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(1)

Unter dem abgeschrägten Dach des Meditationsraums lagerte Stille. Nicht einmal die beiden Kerzenflammen rührten sich. Ihr Schein erweckte das goldene Antlitz des Buddhas auf dem kniehohen Altar zum Leben. Seine Augen standen offen. Er lächelte nicht wirklich. Die machtvolle Ausstrahlung, die von ihm ausging, entsprang vielmehr der Präsenz seiner Haltung.
Da ich eher an Buddhas mit geschlossenen Augen gewöhnt war, bereitete mir dieser Buddha Unbehagen. Ich fühlte mich von ihm beobachtet, schutzlos. In seiner Gegenwart fehlte mir die Empfindung von Geborgenheit, die mich üblicherweise an Buddhas anzog. Ich konnte mich nicht unwillkürlich in die Stille fallen lassen, die von diesem Buddha ausstrahlte. Die Stille entsprang nicht Entrücktheit. Der Blick durchdrang mein Sehnen nach emotionaler Preisgabe schonungslos. Er legte es in einem Mass bloss, das mir Angst einflösste. Emotionale Preisgabe war nicht, worum es ging. Ganz offensichtlich nicht. Ich wurde durch und durch geröntgt – und es hätte gnadenlos wirken können, wäre da nicht gleichzeitig diese Haltung bar jeden Urteils gewesen.
Je mehr ich die Scheu überwand, dem vor mir Thronenden ins Angesicht zu schauen, desto mehr strömte der Ausdruck von Güte. Von bedingungslosem Mitgefühl in mich hinein. Ich spürte meinen Körper in jeder Zelle. Ich spürte das Pulsieren. Das Vibrieren meines Lebendigseins in jeder Zelle. Das war nicht neu für mich. Doch dass es durch diese Präsenz geschah, machte es neu. Ich liess es zu. Und je stärker es wurde, desto langsamer und feiner floss mein Atem. Ausatem und Einatem vereinigten sich zu einem Strom. Ich war nicht da: niemand war mehr da, der atmete. Es geschah aus sich selbst. Atem geschah durch mich. Ich war das Instrument dafür. In mir dröhnte es wie in einem Hochleistungstransformer. Die Zeit stand still.
Als mich der Abt später fragte, ob mir der Buddha gefallen habe, teilte ich ihm mein anfängliches Befremden mit. Er kicherte sein zwitscherndes Thai-Lachen, das so ansteckend wirkt, und verlautete gedehnt: „Ja“. Sein Blick durchforschte meinen Blick. Ich hielt stand. Denn ich wollte gesehen werden. Mit jeder Faser meines Seins wollte ich gesehen werden. Ich erkannte den Meister im Blick des Abts. Denn einen solchen brauchte ich nun. Und ich war bereit, ihm vorbehaltlos zu vertrauen.
Nach einer Weile bemerkte der Abt: „Ich sehe, du hast schon viel in dir gearbeitet“. Worte, die einen Feuerstrom durch meinen Körper sandten, Tränen in meine Augen trieben.
Der Abt sass in etwa drei Metern Entfernung im Lotossitz auf einem schwarzen Ledersofa im Eingangsbereich des Mönchshauses. Ich selbst kauerte auf einem Sessel ihm gegenüber - als lautlos ein zweiter Mönch herbei schwebte und mich in gebrochenem Englisch fragte, ob ich Wasser, Tee oder Kaffe möchte. Verwirrt stotterte ich, ich bräuchte nichts von alledem. Doch der Mönch hakte geduldig nach. Und so entschied ich mich für Tee, dankbar für diesen Moment von Alltäglichkeit.
Ich hatte während Jahrzehnten mit Lehrern in verschiedenen Schulen gearbeitet. Es war mir wichtig, Schulen unterschiedlicher Richtungen, unterschiedlicher religiöser Hintergründe kennen zu lernen. Ich scheute mich vor Eingleisigkeit und der oft damit einhergehenden Abhängigkeit. Ich war auf der Suche nach dem, was allen Traditionen innewohnt, was allem Leben zugrunde liegt – jenseits dogmatischer Ansichten und Meinungen. Deshalb wollte ich die Essenz wenigstens der grossen Weltreligionen kennen lernen.
