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Meine Geburt fiel in eine schlechte Zeit. Es war der 18.08.1939. Zwei Wochen später, zu Kriegsbeginn, musste mein Vater schon einrücken. Der Traum der jungen Familie, sich eine eigene Existenz aufzubauen, misslang. Meine Eltern hatten in Dittelsdorf in der schönen Oberlausitz eine Metzgerei mit Gastwirtschaft gepachtet. Das Elternhaus meiner Mutter lag in Rohnau auf der heute polnischen Seite, 4 km entfernt von Dittelsdorf, dazwischen im Tal fliesst die Neisse. Die Oberlausitz ist eine schöne Feriengegend, in 10 km Entfernung erhebt sich das Zittauer Gebirge. Meine Grosseltern führten den damals berühmten Kretscham, ein Speiselokal mit Metzgerei, einigen Fremdenzimmern, Biergarten, Forsthaus und Kegelbahn, mit grossem Erfolg. Viele Berliner Gäste nannten es Sommerfrische.

Meine Mutter hatte 3 ältere Brüder, welche auch in den Krieg mussten. Der älteste Bruder war Musiker, er fiel schon nach kurzer Zeit. Kurz nach Kriegsbeginn übersiedelte meine Mutter mit mir zu Ihren Eltern in den Kretscham, um zu helfen. Mein Vater kam einmal auf Fronturlaub und 9 Monate später wurde meine Schwester geboren. Meine Mutter konnte immer die Pacht für das Haus in Dittelsdorf bezahlen, das wurde bald sehr wichtig. Der Krieg rückte immer näher. Als in 100 km Entfernung Dresden bombardiert wurde, war bei uns der Himmel rot.
Ständig kam ein Flüchtlingsstrom von Osten nach Westen. Aus dem Gebiet östlich von Neisse und Oder wurden alle Deutschen vertrieben, auch wir mussten 1945 fliehen. Jeder konnte nur mitnehmen, was er tragen konnte. Als wir mit vielen anderen Flüchtlingen zusammen den Berg nach Dittelsdorf hochgingen, wurden wir von russischen Tieffliegern verfolgt. Wir hatten Glück, dass wir das Haus in Dittelsdorf hatten, es war natürlich voller Flüchtlinge. Alle wurden aufgefordert, Vertriebene aufzunehmen. Meine Grosseltern mussten in Rohnau bleiben, Ihr Anwesen wurde zur russischen Kommandantur. Sie hatten dafür zu sorgen, dass es den Siegern gut ging. Das ganze Gebiet, ehemals Schlesien und Ostpreussen, wurde von Polen besiedelt.
Ein Jahr nach dem Krieg kamen meine Onkels aus dem Krieg zurück. Mein Vater kam erst 1948 aus russischer Gefangenschaft, in Lumpen und mit erfrorenen Füssen. Aber er wurde wieder gesund, Metzgerei und Gastwirtschaft wurden wiedereröffnet. Eines Abends kamen auch meine Grosseltern zu uns. 3 Jahre mussten sie die Russen bedienen, um dann mit erhobenen Händen durch die Neisse gejagt zu werden. Opa war 16 Jahre älter als Oma, er konnte das alles nicht verkraften und nach einem Jahr starb er. Mit Metzgerei und Gastwirtschaft waren meine Eltern sehr beschäftigt, wir hatten ein Dienstmädchen und einen Lehrling.

Als ich im September 1945 eingeschult wurde gab es fast keine Lehrer, sicher nicht für Erstklässler. Wir hatten ein junges Fräulein mit einem Abzeichen der kommunistischen Partei. Aber mit der Zeit hatten wir doch richtigen Schulunterricht. Unsere Klasse war die ganzen acht Schuljahre zusammen, es war eine schöne Gemeinschaft. Es gab 2 Schüler, die in die Oberschule konnten, für alle anderen musste eine Lehrstelle gefunden werden. Ich hätte gerne Köchin gelernt, aber das gab es nicht. In Zittau wurden Buchdruckerlehrlinge gesucht und ich habe angebissen. Für junge Frauen gefördert waren noch Dreherinnen, Traktorinnen, Strassenbauerinnen usw.
