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Ein Leben.Genau eines.Nicht mehr und nicht weniger.
Das ist das,was jedem zur Verfügung gestellt wird.Damit muss man auskommen.
Ein verdammtes,kurzes Leben.
Trotzdem ist es für jeden von uns etwas anderes.Es ist mal mehr oder weniger intensiv,interessant ,lebenswert,ausgefüllt,sinnvoll und leider auch sehr unterschiedlich lang.
Immer aber ist das eigene Leben für einen das Wichtigste von allen und wenn man darüber nachdenkt,sich mal so richtig damit beschäftigt,dann kommen einem die seltsamsten
Erlebnisse wieder retour.
Also lass ich mich mal darauf ein.
Man kann sagen,was man will,aber nach 67 Jahren ist die Halbzeit einfach vorbei und man merkt es auch so langsam.Hat man mit zwanzig Jahren noch das Gefühl,dass man jung,dynamisch und voller Elan ins noch fast unberührte pralle Leben hineinhüpfen kann,und sind mit fünfunddreissig,vierzig fast noch alle Optionen offen und alle Körperfunktionen intakt , rechnet man bis dahin wie selbstverständlich mit guter Gesundheit in hohem Alter,so ist das mit über 60 bereits eine Illusion über die man sich keine Illusionen machen darf.Irgendwo zwickts dann schon immer mal wieder.
Tendenz:steigend.
Damit einher geht das Gefühl,dass das alles doch nicht wahr sein kann.Man muss es sich wirklich aktiv vergegenwärtigen:67 Jahre bist Du jetzt alt?Unmöglich.
Doch doch,verschliesse Dich nicht der Realität.Du bist ein alter Sack geworden.
Unmerklich ,langsam und kontinuierlich vielleicht,aber schau doch bloss einmal in den Spiegel.Die Jahre haben sich eingraviert. Nein,nicht in den Spiegel.Der Typ mit den schütteren,angegrauten Haaren,der Brille und den Falten ,das bist tatsächlich Du.
Aber wo sollen sie denn geblieben sein,diese vielen Jahre ?Ich war doch eben noch....so jung,habe doch gerade noch...studiert,gearbeitet,Bäume ausgerissen???
Erst beim bewussten Eintauchen tief in die eigene Vergangenheit ,beim Herauskramen längst verschütteter Details ahnt man,dass doch etwas dran sein könnte,dass man zwei Drittel eines Jahrhunderts vor sich hin gelebt hat,ohne wirklich zu merken,wie die Zeit einem diesen Streich spielt und man fragt sich irgendwann auch :wie war denn mein Leben,woraus bestand es,war es eigentlich interessant?War es für mich lebenswert?War es eine wertvolle Reihe von Ereignissen,vielleicht auch für andere?Habe ich das Beste daraus gemacht,nicht nur für mich?Wird man posthum einmal noch etwas länger an mich denken,weil ich irgendwie besonders oder wertvoll war und wer wird das sein,dem man mehr bedeutet hat?Was wird die Zukunft noch bringen,jetzt,wo uns Viren,diverse abstruse Politiker und Klimasorgen fest im Griff haben?Die Welt ist ja eine völlig andere als damals,als man sie erstmals betrat und sie ist erstaunlicherweise nicht wirklich besser geworden.Irgendwas ist immer.Natürlich geht es uns hier,mitten in Europa besser als anderswo,wir haben ungeahnten Wohlstand erreicht und es gab jahrzehntelang keine direkten Kriege mehr. Aber ist es nicht egal,wo die Kriege stattfinden?Es gibt davon doch immer noch genug und sie gehen uns alle etwas an,schon,weil wir zeitgleich davon erfahren.
Worüber ich immer noch und immer wieder staune,staunen muss,sind diese unglaublichen technischen Entwicklungen,die ich im Laufe dieses Lebens miterleben und sogar mitbenutzen konnte.Und da ist kein Ende abzusehen.
Irgendwie ist es schon seltsam,dass man immer noch Neues erlebt,obwohl man manchmal glauben könnte,man habe schon alles gesehen.Doch die Welt ist bekanntlich voller Entwicklungen und Wunder und es gibt wohl niemanden,der sie alle gesehen hat,oder sehen wird.
Es ist selten,dass man sein ganzes Leben mal Revue passieren lässt,zumal man doch einiges vergessen und nicht mehr den ganzen Zugriff darauf hat.Die erste Frage aber ist doch:
Wo, beziehungsweise wann, fing es eigentlich an?
Für mich selbst erst mit meiner ersten bewussten Erinnerung,die eigentlich nur für mich die Älteste ist,für alle anderen gings mit meiner Geburt ja schon los.Es ist ungerecht,dass sich fremde Menschen,teilweise völlig Unbeteiligte,an mich in einer Zeit erinnern können,in der ich zwar schon lebte und grundsätzlich funktionierte,die ich aber selbst nicht wahrnehmend speichern konnte.Ein Teil von mir ist Konserve,wobei damals lange nicht so gut und präzise konserviert werden konnte,wie heute.
Natürlich vergisst man im Lauf des Lebens eine Menge Erlebtes,aber in den ersten Monaten bekommt man erst gar keine Chance,zu entscheiden,was man in seinem Erinnerungsschatz aufbehalten möchte und was nicht.
Was bleibt,sind einige wenige Fotos eines nackten Kindes auf einem sorgsam drapierten ,
weissen Laken,auf einem Schaukelpferd,in einem jener typischen Kinderwagen der Nachkriegszeit,mit metallenen Speichenrädern und korbähnlichem Cockpit,oder wie man das nennt.Natürlich bekam man auch die eine oder andere Geschichte erzählt,aber man weiss ja ,wie sehr Anverwandte alles im Nachhinein beschönigen und verklären.Fest steht jedenfalls,dass ich eine einfache Hausgeburt war,die sinnigerweise auf einem roten
Klappsofa stattgefunden hat,das später noch jahrelang als meine Bettstatt diente.
Streng genommen bin ich kein echtes Nachkriegskind,der ganze Mist war seit 9 Jahren vorbei,aber die Kriegsfolgen waren natürlich immer noch sehr präsent,und besonders Darmstadt,in dessen Nähe ich zur Welt kam, war wegen seiner Industrie arg zusammengebombt worden.Ich kann mich durchaus noch an dadurch bedingte Baulücken und auch an eine Kirchenruine in der Innenstadt erinnern.Aber erst einmal,sagen wir für die ersten 18 Monate,gibt es für mich erinnerungstechnisch noch nichts zu berichten.
Und dann schleichen sich nebulös meine ersten Bewusstseinsfetzen ein:
das Sitzen auf dem Schoss meiner Grossmutter,eine Reise nach Wien,wo ich erstmals im Schrebergarten einer Tante mit einem Dreirad fahren durfte,das Herumrutschen auf einem kleinen Holzlaster,den mir mein Onkel mütterlicherseits gebaut hatte,der Stolz auf ein buntes,hauptsächlich gelbes Ringelhemd,das mir eine Tante zum Geburtstag schenkte.Reihenfolge egal.
Wenn ich heute die wenigen existierenden Fotos von damals anschaue,die selbstredend noch schwarz-weiss waren-dann erkenne ich längst vergessene Situationen und Personen wieder,aber mich selbst oftmals nicht.Dieser schmale,blasse,blonde Bengel in den damals typischen,zweckgebundenen,altbackenen und teils selbstgestrickten Klamotten,das war also ich.
Apropos gestrickt:
Meine Eltern waren einfach gestrickte Leute.Mein Vater,der einen Meisterbrief als Drechsler hatte,machte sich anfangs der 50er Jahre selbständig und betrieb eine kleine Werkstatt in einem angemieteten Keller nahe seinem Elternhaus.Ausser meiner Mutter arbeiteten dort immer mal wieder einige Verwandte mit,die sich etwas dazuverdienen wollten.Arbeit gab es offenbar genug und so kamen meine Eltern in jener Zeit,die man damals als beginnendes Wirtschaftswunder deklarierte,zu einem gewissen Wohlstand,den sie ein Jahr nach meiner Geburt,also 1955, in einen Hausbau investierten.Da ich mich an kein vorheriges Domizil erinnern kann,ist dieses schlicht mein Elternhaus und blieb es auch bis zu meinem studienbedingten Auszug.
Ich komme also nicht aus wirklich armen Verhältnissen,sondern eher aus einfachen.
Wertkonservativ würde man es heute nennen.Meine Eltern waren sehr kriegsgeprägt.
Eigentlich habe ich sie in dieser kleinkindlichen Zeit nicht wirklich kennengelernt,da sie so ziemlich den ganzen Tag in der kleinen Werkstatt verbrachten,die sich nach dem Hausbau dann mitten in dem relativ grossen Garten befand.Ab und zu schnappte ich mir eines der zahlreich unter der Werkbank herumliegenden Verpackungskisten und trommelte mit zwei Celluloidröhren,aus denen mein Vater die Korpusse für seine Kugelschreiber und Füllfederhalter drechselte,darauf herum.Vatern machte es Spass,mir dazu ein begleitendes Liedchen zu pfeifen.Aber solch intim-familiäre Momente waren eher die Ausnahme.
Meine Vorschulkindheit verbrachte ich also hauptsächlich im Kindergarten und danach bis spätabends bei der oben erwähnten Tante,die praktischerweise genau auf der Strecke zwischen Kindergarten und Elternhaus wohnte.Meine Tante Grete,eine der 3 Schwestern meines Vaters.Da sie sich regelmässig etwas dazuverdienen musste -Frauen waren damals ganz selbstverständlich doppelbelastet,alle meine Tanten arbeiteten irgendwas nebenher - hatte sie einen Putzjob im örtlichen Kino angenommen.Meist nutzte sie dazu die späten Nachmittagsstunden,um zuhause abends für ihre Familie da zu sein .Zwar liefen da schon die ersten Filme des Tages ,aber diese waren so gut wie nie von mehr als 3 oder 4 Zuschauern besucht,sodass die Putzerei nicht störte.Tante Grete nahm mich oft mit und so kam ich des öfteren in den Genuss eines grossen,dunklen ,etwas unheimlichen Saals,in dem es vorne nur so flimmerte,begleitet von Dialogen,Schüssen und Geräuschen aller Art,je nachdem,ob gerade John Wayne,Yul Brynner oder Brigitte Bardot am Zug waren.
Die Sexfilmchen der späteren 60er,in denen unter dem Dirndl gejodelt oder über Schulmädchen Reporte abgeliefert wurden, verpasste ich allerdings,weil sich mit der Schulzeit alles änderte.Ich wurde flügge.
Unsere Verwandschaft war gross,alleine mein Vater ,der im Heimatort geboren war,hatte sechs Geschwister,die wiederum alle ,bis auf meinen Onkel Herrmann,verheiratet waren und auch Kinder hatten.Zwei weitere Brüder hatten den Krieg nicht überlebt.
Meiner Grossmutter väterlicherseits hätte man diese Kinderschar nicht zugetraut.Sie war ein kleines,zartes,ja, dürres Persönchen und stand unter der strengen Fuchtel meines Opas,eines cholerischen Despoten.Beide habe ich nur nebulös in Erinnerung,da sie kurz nacheinander starben,als ich sieben war.Ich empfand sie aber als Prototyp des melancholisch-unglücklichen Ehepaars,das weiss ich noch.Lebensfreude sah anders aus.
Auf der mütterlichen Seite gab es für mich keinen Grossvater,denn diese Grosseltern waren seit langem geschieden.Sie waren nach dem Krieg aus ihrer Heimat,der jetzigen Tschechei,vertrieben worden und gemeinsam mit ihren 5 Kindern nach Bayern geflüchtet,aber dort zerstreute sich die Familie berufs-und geliebtebedingt.Mein Opa machte sich aus dem Staub und genoss neue weibliche Impulse.Seine Frau schlug sich mühsam mit den Kindern durch.Dementsprechend mussten alle recht früh eine Arbeit finden.
Meine Mutter verschlug es schliesslich als Dienstmädchen ins Hessische. Alle anderen blieben im Bayrischen,weshalb der Kontakt zu den Mitgliedern dieser Seite meiner Familie auch sehr viel spärlicher war,als bei der meines Vaters.Ausserdem besassen meine Eltern nie ein Auto,sodass die Onkels und Tanten in Bayern relativ sicher vor uns waren.Wenn überhaupt,dann besuchten sie uns zu irgendwelchen Feiertagen und es war dann immer eine grössere kulinarische Materialschlacht fällig.Prinzipiell schien also alles erst einmal in bester Ordnung. Verkracht hat sich mein Vater aber peu a peu so ziemlich mit allen.
Gesellschaftlich lief nicht allzuviel.
In jener Zeit traf man sich abends bei irgendwem zuhause,fürs Ausgehen fehlte entweder Geld oder Gelegenheit.Da meine Eltern als erste und einzige einen Fernseher und auch genügend Platz im Wohnzimmer hatten,tummelten sich oft um die 15 Personen bei uns
in gemütlicher Runde und schauten sich zigaretterauchend die Gassenhauer der damaligen Zeit an:Familie Schölermann,heiteres Berufserraten,Tanzshows mit dem RIAS Tanzorchester,Stahlnetz,Quizsendungen mit Peter Frankenfeld,Musiksendungen mit Paul Kuhn,Peter Kraus oder Cornelia Froebess.Ich bevorzugte "Musik aus Studio B" mit Chris Howland,einem in Deutschland hängengebliebenm ehemaligen englischen Besatzungsoldaten.Der kauderwelschte so schön mit very britischem Akkzent.
Eigentlich war das ganz schön.Man verstand sich und war gesellig,die Ansprüche an das Leben waren einfach.Sicherer Lebensunterhalt,Dach überm Kopf,genug zu essen,Zigarettchen,mal ein Schnäpschen,Radio,Fernsehen,ab und zu mal abends weggehen.Das reichte dem Durchschnittsdeutschen.Das Gefühl des Gottlob-Überlebthabens war noch sehr präsent.
TV war die Innovation der Stunde und startete eine Erfolgsstory ohnegleichen.Deutsche Künstler ,auch Theaterschauspieler ,konnten sich einer breiten Öffentlichkeit darbieten und wurden teilweise auch zu Weltstars in den Kinos.Karin Dor,Klaus Kinski,Senta Berger,Gert Fröbe,Maria und Maximilian Schell,Hardy Krüger ,um nur einige zu nennen.
Dazu kamen die ersten amerikanischen Serien und da diese oft sonntags nachmittags
ausgestrahlt wurden,verschlang ich regelmässig die spannenden Geschichten von Fury,Lassie und den Cowboys am Fuss der blauen Berge mit den rauchenden Colts.
Es gab vorerst nur ein Programm und die Auswahl fiel leicht.Von Zeit zu Zeit stieg Vatern aufs Dach und richtete nach einem Sturm die wackelige Antenne neu aus.
Irgendwie hangelte ich mich so durch die ersten sechs Jahre meines Lebens,die für mich nur viereinhalb Jahre lang waren.Ich spielte viel mit Nachbarskindern auf der Baustelle der in nächster Nähe gerade im Bau befindlichen katholischen Kirche.Für uns Kinder war es ein Riesenterrain mit unendlichen Verstecken und immer neuen Baulichkeiten.Nicht ganz ungefährlich,allerdings.Ich erinnere mich daran,dass wir aus dem ersten Stock des Pfarrhausrohbaus auf einen grossen Kieshaufen sprangen,wobei ich mir einmal den Knöchel übel verstauchte.
Lustiger war die Episode,als mein Vater mich zu einem sonntäglichen Fussballspiel
auf dem örtlichen Sportplatz mitnahm.Einer meiner älteren Cousins war der Star der heimischen Mannschaft und sie gewannen wieder einmal.Also war die Stimmung gut,als wir,mein Vater und ich,uns auf den Heimweg machten.Ich hatte mir das ganze Spiel über einen heftig drängelnden Stuhlgang verkniffen,der nun aber unabänderlich nach draussen wollte.Also schiss ich mir beim Laufen in die Hose,die dummerweise kurzbeinig war.Ich verlor also ständig " Material",was meinem Erzeuger dann doch ziemlich peinlich war,als er es bemerkte.
Ich hatte immer noch ein schlechtes Verhältnis zum Auf-den Topf-Gehen,obwohl ich schon 4 Jahre alt war.Ich denke,es lag vor allem daran,dass unsere Toilette und auch das Bad keine Heizung hatten,was im Winter wirklich unangenehm war .Geheizt wurde im Haus noch mit Kohle in einem zentral im Erdgeschoss eingebauten Ofen,dessen Wärme die Sanitärräume aber nicht wirklich erreichte,weshalb ich mir Toilettenbesuche so lange wie möglich verkniff und dann in den unpassendsten Momenten in die Hose machte.Meine Eltern liessen mich deshalb sogar im Krankenhaus eine Woche lang beobachten,weil sie eine Erkrankung dahinter vermuteten.Da dort aber die Toiletten schön beheizt waren,wurde ich als "normal" beziehungsweise "geheilt" entlassen.Mit Installation eines elektrischen Heizkörpers in unserem Bad erledigte sich das Problem schliesslich dauerhaft.Im Gegenteil:ich sass begeistert von der warmen Klobrille stundenlang auf der Toilette und schaute mir meine Bilderbücher an oder liess Ritterfiguren in zerknüllten Badetüchern
wilde Bergabenteuer erleben.
Die Einschulung war eine erste wahrnehmbare und wichtige Zäsur.Da damals das Schuljahr an Ostern begann,und ich Mitte April geboren bin,war es unklar,ob ich 1960 bereits eingeschult werden sollte.Meine Eltern waren sehr dafür,weil ich dann einfach für den halben Tag versorgt war.Der Kindergarten fiel nämlich in jedem Fall altersmässig flach.Also insistierte mein Vater so lange,bis der Schuldirektor sich breitschlagen liess und mich zu einem Test vorlud,der meine geistige Reife herausfinden sollte.