Zum Zeitpunkt meines ersten Besuchs beim Abt des Thai-buddhistischen Klosters in Gretzenbach in der Schweiz, hatte sich mein langjähriger Sufi-Meister aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seine Schule und die in verschiedenen Ländern existierenden Gruppen bestanden zwar noch. Man arbeitete weiterhin miteinander. Doch mir genügte das nicht. Ich wollte direkt von der Quelle trinken. Also brauchte ich einen Lehrer, mit dem ich in unmittelbaren Kontakt treten konnte. Zudem wünschte ich mir kompetente Führung in Meditation.
Zu diesem Zweck war ich zu verschiedenen Klöstern, die Meditationsmöglichkeiten anboten gefahren, hatte sie besichtigt und mich dort umgehört. Zu Beginn dachte ich an Zen-Meditation. Doch der Weg zum entsprechenden Ort war zu weit.
Ich suchte auch christlich orientierte Orte auf. Doch es zog mich zweifellos in die buddhistische Richtung. Mein grösster Wunsch war es, ein buddhistisches Kloster irgendwelcher Ausrichtung zu finden. Das tibetische Kloster in Rikon bot sich an. Aber auch dorthin war der Weg zu weit. Regelmässige Kursbesuche wären unmöglich gewesen.
Entmutigt durch mein fruchtloses Umherfahren, Nachfragen und Herumtelefonieren warf ich eines Tages beim Mittagessen die Bemerkung auf den Tisch: „Wenn doch nur in unmittelbarer Nähe ein buddhistisches Kloster materialisiert werden könnte.“ Mein Mann schaute mich fragend an, und ich erklärte ihm weshalb. Bis dahin hatte ich das Suchen verheimlicht. Er lachte und entgegnete: „Nichts leichter als das: es gibt doch eines, eine knappe halbe Stunde von hier.“ Ich war platt.
Ich rief umgehend im Kloster an. Die Verständigung gestaltete sich schwierig. Keiner der Mönche sprach Englisch, geschweige denn Deutsch. Man verband mich deshalb mit dem Abt, mit dem Verständigung gelang. Er lud mich zu einem Gespräch für den darauffolgenden Nachmittag ein.
Meine Gedanken liefen Amok. Glühende Angst überfiel mich. Worauf liess ich mich ein? Und was, wenn ich mich daneben benahm, tapsig wie ein Elefant? Einfältig und respektlos – hatte ich doch keine Ahnung von buddhistischen Gepflogenheiten.
Die Neugier auf Neues und Ungewöhnliches überwog zu guter Letzt: aus Panik von der Erde herunterzufallen, ginge sowieso nicht. Also erschien ich zum vereinbarten Zeitpunkt an der Klosterpforte: die gesammelte Überheblichkeit meiner zahllosen spirituellen Lehrjahre im Gepäck.
Zwar wusste ich, es gebe in der spirituellen Arbeit weder etwas zu erreichen noch zu gewinnen. Doch der Wahn, mithilfe von Meditation meinem Schicksal ein Tröpfchen Nektar mehr, ein Quäntchen zusätzlichen Glanzes abzutrotzen, geisterte noch hie und da durch meine Träume. Die Gier schlug im Verborgenen Purzelbäume!
Zudem steckte ich beziehungs- und jobmässig in der Krise, wollte ausbrechen, dachte an Scheidung, an Auswanderung – nach Amerika zu Freunden, bei denen ich nochmals bei null anfangen könnte: ein Irrglaube, klar - den ich dennoch, halb ängstlich, halb stolz dem Abt kichernd mitteilte. Er lachte über den „Scherz“. Ein Stein polterte von meinem Herzen, denn genaugenommen wollte ich gar nicht abhauen. Dafür brauchte ich seine Bestätigung. Das Gefühl, an der Enge meiner Situation zu ersticken werde sich geben, tröstete der Abt. Er lud mich fürs Wochenende ins Kloster: eine befreundete Thailänderin weise mich in die Technik der Sitz-, der Steh-, der Geh- und der Liegemeditation ein.