Fatalerweise hatte mein Vater beschlossen, die Pacht in Dittelsdorf aufzugeben, da er im weiter entfernten Bernstadt eine Metzgerei ohne Gastwirtschaft pachten konnte, und wir zogen um. Für mich war das nicht gut, denn Zittau – Bernstadt ist eine Entfernung von 20 km, und öffentlicher Verkehr war sehr kompliziert. Von Dittelsdorf nach Zittau wären es nur 8 km gewesen. Mein Vater hat mir ein Zimmer in Zittau gesucht und wir hatten Glück. Ein älteres Ehepaar, deren Sohn im Krieg gefallen war, hatte ein Bett frei. Es waren sehr liebe Leute. Wie damals üblich, gab es kein Bad, wir haben uns alle in der Küche gewaschen, das Klo befand sich im Treppenhaus. Fernsehen gab es noch nicht, am Abend wurde gelesen.
Am Samstagmittag nach der Arbeit fuhr ich mit Bahn und Bus nachhause. Die Zink-Badewanne stand schon in der grossen Küche, warmes Wasser war parat, und auf dem Herd stand ein Stapel Omeletten, die meine Oma für mich gebacken hatte, trotz des ständigen Betriebs im Laden. Am Montag morgens um 5 Uhr fuhr der Bus zur Bahn nach Zittau. Ich hatte immer Wurst und Speck für meine Schlummereltern dabei, das war die Abmachung. In den Graphischen Werkstätten waren wir 3 Buchdruckerinnen und 11 Setzerinnen.
Wir hatten einen guten Lehrmeister, wie mir an späteren Arbeitsstellen versichert wurde. Nach dem Lehrabschluss wurden wir alle überraschend «gegautscht», ein alter Buchdruckerbrauch, der in traditionellen Betrieben auch hier bis heute aufrechterhalten wird.

Ich hätte gerne in der DDR die Stelle gewechselt, um andere Gegenden, Arbeiten und Menschen kennenzulernen. In 3 verschiedenen Städten habe ich mich beworben, aber das war nicht üblich in der DDR, Wechsel war nicht Ziel der Planwirtschaft. 1957, nach einem Jahr als Gesellin, hatte ich die Idee, es müsste doch möglich sein, dass meine Schwester und ich während unserer Ferien, unseren blinden Cousin Rudi in Celle, Westdeutschland, besuchen und betreuen können. So stellte ich ganz naiv den Antrag für die Zugfahrten nach Celle. Ich wurde vor 5 verschiedene Ämter und Organisationen bestellt und getestet, aber ich war schon eine überzeugte Sozialistin, sodass wir die Fahrkarten erhielten. Wir selbst waren auch total überzeugt, dass wir nach 2 Wochen wieder nach Hause fahren.
Aber als wir im August 1957 in Celle aus dem Bahnhof kamen, die schönen Häuser und Geschäfte sahen, habe ich zu meiner Schwester gesagt: «Du, die haben uns belogen.» Wie schlecht es den Menschen im Kapitalismus gehe, es herrsche grosse Arbeitslosigkeit, Slogans wie «Wir kämpfen für den Frieden»: Das alles war die hohle Sprache der Ideologie. Uns sind die Augen aufgegangen.
Unser Cousin Rudi war völlig blind, aber er meisterte sein Leben wunderbar. Er war Telefonist im Krankenhaus, ihn kannten alle Ärzte und Schwestern und er kannte alle an der Stimme. Schon nach wenigen Tagen gingen wir zu einem Freund von Rudi, der eine Druckerei besass. Nach meinen Ferien konnte ich als Druckerin bei ihm anfangen. Meine Schwester fuhr allein nachhause. Sie war 2 Jahre jünger als ich, noch in der Ausbildung als Lehrerin und hatte schon einen Freund. Ich noch nicht. Mit Rudi machte ich viele Ausflüge mit einem Tandem. In Hamburg wohnten Verwandte von uns, die ich mit dem Fahrrad besuchte.
In der Druckerei druckten wir Adressbücher für viele deutsche Städte, unter Anderem Konstanz, die Welt war so schön. Ich schrieb 2 Druckereien in Konstanz an, Druckerei Jacob sagte sofort zu und besorgte mir sogar ein Zimmer. So zog es mich nach einem Jahr in Celle an den schönen Bodensee. Aber dass ich in die Schweiz ziehen würde hätte ich nie gedacht.