Ich war aufgeregt,natürlich,aber doch nicht so,dass ich Gefahr lief,Blödsinn zu erzählen oder gar einen Blackout zu haben.Ich weiss nicht mehr wie,aber ich bestand den Test mit Bravour,was wohl eher gegen den Direktor als für mich sprach.Er gab jedenfalls sein Einverständnis ,mich bereits jetzt aus der reinen Spielzone des Lebens herauszuholen.
Also wurde ich stolzer Besitzer einer Schultüte und jüngstes Mitglied meiner Klasse.
Ich war begeistert von der Tatsache,dass ich endlich erwachsen war und von daher stolz wie eine Sau mit nur einem Ohr,wie man bei uns sagt.



Damals wurden vom Briefträger noch viele Dinge erledigt,die heutzutage über die Bank oder online laufen.Einmal im Monat musste ich bei den angemeldeten Haushalten die Rundfunkgebühren kassieren,was sehr zeitaufwändig war.Allerdings bekam ich da wegen des ungeraden Betrages immer recht viel Trinkgeld."Stimmt so"hörte ich gerne.Das bedeutet jedes Mal 30 Pfennig mehr in der Tasche.
Ich zahlte Renten und sonstige Geldtransfers aus,stellte Vollstreckungsurkunden,
Wertbriefe und Einschreiben zu,kassierte kleinere Nachnahmesendungen,musste also oft klingeln und in die Wohnungen hinein.
Der Kontakt zu den Bewohnern meines Quartiers war mal mehr,mal weniger angenehm,je nachdem,was ich ihnen an Neuigkeiten,Ware oder Barem überbrachte oder auch abknöpfte.Mit der Zeit lernte ich auch die sehr angenehme Seite kennen:so mancher nicht ganz korrekt zugeknüpfte Bademantel liess einen Blick auf mehr oder weniger attraktive weibliche Oberweiten zu.Nicht immer war es unabsichtlich und nicht immer konnte ich widerstehen genauer hinzusehen.Ich war jetzt in einem dafür sehr empfänglichen Alter.
Apropos:auf einer Schulfete hatte ich gerade meine erste Freundin,Angelika, kennen-gelernt.
Auch sie konnte sich im Bademantel durchaus blicken lassen und ich war begeistert,dass ich endlich ,mit 17, nicht nur gucken,sondern auch handgreiflich werden durfte,kurz darauf sogar auch noch zudringlicher,denn ich erwarb mit Punkt 18 Jahren mein erstes Auto,einen NSU Prinz.Darin liess es sich weit ausserhalb des Einflussbereichs der Eltern und aller Zivilisation hervorragend ausprobieren,welche Vorteile das Mischen beider Geschlechter zu bieten hat. Naja,bisschen eng wars schon.
Wir fuhren des öfteren abends auf einen kleinen Waldparkplatz,wo wir uns unbeobachtet
fühlten.Es war die Zeit der Bader-Meinhof-Bande und der Studentenunruhen.Nach einigen
Entführungen und Morden war viel Polizei auf den Strassen,meist schwer bewaffnet.
Eines Abends wurde unser tete a tete rüde durch drei Polizeiwagen unterbrochen,die
im Affentempo auf "unseren " Parkplatz rasten und meinen kleinen Prinz umzingelten.
Ruckzuck standen vier Bewaffnete am Auto und einer forderte uns auf,herauszukommen.
Personenkontrolle.
Gut,dass ich meine Hose noch anhatte,Angelika musste sich allerdings erst etwas "zurechtmachen",um aussteigen zu können.Wir sahen trotz meiner langen ,blonden Mähne alles andere aus wie Terroristen,die Kontrolle dauerte dementsprechend nur einige Minuten,dann rauschte das Einsatzkommando wieder davon. Uns klapperten die Knie und Zähne.Noch nie hatten wir so intim in den Lauf eines Maschinengewehrs schauen dürfen.
Ein Freund von mir erzählte kurz darauf,dass ihm Ähnliches mit seiner Freundin anderorts passiert sei und dann noch einer und noch einer.Wir waren uns einig,dass diese
Typen sich ganz klar einen Spass daraus machten,Liebespaare zu erschrecken.
Ich war lange nicht besonders erfahren,hatte Mädchen vorher eigentlich nur geküsst,denn es war nie zu längeren oder "tieferen"Kontakten gekommen,Angelika war also der entjungfernde Meilenstein in meinem Leben.Irgendwie war ich auch zu schüchtern.Die unglaublichen Erzählungen meiner Klassenkameraden über ihre weitgediehenen sexuellen Erfahrungen machten mich sprachlos.Wo kriegten die nur diese ungehemmten Mädels her?
Trotz meiner Unerfahrenheit wusste ich aber eines genau:Verhütung war wichtig und unabdingbar.Das Besorgen von Kondomen war für mich jedes Mal ein Spiessrutenlauf,denn sie hingen oder lagen im Gegensatz zu heute nicht einfach irgendwo in einem Supermarktregal,sondern man musste sie erfragen.Das war in einem kleinen Laden und vor allem an der weiblich besetzten Kasse immer peinlich und ich fürchtete mich sogar vor diesen Einkäufen, bis ich den ungemein praktischen und anonymen Automaten im Bahnhof entdeckte.Er stellte keine Fragen und schaute auch nicht komisch.
Später besorgte sich Angelika die Pille,die damals für eine 17-Jährige ebenfalls nicht leicht ohne das Wissen und Einwilligung der Eltern zu bekommen war.Abhilfe schuf ein Besuch bei der Pro Familia Beratungsstelle,der ich heute noch für diese Hilfe dankbar bin.
AIDS war noch kein Thema,es ging rein um Verhütung und da war "ohne" einfach...
super!
Bei uns in der Familie krachte und zischte es jetzt öfters,zum Einen,weil meine Eltern einfach nicht mehr besonders gut miteinander auskamen,zum anderen,weil meine ältere Schwester mit 17 ein aussereheliches ,damals noch"uneheliches" Kind bekam.
Ich habe meine Schwester noch nicht erwähnt?
Das mag daran liegen,dass sie wegen des Altersunterschiedes von 6 Jahren nie etwas mit mir anfangen konnte,weshalb wir eigentlich nicht wirklich zusammen aufwuchsen.Sie hatte ein eigenes Zimmer,ich nicht.
Ihr damaliger Freund,der sie auch geschwängert hatte,machte kurz vor der "Ehrenhochzeit",die meine Eltern einforderten, einen Rückzieher und verpisste sich.
Mein Vater schob beleidigt alle Schuld auf meine Mutter("Deine Tochter!") und verbannte meine Schwester ausser Haus.Allerdings war sein Vaterinstinkt noch soweit intakt,dass er dies nach der Geburt seines ersten Enkels wieder revidierte.Wilma,meine Schwester, und ihr Sohn Steffen wohnten also wieder "zuhause".
So kam ich in den Genuss der stundenweise Betreuung eines kleinen,schreienden
Bündels Mensch ,da meine Schwester ihre Lehre einige Monate nach der Geburt fortsetzen musste.Das Timing war etwas unglücklich,weil ich da gerade in den ersten Vorbereitungen zum Abitur steckte. Der Kleine war mir dabei irgendwie keine grosse Hilfe.Trotzdem schaffte ich das Abi im ersten Anlauf und als Jüngster mit gerade noch 17 Jahren,wenn auch nicht mit den erhofften Abschlussbenotungen.
Der Ein-Mann-Firma meines Vaters ging es inzwischen richtig schlecht,er verdiente praktisch kein Geld mehr und gammelte unausstehlich zuhause vor sich hin,haderte mit der Ungerechtigkeit der Welt speziell ihm gegenüber und wusste nicht so recht mehr etwas mit sich anzufangen.
Obwohl meine Mutter durch mehrere Putzstellen das Haupteinkommen herbeischaffte ,machte er ihr dennoch das Leben zur Hölle. Er ertrug es nicht,dass sie irgendwie erfolgreicher war als er und dass er sogar auf sie angewiesen war.Er wurde grantiger und unausstehlicher und ich kam immer später abends nach Hause.


Da ich ein medizinisches Fach studieren wollte und bereits die Bewerbungen dafür verschickt hatte,wurde ich vorher vom Wehrdienst mit 18 Jahren erst mal freigestellt.Eigentlich hatte ich den schon verweigert,war aber in der Anhörung wohl nicht überzeugend genug aufgetreten und als Wehrdienstverweigerer und somit Zivildienstleistender abgelehnt worden.Also hätte ich eigentlich zur Bundeswehr eingezogen werden können,was aber aus besagtem Grund erst mal nicht geschah.Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben und so musste ich direkt nach der Promotion zum Militär,als Stabsarzt.W-15,also für "freiwillige" 15 Monate.Das ging bundesweit auch anderen Medizinern so und deshalb bündelte man die erstmal zu einer kleinen Truppe von etwa 40 Mann.Damals war das Militär noch den Männern vorbehalten.
Nach einer sehr laschen Grundausbildung in München,die wirklich keine Soldaten aus uns machte,wurden wir danach wieder in alle Windrichtungen verteilt.Verheiratete möglichst heimatnah,Ledige irgendwohin.Ich als offiziell weiblich Ungebundener bekam eine Stelle in einer Riesenkaserne in Delmenhorst bei Bremen zugewiesen,also weitmöglichst von meinem Studienort,den ich inzwischen auch als meine Heimat sah,entfernt.Als kleine Entschädigung durfte ich-wie auch alle anderen Wehrdienstler-kostenlos mit der Bahn fahren.Wenn ich dabei eine Uniform trug.
Ich war sauer.
Erstens erwartete ich vom hohen Norden keine besonderen Highlights,weder landschaftlich noch erlebnistechnisch.
Zweitens musste ich vom freien Wochenende etwa 14 Stunden für die Fahrt opfern.Schliesslich wollte ich meine Freundin ja möglichst oft sehen, um mich für das abstinente Liebesleben während der Woche zu entschädigen.
Conny hatte inzwischen eine Assistenzstelle in Schonach, einem kleinen Ort im Schwarzwald, angenommen und so pendelte ich freitags per Zug hin und sonntags wieder zurück.Zusätzlich musste sie mich dann abends vom Freiburger Bahnhof abholen und per Auto zu ihrer Wohnung chauffieren,was noch einmal eine Fahrzeit von 1 Stunde bedeutete.
Das alles war schon nicht besonders prickelnd,aber es kam noch schlimmer.
Das Problem war nämlich ,dass damals die letztmöglichen Zugverbindungen ziemlich ungünstig lagen,sodass ich freitags eigentlich gar keine Chance hatte ,den entsprechenden Zug in Bremen nach meiner Dienstzeit noch zu erwischen.Conny hätte mich dann in Karlsruhe per Auto abholen müssen,was aber eine Strecke von 200 Kilometern bedeutet hätte Indiskutabel,fand ich,Staat hin oder her.
Die Lösung bestand darin,dass ich mich bereits eine Stunde vor Dienstschluss aus dem Staub machte,und am Montagmorgen etwa 45 Minuten zu spät zurückkam,was nur deshalb ging,weil ich eine eigenständige Zahnstation in der Kaserne leitete,also mein eigener Herr war.Dachte ich.
Das Ganze flog nach einigen Wochen auf und so lernte ich denn endlich mal meinen Vorgesetzten kennen,einen nicht unsympathischen Oberstarzt,der mich pfeiferauchend darauf hinwies,dass mein Verhalten an Desertion grenze.Es war ein freundlicher,aber bestimmter Anschiss,an dem es auch nichts änderte,dass ich ihm meine Fahrmisere schilderte.
Ich fand das etwas stur.Man muss dazu wissen,dass sich ebenfalls herumgesprochen hatte,dass der neue Stabszahnarzt,also ich, im Gegensatz zu seinen Vorgängern tatsächlich zu arbeiten gedachte und das offenbar ganz ordentlich.Ich hatte mich voller Tatendrang und Insbrunst in die von mir nun legal ausübbaren Tätigkeiten geworfen,und es machte mir Spass,ich fühlte,dass ich den richtigen Beruf für mich entdeckt und ergriffen hatte.
Diese Arbeitswut bedingte,dass keiner meiner soldatischen Patienten zu einem der örtlichen Zahnärzte überwiesen wurde,wie es bei praktisch allen meiner Vorgänger der Fall war.Dies sparte der Bundeswehr ziemlich viel Geld und das wusste ich auch.
Also liess ich diese Tatsache in dem gerade laufenden Gespräch einfliessen und
deutete an,dass ich das ändern müsste,wenn ich durch ein stark verkürztes Wochenende
mich psychisch und physisch nicht für die Arbeit regenerieren könne.
Eine riesige Rauchwolke waberte mir entgegen,gefolgt von einem heftigen Hustenanfall.
"Wollen Sie mich etwa erpressen?".Ich konnte die ungläubigen Augen durch den Rauch erahnen.
"Nein,sondern einfach einen Deal machen.Das Ganze hier beruht doch auch auf Gegenseitigkeit.Ich bringe mich hier zu 100 Prozent ein,aber wofür?Selbst wenn ich 2 Stunden meiner offiziellen Dienstzeit nicht da bin,arbeite ich doch ein Vielfaches dessen,was Sie bisher gewohnt sind.Man nennt es Motivation".
Er schwieg so lange,dass ich befürchtete,dass er schon die Höchststrafe für Ungehorsam ausrechnete.Ich schwitzte ganz ordentlich,obwohl ich mir nicht vorstellen konnte,dass man bei diesem Verein noch an die Wand gestellt werden konnte.Schliesslich runzelte mein Oberstarzt die Stirn.Das sah nicht gut aus. Aber,er war ein praktischer Mensch,wie Zahnärzte halt so sind.Er kam mir entgegen und gestand mir diese 2 Stunden zu.
Wir einigten uns darauf,dass ich mir endlich die Haare schneiden liesse und zukünftig etwas militärischer auftreten solle und diese Sonderregelung auch nicht an die grosse Glocke hänge.Damit konnte ich leben.
Wir wurden keine Freunde,aber es gab auch sonst keinen Anlass mehr ,uns zu treffen.
Allerdings wurde ich,entgegen aller Gepflogenheiten,mehrmals als Stabsarzt für
jeweils 2 Wochen auf dem Truppenübungsplatz Munsterlager eingeteilt,was ich als eventuell subtile Rache meines pfeiferauchenden Kollegen wertete.Erfreulich oder gar begehrenswert war dieser Extra-Dienst nämlich nicht.Fast die gesamte Kasernenmannschaft einschliesslich mir wurde hunderte von Kilometern mit Mannschaftswagen in ein riesiges Truppenübungsgelände verfrachtet,um sich dort dem gezielten Schiessen hinzugeben,zusammen mit Bataillonen anderer Standorte.Es war eine beeindruckende Uniformansammlung.
Vor allem die Panzerballerei war beeindruckend.Leopard,so hiessen die damals gängigen
Kettenriesen.So ein Ungetüm konnte in voller Fahrt,bei völlig unebenem Gelände
sein Geschossrohr total zielgenau in Position halten.Beeindruckend,was sich Menschen einfallen lassen,um andere umzubringen.
Das gesamte Lager bestand aus Baracken oder Zelten und beherbergte etwa zehntausend Mann.Und für deren Zähne war ein einziger Stabsarzt zuständig:ich.
Die Bundeswehr liess sich nicht lumpen und stellte mir zur Ausübung meiner Tätigkeit
ein Barackenzimmer,das auch gleichzeitig mein Schlafgemach war,als auch eine
transportable Zahnarztpraxisgrundausstattung zur Verfügung.Da es im Krieg durchaus einmal zu Stromausfällen kommen konnte,war der Behandlungsstuhl mit Bohrgeräten ausgerüstet,die man auch mit einem Fusstretmechanismus in Gang setzen konnte.Ich fühlte mich an früheste Kindheitserlebnisse erinnert.Stichwort:Doriotgestänge.
Natürlich arbeitete ich nicht ernsthaft mit diesem Schrott.Gottlob gab es in der Nähe eine moderne und voll ausgestattete Militärklinik mit einem einwandfreien Zahnbereich.
Dorthin verfrachtete ich zweimal täglich alle,die ernsthaft krank waren.
Dennoch war ständig etwas los,Tag und Nacht.An ruhigen Schlaf war nicht zu denken,ich wurde spätestens nach einer Stunde wieder geweckt.Dabei ging es allerdings nicht zwingend um zahnbedingte Beschwerden.Es hatte sich herumgesprochen,dass ich weit und breit der Einzige war,der Wunden nähen konnte.Und vorher betäuben.Es gab immer mal einen aufgerissenen Finger oder gar eine mit einem Schraubenzieher aufgerissene Hand.
Nach ein paar Tagen gab ich es auf,mich jedesmal ,wenn ich gebraucht wurde,umzuziehen, und behandelte einfach in meinem schicken hellblauen Bundeswehrschlafanzug.
Damit man wusste,wer der Arzt war,liess ich mir von meinem Unteroffizier die Epauletten auf die Ärmel des Pyjamas nähen. Irgendwie war das den Berufsoffizieren aber auch wieder nicht recht und ich musste mir beim Mittagessen hämische Bemerkungen anhören.
Drei Mal musste ich diesen zweiwöchigen Campingurlaub mitmachen,was auch drei verpasste Wochenenden bedeutete.Ich nahm das echt übel,aber dennoch denke ich positiv an diese Zeit zurück.Die Arbeit machte mir Spass und mir wurde es nie langweilig.
Die Bundeswehrzeit verging also wie im Fluge,teils wie im Zuge.