Besucher umringten den Abt, als ich im Kloster ankam, wollten ihn sprechen, erbaten seinen Rat, den Segen, überreichten Spenden. Doch zuerst warfen sie sich auf Knien dreimal vor dem Buddha, dann vor dem Abt, der im Lotossitz auf einem niedrigen Diwan sass zu Boden, berührten die Erde mit der Stirne, vor die sie die gefalteten Hände führten. Aus Filmen kannte ich solche „Niederwerfungen“. Ich machte sie nach, so gut ich konnte. Und ich konnte sie nicht gut, obwohl ich einen trainierten Körper besass –denn es ging nicht darum, eine Übung zu absolvieren. Die innere Haltung zählte. In sie hinein gebe sich der Mensch, mit seinem ganzen Sinnen und Trachten, in vollendeter Hingabe. Meine Fersen schrien. Und erst meine Knie! Doch galt es auszuharren, bis die Reihe an mir sei, vom Abt begrüsst und im Kloster empfangen zu werden. Wie das dauerte! Ich konnte danach kaum noch aufstehen.
Der Teppich in der Empfangshalle, ebenso der Teppich des Meditationsraumes ein Stockwerk höher, waren blutrot. In der Empfangshalle hingen rote Kristalllüster von der Decke herunter. Und im Meditationsraum und in der Empfangshalle standen und sassen goldene Buddha Statuen, einige übermannshoch, darum herum gruppiert auf einem in Stufen ansteigenden Marmoraltar, kleinere Buddhas sowie eine originalgetreue Kopie des legendären Smaragd Buddhas aus Thailand. Blumenvase an Blumenvase reihte sich dazwischen, einige mit wallenden Orchideenzweigen gefüllt, andere mit Lotosknospen oder mit Frühlingsblumen aus schweizerischen Regionen. Die Fülle war massgebend, wie ich später erfuhr. Das üppige Blühen und Verblühen erinnerte – so sagte mir der Abt - an die Vergänglichkeit von Existenz.
Ich bewohnte gemeinsam mit meiner thailändischen Meditationslehrerin einen winzigen Kellerraum, in dem drei eng aneinandergerückte Kajütenbetten sowie ein Einzelbett standen. Schränke gab es keine, Stühle oder einen Tisch ebenso wenig. Sie hätten gar keinen Platz gefunden. Man wohnte im Kloster wie in Thailand: die gesamte Familie in einem Raum. Ich bezog mein Bett und schob meine Reisetasche darunter. Daraufhin stiegen wir zu zweit die drei Stockwerke zum Meditationsraum empor.
Die entsprechenden Techniken begriff ich rasch. - Von da an war nur noch Schweigen angesagt.
Ich hatte während Jahren an spirituellen Workshops, Seminaren, längeren und kürzeren, teilgenommen und dachte, der Aufenthalt im Kloster gestalte sich ähnlich. Nach einer halben Stunde des Sitzens und einer halben Stunde des Gehens folge vielleicht eine Stunde Unterweisung, etwas Musik, eine Kontemplation, einige Körperübungen oder sonstige Unterbrechungen. Weit gefehlt! Meine Thailänderin machte keinerlei Anstalten, im Üben zu pausieren. Sie bedeutete mir im Gegenteil, ich solle nun zu einer ganzen Stunde des Sitzens und einer ganzen Stunde des Gehens überwechseln.
Die Stille des Tuns, der spärlich erleuchtete Raum und der blutrote Teppich unter den nackten Sohlen hypnotisierten. Das Blut rauschte in meinen Adern. Das laute Ticken der überdimensionalen Wanduhren wurde unhörbar, ebenso wie das Rattern der Züge und das Hupen der Lastwagen, wenn sie um die Ecke bogen. Die Technik der Meditation hatte ich masslos unterschätzt. Und gekannt hatte ich sie überhaupt nicht. Ich übte „Vipassana“-Meditation, die Methode mit der im „Theravada“-Buddhismus gearbeitet wird. Einer meiner früheren Lehrer nannte sie einmal spasseshalber „Spirituellen Stierkampf“. Staunen und Verblüffung darüber wuchsen in mir von Moment zu Moment..