Anfang 1959 an einem Fastnachtsball lernte ich Armin, meinen späteren Mann kennen. Da wir beide aus der Ex-DDR stammen, haben wir uns sehr wohl gefühlt miteinander, heimelig! Armin war als Maler im Winter damals arbeitslos, so wartete er jeden Feierabend an der Druckerei auf mich. Kurze Zeit später fand er eine Stelle als Maler in einer Bootswerft in Gottlieben, Schweiz. Er hatte ein kleines Motorrad, mit dem wir schöne Ausflüge machten: Appenzell, Alpstein, Montafon. Er spielte in Konstanz im Postsportverein Tischtennis, wo sie eine gute Mannschaft hatten, und ich fing auch noch mit diesem Sport an. Wir hatten einen tollen Zusammenhalt im Verein, mit vielen gemeinsamen Aktivitäten.
Ich war immer schon gerne Velo gefahren, das fehlte mir etwas. Die Strecke von Konstanz bis Schaffhausen stellte ich mir sehr schön vor. Mit dem Motorrad ist das viel zu schnell, das ist besser für weitere Fahrten. Mein lieber Armin machte diese Tour mit auf unsern 3-Gang-Velos. Wir bestaunten den Rheinfall, Stein am Rhein und fuhren sogar auf Hohenklingen, und das Motorrad stand zu Hause. Da war mir klar, dass wir heiraten werden.
Mit meiner Familie hatte ich nur brieflich Kontakt, selten mal ein Telefon, Päckchen habe ich viele geschickt. Aber wir erhielten nie ein Visum nach Görlitz, um zu meiner Familie zu fahren. Darum hatte mein Vater den Plan, dass wir uns alle in Westberlin bei seiner Schwester treffen können, damit wir uns wiedersehen und alle Armin kennenlernen. Wir konnten eine Mitfahrgelegenheit buchen und fuhren bis Hannover, um von dort nach Westberlin zu fliegen. Wir durften ja nicht durch die DDR fahren. Meine Familie fuhr mit dem Auto nach Eberswalde bei Berlin, stellte das Auto dort ab und fuhr mit dem Zug nach Ostberlin, wo sie alle in die U-Bahn gingen. Diese hielt damals noch in Ost- und Westberlin. Nach dem Mauerbau 1961 gab es diesen letzten Fluchtweg nicht mehr, die U-Bahn brauste durch Ostberlin wie durch einen Tunnel. Von meiner Familie wollte niemand fliehen, sie wollten nur mich sehen und meinen Auserwählten kennenlernen. Das hat alles gut geklappt und wir feierten ein Fest in einer Gartenwirtschaft mit meinen Eltern, meiner Grossmutter, meiner Schwester und Ihrem Freund.
In Konstanz hatte ich ein möbliertes Zimmer und Armin wohnte noch bei seiner Mutter in winzigen Dachkammern. Wir suchten eine Wohnung, aber in Konstanz herrschte Wohnungsnot. Bei einem Gespräch mit seinem Chef in Gottlieben sagte Armin, dass wir gerne heiraten wollten, aber keine Wohnung fänden. Der Chef sagte eine Wohnung hätte er für uns, die jetzigen Mieter passten ihm nicht, wir müssten sie aber renovieren. Nichts taten wir lieber. Mit viel Freude renovierten wir die 3-Zimmer-Wohnung und Küche mit Badewanne. Das Haus liegt direkt am See-Rhein in Gottlieben und ist bis heute erhalten, inzwischen eine luxuriös renovierte Liegenschaft. Armins Arbeitsweg war 300 Meter. Ich wechselte auch meine Arbeitsstelle in die Schweiz, nach Kreuzlingen zur Druckerei Bodan. Ich glaube ich war die erste Buchdruckerin in der Schweiz. Mein Arbeitsweg war etwas länger als Armins, aber ich fuhr immer mit dem Velo, später mit dem Velo Solex. Wir waren sehr glücklich. Als wir das erste Mal Miete zahlen mussten, erfuhren wir den Betrag: 60 Fr.