Ich lernte arbeitstechnisch sehr viel und war schliesslich schon einigermassen routiniert.Besonders chirurgisch hatte ich mich ziemlich engagiert und kleine Zahn-operationen als Novum in dieser Zahnstation eingeführt,sehr zur Freude meiner drei Helferinnen,die das wahnsinnig interessant fanden.Trotz dieser Erfahrungszeit musste ich aber anschliessend dennoch die ogligatorischen 2 Jahre Assistenzzeit absolvieren und suchte mir also eine Stelle,die möglichst nah an Connys Wohnsitz und Arbeitsstelle in Schonach liegen sollte.Ich hatte Glück.

Also legte ich los.Damals noch mit 40-Stundenwoche.Ich denke ein wenig wehmütig-melancholisch an den jugendlichen Tatendrang zurück,der mich damals antrieb und beseelte.Alles war neu und es ergaben sich anfangs auch ständig für mich noch unerwartete,interessante Problemsituationen,die zu meistern waren.Unter der Obhut meines Chefs fühlte ich mich wohl und sicher und wagte mich an alles heran,was anfiel.Von morgens bis abends war in der Praxis so richtig was los und es dauerte Monate,um den Patientenstau abzuarbeiten.Doch die abwechslungsreiche Arbeit tröstete darüber hinweg,dass man irgendwie in der Diaspora,also weit ab vom Schuss,lebte.Ich hatte es da allerdings trotzdem etwas besser als Conny.
In Schramberg brummte zwar auch nicht wirklich der Bär,aber es war doch etwas mehr los als in Schonach.Dementsprechend war ich abends öfters von einer Wolke von 5 jungen Damen ,ergo Zahnarzthelferinnen,umgeben ,die mich zu diversen Stadtfesten,Jahrmärkten und anderen Festivitäten in der Umgebung schleppten.Feiern konnten die Schwarzwälder.Es war also nicht alles schlecht.
An einem Sommertag,ich war gerade im Begriff,nach Hause zu fahren,schütteten mir die Helferinnen ,sozusagen als Einstand,einen Eimer Wasser aus einem der Praxisfenster übers Auto.Dummerweise hatte ich gerade das Schiebedach geöffnet.Das fand ich wiederum nicht besonders prickelnd.Aber eine schöne Erinnerung ist es trotzdem geworden,denn eigentlich war es ja nett gemeint.Es tat jedenfalls meinem guten Verhältnis zum weiblichen Teil der Praxisbesatzung keinen Abbruch.
Da ich in Connys Nähe sein wollte,wir aber aus unserer Studienzeit an zwei getrennte Wohnungen gewohnt waren,zog ich in eine kleine Einliegerwohnung in Schonach,nur etwa fünfhundert Meter von Connys Domizil entfernt.Sie hatte eine etwas grössere,schnuckelige Souterrainwohnung am Hang,die ihrem Arbeitgeber gehörte.Alles in Allem waren unsere
Entfernungen und Wege innerhalb Schonachs überschaubar. Der Ort war klein und in den dort schon etwas höheren Schwarzwald eingebettet und hatte sein Highlight beim jährlichen Skispringen von der auf der gegenüberliegenden Talseite gelegenen Sprungschanze.Ansonsten gab es noch einen gewissen Kurbetrieb,der aber für unser Alter unterhaltungstechnisch nicht relevant war.Da wurde eher die schöne Maid besungen als wirklich gerockt.Abendunterhaltung für Junge oder Jungebliebene fand nur privat statt.
Hier also mussten wir es mindestens zwei Jahre aushalten.Ich erwischte zwei gnadenlos kalte und schneereiche Winter ,was meine tägliche,30 Kilometer lange ,kurven-und höhenmeterreiche Fahrt zur Arbeit nicht gerade erleichterte.Täglich quälte ich mich mindestens 1 Stunde durch mittelgebirgige Schneelandschaften.
Es gab sogar ein paar Serpentinen auf der Strecke.Ich hatte mir aus diesem Grund einen gebrauchten VW-Golf gekauft ,der mit seinem Vorderradantrieb recht
zuverlässig auch auf ungeräumten Strassen vorankam.Mangels Bargeld nahm ich beim Händler einen Kredit auf,der damals sagenhafte 14 Prozent Zinsen pro Jahr kostete.Aber ich verdiente ja jetzt.
Trotz allen Widrigkeiten kam ich in den ganzen zwei Jahren nur einmal morgens zu spät in die Praxis,mein Chef allerdings noch später,denn es hatte die ganze Nacht geschneit.
Ich musste mir das Auto und den Weg vom häuslichen Parkplatz zur Strasse erst mühsam freischaufeln,war dann aber wenigstens hellwach.Auch meine Kurventechnik wurde hart auf die Probe gestellt,denn die Schneedecke auf der Strasse war mehr als geschlossen.Das Auto drehte sich ein paarmal und ich musste deutlich mit dem Tempo runter.Zu viele Pirouetten sind ungesund. Ich war nassgeschwitzt,als ich in Schramberg ankam.Mit der Zeit wurde ich zwar kein Walter Röhrl,aber ich bekam doch eine gewisse Drift-Routine auf glatter Fahrbahn,die ich inzwischen aber nicht mehr anwende.Ich habe es schlicht wieder verlernt und es fehlt auch der Schnee.Ich habe den Klimawandel sozusagen live miterlebt.
Ich weiss nicht mehr genau,ob ich ein Festgehalt hatte oder eine Umsatzbeteiligung,aber unabhängig davon kniete ich mich gerne hier,bei meiner ersten richtigen Stelle voll motiviert in die Arbeit.Ohne mich zu arg loben zu wollen:mein Chef war ziemlich begeistert.Er musste keine Überstunden mehr schieben und kam einigermassen frühzeitig nach Hause,was aber immer noch achtzehn bis neunzehn Uhr bedeutete. Damit hatte ich aber auch seine Frau auf meiner Seite,als ich nach einem Jahr um eine Gehaltserhöhung bat.Ich glaube,es waren 5 Prozent mehr,also auf den ersten Blick ein ganz gutes Ergebnis.Die Inflation war aber gewaltig,was die Sache ziemlich relativierte.Ich war aber hochzufrieden.
Ich glaube,mein Chef hätte mich gern dauerhaft,zumindest über die Vertragsdauer hinaus in der Praxis behalten.Das machte mich natürlich ein bisschen stolz.Es war ein gutes Gefühl des Gebrauchtwerdens,des Ich -bin-jetzt-wer-Selbstbewusstseins.Hatte ich zuerst Angst,die Erwartungen nicht zu erfüllen und eventuell doch noch in den Probemonaten geschasst zu werden,so hatte mein Arbeitgeber jetzt eher Bammel vor der Vorstellung,dass ich einmal nicht mehr da wäre.
Was sich aber im nachhinein als etwas negativer Effekt herausstellte,wie ich später noch berichten werde.
Gegen Ende meines zweiten Assistenzjahres in Schramberg ergab sich dann tatsächlich die Frage,wie es beruflich weitergehen sollte.
Nach der zwingend vorgeschriebenen Mindest-Assistenzzeit von 2 Jahren gab es da grundsätzlich mehrere berufliche Möglichkeiten.Man konnte natürlich Angestellter bleiben,zum Beispiel in einer Klinik.In einer freien Praxis war dies nicht Usus.Wenn man blieb,dann eher als Praxisteilhaber,man kaufte sich sozusagen ein.Oder man hatte sich von vornherein als Zeitsoldat bei der Bundeswehr verpflichtet und studierte auf deren Kosten,um danach für mindestens 12 Jahre im Dienst Ihrer Majestät,der Bundesrepubklik Deutschland,zu brillieren.
Standard war und ist allerdings,dass man den Ehrgeiz hat,sich selbständig zu machen und eine eigene Praxis zu eröffnen.
Dies war auch für Conny und mich die einzige Option:eine Gemeinschaftspraxis.Da weiss man,was man hat.Also machten wir uns via Fachzeitschriften und Maklern auf die Suche nach einem geeigneten Standort.Vorgabe war natürlich,dass es ein Ort mit ausreichendem Bedarf für zusätzliche 2 Zahnärzte sein musste und dass es in Süddeutschland wäre,denn Connys Eltern waren nach der Berentung ihres Vaters an den Bodensee gezogen und hatten sich dort nahe Ermatingen am Untersee ein schönes Haus gebaut..Conny hatte schon immer eine starke Elternbindung und wollte daher,dass sie regelmässig nach ihnen schauen konnte.
Am einfachsten,sichersten ,bzw.praktischsten ist eigentlich eine Praxisübernahme.
Verlässt ein Vorbesitzer seinen"Laden" aus Altersgründen,weil er krank geworden ist,verstarb , oder sonstigen plausiblen Gründen,und ist die Praxis gut eingeführt und einigermassen umsatzstark,so lohnt es sich,genauer hinzuschauen,hat man doch bereits einen festen Kundenstamm und kann somit gleich voll loslegen. Das ist sozusagen die sichere Bank.
Eine bereits komplett eingerichtete Praxis erspart einem auch jede Menge Arbeit und Überraschungen ,allerdings darf das Instrumentarium nicht völlig überaltert oder gar reparaturbedürftig sein,oft muss auch das nicht immer angenehme Personal übernommen werden.Es ist also ein wenig tricky,das alles abzuklären und man erlebt da so einiges.
Wir inspizierten zum Beispiel eine Praxis, die vom Vorbesitzer sehr kurzfristig "verlassen" oder eher "hinterlassen"wurde.Plötzlich war der Zahnarzt weg.Unauffindbar.Die Vermieterin der Räumlichkeiten wartete daraufhin einige Monate ab,hörte aber von dem Kollegen nichts mehr und annoncierte dann:"Gutgehende,volleingerichtete Praxis abzugeben".
Dass ihr die Praxis eigentlich gar nicht gehörte,erfuhren wir erst bei unserem Besuchstermin.Da sie rechtlich niemandem das Inventar und überhaupt auch alles andere übergeben konnte,weil sie gar nicht die Besitzerin war,hatte sich die Sache schon von vornherein erledigt.
Dennoch schauten wir uns alles mal an,denn die Story drumherum war,sagen wir mal,spannend.
Die Praxis befand sich im Erdgeschoss eines schönen alten Jugendstilhauses,es waren dazu zwei nebeneinander liegende Altbauwohnungen miteinander verbunden worden.
Der schon etwas ältere Praxisbesitzer war Schwede und schwul und hatte seinen Freund/Partner in seinem Praxislabor angestellt.Der wiederum vergass zu erwähnen,dass er einen zweiten Lover hatte und nahm den Zahnarzt jahrelang finanziell nach Strich und Faden aus,um sich dann mitsamt Zweitfreund abzusetzen.Der alte Schwede war daraufhin tatsächlich pleite und floh vor Finanzamt und Gläubigerbanken gen Norden und wurde nie mehr gesehen.Sein Praxisteam hinterliess er sozusagen staunend und ratlos.Seine Vermieterin auch.Nun aber war ihre Trauerzeit offenbar vorbei und sie führte uns ständig schnatternd durch die vakanten Räumlicheiten.
Bei unserem Rundgang kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus.Die Austattungsdetails der Zimmer waren echt sehenswert.Es fing schon im Eingangsbereich an:im Flur hing ein Geldspielautomat,schön bunt und voll funktionstüchtig.Dann zweigte man entweder in ein mehr als spartanisch eingerichtetes "Kassenpatientenwartezimmer" ab,oder in einen im Stil von Louis Quatorze veredelten Privatpatienten-Salon.Von beiden konnte man über einen langen Flur eines der vier Behandlungszimmer erreichen,die in 4 Themenbereiche unterteilt waren:Grünes Jagdzimmer,Roter Sonnenuntergang,Orangenhain und Blauer Salon.Ein Mottopark,also.
Dementsprechend waren die Schränke,Wände und Accesoires farblich gestaltet.Es gab eigentlich nichts,was nicht schrill aussah.Über der Tür zum Jagdzimmer zum Beispiel hing ein alter Vorderlader und in der Wandvertäfelung waren kleine Türchen mit Försterfiguren und Tannenbäumchen aufgestellt.
Im Orangenhain hingen Plastikfrüchte von der Decke und im blauen Salon stand ein Riesenaquarium.In jedem der Zimmer bekam man Augenbrennen ob der abnormen Farbgestaltungen.
Im Labor schliesslich hingen Fotos von diversen Festivitäten,an denen die beiden Verbandelten teilgenommen hatten,dabei auch eine Urkunde über das schönste Männerbein des Abends ,offenbar im Rahmen einer frivolen Faschingsveranstaltung.
So verlockend das alles auch war,wir winkten dankend ab.
Unsere Suche zog sich dahin.Immer passte irgendetwas nicht.
Der Grossraum Stuttgart fiel aus sprachlichen Gründen flach.Wir hätten das nicht ein Leben lang ausgehalten.
Eine Lokalität in Herrenberg war uns zu weit ab vom Schuss.
In Offenburg sassen wir in einer urigen Kneipe,die demnächst einem noch zu errichtendem Geschäftshaus weichen sollte,was wir nicht zu unterstützen bereit waren,dazu war das alte Gemäuer einfach zu gemütlich.
Auf der Bodenseeinsel Reichenau wollte der einzige Zahnarzt in Rente gehen,überlegte es sich wegen seiner plötzlichen Scheidung dann doch wieder anders.Unser Frust wuchs bei jedem Ortstermin.
Am meisten aber haperte es oft schlicht an den wirtschaftlichen Daten.Zu viel Konkurrenz bereits vor Ort,zu hohe Miete,zu kleine Räumlichkeiten, schlechte Lage und und und..
Es war zum Verrücktwerden.
Wir hatten uns innerlich bereits auf die Verlängerung unserer Arbeitsverträge eingestellt.
Zumal ja noch der Abschluss unserer Doktorarbeiten ausstand.Diese waren zwar endlich abgabebereit von einer Sekretärin,die wir natürlich selbst bezahlen mussten,getippt worden,aber die Aktentasche ,in der sie sich befanden,stand dummerweise einem Wasserrohrbruch im Weg,den Connys Vermieter und Arbeitgeber in Personalunion verbrochen hatte.Beide Arbeiten waren bis zur Unkenntlichkeit durchnässt.Damals gab es noch keine Speichermöglichkeiten auf einem PC,es waren also Unikate,das Doppel war die handschriftliche Fassung.
Das Ganze kostete uns weitere 2 Monate Verzögerung.
Auch das war zum Verrücktwerden.

Zufällig stolperten wir dann doch über ein vielversprechendes Angebot,das wir uns unbedingt ansehen mussten.In einem Fachmagazin wurden in Ettlingen,einer Kleinstadt bei Karlsruhe,Praxisräume in einem Neubau angeboten.Also fuhren wir wieder samstags los und schauten uns das ganze an.Das Städtchen war schon mal sehr schnuckelig und das betreffende Haus mittendrin. Ein Rohbau,in dem wir noch alles nach unseren Vorstellungen verwirklichen konnten.Jetzt mussten wir nur noch abklären,ob die Infrastruktur zwei zusätzliche Zahnärzte zuliess.Das war nicht so einfach,denn anfangs der 80er gab es noch kein Internet.Wir durchforsteten also das örtliche Branchenverzeichnis,das jedoch keinerlei Hinweis auf die Altersstruktur der Kollegen,Einwohnerzahl usw. gab.All das musste mühsam ertelefoniert werden.Die Zahlen waren nicht berauschend,aber nach der langen Sucherei waren wir nicht abgeneigt.
Wir riefen also kurzerhand beim Dentaldepot an und waren sogleich frustriert:
ein anderer hatte bereits zugeschlagen und zwar schon Wochen vorher. Das machte uns sauer,denn das hätte man uns ruhig vor der ganzen Aktion mitteilen können.
"Wir wollten Ihnen mal zeigen,was für tolle Objekte wir vermitteln können."
Toll!Wir waren also hunderte Kilometer und einige Stunden Recherchearbeit einem Phantom hinterhergerannt.Unsere Enttäuschung war riesig und wir waren auch ziemlich angepisst.Die nächsten Wochen tat sich nichts.
Conny war nun schon fast 3 Jahre als Angestellte tätig und ihrem Chef passte das sehr gut,von ihm aus hätte es ewig so weitergehen können.Mein Arbeitsvertrag neigte sich aber dem Ende zu und obwohl ich wusste,dass mein Chef mich gerne auch weiter verpflichtet hätte,eventuell sogar als Kompagnon,war es einfach Zeit,dass wir beide so langsam selbst und zusammen flügge wurden.
Zwei Monate später kam überraschend ein Anruf von dem Dentallabor,das uns so enttäuscht hatte.Der Zahnarzt,der sich in Ettlingen niederlassen wollte,hatte sich anders entschieden.Das Objekt war also wieder vakant,alles war wieder offen.Ob wir denn Lust hätten....?
Wir fackelten nicht lange,eine bessere Gelegenheit,das ahnten wir inzwischen,bekämen wir nicht.Vier Wochen später waren alle Verträge und Vereinbarungen unter Dach und Fach.
Getrübt wurde unsere Euphorie aber von der Person des Vermieters,der sich als knallharter Geschäftsmann herausstellte.Er war auch der Grund für den Rückzieher unseres "Vorgängers".
Der Bau der Praxisräumlichkeiten ging zügig voran und wir mussten unsere Vorstellungen und Änderungswünsche sehr deutlich machen und ihre Umsetzung regelmässig überprüfen und ausserdem auch bezahlen.Die Miete umfasste praktisch nur 150 Quadratmeter mit nackten Aussenwänden und zwei Toiletten.Alles andere war unser Bier.Innenwände,Tapeten,Stromkabel,bis hin zu Bohrlöchern im Boden für Zu-und Abflüsse.Willkommen in der Welt der gewerblichen Vermietungen.