Um halb zwölf Uhr gingen wir zu zweit zum Mittagessen, um sieben Uhr abends zum Nachtessen. Dazwischen übten wir – übten wir – übten wir. Und ebenso danach. Wenn ich nicht mehr konnte, legte ich mich ausgestreckt auf den Boden, was im gesamten Körper einen Feuersturm auslöste. Ich glaubte zu zerspringen. Es war, als würden meine Knochen zerrieben. Mein Nervensystem schrie wie ein angeschossener Hund.
Nachts sollte ich auf dem Rücken liegen. Meine Lehrerin stand zweimal auf und drehte das Licht an, um es zu kontrollieren. Sie nahm es mit ihrer Unterweisung bitterernst. Auch mit ihrem eigenen Üben. Schon um drei Uhr morgens stieg sie in den Meditationsraum hinauf, obwohl wir erst um elf Uhr zu Bett gegangen waren. Ich folgte ihr um fünf Uhr. Ich fühlte mich gerädert und betäubt von Schlaf - bis um sieben Uhr zum Frühstück gebeten wurde. Hinterher gab‘s eine Stunde lang Gemüseputzen.
Thailändisches Essen kannte ich nicht. Wie sollte ich nur damit eine vierzehntägige Klausur überstehen?!. Dennoch beschloss ich, mich dem „Kampf“ mit dem „Stier“ zu stellen – trotz Reissuppe zum Frühstück und den übrigen fremdländischen Gerichten.
Am zweiten Meditations-Tag gelangen mir Momente innerer Klarheit, die mich in Entzücken versetzten. Gegen Abend war ich so erschöpft, dass ich keiner Kontrolle mehr fähig war und mein Körper von alleine Fuss vor Fuss setzte. Ich schaute ihm dabei zu und gewahrte, wie alle Erdenschwere aus ihm wich und es sich anfühlte, als schwebe er. Die Füsse schienen breit und rund geworden wie Suppenteller. Das Herz hämmerte. Und ich musste mich hinlegen. Zum Glück war ich allein. Meine Lehrerin war vom Abt ins Büro gerufen worden.
Die Glieder schlotterten. Die Gelenke versagten den Dienst. Mehr tot als lebendig, jedoch felsenfest davon überzeugt, diese Weise sei die einzige Art der Arbeit auf meinem zukünftigen Weg - hätte ich nur erst die Einstiegsschwierigkeiten überwunden – setzte ich mich auf und übte – übte – übte….
Nachts lag ich wach, zu zerschlagen, zu aufgelöst, um abzutauchen. Die Thailänderin war nach Hause gefahren. So hatte ich die Kammer für mich allein.
Tags darauf sollte auf der Wiese, die damals noch die leere Mitte der Klosterliegenschaft ausfüllte, eine Zeremonie stattfinden: ein Trommelmeister aus Thailand wurde erwartet. Männer erstellten einen von einem Zelt überdachten Altar. Weder der Abt noch die Mönche beteiligten sich an den Vorbereitungen. Thailändische Musik zirpte zu mir herauf. Ich hatte mich über Nacht etwas erholt und meditierte konzentriert. Dem Wunsch des Abtes entsprechend sollte ich das Üben um neun Uhr morgens beenden. Dann beginne die Zeremonie. Die Menge an Teilnehmern – an Erwachsenen und Kindern - könnten das Üben stören.
Nach einem abschliessenden Gespräch, verabschiedete ich mich vom Abt mit Niederwerfungen, betrat die Wiese vor dem Mönchshaus: - und mich traf beinahe der Schlag: - die Sonne glühte. Ich erkannte fast nichts. Mir wurde schwindlig. Und als ich auf dem Altar die zauberhaft geschnitzten Früchte, die gekochten Schweinsköpfe, die üppige Blumenpracht und die goldenen Masken entdeckte, stürzte ich kopfüber in einen perfekten Kulturschock.
Zuhause angekommen, fragte ich meinen Mann nur: „Bitte, können wir einfach zusammen Motorrad fahren gehen und dabei Elvis-Songs hören?!“

„Vipassana“ bedeutet Einsicht, klares Sehen, direkte Schau der wahren Natur der Dinge, das heisst: das Erkennen ihrer Unbeständigkeit, das Erkennen ihrer Unzulänglichkeit sowie das Erkennen ihrer Substanzlosigkeit. „Vipassana-Meditation“ zu üben, bedeutet demnach, an der geistigen Entwicklung zur Erlangung von Einsicht zu arbeiten. Eine Arbeit, die keineswegs so abgehoben ist, wie die Erklärung des Begriffs „Vipassana“ das suggerieren mag.