Mit der Integration in Gottlieben hatten wir keine Probleme, es ist ein sehr weltoffenes Dorf. Uns hat es viel besser gefallen als in Konstanz, dort waren wir die Flüchtlinge aus dem Osten, die nicht so beliebt waren, sie nahmen Arbeitsplätze und Wohnungen weg. Wir hatten aber auch viele gute Freunde durch den Tischtennissport. Damit wir nicht so lange als lediges Paar zusammenlebten, planten wir unsere Hochzeit, aber es gab nicht viel zu planen. Mit Armins Mutter und einem Tischtennisfreund als Trauzeugen gingen wir auf das Standesamt in Konstanz, und anschliessend zu viert ins Restaurant Hecht gegenüber zum Essen. Danach machte das frischvermählte Paar seine Hochzeitsreise per Schiff auf die Insel Reichenau. Das Datum war Donnerstag, der 10.08.61. Am Samstag 12.08.61 heiratete meine Schwester 700 km entfernt von uns mit einem grossen Fest, sie haben für uns mitgefeiert.
Mein Vater hat nie vergessen, was der Pfarrer in seiner Predigt an jener Hochzeit sagte: «Denn man weiss nicht, was morgen ist.» Am nächsten Tag stand die Mauer, noch in der Nacht wurde überall mit dem Bau begonnen. Unsere Trennung wurde noch unüberwindlicher. Aber meine Eltern waren froh, dass es uns gut ging im «feindlichen Ausland». Wir wussten das alles sehr zu schätzen, Gottlieben war jetzt unsere Heimat, wir spürten, die Menschen hier sind ähnlich denen in der Oberlausitz, meiner alten Heimat: zuverlässig, ruhig, bescheiden und solide.
Als im Winter 1963 die Seegfrörni kam, konnten wir nicht begreifen, wie so ein grosser See völlig zufrieren konnte. Wir druckten das Thurgauer Tagblatt in der Bodan, so dass wir immer informiert waren über alle Fortschritte, die das Eis machte, alle Sensationen: mit Autos über den See und mit Pferden. Sogar eine Prozession auf dem Eis gab es: von Münsterlingen nach Hagnau mit riesigen Menschenmassen.
Im Februar 1963 war ich im 5. Monat schwanger, als ich mit dem Solex stürzte. Ich fuhr über Mittag immer heim nach Gottlieben, wo mein Mann schon mit Essenkochen anfing. Es war eisig kalt, alles gefroren aber trocken. Als ich in Gottlieben beim Restaurant Drachenburg um die Kurve in die Seestrasse fuhr: ein Eisspiegel wegen eines Wasserrohrbruches. Ich krachte aufs Eis und rutschte, bis mich ein Balken aufhielt, bevor ich in den Rhein fiel.
Wir hatten dann keine Freude mehr am Eis. Aber meinem Baby hat es nicht geschadet. Unsere Karin wurde am 11.06.1963 in Münsterlingen geboren. Die Senior-Chefin im Betrieb meines Mannes, Frau Brunner, wohnte 2 Häuser neben uns, sie hatte sich anerboten mich ins Spital zu fahren, da wir nur das Motorrad hatten. Frau Brunner war dann 3 Jahre später noch mal zur Stelle, als unsere Karin mit dem Trottinette in den See-Rhein gefallen ist und noch nicht schwimmen konnte. Wir hatten immer Glück!
In Gottlieben lebten wir sehr beschaulich. Wir hatten einen kleinen Garten, wo wir mit viel Freude Gemüse anbauten. Im Nachbarort Tägerwilen trat ich dem Damenturnverein bei, so lernte ich viele sehr nette junge Frauen kennen, wir machten schon damals Joga. Einige Nachmittage pro Woche fuhr ich mit dem Velo und Karin im Körbli zu einem Bio-Gemüsebauer nach Tägerwilen, um auf dem Feld zu helfen.
Wir haben dann wieder eine Visaanfrage gestellt nach Görlitz. Plötzlich erhielten wir noch im Herbst 1963 das Visum, wahrscheinlich weil wir jetzt in der Schweiz wohnten. Im ersten Moment kam es uns ungünstig. Wir hatten nur ein Motorrad und ein viermonatiges Baby. Aber ich war 6 Jahre nicht zu Hause, und wir entschieden uns für die Fahrt. Die Oma in Konstanz, Armins Mutter, freute sich, Ihren Sonnenschein zu hüten.
Mein Vater hatte in der Zeit um 1960 in der Altstadt von Görlitz ein 3-stöckiges Haus gekauft mit Laden und Schlachterei. Er war ein guter Metzgermeister und hatte immer eine eigene Metzgerei geführt. Aber er erhielt keine Genehmigung für eine Eröffnung, und zwar «aus Gründen die wir Ihnen nicht nennen können». Ich habe mir schon Gedanken gemacht, ob meine Flucht der Grund war, aber meine Eltern machten mir nie Vorwürfe, keinen Ton.