Es war eine aufregende,stressige und unruhige Zeit,mehrmals pro Woche fuhren wir nach Feierabend die 250 Kilometer,um nach dem Rechten zu sehen.
Schliesslich,im September 1983,war die Immobilie soweit,dass unsere Praxisausstattung installiert werden konnte.Diese wurde durch die Firma,die uns die Räumlichkeiten vermittelt hatte,geliefert und eingebaut,das war Teil der Vereinbarung.
Natürlich forderte der Vermieter ab dem Zeitpunkt seinen Obulus,weswegen Zeit Geld war.
Anfangs November war es dann soweit:der Laden stand,es konnte losgehen!
Jedenfalls für Conny.Ich jedoch musste erst noch meinen Angestelltenvertrag erfüllen,aus dem mich mein Arbeitgeber nicht freistsellen wollte.Also fing sie schon einmal an und
eröffnete unsere Praxis.
Da ich noch Resturlaub hatte,kam ich dann doch nur einen Monat später dazu.
Das war er nun,unser Sprung ins kalte Wasser.Wir konnten es selbst kaum glauben,dass wir das geschafft hatten:auf einem Berg von 600.000 DM Schulden zu sitzen,ohne zu wissen,
was an Arbeit und damit Einkommen auf uns zukam.Wir waren schliesslich Neulinge,sogar Frischlinge und im Ort völlig unbekannt.
Damals war es Ärzten noch untersagt,Werbung für sich zu machen,weder in Medien,noch
im Praxisumfeld.Lediglich ein grössenmässig begrenztes Praxisschild am Eingang und eine Annonce bei Praxiseröffnung waren gestattet.
Dementsprechend mager war unsere Besucherquote der ersten Zeit.Wenn ich recht erinnere,kamen am ersten Tag sagenhafte zwei Patienten in die Praxis,davon einer nur,um einen Termin auszumachen.
Doch das Glück ist bekanntlich mit den Tüchtigen und wir waren tüchtig.Also kam es zufällig dazu,dass ein ortsansässiger,älterer Zahnarzt kurz darauf seine Praxistätigkeit beendete und-oh Wunder-sie auch ganz schloss,also keinen Nachfolger hatte.Das zweite,kleine Wunder war,dass er uns seinen Patienten weiterempfahl,obwohl wir ihn gar nicht kannten.Es stellte sich heraus,dass es sich ausnahmslos um Patienten älteren Datums handelte,die unsere örtlichen Kollegen wohl als zu wenig lukrativ einstuften.Uns war aber jeder und jede recht der bzw. die zur Tür hereinkam.Irgendwie machten wir uns mit der Zeit den Ruf,besonders zu sein.Sich Zeit nehmen,schonend behandeln,moderne Einrichtung,freundliches Personal,so langsam sprach es sich herum.Und so konnten wir nach etwa einem halben Jahr uns selbst verkünden:ab jetzt verdienen wir Geld.Wir haben einen Überschuss erwirtschaftet.
14 DM an diesem Tag.Wir liessen es krachen und gingen spontan essen,was wir aus Kostengründen lange nicht getan hatten.
Für 31 DM!
Es war ein herrliches Gefühl.
Ein weiteres Highlight waren die endlich eintrudelnden Promotionsurkunden.Nun konnten wir unsere Doktortitel stolz auf das Praxisschild schreiben lassen.
Natürlich gaben wir uns extrem Mühe,in eine bessere Gewinnzone zu kommen,aber vor allem waren wir froh und stolz,dass wir tatsächlich Spass sowohl am Beruf als auch an der Selbständigkeit hatten.Scheinbar machten wir auch einiges zumindest nicht schlechter als andere,denn die Patientenzahlen explodierten irgendwann so,dass wir zwei weitere Sprechzimmer installieren und mehr Personal einstellen mussten.
Nach zwei Jahren war alles gut eingespielt und wir arbeiteten wirklich viel,bis zu 70 Stunden die Woche.Jeder.Sehr viel mehr passierte in den folgenden Jahren nicht.
Conny und ich waren nicht verheiratet und bewusst kinderlos.Die Praxis und der Beruf liessen wenig Privatleben zu.Irgendwie waren wir in einen Erfolg gerutscht,der uns beherrschte,was uns aber nicht unglücklich machte.Im Gegenteil,wir genossen es,so gebraucht zu werden.Und so gingen die Jahre dahin.
Wir kauften uns ein Häuschen,die Autos wurden etwas grösser und zuverlässiger,die kurzen Urlaube luxuriöser als zu Studentenzeiten.Irgendwann waren auch die Kredite abbezahlt,was uns ruhiger schlafen liess.Es ging uns gut.

Connys Vater war etwa zeitgleich mit unserer Praxisgründung in vorzeitige Rente gegangen ,und,da ihre Mutter Schweizerin war,wurde nahe deren schweizerischen Heimatortes am Bodensee ein neues Domizil gebaut und bezogen.Damit waren wir von ihnen etwa 240 Kilometer weit entfernt,eine stolze,aber zu bewältigende Strecke,zumal sie fast nur aus Autobahnen bestand.
Klaus und Josette besuchten uns ab und an,aber hauptsächlich waren wir es,die sich an Wochenenden auf den Weg gen Süden machten.Zeit dort zu verbringen war nicht unangenehm,Connys Eltern waren im Gegensatz zu meinen recht vive,gut zu ertragende und friedfertige Leute.Ausserdem hatte sich Klaus,ihr Vater,ein Segelboot zugelegt und war ganz froh,wenn er mit uns auf den See konnte.Eigentlich hätte alles ganz schön sein können.
Aber es gab leider auch weniger prickelnde Momente.
Connys ein Jahr jüngere Schwester Regina litt an einer seltenen ,erblichen Erkrankung,die bei Frauen erst nach der Pubertät ausbricht und in den meisten Fällen nach einigen Jahren tödlich endet.Bei Regina ging die Katastrophe los,als sie 20 Jahre alt war und gerade von einem Aupair-Aufenthalt in den USA zurückkam.
Es war bei ihr aufgrund irgendwelcher unklarer Beschwerden ein Tumor auf einer Niere entdeckt worden und dieser wurde entfernt,obwohl die Geschwulst gutartig war.Es gab ja noch die zweite Niere.Die Grunderkrankung wurde nicht erkannt,wohl auch eben wegen ihrer Seltenheit.
Einige Jahre später war die Familie in der Toscana im Urlaub.Plötzlich bekam Regina zunehmend keine Luft mehr und es war klar:das ist ernst.Mangels Vertrauen in das italienische Gesundheitssystem fuhren Conny und ihr Vater abwechselnd im Höllentempo die Strecke nach Hause zurück und lieferten Regina in das Kantonsspital in Kreuzlingen ein.
Dort wurde ein Pneumothorax diagnostiziert und sofort behandelt.Es handelt sich dabei um gerissenes Gewebe im Aussenbereich der Lunge,das ein Loch zwischen innen und aussen erzeugt,sodass die eingeatmete Luft nicht völlig in der Lunge verbleibt und wieder ausgeatmet wird ,sondern diese mit jedem Atemzug mehr zusammendrückt,bis sie kollabiert.Dieser Riss wurde sofort vom Rücken her operativ verschlossen.
Es war Hilfe in letzter Minute,aber sehr kompetent.Natürlich wurde daraufhin Ursachenforschung betrieben und auch da richtig diagnostiziert:das Lungengewebe wurde,wie das auch anderes Bindegewebe,langsam autoimmun zerstört oder teilweise durch Tumore ersetzt.Es war wie ein bösartiges Uhrwerk.Unaufhaltsam,unheilbar.Ein Damoklesschwert,das bereits mit der Spitze in ihren Körper eingedrungen war.
Dennoch fing Regina bald darauf an, in ihrem erlernten Beruf,Erzieherin,zu arbeiten,erst in Deutschland,dann am Genfer See in Vevey in einer Betreuungsinstitution für geistig behinderte Jugendliche.Sie wollte nicht einfach nur krank sein.Es ging ihr ja auch erst einmal wieder relativ gut,aber nach einiger Zeit entwickelte sie diese Lungenprobleme quasi am Fliessband,immer öfter musste sie in die Klinik,um Risse im Gewebe wieder verschliessen zu lassen.Ihr Rücken wimmelte nur so von Narben und das gesunde,funktionierende Lungengewebe wurde immer weniger.
Zusätzlich entwickelte sich ein weiterer Tumor auf der anderen,bisher gesunden Niere.
Die Grunderkrankung ging weiter unerbittlich ihren Weg.
Regina war natürlich unendlich gefrustet.Sie wusste um ihr Schicksal ,wollte aber dennoch dagegen ankämpfen,während die Ärzte ihr keine grossen Hoffnungen machten.Tatsächlich verschlimmerte sich ihr Zustand so,dass sie ihre Arbeit erst teilweise und dann ganz aufgeben musste und sie nur noch mit einem transportablen Sauerstoffgerät in ihrer Wohnung herumlief.Versorgt wurde sie von Freunden oder uns,wenn wir da waren.
Sie mogelte sich aber bis 1995 entgegen aller statistischer Wahrscheinlichkeiten durch,bis schlussendlich keine andere Wahl mehr blieb:sie brauchte eine Nieren-und Lungentransplantation.Geichzeitig,also von demselben Spender.
Beide Organe sind lebenswichtig und stellten bei ihr zunehmend ihre Funktionen ein,es
war also abzusehen,dass die Zeit drängte.
Nach einem Jahr Wartezeit ,in der sie nichts mehr arbeiten und nur noch zuhause mit ihrer mobilen Sauerstoffversorgung verbringen konnte,kam die Nachricht,dass es einen Spender für beide Organe gäbe und sie wurde per Tatütata schnellstmöglich nach Genf transportiert und dort sofort operiert.12 Stunden lang.
Danach sah es erst mal nicht gut aus.Es war unklar,ob sie den Eingriff überleben würde.
Wir nahmen uns ein paar Tage frei und quartierten uns bei einer Genfer Freundin ein,um
Regina täglich besuchen zu können.Sie lag tagelang im Koma,hatte einige weitere Komplikationen,die uns und den Ärzten ziemliche Sorgen machten ,war daher sehr lange im Spital und in Reha,aber zäh,wie sie war,überstand sie irgendwie alles.Nach 8 Tagen konnten wir unsere Zelte abbrechen und wieder zurück nach Hause.Regina war über den Berg.
Wir besuchten sie,so oft es ging und erlebten ihre Regenerierung mit Staunen,Ehrfucht und Freude.
Es war unglaublich,sie nach so langer Zeit wieder ohne Pfeifgeräusche und Hilfsmittel atmen zu sehen,mit ihr spazieren gehen zu können.Sie fing sogar wieder an zu arbeiten.
Doch ein Problem blieb:sie hatte zwar eine neue Niere bekommen,die alte,tumorbefallene war aber aus verschiedenen Gründen belassen worden.Und die Geschwulst wuchs weiter .
Fünf Jahre ging alles gut,dann wurde sie von einer Nachbarin in ihrer Wohnung tot aufgefunden.Die kindskopfgrosse Geschwulst war aufgeplatzt und sie war verblutet.
Es war das Jahr 2001.
Kurz danach brachen in New York die zwei grössten Bürotürme zusammen.Es war ein Scheissjahr.

Auch bei Conny entwickelten sich zunehmend Probleme gesundheitlicher Art.Sie bekam
immer öfter Taubheitsgefühle in den Händen und hatte allgemeine Knochenschmerzen.Wir befürchteten,dass es etwas mit der Erkrankung ihrer Schwester zu tun haben könnte,die ja auch vererbbar gewesen war.Dies bestätigte sich zwar nicht,aber dennoch musste sie den Beruf schliesslich mit 50 Jahren aufgeben,weil sie einfach die Feinmotorik der Hände nicht mehr ausreichend beherrschen konnte.Die ständige Schmerzbombadierung durch das zunehmende Rheuma tat ein übriges.Aufzugeben lag eigentlich in ihrer Natur,aber hier hatte sie einfach ihre Grenzen erreicht.Sie tat es schweren Herzens,denn auch sie war Ärztin mit Leib und Seele.Ich für meinen Teil hatte weder Lust noch die Energie,die Praxis alleine weiterzuführen.Das war schon arbeitstechnisch nicht zu schaffen.Ich hätte mir einen neuen Partner dafür suchen müssen,hatte aber die Erfahrung gemacht,dass sich die grundsätzliche Einstellung zum Arztberuf bei der jüngeren Generation deutlich geändert hatte. Wir hatten immer sehr viel gearbeitet und dafür recht gut,aber adäquat verdient.Dieses Verständnis der eigenen Leistung und ihres Wertes hat sich sehr zu Gunsten der eigenen Wertschätzung verschoben,was wir bei einem jungen,noch unerfahrenen Assistenzzahnarzt,den wir zwei Jahre lang beschäftigten,schmerzvoll erfahren mussten.Arbeitszeit runter,Gehalt hoch war seine Devise.Das widersprach genau diametral unserem Anspruch,mit dem wir vor fast fünfundzwanzig Jahren angetreten waren.Dass wir ausreichend Geld verdient hatten,war schlicht die Folge und das Resultat von vieler und solider Arbeit und nicht die Basis unserer Motivation. Wir waren Dinosaurier und vom Aussterben bedroht,was das anging.
Nun musste also eine Entscheidung her und Conny war mir wichtiger als das Geschäft.
Also trennte auch ich mich schweren Herzens von unserem gemeinsam geschaffenen Baby,der Praxis,und wir verkauften sie an ein junges Zahnarztpaar,das sie hoffentlich in unserem Sinne weiterführen würde.
Ich hatte dabei die Hoffnung,zukünftig noch reduziert als Praxisvertreter arbeiten zu können.Immer wieder wurden Zahnärzte einmal länger krank oder gingen etwas länger in Urlaub,wollten ihre Patienten aber in dieser Zeit weiterversorgt wissen.Zu diesem Zweck wurde dann ein Kollege als temporäre Aushilfe engagiert.Dafür brauchte man eine Menge Erfahrung,denn man musste sich in völlig fremder Umgebung sofort "in die Schlacht" stürzen.Eine solche Herausforderung war genau das Richtige für mich.
Allerdings machte mir ein Bandscheibenvorfall kurz darauf einen gewaltigen Strich durch diese Rechnung.Er ereilte mich völlig überraschend während einer Beerdigungsfeier für einen Bekannten.Da ich vorher nie ernsthafte Rückenprobleme hatte,konnte ich
den plötzlich heftig auftretenden Schmerz nicht zuordnen.Ich schleppte mich
aus der Trauerfeier hinaus zum Auto und versuchte erst einmal zuhause das Ganze wieder
"wegzuruhen."Doch es wurde einfach nur schlimmer und ich ging tags drauf zu einem Orthopäden.
Eine Stunde lang schickte er mich durch die gutorganisierte und -geölte Fiessbandmaschinerie seines Etablissements,ohne dass ich ihn zu Gesicht bekam.
Dann wertete er die erhaltenen Daten innerhalb 5 Minuten aus,ohne mich auch nur im geringsten körperlich zu untersuchen und verschrieb mir Schuheinlagen.Keine Schmerztabletten,nichts,was mir akut helfen würde.
Ein Arzt ganz nach meinem Geschmack.
Ich verliess diese Superpraxis fluchtartig-im Rahmen meiner körperlichen Möglichkeiten.
Die kommenden Stunden und die Nacht waren unsäglich mühsam.Ich wusste nicht,wie liegen und behalf mir mit Tabletten,die Conny mir besorgt hatte.Aber am nächsten Tag war es nicht mehr aushaltbar und ich bekam auch zunehmend Schmerzen und dann ein Taubheitsgefühl im rechten Bein.Ein schlechtes Zeichen.Mir ahnte Übles.Es war ausgerechnet ein Samstag und so kutschierte mich Conny ins nächstgelegene Krankenhaus zur Notfallaufnahme.Das Wartezmmer war natürlich rammelvoll,aber ich hatte Glück,denn ein früherer Patient von uns hatte als Pfleger Dienst und brachte mich unauffällig bevorzugt in ein Behandlungszimmer.Normalerweise drängle ich nicht und hasse auch die Ausnutzung von Beziehungen,aber mein schlechtes Gewissen hielt sich ob der inzwischen wirklich gnadenlosen Schmerzen in Grenzen.
Federnden Schrittes betrat wenig später ein junger,ein sehr junger, Assistenzarzt den Raum.Viel Erfahrung konnte der nicht haben.
"Na,Du hast ja derzeit wahnsinnig Glück mit Ärzten",dachte ich mir.
Doch ich wurde angenehm überrascht.Nach fünf Minuten war der klassische,schwere
Bandscheibenvorfall diagnostiziert,das Werken des Kollegen von gestern mit ein paar
klärenden Worten "gewürdigt",und für Montag eine umfassende Röntgenabklärung anberaumt.Bis dahin sollte ich nur noch bestimmte Körperlagen einnehmen und die mir mitgegebenen ,starken Scherztabletten.Ich bekam einen Rollstuhl,Laufen war momentan nicht erwünscht und auch kaum noch möglich.Ich fühlte mich in kompetenten Händen.Endlich!
Der Knabe war mit sehr sympathisch.
Zwei Tage später war klar:meine Bandscheibe hatte sich sehr deutlich verselbständigt und
sich zwischen zwei Lendenwirbeln offenbar nicht mehr wohlgefühlt und daher grossteils nach draussen verabschiedet.Es sah auf dem Röntgenbild sehr eindrucksvoll aus und mir wurde dringend zu einer OP geraten.