Es könnte gesagt werden, dass Vipassana-Meditation aus zwei Teilen bestehe. Und zwar aus dem vorbereitenden sowie aus dem Teil von Klarsicht. Doch das ist nur bedingt richtig. Denn diese beiden Teile gehen nahtlos ineinander über und bilden zusammen ein untrennbares Ganzes. Zum besseren Verständnis kann der Vergleich mit dem Vorgang der Zubereitung einer Mahlzeit dienen:
Punkt 1: einkaufen. Genau hinzuschauen ist wichtig, die Qualität des Ausgesuchten unter die Lupe zu nehmen, das Gewählte zu erkennen, zu verstehen und auch benennen zu können. Ebenso wichtig ist es, dabei bewusst zu atmen. Wieder zuhause, werden die Zutaten ausgepackt, nach Verunreinigungen untersucht, gewaschen und vorbereitet.
Dieser Teil könnte als der Teil der Bestandesaufnahme angesehen werden, indem der Übende sich innerlich klar darüber wird, was es eigentlich ist, das sein Leben ausmacht, das es oft schwierig und unübersichtlich gestaltet, da es in den stets gleichen, diffusen Mustern abläuft.
Erst nach dieser Bestandesaufnahme kann mit der Zubereitung der Mahlzeit begonnen werden, indem die Zutaten erhitzt, also dem Feuer übergeben werden, das sie läutert und verwandelt, sie geniessbar macht und in Nahrung umwandelt, die der Übende für sein äusseres und inneres Wachstum braucht. In der Meditation entsteht die Hitze durch das Mittel der Konzentration, durch exaktes Anschauen dessen, was sich innerlich zeigt, durch das Bewusstmachen und das Benennen.
Beim Essen entsteht durch den Vorgang des Kostens, des Kauens, des Wahrnehmens von dem, was gegessen wird eine zusätzliche Substanz, die nicht nur den Hunger stillt sondern den physischen Körper, die Zellen, aber auch die feinstofflichen, für das ungeübte Auge unsichtbaren „Körper“ des Essenden regeneriert. Ein Vorgang, der Alchimie genannt wird.
Dieser Teil entspricht in der Meditation der subtilen Wandlung, die in Körper und Geist im Laufe des Übens vor sich geht, die sichtbar und spürbar ist und im Übenden die Gewissheit aufkeimen lässt, dass seine Arbeit Früchte trägt.
Werden die Abläufe des Aussuchens der Nahrungsmittel über das Vorbereiten, das Kochen, das Anrichten und das Essen bewusst durchlaufen, gleicht das tatsächlich dem Üben von Vipassana-Meditation. Vipassana-Meditation ist nichts anderes als ein Hilfsmittel, um das Leben durch das Vergrösserungsglas von Achtsamkeit anzuschauen und von den alltäglichen Automatismen zu befreien. Dieser Vorgang verleiht dem Übenden Kraft, Mut und Durchhaltevermögen. Die Essenz, die durch diesen alchimistischen Prozess frei wird, reicht der Übende an alles Lebendige weiter: an sämtliche sichtbaren und unsichtbaren Wesen, sichtbaren und unsichtbaren Welten, und zwar über seinen durch die Konzentration transformierten Atem, seine transformierte Körperhaltung und Sichtweise – also über seine erneuerte Fähigkeit zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Genau so funktioniert auch Vipassana-Meditation
Indem sich der Übende während der Sitzmeditation bewusst und bewegungslos auf den Atem konzentriert, auf das Heben und Senken der Bauchdecke, Atemzug um Atemzug, entscheidet er sich dafür, die beste Mahlzeit zuzubereiten, die er kann – oder genauer gesagt: zur besten aller Mahlzeiten für das Leben zu werden.