Sie durften dann eine HO[1]-Metzgerei leiten, das haben sie auch gerne gemacht, aber es war trotzdem etwas anderes. Sie haben uns verwöhnt, da es damals noch viel zu kaufen gab. Wir mussten uns auch immer auf der Polizei melden und durften den Kreis nicht verlassen, nur zur Reise. Auf der Rückreise machten wir noch Station in Lichtenstein in Sachsen, Armins Heimat. Er hatte nur noch eine Tante und Familie dort, aber für ihn war es schön, Erinnerungen aufzufrischen, er war schon 1952 geflohen. Als wir über die Grenze zurück nach Westdeutschland fuhren, haben wir uns wieder entspannen können, sogar die Luft war spürbar besser, die Heizungen mit Braunkohle verpesteten die Luft im Osten.
1965 kauften wir ein BMW-Motorrad mit Seitenwagen, damit waren wir zu dritt mobil. So konnten wir dann 1966, wieder mit Visum, meine Eltern in Görlitz besuchen.
1968 wurde meine Mutter sehr krank. Mein Vater schrieb, er habe einen Antrag für eine Besuchserlaubnis gestellt, damit wir sie noch mal lebend sehen können. Wir waren schockiert. Mit der Reisebewilligung sind wir an die Zonengrenze gefahren, aber es gab einen totalen Reisestopp. Wir hatten unschöne Streitereien mit den Grenzern, aber wir mussten die Strecke, 450 km, wieder zurückfahren. Es war so stürmisch, es hat uns fast den Kopf abgerissen.
Nach zwei Tagen kam die Nachricht von meinem Vater: «Mutter gestorben, zur Beerdigung dürft Ihr einreisen.» Als wir wieder an der Grenze waren, gab es erneut Probleme. Nach 3 Stunden durften wir weiterfahren, nach 10 km kam wieder eine Kontrolle: bitte folgen Sie uns. In einem Konvoi mit noch anderen Autos ging es runter von der Autobahn in einen grossen Gutshof. Alle mussten ihre Papiere abgeben. Nach Stunden hiess es: Wer zurückfahren will erhält seine Papiere und darf fahren, wer weiter will bleibt hier. Mein Mann hat sich sehr aufgeregt: am Tag darauf war ja die Beerdigung. Er hat sich unsere Pässe geben lassen und gesagt, «wir fahren zurück».
Wieder auf die Autobahn und wieder Kontrolle, dort war ein netter Grenzer, der uns schon vor 2 Tagen abgefertigt hatte. Nach einem langen Telefon sagte er zu uns: Sie dürfen jetzt weiterfahren, die nächste Kontrolle ist informiert. Dort müssen Sie die Autobahn verlassen. Sie dürfen bis Görlitz fahren, aber nicht auf der Autobahn. Es war sehr mühsam: der Zustand der Strassen war sehr schlecht und das alles nachts. Frühmorgens zwei Uhr sind wir in Görlitz angekommen, gleichentags 10 Uhr war die Beerdigung meiner Mutter. Nachher erfuhren wir, an diesem Tag, dem 21.08.68 hat das Militär des Warschauer-Paktes (auch DDR) den Aufstand der Tschechen in Prag niedergeschossen. Die Autobahn wurde für die anrückenden Truppen nach Prag gebraucht.
Nach dieser Reise haben wir uns entschlossen, ein Auto zu kaufen.
[1] HO: Handelsorganisation, staatlicher Betrieb, der gesamte Detailhandel war staatlich geführt.

Bei einem Besuch der alten Kollegen in der Druckerei Bodan hat mir der Leiter der Buchbinderei angeboten, in Heimarbeit Seidenpapier in Fotoalben zu kleben. Die Fotoalben waren damals ein gutes Geschäft. So fand ich wieder einen kleinen Einstieg in diese Branche. Armin war mit seiner Arbeit in der Werft nicht mehr so glücklich. Dadurch, dass fast keine Boote mehr selber gebaut wurden, gab es weniger Malerarbeit, sondern mehr Putzarbeit. Er konnte dann in Tägerwilen bei einer Ladenbaufirma als Maler anfangen.