OK,das muss man sich dann doch mal überlegen.Das tat ich dann auch unter Zuhilfenahme
aller im Internet erhältlichen Informationen.Danach war mir klar:ich schaff das auch ohne irgendwelche Schnipseleien.Die operativen Risiken waren mir einfach zu wuchtig.Zuerst aber musste ich diese Drecksschmerzen loswerden.Aber es war frustrierend.Die ersten 2 Wochen tat sich so gut wie gar nichts,ich konnte mich schonen und positionieren,wie ich wollte.Doch dann merkte ich ein langsames Abflauen.Ich hatte inzwischen herausgefunden,dass eine Streckung meines Rückens eine temporäre Besserung brachte und mich so oft wie ich es aushielt,an einem Türrahmen "aufgehängt",also mit den Händen oben festgehalten und dann die Beine hochgezogen.Bald konnte ich mit Übungen bei einem Physiotherapeuten beginnen,die ich aber als zu lasch empfand.Also meldete ich mich in einem Fitnessstudio an und trainierte täglich.Zugleich nahm ich eisern Gewicht ab.Ich war zwar nicht dick ,aber dennoch übergewichtig und vor allem untrainiert.
Berufsbedingt.Sitzende Tätigkeit ,eben.Meine Rückenmuskeln waren ein Witz.
Nach fünf Wochen hatte ich zehn Kilo runter,nach zehn Wochen fünfzehn und so einiges an bisher ziemlich sporadischer Muskulatur neu aufgebaut.Und siehe da:es herrschte Ruhe im Gebälk,es war herrlich.Aber,jetzt nur nicht leichtsinnig werden.Ich behielt auch weiterhin ein strammes Trainingsprogramm ein und wurde fit wie der berühmte Turnschuh.Seit meiner Jugend hatte ich nicht mehr so einen drahtigen Körper und eine derartige Ausdauer.Mein Rücken meldete sich nur noch,wenn ich den Fehler machte,ihn über die Massen zu strapazieren.
Zwei Jahre später wäre ich wieder beruflich einsatzfähig gewesen.Ich hatte schon diverse Bewerbungsschreiben losgeschickt.Doch irgendwie entsprach das nicht der göttlichen Planung.Bei einer Einkaufsfahrt mit dem Motorroller rammte mich eine PKW-Fahrerin,die mich übersehen hatte,ungebremst von hinten und ich wurde in die Luft geschleudert.Ich kehrte auf den Boden der Tatsachen,genauer gesagt,auf den Asphalt der Strasse zurück,nicht ohne dreimal mit dem Rücken aufzuprallen.Einmal auf dem Bügel des Rollerrücksitzes,einmal auf der Haube des"gegnerischen"Autos und natürlich schlussendlich auf dem Boden.Sofort und gnadenlos breitete sich ein unbeschreiblicher
Schmerz in meiner gesamten hinteren Anatomie aus.
Als ich da so käferartig auf dem Rücken lag und mir klar wurde,was überhaupt geschehen war,dachte ich nur:"So,das wars.Dein Rücken ist durch.Querschnittslähmung."
Ich schaute auf meinen linken Fuss und gab ihm den Befehl,sich zu bewegen.Das tat er auch.Der rechte war ebenfalls brav und ich zutiefst beruhigt.Selten war ich erleichterter als in diesem Moment.
Allerdings hatte ich mit meiner Befürchtung nicht ganz Unrecht.Im Prinzip wäre ich querschnittsgelähmt gewesen,wäre da nicht mein Rucksack mit vier gerade neu erstandenen Tetrapacks Orangensaft gewesen.Die hatten das Schlimmste verhindern können und so reichte es nur-wie sich später heraustellen sollte-zu einem Wirbelsäulenbruch ohne Nervenschaden.
Ich möchte niemanden mit den folgenden unsäglich mühsamen Verhandlungen und Rechtsstreitigkeiten mit der Versicherung der Unfallverursacherin langweilen,aber,obwohl ich völlig unschuldig war,wurde mir so gut wie keine Entschädigung bezahlt,sondern
so eine Art Dauersimulieren unterstellt.Und,da ich zu diesem Zeitpunkt nicht berufstätig war,bekam ich auch nichts für den Verdienstsausfall meiner geplanten Jobs.Nach vier Jahren gab ich es auf .Hauptgewinner war mein Anwalt,dessen Honorar meine
Entschädigungssumme deutlich überstieg.
Auf jeden Fall war die Rückkehr in meinen Beruf mit der ganzen Sache obsolet.Ich konnte jahrelang nicht mehr schmerzfrei länger sitzen oder irgendeine Körperhaltung einnehmen.
Ständig musste ich mich anders positionieren und belastbar war ich auch nur kurzzeitig.So konnte ich nicht in meinem Beruf vernünftig arbeiten und es hätte mich auch niemand engagiert.
Also waren Conny und ich fortan sogenannte Privatiers.Ich warne aber davor,uns zu beneiden.Denn ich war mit meinem Pech nicht alleine.
Kurz nach meiner Genesung von dem Bandscheibenvorfall bekam Conny an einem Wochenende ziemliche Bauchschmerzen.Wir vermuteten bald,dass es der Blinddarm sein könnte,da sie auch in der Gegend druckempfindlich war.Da eine Not-Operation am Wochenende uns als keine sehr prickelnde Freizeitbeschäftigung erschien,nahm Conny erst einmal entsprechende Antibiotika,die wir noch im Haus hatten,um das Ganze bis montags hinauszuzögern.Allerdigs war das eine echte Tortur,denn es ging ihr immer schlechter,aber sie schaffte es und wir gingen am Montag um 7.00 morgens in eben das Krankenhaus,das ich auch kürzlich kennenlernen durfte.
Die Diagnose bestätigte sich und wir bekamen-zu Recht-einen deutlichen Rüffel wegen unserer Hinhaltetaktik.Noch am selben Nachmittag wurde operiert und der blindeste Darm seit Monaten herausgeholt.Laut Auskunft des Operateurs schon durchgebrochen und eine ziemliche Sauerei.Eiter im Bauchraum ist nicht schön.Dementsprechend erholte sich Conny nur langsam,aber immerhin überlebte sie.
So oft wie in dieser Zeit waren wir unser ganzes Leben lang nicht krank gewesen.Vielleicht hält Arbeit ja gesund?
Jedenfalls wussten wir jetzt,das wir nicht unverwundbar waren und,dass wir das Leben irgendwie geniessen sollten.Aber wie?Es war Neuland für uns.

Mein Vater war bereits 1992 im Alter von 73 Jahren gestorben.Prostatakrebs.
Eigentlich war er zeitlebens nie ernsthaft krank gewesen.Vielleicht mal eine Magenverstimmung oder eine Erkältung,mag sein.Im Krieg war er am Handgelenk durch einen Granatsplitter verwundet worden und kam in ein Lazarett und danach auf Heimaturlaub,was ihm wahrscheinlich eine russische Kriegsgefangenschaft ersparte. Das wars dann auch schon.Wie es bei Dauergesunden so ist,vergass er wahrscheinlich,dass es Kranksein überhaupt gibt und nahm das Gesundsein als Selbstverständlichkeit hin.
Er hatte nie irgendeine Vorsorgeuntersuchung machen lassen und bis zu dem Zeitpunkt,als er nach mehreren Bieren nicht mehr pinkeln konnte,auch mit niemandem über seine zunehmenden Probleme"da unten" gesprochen.Eine ganze Nacht quälte er sich nach einem Wirtshausbesuch mit übervoller Blase herum,bevor er morgens mit der Sprache herausrückte.Seine Warterei hatte ihm nichts genützt,im Gegenteil.Nun musste er also dann doch schleunigst in Behandlung.Meine von Muttern herbeigerufene Schwester Wilma fuhr ihn in die städtische Klinik.Nachdem ihm ein Katheder gelegt worden war,um die Blase zu entleeren,kam schnell heraus,dass seine Vorsteherdrüse bereits seit Jahren krebsartig vergrössert und mittlerweile inoperabel war.Metastasen hatten sein blutbildendes System grossteils lahmgelegt und so dämmerte er binnen kürzester Zeit langsam und gottlob schmerzlos wegen zunehmendem Sauerstoffmangels im Blut aus dem Leben.
Meine Geschwister und ich übernahmen die Abwicklung der Formalitäten und wir kümmerten uns auch um die Grabgestaltung.Wir suchten einen groben ,unbehauenen Granitblock als Grabstein für ihn aus.Er entsprach seinem ungehobelten und etwas groben Charakter.Dadurch wurde es ein aussergewöhnliches Grab,das waren wir unserem Vater schuldig.Die Friedhofsverwaltung war zwar nicht amused,aber:man stirbt nur einmal.
Meine Mutter war nun alleine in ihrem Haus.
Meine Eltern hatten 17 Jahre nach mir ,1971,noch einmal"versehentlich " eine Tochter bekommen,was mich damals insofern störte,als ich gerade in den Vorbereitungen zum Abitur war,von mir aber,ähnlich wie bei dem Sohn meiner älteren Schwester,eine tägliche Kleinkindbetreuung erwartet wurde.Irgendwie begriffen meine älteren Herrschaften nicht,dass man für einen Schulabschluss konzentriert lernen musste.So war es auch für meinen Vater selbstverständlich,der Bitte unseres Pfarrers zu entsprechen,dass ich in den Abendmessen noch als Messdiener einsprang.Mit 17!Ich war ja immer gut greifbar,denn wir wohnten keine 300 Meter von der Kirche entfernt.Mein Wunsch,von zuhause auszuziehen wurde dadurch nicht kleiner.
Ich hatte also nun zwei Schwestern,Wilma,die sechs Jahre Ältere,und Andrea,die siebzehn Jahre jüngere.Und ich mittendrin.
Andrea wuchs sozusagen als Einzelkind auf,da ihre Geschwister,Wilma und bald auch ich,bereits ausser Haus waren.Sie absolvierte, wie damals Wilma, die örtliche Realschule,da mein Vater bei Mädchen die Notwändigkeit eines Abiturs nicht einsah. Heiraten und Hausfrau zu sein war für ihn immer noch die Frauenkarriere schlechthin.Danach kam eine Lehre als Industriekauffrau bei einer Firma im Ort,sicher auch eher die Wahl unseres Vaters.Sein "Mädel" sollte zuhause wohnen bleiben.
Immer,wenn ich bei Familienfeiern oder Feiertagen meine Eltern besuchte,fiel mir auf,wie sehr sich Andrea unter der Regie ihrer inzwischen alten und altbackenen Späterzeuger weit ausserhalb ihrer Fähigkeiten in die Richtung einer Dorfnudel entwickelte.Einen Freund hatte sie auch noch nicht,sie war in jeder Beziehung zur Unselbstständigkeit erzogen.Das wollte ich entschieden ändern.Also schlug ich ihr vor,bei uns in der Praxis eine zweite Ausbildung als Zahnarzthelferin zu absolvieren und danach zu entscheiden,was sie weiter beruflich machen wolle.Dazu musste sie natürlich von zuhause wegziehen.Zu uns.
Sie überlegte nicht lange und fing wenige Wochen später bei uns an.
Mein Vater war stinksauer auf mich.
"Du hast mir meine Tochter weggenommen".
Das stimmte natürlich.Und es war gut so.Andrea war da bereits 19 Jahre alt.
Schon in den Siebzigern hatte mein Vater neben meinem Elternhaus als Altersversorgung ein Dreifamilien-Mietshaus errichten lassen.Das Grundstück liess das problemlos zu,wenn auch beide Häuser sehr dicht beieinander standen .Um Kosten zu sparen,wurden auch einige Schwarzarbeiter engagiert,es war eigentlich ein Bautrupp von Maurern,die sich auf diese Weise etwas dazu verdienten.Allerdings haperte es ziemlich an der Qualität ihrer Arbeit,dennoch war mein Vater,der nach eigener Einschätzung so gewiefte Geschäftsmann,so blöde,diese Typen für eine Woche im Voraus zu bezahlen,worauf sie nicht mehr erschienen.Verklagen konnte er sie natürlich nicht.Es gab sie ja offiziell gar nicht.
Also mussten wir ,also Vater und ich ,soweit möglich, in Eigenleistung weitermachen.Anstatt Schwimmbadbesuchen war meine neue Beschäftigung nach der Briefaustragerei nun,Mauern aus Ytongsteinen hochzuziehen.Aber auch das machte mir irgendwie Spass,denn ich konnte täglich sehen,was ich geschaffen hatte und vor allem,dass es gut war.Allerdings war die Zusammenarbeit mit meinem Vater schwierig.Er hatte sehr eigene,völlig veraltete Vorstellungen von der Zimmeraufteilung und Ausstattung einer Wohnung.Ich versuchte ihm klarzumachen,dass ein Schlafzimmer nicht unbedingt so gross sein musste wie das Wohnzimmer und dass dagegen Bäder inzwischen durchaus etwas üppiger dimensioniert wurden und eine Dusche wichtiger war als eine Badewanne,genauso wie eine Heizung im Bad.Doch es nützte alles nichts,er war der Bauherr und das wollte er durch seine Sturheit auch dokumentieren.Lediglich bei den Armaturen und Heizkörpern konnte ich ihm klarmachen,dass sich seit 1955 einiges geändert hatte.Ansonsten wurde das Haus fast eine Kopie meines inzwischen 20 Jahre alten Elternhauses,nur deutlich grösser.Dementsprechend waren jüngere Mietinteressenten oder etwas Betuchtere nach Besichtigung schnell wieder weg und die Mieter,die schliesslich einzogen,einfachere Leute,die dringend eine Wohnung suchten,aber eben auch weiterhin nach etwas Besserem.Es gab dadurch einen regen Wechsel,der den Mieträumen nicht gut tat und auch immer wieder Arbeit machte.
Als meine Mutter nach dem Tod meines Vaters schliesslich die Regie über die beiden Immobilien übernahm,wurde schnell klar,dass sie ein noch schlechteres Händchen in der Auswahl von Mietern hatte.Ihr fehlte jede Menschenkenntnis,sie nahm,wen sie kriegen konnte,ihr ging es nur um das Geld,also vor allem darum,dass die Räumlichkeiten nicht lange leerstanden und sie die Mieten jährlich erhöhen konnte.Dass ihre schlechte Auswahl überhaupt der Grund für den häufigen Wechsel war,kam ihr nie in den Sinn.
Mir hätte das Ganze eigentlich egal sein können,ich hatte mit der Praxis und meinem eigenen Leben genug zu tun,aber von meinen Schwestern erfuhr ich,dass unsere Mutter
anfing,sich mit ihren Mietern zu streiten und das auch vor Gericht,was eine Menge Anwaltskosten verschlang.Recht bekam sie so gut wie nie,aber prozessierte munter weiter.Dabei mussten bei weitem nicht die Mieter Schuld haben,Muttern entwickelte sich einfach zu einer streitsüchtigen,vereinsamenden alten Matrone.Sie war dabei völlig unbelehrbar.
Ich hatte ihr mehrfach vorgeschlagen,dass ich die Verwaltung übernehmen würde,was sie kathegorisch ablehnte.
Mit den Nachbarn,die zum Grossteil seit Jahrzehnten um uns herum wohnten,zerstritt sie sich wegen völlig blödsinniger Kleinigkeiten.Sie wurde zunehmend rechthaberisch und unausstehlich und war bald ziemlich sozial isoliert.Selbstkritik war ihr völlig fremd und sie glaubte,von lauter Idioten und bösartigen Menschen umgeben zu sein.Kein Wunder,dass ihre drei Kinder Besuche möglichst rar und knapp hielten.
2008 wurde bei Ihr,die sich auch nie besonders um ihre Gesundheit gekümmert hatte, Darmkrebs diagnostiziert und sie musste ins Krankenhaus.Da mir bewusst war,dass
eine Operation wahrscheinlich nur palliativ sein würde und sie eventuell sogar dabei sterben könnte,bat ich sie darum,mir wenigstens für die Zeit,in der sie krank und
nicht einsatzbereit wäre,per Vollmacht ihre Geschäfte zu übertragen.
Sie lehnte auch das strikt ab und was sie sagte,entfremdete mich völlig von ihr.
"Soweit kommts noch.Ihr seid ja nur scharf darauf,euch eure Erbschaft früher unter den Nagel zu reissen.Ihr kommt dann ja an sämtliche Konten.Ich bin ja nicht blöd."
Dass sie mich und meine Schwestern so einschätzte war mehr als beleidigend.
Vor allem ich hatte es finanziell überhaupt nicht nötig,irgendwelche Gelder durch Tricksereien an mich zu bringen und auch meine Schwestern hatten ihr Auskommen.Nie hatten wir auch nur ansatzweise versucht oder durchblicken lassen,das wir auf unser Erbe spekulierten,schon gar nicht zu Lebzeiten eines Elternteils.Ich liess es also darauf beruhen.
Wie vorhergesehen,war der Darmkrebs nicht zu stoppen,sie nahmen aber raus,was ging.Es war also ,wie vorausgesehen,eine rein hinauszögernde Massnahme .Mutter wollte von der Ernsthaftigkeit ihres Zustands nichts wissen und sie überstand es vielleicht gerade deshalb erstaunlich gut.Eigentlich war sie wieder die Alte.Das Ganze hatte sie weder Demut noch Einsicht gelehrt.
Zwei Jahre später meldete sich die Krankheit mit neuer Wucht zurück.Eine zweite OP
sollte versucht werden,wurde aber abgebrochen,nachdem die Ausdehnung von Metastasen und Verwachsungen sichtbar wurde.
Auch hier hatte ich wieder versucht,eine Vollmacht zur Weiterführung von Mutters "Geschäften" zu bekommen,was sie wieder vehement ablehnte.Diesmal lag die Sache aber anders.