Während des Sitzens bleibt es im Inneren des Übenden natürlich nicht einfach nur angenehm still. Sicher nicht. Gedankenfetzen schwirren umher. Gefühle steigen aus den Tiefen des Unterbewusstseins auf. Erlebnisse aus früheren Zeiten. Oder Schmerzen stellen seine Konzentration auf die Probe. Erscheinungen die als „Grundnahrungsmittel“ menschlicher Existenz bezeichnet werden könnten. Entweder tut er sich an diesen Phänomene gütlich, hängt sich gierig an Gefühle, Gedanken und Schmerzen und leidet über kurz oder lang an Bauchweh und Verstopfung. Oder er schaut sich bewusst an, was sich zeigt, was hochkommt und was sein Leben in die immer gleichen Irrungen und Wirrungen drängt. Er legt es quasi als Auslage vor sich auf den Tisch. Schon allein die Distanz, die dieser Vorgang bewirkt, verwandelt die Erscheinungen. Schickt er sie nun noch auf dem Ausatmen sanft, liebevoll, nicht verärgert und überdrüssig zurück in die Abgründe menschlichen Unterbewusstseins entsteht Wärme, nicht als Gefühl, sondern als Wahrnehmung von Hitze – und dadurch kommt eine Art von Kochvorgang zustande.
Übt er das ständig wieder, wird sich allmählich etwas im Leben des Übenden verändern, auf alchimistische Art verwandeln. Anstatt emotionaler Unrat wird sich „Gold“ zeigen. Gold, das stets da war, das er nur, blindgeworden durch die Faszination des an ihm vorüber ratternden Lebensfilms nicht erkannte.
Durch das Sitzen, durch die Konzentration auf das Heben und Senken der Bauchdecke, erhalten die physischen, emotionalen und mentalen Muster, die sein Leben wie ein Gerüst aufrechthalten Gelegenheit sich zu zeigen. Und öffnet er sich ihnen liebevoll genug, achtsam genug, werden sie anfangen, in schier endlosem Strom vor seinem inneren Blick vorüberzuziehen. Horden von Tieren gleich, von edlen und struppigen, anschmiegsamen und wilden, bissigen, halb verhungerten und verstümmelten Tieren jeder Sorte, jeder Laune, die froh und dankbar sind für sein Hinschauen. Denn nur das Erkennen kann diese Horden aus ihrem von Leiden geprägten Dasein erlösen. Der Übende muss lernen, die Gesamtheit menschlichen Potenzials anzuschauen, nicht nur sein persönliches Potenzial, heisst es doch: „Dem Erwachten ist nichts Menschliches fremd“.
Dieser Auseinandersetzung muss sich der Übende in der inneren Arbeit stellen wollen. Auch wenn ihm vielleicht ganz und gar nicht gefällt, was sich ihm dadurch in tiefen und tiefsten Tiefen eröffnet. Es gibt keinen Weg daran vorbei. Sonst kann der Kochvorgang, kann der Vorgang der Transformation, der Alchimie nicht stattfinden.
Das könnte man den ersten Teil des Übens von Vipassana-Meditation nennen. Der zweite Teil beginnt dort, wo der Übende sich dem Gekocht- und dem Garwerden überlässt. Dem Garwerden wohnt auch der Vorgang der Neutralisation inne. Das Kochen löst Giftstoffe aus der Nahrung und macht sie dadurch unschädlich. Es schält Essenz aus ihr heraus, die der Schüler für das Hinüberwechseln in ein neues Stadium des Menschseins braucht, in ein geläutertes, verfeinertes Stadium des Menschseins, das sich nicht mehr über unkontrolliert aufsteigende Gefühle, Gedanken, Wünsche, Hoffnungen oder Ängste definiert. Die ursprünglichen Muster, die die Vorgänge des Menschseins steuern, werden jedoch nicht einfach vernichtet. Sie verschwinden nicht ein für allemal. Der Übende hat lediglich durch die Praxis von Vipassana - der Praxis der geistigen Entwicklung zur Erlangung von Einsicht - einen Schritt in eine neue Richtung getan. Man könnte es „einen Schritt vorwärts“ nennen, hinaus aus unablässiger menschlicher Pein. Nun schaut er sich um und sieht das im Leiden erstarrte Menschsein, das sein eigenes Menschsein miteinschliesst. Er sieht es aus Distanz, losgelöst und unidentifiziert. Er selbst ist momentan davon befreit. Doch um dorthin zu kommen, muss er sich zubereiten und garkochen lassen.
