là, téléphonez à l’hôpital svp».

Die Patienten haben es begriffen, wenn Du erst in der Nacht um elf Uhr bei ihnen eingetroffen bist, die Medikamente (Hustenmittel und Antibiotica) sind in braunen Fläschen im Besuchskoffer gewesen, und jedes Tablettchen ist einzeln abgezählt in einem weissen Papiersäckli abgegeben worden. Oft sind wir zu einem Hausbesuch auf einer Alp gewesen. Zu einem abgelegenen Bauernhof bei Boltigen habe ich Dich einmal begleitet, zwei kleine Appenzeller Sennenhunde sollten am gleichen Abend getötet werden, weil sie niemand mehr haben wollte – wir haben einen davon mitgenommen – und ich musste zu Hause den verschissenen Kofferraum selber putzen, weil ich den Hund unbedingt haben wollte … Der Hund Mutz hat seine Wächtertätigkeit eifrig wahrgenommen; viele Leute haben keine Freude an seinem bissigen Charakter gehabt!

Menschlich und in der Medizin bist Du für mich ein grosses Vorbild gewesen mit deinem profunden Wissen, deiner Einsatzbereitschaft, deinem hohen ethischen Anspruch, deiner Geduld und einer enormen Korrektheit. Die Zeit für die Familie war rar, umso mehr genoss ich die Tage am Walensee, wo ich mit Dir Regenwürmer versenkt habe beim erfolglosen Versuch, einen Fisch aus dem See zu ziehen – wir sind dann auf Brotkügelchen umgestiegen, um den Würmern das nutzlose Ertrinken zu ersparen …, oder wie Du mich an einem Sonntagmorgen um sechs geweckt hast: «Ich gehe mit Fritz Gerber auf das Wyssstätthorn, hast Du Lust mitzukommen?» (das hat nicht immer sofort Begeisterung in mir ausgelöst, aber anschliessend immer zu einem tollen Bergerlebnis geführt!)

Als wir im September 1991 das Bolgengasse-Haus und die Praxis übernommen haben, hast Du Dich stark zurückgezogen und mich machen lassen! Sehr froh bin ich im ersten Jahr um Deine wertvolle Hilfe gewesen, wenn Du am Donnerstag Morgen Sprechstunde gemacht hast oder mich während zum Teil langen Militärdiensten vertreten hast. So hast Du den stetigen Wandel in der Praxismedizin (Abschied von der grünen mechanischen Schreibmaschine, neue Laborgeräte, mehrere Telefonstationen, Handy, Fax, Computer, etc.) noch mitverfolgt, aber einmal hast Du begreiflicherweise auch genug gehabt.

Schwierig war für Dich sicher der Rollentausch vom heilenden Arzt zum teilweise Betreuungsempfänger, als sich bei Dir in den letzten Jahren zunehmend gesundheitliche Probleme abzeichneten. Aber Deinen Willen, möglichst alles selber zu machen, hast Du bis zuletzt behalten.