Ich wusste,dass sie nicht mehr in der Lage sein würde,auf die Beine zu kommen und sich auch nur annähernd um das Nötigste zu kümmern,ausserdem standen Reparaturen an,deren Notwändigkeit sie jahrelang ignoriert hatte. Ich war bereit,einiges selbst zu machen,denn ich hatte ja nach meiner unfreiwilligen "Pensionierung" Zeit,aber keine Lust,die Materialien aus eigener Tasche zu zahlen.
Es nützte also alles nichts.
Bei meinem ersten Besuch im Krankenhaus noch vor der OP versuchte ich ihr den Ernst der Lage klarzumachen.Sie aber war der festen Überzeugung,dass sie bald wieder auf dem Damm wäre.Genervt stellte ich ihr die Alternative:
"Ich lege Dir jetzt hier eine Vollmacht für uns drei Kinder hin zur Unterschrift.Ich gehe dann 10 Minuten raus,damit Du Zeit hast zum Überlegen.Falls Du nicht unterschreibst,gehe ich ganz und wir sehen uns erst bei Deiner Beerdigung wieder."
Hart,aber es ging nicht anders.Ich dachte hier ausnahmsweise einmal an mich,an uns Geschwister.So fremd war sie mir inzwischen geworden.
Sie unterschrieb unter Protest und drehte mir den Rücken zu,als ich ging.Doch ich war zufrieden und legte los.Als erstes beendete ich sämtliche Rechtsstreitigkeiten,wofür mir einige Anwälte trotz des Honorarverlustes sehr dankbar waren.Auch sie hatten meine Mutter grundlegend kennengelernt.
Danach inspizierte ich sämtliche Wohnungen,um zu klären,was wo,wann und wie
repariert werden musste.Das war auch die Gelegenheit,den Mietern mitzuteilen,dass fortan ich ihr Ansprechpartner war.Auch hier blickte ich in aufatmende ,entspanntere Gesichter.
Wochenlang war ich damit beschäftigt,das Nötigste zu richten und die berechtigten Beschwerden der Mieter über Mängel auszuräumen.Da mir niemand half,war es eine fast meditative Zeit.Alleine vor mich hinwerkelnd,dachte ich ausführlich über vieles nach.Vor allem die Zukunft war nun ein starkes Thema.Was würde aus all dem werden?Lohnte sich die Mühe noch,die ich investierte?Ich fand keine Antworten und musste einfach abwarten.
Meine Mutter überlebte den Krankenhausaufenthalt noch ein Jahr lang,während dem sie zuhause rund um die Uhr bettlägrig betreut werden musste.Da wir beide nicht mehr berufstätig waren,konnten Conny und ich sie mehrmals pro Woche besuchen und uns etwas
mit um sie kümmern.Wir hatten für sie im grössten Zimmer des Hauses ein Krankenzimmer eingerichtet und geschulte Betreuerinnen engagiert,die sich im 8-Stunden-Takt abwechselten.Meine Mutter wehrte sich anfangs gewohnt vehement gegen diese "Bevormundung",musste aber zusehends einsehen,dass es für sie zumindest bequem war.
Allerdings benahm sie sich ziemlich despotisch,was zunehmend schlimmer wurde,denn gleichzeitig entwickelte sie eine Demenz,die es allen Beteiligten nicht gerade leichter machte.Es kamen jetzt alle bösartigen Facetten ihres Wesens massiv und wie herausgemeiselt zum Vorschein.Es war schwierig auszuhalten,auch wenn man sie wegen ihres Zustands bedauern musste .Mehrfach musste ich ihre Betreuerinnen-teils durch massive Lohnerhöhungen-dazu überreden,zu bleiben.Muttern zog in ihren letzten Wochen noch einmal alle Register und ich begriff,warum ihre Sozialkontakte gegen Null gestrebt hatten.Wenn sie sich nur halb so übel benommen hatte wie jetzt,dann hatte sie sich wirklich alle Mühe gegeben,unbeliebt zu sein.
Bei ihr verlief die Verkrebsung des ganzen Körpers nicht so schmerzlos wie bei meinem Vater.Um sie überhaupt am Leben zu erhalten,musste man über einen Magenzugang in der Bauchdecke flüssige Nahrung zuführen,denn sie ass nicht mehr.Die stattliche Neunzig-Kilo-Frau wurde zu einer abgemagerten Körperruine,deren Kraft mit immensem Tempo abnahm.
Schlussendlich starb meine Mutter an multiplem Versagen aller möglichen Körperfunktionen im Jahr 2011.
Zu ihrer Beerdigung wollten sämtliche Nachbarn nicht kommen.Ich konnte einige jedoch überreden,über die letzten Jahre hinwegzusehen und sich an bessere Zeiten zu erinnern.
Früher ,als mein Vater noch lebte,war alles doch gut gewesen,kommt,also,um der alten Zeiten willen.
Da meine Mutter schon seit Jahren aus der Kirche ausgetreten war,gab es auch Schwierigkeiten,den katholischen Priester zu einer Trauerfeier zu überreden.Gegen eine
ordentliche Spende hielt er dann aber doch eine 15 minütige Zeremonie ab ,nach der er schnellstmöglich verschwand,die Trauerrede hielt ich.
Es widerstrebt mir grundsätzlich,Dinge zu beschönigen.Deshalb war mein Rückblick auf das Leben dieser Frau für eine Beerdigung atypisch,aber ehrlich.Dazu gehörte auch,dass ich das schwierige Leben an der Seite meines Vaters würdigte,was vieles entschuldigen mochte .Ich denke,alle hatten mich verstanden.
Mein Leben hatte eine weitere ,wichtige Zäsur erhalten.

Ausserdem erfuhren wir aus den Grundbuchauszügen,die wir das erste Mal zu Gesicht bekamen,dass die Werkstatt meines Vaters nirgends eingetragen war,insofern also illegal errichtet,was über 50 Jahre niemand gemerkt hatte.Als Sahnetüpfelchen erwies sich das 4-Familienhaus als ebenfalls nicht gesetzeskonform.Sowohl die Dachwohnung ,als auch die Kellerwohnung waren nicht als solche ,sondern eben nur als Nutzräume beim Bauantrag genehmigt.Natürlich wollte mein Vater 4 Wohnungen unterbringen, das hätte aber bedeutet,dass entsprechende Autostellplätze geschaffen hätten müssen,was aber platzmässig nicht ging und so wurden zwei Wohnungen genehmigungstechnisch unterschlagen.
Also hatte mein Vater beide Stockwerke damals wissentlich illegal zu Wohnungen ausgebaut und vermietet.Auch das war niemandem aufgefallen. Na,prima.
Wir versuchten verzweifelt,für beide Gebäude zusammen einen Käufer zu finden,was sich angesichts all dessen als mühsam herausstellte.Der Makler machte uns wenig Hoffnung auf Erfolg,was aber angesichts der steten Mieteinnahmen keine Katastrophe war.Meine Schwestern waren aber ungeduldig genug,um dem Erstbesten das Ganze zu einem Spottpreis,den schon ein Haus alleine wert war,abzutreten.Ich war dabei überstimmt worden.Ich darf gar nicht daran denken,was das Ganze heute,nach dem Immobilienboom
der letzten Jahre wert ist.
Nun waren also alle Verbindungen zu unserer Jugendzeit gekappt.
Damit endete mein Verhältnis zu meinem Heimatort endgültig.Nur noch selten besuchte ich in den folgenden Jahren die wenige verbliebene Verwandschaft dort.Ich hatte ohnehin seit meinem Wegzug vor etwa 45 Jahren keinen besonders ausgeprägten emotionalen Bezug mehr zu diesem Ort.
Auch Connys Eltern,für die wir jetzt ja auch mehr Zeit hatten, schwächelten im folgenden Jahr zunehmend,ihre Mutter aber deutlich mehr als Klaus,ihr Vater,der als über 90-jähriger geistig und körperlich noch recht rege war,während Josette ,Connys Mutter,schon des öfteren geistige Aussetzer hatte.Sie war ohnehin nie die körperlich Stabilste gewesen und durch ihre Osteoporose zu einem kleinen,gebeugten Persönchen geworden,wobei sie einen gewissen Altersstarrsinn entwickelt hatte,der zunehmend zum Problem wurde.Klaus wollte die Veränderungen an seiner langjährigen Ehegefährtin nicht wirklich wahrhaben ,haderte sogar mit ihr,wenn sie wieder irgendetwas irgendwo liegengelassen oder versteckt hatte.Schusselig war sie schon immer,und er realisierte nicht,dass die Ursache nun eine völlig Neue war.Sein Tatendrang war trotz schwächelnder Kondition noch recht ungebremst.Er arbeitete bei gutem Wetter im Garten und half mir,wenn ich irgendwelche Reparaturen oder Umbauten vornahm.Im und ums Haus gab es immer etwas zu tun und wir verbrachten die meiste Zeit hier,obwohl wir noch unser eigentliches Domizil in Ettlingen hatten.
Conny überlegte schon länger,ganz in die Schweiz zu ziehen,was ja problemlos ging,da sie ausser Deutscher auch Schweizerin war.2005 realisierte sie das dann und ihr Hauptwohnsitz wurde schweizerisch im Haus ihrer Eltern.Eine Weile pendelte sie noch zwischen unserer früheren-jetzt nur noch meiner-Wohnung und dem Bodensee hin und her,aber bald war das alles zu mühsam.
Wir rechneten eigentlich damit,dass Klaus seine Ehefrau überleben würde und fragten uns,wie er diese Situation dann überstünde.Connys Eltern verstanden sich im Gegensatz zu meinen sehr gut und Klaus litt schon jetzt ziemlich unter dem unübersehbaren Abbau
von Gesundheit und Geist seiner Frau.
Aber auch hier nahm uns das Schicksal die Fäden aus der Hand.
Sobald die Sonne schien ,zog es Klaus unweigerlich nach draussen,in den Garten.
So war es auch an einem Tag im April 2011.Nach einem langen Arbeitstag im Freien wollte sich Klaus ein interessantes Fussballspiel im Fernsehen anschauen.Er war ziemlich fussballbegeistert und Fan von Bayern München.Was sonst?
Er ging nach oben,um sich umzuziehen.Vor dem Spiel sollte noch zu Abend gegessen werden.Als er die Treppe herunterging,stürzte er plötzlich und schlug ungebremst mit dem Kopf auf der Kante einer Steinstufe auf.Sofort blutete es massiv aus seinem Kopf und er rührte sich nicht mehr,war offensichtlich bewusstlos.Der herbeigerufene Notarzt liess ihn sofort ins nächste Krankenhaus einliefern und machte uns wenig Hoffnung.Im "besten" Fall konnte Klaus überleben mit einer dauerhaften Hirnschädigung und völliger Hilflosigkeit.Oder er würde sterben.
Conny und ich berieten nicht lange und gaben den Ärzten das Ok dafür,lebensverlängernde Massnahmen zu unterlassen.Klaus hatte uns immer wieder erzählt,dass er keinesfalls zum Pflegefall werden wollte.Er starb noch in der gleichen Nacht. Er wurde 93Jahre alt.
Wir gingen davon aus,dass er auf der Treppe einen Schlaganfall erlitten hatte,was ein
etwas tröstlicher Gedanke war,weil ein einfaches Stolpern so grausam sinnlos erschien.
Josette hielt sich erstaunlich tapfer,was natürlich auch ihrer bereits deutlich ausgeprägten Demenz zuzuschreiben war.Wir unternahmen mit ihr noch möglichst viele Ausflüge,aber auch sie konnte man nicht mehr alleine lassen,man musste sich ganztägig kümmern,was hier aber Conny übernahm,die ja im Haus wohnte.Sie kümmerte sich liebe-und aufopferungsvoll um ihre Mutter.Es war frustrierend zuzuschauen,wie ein so langes,liebevolles Leben sich feige und nebulös davonmachte,wie ein liebenswerter Mensch verschwindet und nur noch eine kranke,persönlichkeitsfreie Hülle ,ein ängstliches Häufchen Elend übrigbleibt.
Ich glaube,niemand kann es besser haben in seiner letzten Lebenszeit,als Connys Eltern.
Ihre Tochter hat sich selbstlos bis zuletzt um sie gekümmert und beide sind bestens versorgt dann doch relativ friedlich,wenn auch sehr unterschiedlich, aus dem Leben geschieden.
Josette starb im Februar 2012 im Alter von 91 Jahren.
Damit war die Generation vor uns so gut wie weggestorben.Auch bei mir war niemand mehr übriggeblieben,ich hatte ohnehin keinen Draht zum Grossteil meiner Verwandschaft und auch Connys Tanten und Onkels waren bis auf die zwei Jüngsten nicht mehr am Leben.Der Kontakt zu den zahlreichen Cousins und Cousinen Connys war trotz der teils örtlichen Nähe recht locker und daher ziemlich selten,der Zusammenhalt der Alten übertrug sich nicht auf die folgende Generation.Jeder ist heutzutage dann doch deutlich mehr mit sich und seiner näheren Umgebung beschäftigt als früher.
Unsere wenigen Freunde waren alle in weit gefächerte Windrichtungen verstreut ,sodass Besuche auch da recht mühsam und selten waren.
Wir waren irgendwie alleine.

Nach all diesen Ereignissen und erstmals seit langem zur Ruhe kommend,fiel mir auf,dass wir uns eigentlich zeitlebens um andere Menschen gekümmert hatten.Teils beruflich,teils privat und familiär.Irgendwie kam immer eins nach dem anderen und vor allem auch zu dem anderen.Es stapelte sich manchmal förmlich.
Das fiel jetzt alles weg und wir standen sozusagen vor einem leeren Überraschungsei mit Zeitinhalt.Wir waren für uns endlich wer,konnten über uns nachdenken,uns geniessen.Neu und ungewohnt,aber nicht unangenehm,diese Situation,wenn auch so jetzt so noch nicht gewollt.
Was würde das mit uns machen?
Es soll ja Menschen geben,die nach ihrer Berufstätigkeit "in ein Loch fallen",oder ihren Partner/in erst richtig kennen lernen,was nicht selten bis zur Trennung führt.
Natürlich wurde es uns nicht langweilig.Rumsitzen oder sinnlos den Tag zu füllen lag nicht in unserem Naturell.Ich hatte mich schon seit Jahren wieder in zwei Rockbands eingeschlichen ,was mich zwei Abende pro Woche beschäftigte,und Conny hatte das Haus ihrer Eltern geerbt und war weit davon entfernt,es aufzugeben oder zu veräussern.Dazu war die Lage und Umgebung einfach zu einzigartig.Also ging es ans Renovieren.Wie es bei alten Leuten so ist,waren Möbel,Lampen und überhaupt das gesamte Interieur noch aus den Umzugstagen in den 80ern ,nie erneuert worden und von daher weder modern noch besonders hell oder freundlich. Klaus hatte zum Beispiel einen riesigen Schreibtisch mitten im Esszimmer stehen,dazu passend dahinter einen ebenso imposanten Wandschrank,beides Erbstücke. Das war sein Bereich ,an dem er sich oft aufhielt. Es waren Möbel aus den 1930-ern,dunkelholzig und ungetümig,grundsolide aus Massivholz gefertigt,mit geschnitzten Löwentatzen als Standbeine.Das Ganze hatte etwas von einer muffigen Reichskanzlei.Wir inserierten beides auf Ebay und,siehe da,der gebotene Preis ging in ungeahnte Höhen.Schlussendlich ergatterte ein Pole das wuchtige Ensemble und holte es mit einem Kleinlaster ab.Gottseidank konnte man wenigstens den Schrank in tragbare Teile zerlegen,sodass beide Möbelmonster innerhalb von 20 Minuten verfrachtet waren.Natürlich halfen wir dem Fahrer beim Tragen.Was tut man nicht alles für die schweizerisch-polnische Freundschaft?
Es hatte uns schon immer gestört,dass es in dem Haus so dunkel war.Das lag nicht allein an der Einrichtung und der spärlichen Beleuchtung.Auch die Wände selbst waren in einem
graubraunen Ton gestrichen,der einfach Licht nicht besonders reflektierte.Also machte ich mich daran,das gesamte Haus innen weiss zu streichen unter kräftiger Mithilfe von Conny.Der Effekt war überwältigend,die Arbeit die das alles machte,auch.Das Haus hat teilweise bis zu 5 Meter hohe Wände.
Jetzt noch ein paar Deckenlampen mehr und es sah alles schon sehr viel freundlicher aus.
Danach kamen die neuen Möbel dran.Bei etlichen Streifzügen durch Möbelhäuser hielten wir Ausschau nach schönen,passenden,aber auch bezahlbaren Angeboten.Wir hatten es nicht eilig und so konnten wir uns so manches Schnäppchen sichern.Das alte Mobiliar wurde entweder verhökert oder entsorgt,je nach Zustand.Herrlich,wie das Lebensgefühl steigt,wenn man eine angenehme häusliche Umgebung hat.Ich freue mich bis heute jeden Tag aufs Neu darüber.
Dann war die Küche fällig.Auch hier überall dunkles Holz,aber grundsolide verarbeitet und alles noch intakt,ausser einigen Elektrogeräten.Ich hatte keine Lust,das alles herauszureissen und neu zu installieren.Also machte ich mich daran,die Schränke zu lackieren.Auch hier war es erstaunlich,was daraus wurde.Nicht perfekt,aber durchaus ansehnlich.So langsam wurden wir zu echten Handwerkern.Berufsbedingt waren wir beide ja ohnehin nicht ganz beidseitige Linkshänder.Nach einem halben Jahr war die Hütte gut bewohnbar,wenn auch noch einige Schmankerl auf unsre Revision warteten.Und dann gab es ja auch noch den Keller als eiserne Reserve,falls es uns mal zu lau werden sollte.Aber,wir brauchten eine Pause.