Das bedeutete, dass wir uns eine neue Wohnung suchen mussten. Per Zufall hatten wir wieder Glück. Ich besuchte in Kreuzlingen unsere ehemaligen Nachbarn, er war frisch pensionierter Zöllner. Als ich erwähnte, dass wir eine Wohnung suchen, sagte sie: In der alten Villa gegenüber sind jetzt 2 Wohnungen frei. Wir haben uns beworben und die obere Wohnung erhalten. Wir mussten wieder einiges renovieren, aber wir haben uns sehr gefreut. Am 10. 10. 1970 sind wir nach Kreuzlingen gezogen.
Unsere Tochter war vorher schon ein halbes Jahr in Gottlieben zur Schule gegangen, aber in der Klasse im alten Quartierschulhaus Rosenegg gefiel es ihr auch sehr gut. Mir hatte es am Anfang nicht so gut gefallen in Kreuzlingen; wenn man in Gottlieben aus dem Haus ging, traf man immer Bekannte, alle waren immer sehr nett. Das ist der Unterschied zwischen Stadt und Land, in der Stadt kennt man sich nicht. Armin gefiel es gut in der neuen Firma.
Es war die Zeit des grossen Tennisbooms. Unsere Tischtennisfreunde in Konstanz gingen alle zum Tennis. Uns kam wieder der Zufall zu Hilfe. Der neu gegründete Tennisclub Bernina in Steckborn suchte Mitglieder. Nach kurzem Schnuppern sind wir dort beigetreten. Ein Clubmitglied gab uns Trainerstunden für 8,- Fr. pro Stunde. Armin hatte gutes Ballgefühl, er konnte sofort mit allen spielen. Ich kam nicht so viel dran, Frauen sind anders.
Als ich von der Druckerei Bodan wieder Heimarbeit erhielt, fragte man mich, ob ich nicht in der Druckerei aushelfen könnte. Ein Arbeiter sei schon über ein halbes Jahr krank und die Aufträge stapelten sich in der Druckerei. Erst habe ich gedacht ich habe alles verlernt. Aber dem war nicht so. Ich war richtig motiviert, so viele Firmen hatten schon lange auf Ihre Drucksachen gewartet. Halbtags kann man viel leisten.
1973 hat sich Armin entschlossen, die Malermeister-Schule in Rapperswil-Jona zu absolvieren. Mit meinem Halbtagslohn als Druckerin konnten wir uns das gut leisten. Er war 1 Jahr lang nur am Wochenende zu hause. In diese Zeit fiel auch die Gründung des Tischtennisclub Kreuzlingen. Mir kam das sehr gelegen, ich war von Anfang an dabei. Armin hat nach einem Jahr mit Theorie und Praxis die Prüfung als eidg. Dipl. Malermeister bestanden. Er hat sich sofort selbständig gemacht, einige kleine Aufträge hatte er schon, aber es war Rezession und das heisst, mehr Freizeit als nötig. Die Wohnung war sehr günstig für uns, nicht nur wegen dem Mietzins, vor allem konnte sich Armin im Keller eine kleine Werkstatt einrichten.
Beim Mittagessen hatten wir ein neues Hobby: wir spielten immer die Emil-Kassetten ab, so lernten wir Schwyzerdütsch. Unsere Tochter war unsere Lehrerin, sie konnte das schon perfekt durch den Kontakt mit anderen Kindern. Die Schule war überhaupt ihr Hobby, sie hatte keine Probleme. Als sie in die 3. Klasse kam, fragte ich ihren Lehrer wie sich Karin mache, und er sagte, er habe es gar nicht gerne, wenn ein Kind mit nur Sechsern zu ihm kommt.
Am Ende des Schuljahres war es etwas besser. Ich finde auch, ein Kind sollte sich noch verbessern können. Jeden 2. Samstag ging sie immer zu Ihrer Oma nach Konstanz, sie machten viel Handarbeiten miteinander. Im Jahre 1975 starb die liebe Oma ganz plötzlich.
1976 wurde mein Vater Rentner, somit durfte er uns das erste Mal besuchen. Er kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Wir fuhren auch nach Tschierv im Münstertal, weil Karin dort im Blauringlager war. Die Berge, überhaupt die Landschaft ist für uns auch immer wieder schön.