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Im Herbscht 1991 bin ig mit myre Frou Barbara und üsne 3 Chind nach emene 2-jährige Iisatz in Tanzania nach Zwöisimme cho, um i d’Fussstapfe vo üsne Eltere ds träte. Ig ha denn e früsch umpouti Praxisis überno mit üsserscht hilfriche Zämefassige vo zum Teil mehrbändige Chrankegschichte., wo du mit Dire Hermes-Schribmaschine gschribe hesch. – I bi stolz gsy, Dis Läbeswärk dörfe ds übernäh und ha ghoffet, d’Praxis in dim Sinn und mit dine Qualitätsasprüch wyter füere ds chönne. – Immer ha ni chönne Rat hole, wen i sälber unsicher gsy bi, aber nie hesch Du mir Vorschrifte gmacht wie me öppis müessti mache. Du hesch mis Inträsse ar Medizin scho ir Schuelzyt gweckt: sigs wen i di auf emene Husbsuech ha begleitet (hüfig der einzig Momänt, wo me öppis wichtigs zäme het chönne bespräche), we’d Hilf brucht hesch, um e Patient mit Lungenentzündig vom Färmel mit emene Horeschlitte zum Döschwo im Matte-Dorf ds trnsportiere, we me bi verschneiter Strass nid het chönne ufe fahre; oder wenn i ha dörfe hälfe, e grossi Schnatte ds näie… Dis Spektrum vor Medizin sich unändlech viel umfangrycher gsy als das vo de hütige Husärzt: Du hesch näbscht der Praxistätigkeit und de abendleche Husbsüech no die meidizinischi Abteilig im Spital Zwöisimme gleitet, jede Ytritt sälber mit em Assistänzarzt am Chrankebett besproche, näbeby Chind hälfe uf d’Wält stelle – sigs binere Spontangeburt oder mittels Vakuum oder Zange, oft sogar no deheime bi den wärdende Eltere. Es het Husgeburte gä, wo’s nid so sälte um Läbe oder Tod sich gange, wüll e Transport ids Spital nümme müglech wär gsy! Glägentlech bisch o zu Bärgrettige usgrückt – Ambulanze oder sogar Helikopter-Transpört het’s no nid gä! - Du hesch psychisch agschlagene Patiänte ghulfe, mit schwierige Läbessituatione z’rächt ds cho – und mängisch derby o Karabiner, Revolver und Pistole ygsammlet, we Gwalt gäge Aghörigi, Beamti oder oder gäge sich sälber droht het.. – d’Sprächstunde sy meischtens übervoll und Wartezyte vom meh als ere Stund ke Sälteheit gsy wäge Notfallysätz. Meischtens hei o prominänti Patiente (unter ihne e Bundesrat) – ds Warte ohne Murre akzeptiert; anderi Patiente hei dermit meh Müe gha und das de o lut und dütlech de Arztghilfinne mitteilt! D’Bürokratie het no viel weniger Rum ygno als hüt; statt d’Abende am Schrybtisch mit Aktestudium und Briefe diktiere ds verbirnge, hesch du Husbsüech – oft meh als 5 pro Tag – gmacht. Natel und Telephonbeantworter hets no nid gä – d’Bsuechs-Tour isch i dim chlyne Kaländer ufgschribe gsy mit de Telephon-Nummere vo de Patiente – ds Mami het derwyle ds Telephon ghüetet und chönne reagiere, we wäge mene Notfall d’Tour het müesse gänderet wärde. Mängisch sy o mir Chind id Pflicht gno worde we beidi Eltere nid da gsy sy: We nes Telephon mit emene französisch sprächende Patient cho isch, hei mer müesse nes Sprüchli abeliire: «Le docteur n’est pas là, téléphonez à l’hôpital svp»- D’Patiente hei’s de albe scho begriffe, we Du ersch z’Nacht am elfi bine Ytroffe bisch, D’Medikamänt (Hueschte-Tablette und Antibiotca) sy I brune Fläschli im Bsuechskoffer gsy, und jedes Tablettli sich einzeln abzellt und imene wysse Papirseckli abgä worde. – Oft isch me zu mene Husbsuech uf ere Alp no ds Fuess unterwägs gsy. Uf emene abglägene Burehof bi Boltige, wo ni di einisch begleitet ha, sy 2 chlyni Apezäller-Baschter Hünd gsy, wo am glyche Abe hätte sölle tötet wärde, wüll se niemer het wölle – mir hei eine dervo hei gno – und ig ha de dehime müsse der verschissnig Kofferrum im Outo sälber putze, wüll ig dä Hund ja unbedungt ha wölle!… - Der Hund Mutz het üs de sehr guet bewacht und vieli Lüt hei a sim ziemlech bissige Charakter nid Fröid gha! Mönschlech und ir Medizin bisch Du für mi es grosses Vorbild gsy mit Dim profunde Wüsse, Dire Ysatzbereitschaft, Dine höche ethische Asprüch, Dire Geduld und enere enorme Korrektheit. D’Zyt für d’Familie sich rar gsy, umso meh sy Tage am Walesee, wo ni mit Dir ha Rägewürmer versänkt bim erfolglose Versuch, einisch e Fisch us em See ds’zieh – mir hei de uf Brotchügeli umgstellt, um de Würm ds nutzlose Ertrinke ds erspare… - oder we Du mi amene Sunntigmorge hesch am 6i gweckt:»I ga mit em Fritz Gerber uf ds Wysstäthorn – hättisch Luscht mitzcho?» (das het zersch nid immer grad Begeischterigsstürm usglöst – aber de immer zu mene tolle Bärgerläbnis gfüert !)

Der Bsuech von dir mit em Mami in Tanzania 1990, wo ni Dir ha ne anderi Medizin mit sehr eifache Mittel chönne zeige, u wo mer zäme mit emene Fischer e wunderschöni 2-tägigi Flussfahrt im Eiiboum uf em Kilombero-Fluss dür ne riesigi einsami Steppe-Landschaft hei chönne zäme mache si für mi es nachhaltigs und wunderschöns Erläbnis gsy.

Wo mir im Septämber 1991 ds Bolgegass-Huus und Praxis hei übernoh, hesch du Di starch z’rüggzoge u mi la mache! Sehr froh bi ni i de i de erschte Jahr um Dini wärtvolli Hilf gsy, we Du am Donnschtig Morge Sprächstund gmacht hesch oder mi während zum Teil länge Militärdienscht-Abwäseheite verträte hesch. So hesch der stetig Wandel ir Praxismedizin (Abschied vor grüene mechanische Schribmaschine, nöji Laborgrät, viel meh Telephonstatione, Handy, Fax, Computer etc., no mitverfolgt, aber einisch hesch de gnue übercho. – Schwierig isch sicher für Di der Rolle-Tusch worde, vom heilende Arzt zum teilwise Betreuigs-Empfänger, wo sech bi dir i de letztschte Jahr wäge zunämende gsundheitleche Problem abzeichnet het. Aber Di Wille, müglechscht alles no sälber z’mache, hesch Du bis zletscht bhalte!

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