Um Vipassana-Meditation zu üben, sollte der Schüler lernen, sich vollständig still zu halten, alle willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen zu unterlassen. Der Körper soll entspannt aufrecht dasitzen, wenngleich nicht starr und übertrieben gerade. Eine normale, unprätentiöse Haltung ist gefragt. Die Augenlider hängen lose über den Augäpfeln, deren Blick hinter den geschlossenen Lidern leicht schräg gegen den Nasenrücken gerichtet ist.
Die Gefahr besteht bei jeder Form von Übung, dass der Schüler sie dazu verwendet, sein Ego zu spiritualisieren anstatt es aufzulösen. Deshalb ist es für ihn unabdingbar, dass er sich so auf das Aus- und Einatmen konzentriert, dass er dadurch keinen Atemzug aus der inneren Sicht verliert.
Gerade im Westen richten viele Menschen ihr Leben nicht nach religiösen Grundsätzen aus. An die Stelle von Religion ist die Verherrlichung der Psyche, deren Vergöttlichung, das Spiritualisieren des Egos getreten. Deshalb fühlen sich auch so wenige Menschen in sich selbst aufgehoben, beschützt und geborgen. Persönliches Wohlbefinden, persönliche Verwirklichung, das Spasshaben an allem, was sie tun, möglichst ohne sich dabei anstrengen zu müssen, sind die Kriterien, mit denen sie Leben als gut oder, bei Abwesenheit dieser Erfordernisse, als schlecht taxieren. Die Bereitschaft zu Auseinandersetzung und damit die individuelle Belastbarkeit haben stark abgenommen. Scheidung ist angesagt, sobald das Verhalten des Partners nicht mehr befriedigt. Fühlt sich jemand eingeengt, wechselt er seinen Wohnort oder seinen Arbeitsplatz. Das spiritualisierte Ego ist bei einem beträchtlichen Teil der Menschheit an die Stelle innerer spiritueller Ausrichtung getreten.
Doch wenn jede und jeder seine Person in den Vordergrund, möglichst in die erste Reihe zu stellen sucht, herrscht ständige Konkurrenz und fürchterliches Kompetenzgerangel. Die Gefahr, als Person übergangen oder untergebuttert zu werden, ist enorm. Kostbares Potenzial geht verloren aus Egoismus, aus purer Ignoranz. Anstelle einer überpersönlichen, spirituellen Instanz treten Milliarden von Egos, Milliarden von Götzen. Und jeder verteidigt seinen Podestplatz aufs Erbittertste. Das produziert unbändigen Lärm und entsetzlich viele Verletzungen.
Ich habe erfahren, dass es gerade am Anfang des Übens von Vipassana-Meditation vonnöten ist, beharrlich darauf zu achten, nicht der Versuchung zu verfallen, dem unablässigen Geschwätz im eigenen Kopf auf den Leim zu gehen. Sonst fährt der Übende, ohne es zu merken, darauf ab und stellt nach fünf oder zehn Minuten fest, dass der Faden des Übens abgerissen ist und er vergessen hat, dass er eigentlich Meditation praktizieren wollte. Das Abdriften geschieht im Bruchteil einer Sekunde. Das Ego ist beängstigend trickreich. Es ist auch nicht angebracht, auf Gedanken oder Gefühle, die im Übenden hochsteigen in dem Sinne einzugehen, dass er anfängt, sie vor sich selbst zu rechtfertigen, sie schön zu reden oder sich für sie zu entschuldigen, etwa mit dem Einwand: „Ach, ich bin doch auch nur ein Mensch.“
Die Versuchung des Urteilens, des Über- oder Unterbewertens der eigenen Person, des eigenen Erlebens, ist allgegenwärtig. Es sind Vorgänge, die das Ego meisterhaft spiritualisieren, ohne dass sie den Übenden in der Meditation auch nur einen Millimeter weiterbringen. Urteilslosigkeit ist sehr hart zu erlernen. Im alltäglichen Leben wie im Üben von Meditation. Der Schüler darf keine Angst vor Rückschlägen haben, vor persönlichem Versagen. Immer wieder muss er sich aufraffen können, um weiterzuüben.