Aber Tennis war schon unser Lieblingssport, Armin spielte auch Thurgauer Meisterschaften mit, für unseren Club in Steckborn. Mein Abteilungsleiter, der für Kreuzlingen spielte, fragte mich: wie kann das sein, das ein Rossbach aus Kreuzlingen für Steckborn Thurgauer Meisterschaften spielt. Ich sagte, das ist mein Mann, wir sind in Kreuzlingen auf der Warteliste. Dann wurden wir bald im Kreuzlinger Tennisclub aufgenommen. Die Fahrerei nach Steckborn wurde uns sowieso zu viel. Armin hatte mit dem Geschäft inzwischen viel Arbeit, und für mich war es super, ich war von den Frauen hier im Tennisclub ganz begeistert. Ich konnte auch zwischendrin mit dem Velo für eine Stunde Tennis spielen gehen. Wir hatten auch in Steckborn gute Kontakte, mit einem Ehepaar sind wir noch heute befreundet.
Mit Armins Geschäft hatte sich das so entwickelt, dass er mich immer öfter fragte, ob ich ihm am Nachmittag helfen könnte. Erst hatte er gedacht, dass die Kundschaft das komisch findet, wenn seine Frau ihm hilft. Aber es war nicht so, die Leute fanden das gut. Wir konnten auch gut zusammenarbeiten, mir gefiel der Kontakt mit den Leuten, und wir hatten sehr gute Kundschaft. So kam es, dass ich in der Bodan kündigte und Hilfsmalerin wurde. Aufs Jahr gesehen, war es für mich auch eine Halbtagsstelle.

Durch das Tennisspielen hatten wir viele gute Freunde, mit denen immer an Abstimmungen diskutiert wurde, nur leider durften wir nicht abstimmen. Unsere Tochter ging in die Kantonsschule und wollte danach studieren, also entschlossen wir uns, den Antrag auf Einbürgerung zu stellen. Chef der Einbürgerungskommission war ein Lehrer unserer Tochter, der uns einen Besuch abstattete, auch die mündliche Prüfung haben wir bestanden. Wir sind seit 1981 stolze Schweizer Bürger.
In Kreuzlingen wollten wir auf alle Fälle bleiben. Finanziell hatte sich unser Geschäft so entwickelt, dass wir uns nach Land umsahen. Im gleichen Quartier ein Stück weiter oben fanden wir schönes Bauland. Ein Architekt vom Tennisclub Steckborn der uns ab und zu Malerarbeiten gab, baute derzeit ein Haus für unsere Freunde in Steckborn. Wir gingen zusammen unser Land anschauen, es ging nicht lange, da hatten wir schon einen Plan. Ich wollte nicht so ein grosses Haus, aber er meinte: ein kleines Haus ist gleich teuer wie ein grosses.
Für meinen Mann war eine grosse Werkstatt wichtig, der Architekt hat das so gelöst, dass wir die angrenzende Garage auch noch als Werkstatt nutzen können. Auch draussen auf dem Hof haben wir noch Platz. Nach reiflicher Überlegung waren wir sehr überzeugt von dem Plan. Im August 1982 konnten wir mit dem Bau beginnen und im März 1983 sind wir schon eingezogen. Das Gerüst stand noch, es sollte alles austrocknen und dann im Sommer haben wir erst isoliert. Wir sind immer noch sehr zufrieden mit unserem Haus, es hat noch keinen Bauschaden, keinen Riss. Jetzt, im Alter, wäre es für uns einfacher, hätten wir ein kleineres Haus, aber wir wollen trotzdem nicht weg. Seit dem Bau haben wir auch einen Gemüsegarten, der liegt uns immer noch sehr am Herzen. Alles ohne Spritzmittel und chemischen Dünger, nur mit eigenem Kompost!
Unsere Tochter hat 1982 die Matura gemacht. Sie ging an die Uni Genf und studierte Übersetzerin. Sie hat mit 3 Fremdsprachen abgeschlossen: englisch, französisch und spanisch. Sie sagt immer, das Sprachtalent habe sie von mir geerbt – nur konnte ich ausser Russisch keine Fremdsprachen lernen damals. Grammatik und Orthographie waren mir immer sehr wichtig im Beruf, und heute verstehe ich sehr viel, wenn in anderen Sprachen gesprochen wird. Leider hatte man damals die Möglichkeiten nicht.