Was wir in all den vergangenen Jahren nicht gemacht hatten,waren Reisen,richtige grosse,lange Fernreisen. Dazu fehlte uns immer die Zeit.Und Jetlags konnten wir uns in der Praxiszeit nach Urlauben sowieso nicht leisten. Daher wollten wir jetzt endlich mal ausprobieren,wie das ist:länger unterwegs sein in fremden Ländern.Ausserdem tat es Conny gut,der kalten Jahreszeit ,in der ihr die Knochen besonders wehtaten,wenigstens kurzfristig zu entrinnen.
Da wir noch nicht im Rentenalter waren und deswegen von unserem Ersparten lebten,kam unnützer Luxus nicht in Frage.Ich fand per Zufall in einem Beilageprospekt ein Angebot,das ich erst nicht glauben wollte.Eine 4-wöchige Schiffsreise von Genua nach Brasilien,Rückflug inklusive.Ich schaute zweimal auf den Preis.1250 Schweizer Franken.Unfassbar!Allerdings Innenkabine.Aber aussen mit Fenster auch nur 1450 CHF.
"Da stimmt doch was nicht" sagte ich zu Conny,"das will ich jetzt doch mal genau wissen".
Ich rief also an.Der Preis wurde mir bestätigt und ich fackelte nicht lange:zweimal bitte,Aussenkabine und noch ein Getränkepaket dazu .Flüssignahrung kann auf so einem Kreuzfahrer nämlich ziemlich teuer werden,weil im Gegensatz zum Essen nicht inklusive,erfuhr ich.
Und so begaben wir uns eines Tages im November 2013 in einen Zug nach Zürich,von wo man uns per Reisebus zusammen mit 40 anderen Reisewilligen über die Alpen gen Genua verfrachtete.Ich habe jetzt absichtlich nicht gen Italien geschrieben.
Es war schon alleine sehr spannend,die Einschiffung von über 3000 Menschen und mindestens ebenso vielen Koffern zu erleben,eine echte logistische Leistung.Die Reise war für uns etwas komplett Neues,und das Erlebte enttäuschte uns nicht.Wir legten in Städten wie Barcelona,Lissabon und Funchal in der erste Woche an und konnten von jeder einen kleinen Eindruck gewinnen,indem wir sie bequem zu Fuss ertasteten.
Nach zwei Tagen kamen dann die Kanaren in Sicht und wir inspizierten und beschnupperten Fuerteventura und Teneriffa bei traumhaftem Wetter.Conny genoss die Wärme und freute sich darüber,dass ihre Rheumaschmerzen besser wurden.
Danach kam die sechstägige Atlantiküberquerung,die aber keineswegs langweilig war.Solche Schiffe geben sich alle Mühe,ihre Passagiere tags und abends zu unterhalten.Da die überwiegende Mehrzahl der Mitfahrenden Brasilianer waren,wimmelte und wuselte es nur so vor Freizeitaktivitäten und Events.Allerdings ging uns die laute brasilianische Musik allerorten bald auf den Keks.Es gab eigentlich keinen wirklich ruhigen Ort an Bord und auch keine anderen Rhythmen.Brasilianischer Karneval,nur ohne Rio.
Quirligkeit hat eben nicht nur positive Seiten.Wir verzogen uns also des Öfteren in unsere Kabine,wo es einigermassen lärmfrei zuging.Herrlich.Lesen kann so schön sein.
Mein Bild von der Schönheit brasilianischer Weiblichkeit wurde ebenfalls etwas enttäuscht.Die Mehrzahl der erwachsenen Brasilianerinnen an Bord war mehr oder weniger ....sagen wir mal...ausufernd gebaut.Im Speisesaal sahen wir auch ,warum.Es wurden unglaubliche Mengen an kulinarischen Genüssen wahrgenommen,vor allem aber Süsses.
Die Nachtischtheke war imposant,allerdings nur vor dem Zugriff südamerikanischer Gourmets.Danach glich sie einer knallbunten Modellversion von Disneyland ....nach einem Bombenangriff.
Die Ergebnisse der kulinarischen Exzesse konnten wir dann bei der Äquatortaufe würdigen,bei der so ziemlich die gesamte Weiblichkeit in Bikinis an den Pools verweilte,um sich mit Mehl,Kakaopulver und irgendwelchen pampigen Substanzen vollschmieren zu lassen.Auch hier war die Lautstärke nicht zu überbieten.Scheinbar können die Brasilianer nicht anders feiern.
Uns wunderte,dass bis sehr spät in die Nacht noch so viele Passagiere auf den Decks und Bars herumsassen ,obwohl dort eigentlich nichts mehr los war.Besatzungsmitglieder klärten uns auf:Viele Brasilianer hatten ihre Verwandten per Flugzeug in Portugal besucht,sich dort mit Elektrogeräten bis hin zum Kühlschrank eingedeckt,die in Brasilien wesentlich teurer sind,und kehrten dann per Schiff zurück in die Heimat.Das hatte den Vorteil,dass es bei dieser Kreuzfahrt keine Gewichts-und Grössenbeschränkungen für Gepäck gab,sodass sich so mancher Herd,Geschirrspüler oder ähnliches in den Kabinen befand,was natürlich die Schlafplätze beeinträchtigte.Deshalb fand die Reise hauptsächlich ausserhalb der Zimmer statt,was bei dem schönen Wetter und den hohen Temperaturen ja auch kein Problem war.Man schlief einfach auf den Deckchairs.
Schliesslich erreichten wir die brasilianische Küste und hielten an drei sehr unterschiedlichen Küstenstädten.Leider war Rio nicht dabei.Mich beeindruckte vor allem die überall sichtbare Armut.Richtige Armut,wie wir sie bei uns nicht annähernd kennen.Kranke,teils verkrüppelte,vor Schmutz starrende Menschen,die auf der Strasse lebten,mit nichts als ein paar Lumpen bekleidet.Auf unserem Weg durch Sao Paulo zum Flughafen gab es eine Stelle ,von der man rundum nur auf Favelas blickte.Verrostete Blechhütten,in denen hunderttausende Menschen eingepfercht waren.
Insofern hatte uns diese Reise tatsächlich eine Horizonterweiterung gebracht,auch wenn es am Horizont nicht schön aussah.
Wir beschlossen,nun jedes Jahr entweder im Frühjahr oder Spätherbst eine Fernreise ins Warme zu unternehmen.So bekamen wir schöne Einblicke in China,Neuseeland,Thailand und die Karibik.Letztere erkundeten wir auch noch einmal per Kreuzfahrtschiff,aber seitdem wir wissen,welchen Dreck diese Ozeanriesen in die Luft schleudern,meiden wir solche Reisen.
Ganz besonders beeindruckt hat mich eine Indienreise in 2018,die uns drei Wochen quer durch das grosse Land führte.Bereits die Reiseformalitäten waren ein Schmankerl.Dazu eine Vorbemerkung:
Ich habe den Ehrgeiz,möglichst alles selbst hinzukriegen und delegiere nur im äussersten Notfall,also ,wenn es nicht anders geht.
Also setzte ich mich eines Abends hin in der Absicht ,unsere zwei Visaanträge für Indien
auszufüllen.Der Horror!Wären unsere Flüge nicht schon gebucht gewesen,hätte ich das Ganze abgeblasen.Ich verbrachte geschlagene 4 Stunden damit,mich durch das Frage-Antwortspiel zu ackern.Jedesmal,wenn ich am Ende die Visagebühren zahlen wollte,klappte das nicht und das gesamte Antragsformular war gelöscht und ich musste von vorne anfangen.Irgendwann nach diesem Schaffen schaffte ich es dann,dass es nach"geschafft" aussah und fiel erschöpft und geschafft ins Bett.Aber ich war guter Dinge.
Tatsächlich erhielten wir per mail Wochen später unsere Einreise-Visa,die für die Reise natürlich unabdingbar waren.Der Spass kostete übrigens 140 Stutz pro Person!Ein ganz ordentlicher Eintrittspreis für ein Land,das doch eigentlich um jeden Touristen froh sein müsste,dachte ich.
Abflug war von Frankfurt und wir gingen frohgemut zu unserem Schalter der Air India.
Davor sass ein zweifellos indischer Herr,der alle Passagiere erst einmal auf Vollständigkeite der Papiere kontrollierte.Pass,Flugbestätigung,Visum,alles musste vorgezeigt werden,um einchecken zu können.
Conny kam zuerst dran.Alles in Ordnung.Dann ich.Beim Studieren meines Visums runzelte er die Stirn.Ahnte ich was?Ja,ich ahnte was.Irgendwie sagte mir meine Lebenserfahrung,dass er das nicht immer machte,sondern nur,wenn etwas nicht stimmte.Aber was?Der Inder sprach relativ schlechtes,weil nuscheliges Deutsch und teilte mir freundlich mit,dass mein Visum ungültig sei.Ich fasste wieder Mut,denn das war schlicht unmöglich,denn ich hatte es ja original aus der Mail ausgedruckt.Ausserdem hatte ich volle vier Stunden lang diese Phalanx an Formularen ausgefüllt und daraufhin das Visum erhalten.Also,was konnte da passiert sein?Nix!
"Schauen Sie",sagte mein neuer indischer Freund," da! "Er fuchtelte mit seinem Finger
über einer Stelle ,an der die Passdaten eingetragen waren. Ich sah aber nichts Aussergewöhnliches.
" Haben Sie falsch gemacht".
"Was denn genau?"
"Hier sehen Sie?Ist falsche Passnummer".Er hielt mir meinen Pass hin und ich verglich.
Aber das stimmt doch!"beharrte ich.
"Nein.Passnummer ist das hier!"Er deutete auf den oberen Rand des Ausweises.
Jetzt begriff ich.Oben war meine Passnummer eingestanzt und unten auch,aber dort waren noch zwei Buchstaben danach eingraviert und die hatte ich auf dem Antrag mit angegeben.
Lächerlich,dachte ich.
"Dann streichen wir die beiden Buchstaben doch einfach weg!"
Er sah mich mit seinen grossen,braunen,treuen Augen an,als hätte ich ihm gerade ein Bestechungsgeld von hunderttausend(Währung bitte selbst einsetzen) angeboten.
"Nein,geht das nicht.Ist Fälschung.Visum so ist ungültig".
Ich brauche immer so 10 bis 15 Sekunden,um schlechte Nachrichten zu verdauen.Hier können es auch 20 gewesen sein.
"Und jetzt?"Ich fand die Frage legitim.
" So können sie nicht fliegen".Da hatte er Recht.Ich kann sowieso nicht fliegen,ob mit oder ohne Visum ,schoss es mir unnötigerweise durch den Kopf,was aber nicht hilfreich war.
"Moment.Sie wollen mir sagen,dass ich wegen dieser zwei Buchstaben meine gesamte Reise nicht antreten kann?"
Wieder diese Augen.Sah ich da Mitgefühl,oder eventuell gar eine Lösung aufblitzen?
Er sagte nichts.
"Was kann ich denn machen,damit das in Ordnung kommt?"
"Sie müssen Visastelle anrufen".
"Sie meinen die Botschaft hier in Deutschland?"
"Nein ,Visastelle,Indien".
"Aha."Ich überlegte kurz,ob ich schon einmal auf dem Handy mit Indien telefoniert hatte.
Nein,das wäre mir gebührentechnisch sicher aufgefallen.
"Haben sie Nummer?"Mein indisch-deutsch wurde schon besser.Konnte man sich dran gewöhnen.
Kurz darauf telefonierte ich erstmals im Leben mit Indien.Das heisst,ich erlebte erstmal nur den wahrscheinlich typischen dortigen Klingelton .Es nahm nämlich niemand ab.Man kann mir eine gewisse Hartnäckigkeit nicht abstreiten,aber nach einer Viertelstunde und 20 Versuchen später war ich bereit,entweder zu resignieren oder einen Inder,egal welcher Machart,zu massakrieren.Da letzteres auf Flughäfen bestimmt häufig zu diplomatischen Verwicklungen führt,verwarf ich diesen Plan und unternahm noch weitere 10 bis 15 Versuche und ...siehe da....ein etwa siebentausend Kilometer entferntes Telefon ,wo immer es auch im Land meiner Träume stehen mochte,wurde abgehoben und eine dünne,abgehackte Frauenstimme fragte:
"......." irgendwas.Ich verstand kein Wort,erzählte aber munter auf englisch mein Problem.
Sie hörte mir geduldig zu und sagte:"......" irgendwas.Aber es war dem Englischen verwandt,da war ich mir sicher.So I said:"just a moment please" and gave the smartphone to the Indishman.Ich fühlte mich der Kultur und der Sprache des Landes so nah wie nie.
"Ich die Dame nicht verstehe.Können Sie....?"
Er nickte und übernahm das Handygespräch.Ich verstand wieder nichts,aber es war diesmal auch sicher kein Englisch im Spiel. Nach zehn Minuten,in denen die Wartenden hinter mir sich wahrscheinlich schon fragten,was sie an Schusswaffen und Messern dabei hatten,gab er mir mein Telefon zurück und verkündete:
"Alles klar.Sie müssen neues Visum bekommen."
Alles klar?War der noch ganz dicht?
"Und wie mache ich das,schnellstmöglich? "
Ich bin ein Meister der Selbstbeherrschung.Wusste ich so noch gar nicht.
"Die Frau hat gesagt,schickt Mail an sie mit Korrektur."
"Und woher hat sie..." meine Mailadresse?wollte ich sagen,aber die stand ja im Antrag.
Ok,dann konnte ich ja gleich die Mail auf dem Handy abrufen,ihm zeigen und ab gehts.
Ich erzählte ihm von diesem tollen Plan.
Stirnrunzeln konnte er gut.Bedächtig schüttelte er den Kopf.
"Nein,geht nicht so.Visum muss gedruckt sein."
Verdammt ,ich hatte doch tatsächlich meinen transportablen,zusammenfaltbaren 2D und 3D-Kombidrucker zuhause vergessen.Wie konnte ich nur,wo es doch in Flugzeugen mittlerweile üblich ist,sich eine Tageszeitung oder wenigstens einen kleinen Snack auszudrucken.
Ich traute mich kaum zu fragen....
"Haben Sie denn einen Drucker hier...irgendwo? "Ich schaute ihn durchdringend an.Man weiss ja nie,was in so einen weiten Anzug alles reinpasst.Grosse Chancen rechnete ich mir aber nicht aus,denn er sah noch vergesslicher aus als ich.
Hinter mir ertönte die Stimme eines..fast hätte ich "Mitreisenden" gesagt,was natürlich bis dato völlig illusorisch war.Er reiste,ich nicht!
"Probieren Sie es doch mal an dem Infoschalter da vorne,der hat bestimmt einen Drucker."
Ich sah nach hinten.Da stand ein eigentlich ganz freundlich aussehender junger Mann.Er schien seine Mordpläne zumindest vorübergehend aufgegeben zu haben.
"Danke,guter Tipp".Ich schaute auf die Uhr.Puuhh,das wird knapp,schon eine halbe Stunde verballert und noch nicht eingecheckt.
Ich hatte dreifach Glück.Am Infostand wartet niemand auf Infos,trotzdem war der Schalter besetzt und er hatte auch einen Drucker.Der Angestellte war froh,einmal so richtig herausgefordert zu sein.
"Schicken Sie mir mal ihre mail vom Handy rüber,dann kann ich ihnen das ausdrucken."
Er gab mir seine mailadresse.
Yessss!Endlich gings voran.Minuten später hatten wir es gemeinsam geschafft und ich hielt ein Blatt mit einer einwandfrei an mich gerichteten Nachricht einer indischen Behörde in der Hand.Der Spass hatte mich 10 Euro gekostet,das war der Tarif pro gedrucktem Blatt.Egal,Hauptsache,dass...
Aber,was war das?Ungefähr jeder fünfte Buchstabe des Textes war eine Art Hieroglyphe,ähnlich diesen skandinavischen Vokalen mit Kringeln drüber.Dadurch wurde der Inhalt der Mail etwas ...sagen wir mal...entstellt?Was würde mein indischer Partner dazu sagen?
"Geht so nicht"sagte er."Muss gut sein".
Dachte ich mir schon.Indien gilt ja als DAS Land der Perfektion.Wusste ich seit mindesten vierzig Minuten.Reisen bildet.
Infoschalter,die Zweite.Der Herr dort war so nett,mir das Ganze nochmals auszudrucken ohne mir weitere zehn Euro abzuknöpfen,was mein Vertrauen in die Menschheit wiederherstellte.Allerdings bestand sein Drucker darauf,wieder skandinavisch-ägyptische
Botschaften unterzupflügen,womit mir allerdings nicht gedient war.
Verflixt,dachte ich(wenn ich ehrlich bin,dachte ich:Verdammt,so eine Scheisse),das darf doch nicht wahr sein,auf dem Handy war die Mail tadellos.Mir kam eine Idee.
Der freundliche Flughafenangestellte bedauerte es inzwischen sichtbar,dass er diesen Job an der Infotheke angenommen hatte.Aber,nutzte ja nichts.da musste er durch und ich auch.
"Passen Sie auf,es könnte am Verschicken liegen.Lassen Sie mich bitte die Mail direkt auf ihrem PC aufrufen ,dann probieren wir es nochmal."Ihm war inzwischen alles recht.Er gönnte mir den Flug wie sonst niemand,da war ich sicher.
Und,was soll ich sagen?Es klappte!Einwandfrei!Ich hatte es geschafft,mir war die rettende Idee gekommen.Ich kam mir vor wie ein Pionier der Computertechnik.
Der Mann am Schalter war auch sichtlich erleichtert.Die zehn Euro erwähnte er erst gar nicht mehr,ich glaube,das Ganze war ihm auch etwas peinlich.Mit Recht,mein Lieber,mit Recht!!!
Stolz zeigte ich den Zettel am indischen Portal dem Pförtner vor.Er las es eine Minute und sah mich bewundernd an.Habe ich diese Augen schon einmal erwähnt?
"So ist gut".
Mit einer lässigen Handbewegung winkte er mich durch.5 Minuten später war ich eingecheckt.15 Minuten vor Abflug.Indien ,wir kommen.Beide!!
Der Flug verlief einwandfrei,ich muss sagen,dass -obwohl ich mein Visum nicht vorzeigte-das Personal sich tipptopp um alles kümmerte.Nur das Essen...sprechen wir nicht drüber.
In Delhi angekommen,mussten wir natürlich durch die Passkontrolle und durch die typische Einreiseprozedur,die besonders in Drittweltländern wie Indien oder den USA gerne zelebriert wird.Also kennt man das ja:vierzig imposante Schalter nebeneinander,von denen nur sieben besetzt sind und an denen lange Schlangen von Einreisewilligen auf den ersehnten Durchmarsch in das jeweilige Hoheitsgebiet warten.So war es auch hier,nur mit dem Unterschied,dass nur drei Schalter besetzt waren.
Schliesslich kamen wir dran.Eigentlich hatte ich erwartet,dass auch hier Beamte mit ehrfurchtgebietenden Uniformen sitzen würden,aber nein,unserer war ein schmales,unscheinbares Männlein in Zivil,der aussah wie ein Rentner,der sich noch etwas dazuverdienen wollte.Conny war zuerst dran.3 Minuten Computergehacke,dann durfte sie durch.Bei mir dann wieder dieses skeptische Stirnrunzeln ,als ich mein Visum vorzeigte.Das musste so eine Art Nationalsport sein.Nie habe ich es eindrucksvoller gesehen,als bei Indern.Ich hatte bisher aber noch nie besonders darauf geachtet und kannte auch nur wenige Inder mit Visumerfahrung.
Gut,einen Versuch war`s wert,ich dachte,er übersieht das Problem.Tat er nicht.Wie gesagt,Indien ist DAS Land der Perfektion.Also zündete ich Stufe zwei.Generös zückte ich mein wertvolles Computerblatt und legte es mit einigen erklärenden Worten hin,weil ich dachte,dass ich inzwischen eventuell besser Bescheid wüsste als ein Rentner,was man zur Einreise hier brauchte.
Er las es.Ganze 5 Minuten lang.Dann tippte er etwas auf seinem PC ein.Tippen ist vielleicht etwas zu viel gesagt,es war mehr so eine Folge von gut überlegten Einzelereignissen.Geschlagene 10 Minuten lang ging das so:lesen,kopfschütteln,tippen,auf den Bildschirm starren.Dabei schaute er mich weder an,noch wechselte er ein Wort mit mir.Ich bemerkte hinter mir eine leichte Unruhe ,drehte mich um und gab den abgebrühten Indienfachmann:
"Gehen sie am besten an einen anderen Schalter,das hier kann dauern".
Und so wars denn auch.Mein personal Rentner stand plötzlich auf und ging zehn Meter an der Schalterreihe entlang zu einem noch älteren Herren,der an einem kleinen Schreibtisch sass.Diesem flüsterte er etwas ins Ohr.Ich gehe davon aus,dass es etwas mit mir zu tun hatte,denn sie tuschelten lange und bemühten sogar den Computer des Kollegen,der offenbar hier die Oberaufsicht hatte.Nach wiederum zehn Minuten stand dieser auf und griff..... nach seinem Stock,der an dem Tisch lehnte.Ich hatte die beiden zwar die ganze Zeit beobachtet,begriff es aber erst jetzt:er war deutlich gehbehindert,schaffte es aber doch bis zu "meinem " Schalter innerhalb von 2 Minuten.Dort wurde wieder gemeinsam auf den Bildschirm gestarrt.Ab und zu ein kleiner Fingertipp auf die Tastatur,dann wieder Starren.Faszinierend,ich hatte solch gut eingespieltes Teamwork noch nie gesehen.Keiner überholte den anderen tempomässig.Drängeln war unindisch,das sah ich sofort.
Wahrscheinlich eine Errungenschaft aus der britischen Kolonialzeit.
Ich stand jetzt hier schon eine halbe Stunde,hinter mir stand niemand mehr,alle hatten auf mich gehört,es war herrlich leer,die anderen Warteschlangen allerdings deutlich gewachsen. Wenn ich jemals durch diese seitliche Barriere schreiten würde,gäbe es bestimmt einen enormen Run auf meinen vakanten Stehplatz.Vielleicht sollte ich eine Standgebühr verlangen?Von den ersten Drei?Langsam wurde ich ungeduldig,mit einer Prise Verärgerung und auch nervös.Schliesslich wurde ich von einem Reisebus irgendwo auf der anderen Seite der bürokratischen Hürden erwartet.Indien lechzte bestimmt schon nach mir.Conny war nirgends zu sehen,sie sagte bestimmt Bescheid,dass ich eventuell etwas später käme.Sie hatte ja keine Ahnung,was "später" in Indien bedeutete.
Ein bisschen keimte in mir der Verdacht auf,dass diese ganze Veranstaltung Absicht war.Wurde vielleicht ein kleines Bakschisch wegen der von mir verursachten Unannehmlichkeiten erwartet?Ich zwang mich,den Versuch der Bestechung sein zu lassen.Ich hatte ohnehin nur Euros dabei.Und mit Kreditkarte ging das wahrscheinlich nicht über die Bühne.
Was soll ich sagen?Satte 55 Minuten liessen mich die beiden schmoren,dann stempelte mein bisheriger Lieblingsinder energisch meinen Pass und winkte mich lässig durch.
Ab diesem historischen Moment wusste ich:das wird eine einmalige Reise.
Unser Rundreisebus kam übrigens 2 Stunden zu spät,weshalb mir niemand wegen der Verzögerung böse sein konnte.Wenigstens etwas!
Eines musste man diesem Land und dieser Reise lassen:alles war von Anfang an anders.
Wer schon einmal in Indien Urlaub machte und in einer Grossstadt war,weiss wovon ich spreche.Wenn man die Flugzeughalle ,in die nur wirkliche Reisende hineingelassen werden,verlässt,erschlägt einen die Hitze,der Lärm und vor allem die unglaubliche Masse an Menschen davor.Ein wahnwitziges Gewusel ohne erkennbaren Sinn und Zweck.Von Anfang an faszinierte es mich,dass diese Städte überhaupt irgendwie funktionieren.Schon verkehrstechnisch.
Was aber nicht funktioniert,ist die Infrastruktur.Toiletten und Beseitigung des Mülls,zwei Riesenprobleme.Indien ist übersät von Müll,etwa 25 Prozent der Menschen verrichten ihre Notdurft auf offenem Gelände und der religiöse Respekt vor Kühen,Affen,Schlangen und auch Ratten macht es auch nicht besser.Von weitem mag das malerisch und bunt-folkloristisch aussehen,aber das Land steckt in massiven Schwierigkeiten.Ich habe deshalb diesen Aufenthalt auch nicht wirklich als Urlaub angesehen,sondern als Studienreise der besonderen Art.Ich möchte diese Erlebnisse nicht missen,aber auch nie wiederholen.Ich finde,Indien ist ein verlorenes Land,zumindest,so lange sie die Bevölkerungsexplosion nicht in den Griff kriegen.Und danach sieht es nicht aus.
Insgesamt gesehen könnte ich allein von diesen drei Wochen ein ganzes Buch schreiben.
Im letzten Jahr,2019,inzwischen in Rente und daher besser betucht,planten wir dann,eine Cousine Conny`s,die mit ihrem Mann in Vancouver lebt,und uns schon seit Jahrzehnten zu sich eingeladen hatte,endlich zu besuchen.Immer haperte es an der Zeit.An unserer,versteht sich.Da es dort in den entsprechenden Jahreszeiten noch kälter ist als bei uns,musste diesmal der August als Reisemonat herhalten.Wir buchten also die Flüge und ein Auto für eine Rundreise,die wir nach etwa vier Tagen in Vancouver durch Westkanada machen wollten.Die Unterkünfte wollten wir je nach Reiseverlauf vor Ort buchen. Startflughafen war Frankfurt,von wo wir allerdings mit einem Anschlussflug erst nach Zürich sozusagen "zurückfliegen" sollten.Was unlogisch klingt,machte aber Sinn,denn wir hatten seit einigen Jahren zwei Papageien,die wir während unserer Abwesenheit ja irgendwo unterbringen mussten.Zuerst versuchten wir es bei einer Tierpension,die nicht ganz billig war,obwohl man den Käfig und auch das Futter mitbringen musste.Wir stellten aber fest,dass man sich die ganzen 4 Wochen nicht um unsere beiden Vögel gekümmert hatte,sie waren nicht ein einziges Mal aus dem Käfig gekommen.Seither übernahm den Job eine gute und zuverlässige Bekannte von uns,die sich über die Abwechslung und den Obulus,den sie dafür bekam ,freute.Da sie ohnehin auf halber Strecke nach Frankfurt wohnte,und meine ältere Schwester,Wilma, uns von Darmstadt aus zum Airport fahren konnte,sodass wir keine Parkgebühren hatten,bot sich diese Abflugdestination also an.So machten wir es also aus eben diesen Gründen eigentlich fast bei jeder Flugreise.
Abflugzeit war 6.15 morgens und wir waren deshalb über Nacht bei Wilma.Sie kutschierte uns frühmorgens um 4.00 Uhr zum Flughafen und wir verabschiedeten uns von ihr.
Es ging ans Einchecken.Viel los konnte um diese Uhrzeit noch nicht sein,also alles easy.Dachten wir.
Da nur ein Check-in-Schalter der Lufthansa geöffnet war und dann doch noch ein paar Unbeirrbare um diese Zeit nach Indien oder anderswohin fliegen wollten,standen wir doch 15 Minten an,nur um zu erfahren,dass wir mit unserem speziellen Kombi-Ticket an einen der Automaten müssten,um das Ganze selbst zu erledigen.Auch dort warteten wir 10 Minuten und mussten dann ,nachdem wir uns "eingearbeitet" hatten,feststellen,dass auf dem Touch-Screen bestimmte Buchstaben nicht eingegeben werden konnten.Am Nachbarautomaten kämpfte ein älteres Ehepaar auch mit Schwierigkeiten,die aber mit unserer Hilfe beseitigt werden konnten.Endlich gelang es ,uns für die beiden ersten Flüge einzuchecken.Das Gepäck ging allerdings extra ,weil es noch nicht bezahlt war und dazu mussten wir wieder an den vorherigen Schalter,das hatte man uns vorhin gesagt.Wieder 15 Minuten Wartezeit,nur um zu erfahren,dass gerade eben das Bezahlsystem abgestürzt sei und wir einen Stock höher an den eigentlichen Gepäckschalter müssten.Wie Dutzende andere auch.Inzwischen waren wir über eine Stunde auf dem Flughafen,ohne wirklich komplett eingebucht zu sein. Und wir standen und standen,denn sinnigerweise gab es auch hier nur einen Schalter.Aber,es wurde vollbracht....nach einer weiteren halben Stunde.
Nun aber ab zur Abflughalle.Auch bei der Sicherheitskontrolle eine lange Schlange,es war zum verrücktwerden.Unser Flug ging in 20 Minuten!Wir hatten gar nicht bemerkt,wie uns die an sich ausreichende Zeit weggestohlen wurde.
Schlussendlich rannten wir,zwei schwere Rucksäcke auf dem Rücken,zu unserem Gate,das sich-wen wunderts noch?-am äussersten Ende des Flughafengebäudes befand.Über neunhundert Meter Strecke!Schliesslich kam das letzte Terminal in Sicht.
Wir waren sowohl ausser Atem,verschwitzt als auch 3 Minuten zu spät und wurden mit den Worten empfangen:"Sind Sie Familie Ziegler-Crössmann?Ja?Wir warten schon die ganze Zeit auf sie.Leider ist der Flieger schon zu,Sie können nicht mehr mitfliegen".
Auf meine Frage hin,warum man uns nicht per Lautsprecher ausgerufen habe,antwortete der nette Mensch von der Lufthansa:"Das müssen wir nicht".Damit war der Fall erledigt.Unsere gesamten Flüge würden storniert,erfuhren wir dann beim Informationsschalter.Wir sollten aber noch auf unsere Koffer warten,die ja jetzt herrenlos im Flugzeug seien und noch ausgeladen werden müssten.Unser Transportmittel stand also noch weitere 15 Minuten 20 Meter von uns entfernt am Gate und wir durften nicht hinein.Seitdem mag ich die Lufthansa nicht mehr besonders,denn unsere Verspätung war ja irgendwie auch ihre Schuld.Gute Organisation und Kundendienst geht einfach anders.
Nach eineinhalb Stunden kamen unsere Koffer endlich auf dem Transportband zum Vorschein und ich rief meine Schwester an,dass sie uns wieder abholen könne.Sie hielt es für einen Scherz,aber irgendwie lachte dann doch niemand.
Kleine Anekdote am Rande:ihr Sohn und seine Frau sind Flugbegleiter bei der Lufthansa.
Ich hatte vor,ihren Wissenstand über ihren Arbeitgeber demnächst deutlich zu erweitern.
Zweite kleine Anekdote:wir wollten diese Reise dieses Jahr Ende Juni nachholen.Die Flüge waren seit Dezember 2019 gebucht,das Mietauto auch,Connys Cousine freute sich auf uns-hoffe ich wenigstens.
Rate mal,wie weit wir kamen?Kleiner Tipp:auf dem Flughafen waren wir erst gar nicht.
Und wir warten immer noch auf die Rückerstattung der Ticketpreise.
Air France,gaaannz dünnes Eis !

Wenn ich jetzt hier so sitze und über alles nachdenke,wundert es mich,was sich doch alles aus dem Dunkel der Vergangenheit wieder ins helle Jetzt herausführen lässt.Ein bisschen zerren muss man schon,aber dann ist es wieder da,klar und deutlich.Doch,ich habe schon einiges erlebt,das muss ich mir eingestehen,das hätte ich eigentlich nicht gedacht.Vielleicht nichts so Spektakuläres wie mancher Star,Politiker,Wirtschaftsmagnat,Fussballnationalspieler,Rennfahrer,Prinz,König oder Diktator.Aber auch Alltägliches kann befriedigend und spannend sein.Und damit verbringen wir ja schliesslich fast alle den Grossteil unseres Daseins.
Selbstverständlich hatten all diese Jahre auch ihre deutlichen Tiefpunkte,menschlich,
finanziell und auch allgemein,also zum Beispiel politisch oder durch Naturkatastrophen.All das macht nachdenklich.Dass die Menschheit nie zur Ruhe kommt,dass sie immer wieder sich selbst schadet,dass Vernunft nie die Oberhand behält,das beschäftigt mich zunehmend.Offensichtliche Dummheiten,Versäumnisse und der unsagbar sich ausbreitende Egoismus erschreckt und ärgert mich.Irgendwie kann ich mich nicht damit abfinden,dass das offenbar einfach dazu gehört,zur Natur des oder der Menschen.
Aber,wenn man altersbedingt einen gewissen Überblick über die vergangenen Jahrzehnte hat,muss man auch zugeben,dass es immer wieder gelungen ist,ganz Übles abzuwehren und normal Übles wieder geradezubiegen.Vielleicht ist das ja doch Grund zum Optimismus ,schliesslich geht es den meisten Menschen besser denn je zuvor.Nur merken es die,denen es am besten geht,nicht unbedingt.Dabei könnten sie ganz simpel eine Bestandsaufnahme machen und diese mit irgendeinem Drittweltland vergleichen,manchmal reichen dazu sogar die eigenen Eltern als Parameter.Vielleicht sollte man darüber öfter mal nachdenken und einfach mal schlicht zufrieden sein.
Ich für meinen Teil realisiere durchaus,wie gut es mir geht.Mir geht eigentlich nichts ab.
Unzufriedenheit wäre also völlig fehl am Platze.
Naja,sagen wir mal so:2020 und 2021 könnten durchaus einen schalen Geschmack hinterlassen.
Wegen der letztjährigen etwa 2 monatigen Grenzschliessung zwischen Deutschland und der Schweiz verbrachte ich diese ganze Zeit bei Conny und wir haben tatsächlich die Zeit nicht totschlagen müssen und uns hervorragend vertragen.Eine schöne Erfahrung.Dazu trugen auch viel die gemeinsam erledigten Aufgaben bei.
Es muss einem nur auffallen,dass das Haus auch aussen einen Anstrich vertrüge,dass alte Holzbalken nach dem Anstrich zum weiteren Schutz verkleidet werden könnten,dass die Fahrräder einen wetterfesten Unterstand gebrauchen.Und,man muss es einfach angehen.
Ausserdem hielten wir unsere zunehmend morschen Knochen durch tägliche Fahrradtouren in Schuss,die mich so fit machten,dass ich mit einem Freund 4 Tage lang über und durch die Alpen radelte.Alles in allem war es kein wirklich schlechtes Jahr.Für uns.
Natürlich gingen die besorgniserregenden Nachrichten nicht an uns vorbei.Wirklich Positives war ja lange nicht dabei.
Dennoch ging die Welt ja nicht unter.Aber vieles entlarvte sich.Selbst mir,mit meiner jahrzehntelangen Praxiserfahrung,in der ich tausende von Patienten kennenlernte,unzählige Gespräche führte,einige Freundschaften schloss,war entgangen,welch überaus seltsame Strömungen und Ansichten es in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt.Irgendwie verstehe ich da so einiges nicht.Vielleicht bin ich dazu auch nur zu alt.
Und wer weiss,was noch kommt?Wenn noch überhaupt was kommt?
Ich würde Udo Jürgens allzu gerne glauben,wenn er behauptet:
Mit 66 Jahren,da fängt das Leben an.......