Mein Vater war im neuen Haus zu Besuch bei uns, und ist bald danach plötzlich 1986 gestorben. Wir waren an der Beerdigung das letzte Mal vor dem Mauerfall in der DDR, und mussten feststellen, dass sich die Lage sehr verschlechtert hatte. Es gab nicht mehr viel zu kaufen, die Metzgereien waren fast leer. Die Häuser konnten nicht renoviert werden, mussten abgestützt werden, dass sie nicht einfallen. Meinen Lehrbetrieb besuchten wir auch, und ich musste sagen: Ihr habt hier das reinste Museum. In der Druckerei Bodan in Kreuzlingen wurde in der Zwischenzeit der ganze Maschinenpark erneuert, manches sogar schon zweimal. In Zittau hatten sie noch alle Maschinen wie zu meiner Lehre, und schon damals waren einige alt.
Im August 1989 hatte ich meinen 50. Geburtstag, aus diesem Grund durfte meine Schwester uns das erste Mal besuchen, Ihr Mann nicht. Genau zu jener Zeit begann es mit den Demonstrationen in Leipzig. Viele DDR-Bürger reisten nach Ungarn mit der Hoffnung auf Ausreise nach Österreich, auch nach Prag. Wir staunten nur und konnten es kaum glauben, meine Schwester war froh, als sie nach 2 Wochen wieder nachhause konnte, wir hatten Angst, es könnte Krieg geben.
Die Menschen merkten sofort, als Herr Schabovski bei einer Pressekonferenz im Politbüro am 3. Oktober von der Aufhebung der Reisebeschränkung nach dem Datum gefragt wurde, und er sagte: «Meines Wissens sofort», das bedeutete die Freiheit! Noch in der Nacht strömten die Menschen von Ost nach West, hauptsächlich in Berlin. Wir alle haben Freudentränen vergossen. Auch meine Nichte, die Tochter meiner Schwester, floh damals in den Westen, Sie lebt seitdem in Mannheim.
Wir nahmen alle an, dass nach ungefähr 5 Jahren kein Unterschied mehr zwischen Ost und West bestehen würde, aber es ist ein sehr schwerer Prozess. Sehr deutlich ist zu sehen, dass mit grossem Elan Städte und Dörfer renoviert wurden, auch privat. Görlitz war schon 5 Jahre nach der Wende nicht mehr wiederzuerkennen. Es ist eine wunderschöne Stadt geworden. Mein Mann und ich sind 1995 mit unserem neuen grossen Reisemotorrad 4 Wochen durch ganz Deutschland gefahren, viele schöne Orte, die wir noch nicht gesehen hatten, auch Celle, Lüneburg und Ratzeburg, an der Ostsee blieben wir eine Woche, dann Görlitz und Lichtenstein in Sachsen.
Auch nach Polen fuhren wir, um Rohnau zu suchen, aber dort ist jetzt nur noch eine Mondlandschaft, alle Ortschaften sind dem Braunkohleabbau zum Opfer gefallen. Als wir in Meersburg von oben den Bodensee und die Schweiz wiedersahen, haben wir angehalten und gesagt: «So schön war es nirgends.»
Seit 1991 ist unsere Tochter wieder in der Schweiz, Sie war als Delegierte vom IKRK in Peru, und hat dort einen Peruaner geheiratet. Lange arbeitete sie mit ihren Sprachkenntnissen für eine französische Bank, später hat Sie noch ein Studium gemacht und mit dem Master in Personalarbeit abgeschlossen. 1992 wurde unser Enkel Camilo geboren und 7 Jahre später unsere Enkelin Melody.
Erst wohnte die Familie in Wallisellen, seit 2012 nicht weit von uns entfernt in Landschlacht, wo sie ein älteres Haus kaufen konnten. Wir sind froh, dass Sie jetzt in unserer Nähe wohnen, man kann sich doch eher treffen. Unsere Tochter arbeitet weiterhin im Personalbereich, und der Schwiegersohn macht Hausmann. Unsere Enkel versuchen, ihrem Leben Strukturen und Ziele zu geben, und wir hoffen, im Alter können sie so zurückblicken wie wir: manchmal muss man kämpfen, manchmal Glück haben, es ist alles ein Fluss.
Unser Fluss kommt langsam an sein Ziel, seit 20 Jahren sind wir pensioniert, zum Glück ohne grössere Krankheiten und doch werden die Radien immer kleiner. Wir schätzen uns glücklich, dass wir in einem Quartier wohnen wie ein Dorf, man kennt sich! Wenn wir unser Haus und den Garten noch einigermassen in Schwung halten können, kann es so weitergehen.