Die ursächliche Frage im Menschen nach dem Woher und dem Wohin ist der unpersönliche Motor, der das Feuer des Übens am Glühen hält. Wenn der Schüler ihn verliert, verliert er die Motivation. Dann macht es keinen Sinn mehr, die Strapazen des Übens auf sich zu nehmen. In der Stille des Übens entfacht sich die Glut ständig neu, ohne sein Dazutun, ohne dass er darüber nachdenken muss. Es handelt sich dabei nicht um einen persönlichen Wunsch oder um persönliche Begierde. Sondern um den allem Leben zugrunde liegenden, archetypischen Drang nach Öffnung, nach Hingabe, nach Befreiung. Sind diese Kräfte erst freigelegt, entfaltet sich Vipassana von selbst, klärt sich der Blick und offenbart sich, „was ist“.
Hier möchte ich noch einen weiteren Vergleich zu Hilfe nehmen:
Bedeutenden Wallfahrtsorten vorgelagert sind meistens zahllose Läden oder Verkaufsstände, die jede nur denkbare Sorte von Devotionalien feilbieten, angefangen von Kristallen, Duftprodukten, Kerzen jeder Grösse, Kalendern, Astrologiebüchern bis zu Meditationskassetten. Prospekte für Kuren liegen aus. Heiligenbilder. Es gibt Kreuze, Statuetten, Gebetbücher und Rosenkränze zu kaufen. Schlicht alles, was sich an solchen Plätzen vermarkten lässt, ist vorhanden – nebst Gaststätten, die Gerichte nach dem am Wallfahrtsort verehrten Heiligen benannt, auf der Speisekarte stehen haben.
Verschiedene Besucher finden den Weg über diese Geschäfte und Kneipen hinaus nie. Ihr meist unbewusstes, diffuses Sehnen nach Nestwärme und Aufgehobenheit wird bereits durch diese mannigfaltigen Angebote gestillt oder überlagert.
Zwischen der entsprechenden Kultstätte und den Geschäften breitet sich in der Regel ein grosser Platz aus, oft schön gepflastert, der von Autos frei gehalten wird und einzig für Wallfahrer begehbar ist. Diesen Platz kann der Reisende zwar noch mit anderen zusammen als Gruppe überqueren. Es lässt sich noch schwatzen und lachen dabei. Wenngleich die Atmosphäre hier eine ganz andere ist, als sie noch inmitten der Läden und Kneipen herrschte. Weniger Schutz ist da. Weniger Versteckmöglichkeiten bieten sich an. Die Konzentration an Spannung nimmt zu.
Je mehr sich der Reisende der Mitte des Platzes nähert, desto mehr kann ihm bewusst werden, dass das Überschreiten des Platzes dem Wechsel von einer Welt hinüber in eine andere gleicht. Vielleicht empfindet er dieses Hinüberschreiten sogar wie einen Gang durch die Wüste, ein sich gnadenloses Aussetzen. Oder mit dem Überqueren des „Grossen Wassers“, wie es auch heisst. Vom turbulenten, alltäglichen Treiben und Getriebenwerden gelangt er in die Welt der Archetypen, in die Welt, in der das Persönliche, das Individuelle dem Kollektiven Platz macht. Vorgänge wie das Loslassen, wie Hingabe, wie das sich der Angst Stellen, das sich dem Ungewissen gegenüber Öffnen, haben hier das Sagen. Und ist er jenseits der Mitte des Platzes angekommen, zeigt sich ihm ganz langsam, ganz allmählich die Welt des Spirituellen. Inmitten des Platzes ging es noch um Phänomene, um Bilder, um innere Erlebnisse und um Erscheinungen. Doch je weiter er geht, desto mehr verblassen auch die. Das Hoffen, das Wünschen müssen zurückbleiben. Je mehr er sich dem eigentlichen Heiligtum nähert – und das ist kein Ort in der Aussenwelt – desto weniger geschieht etwas, findet noch etwas statt. Im Heiligtum seiner selbst gibt es ihn als Person nicht mehr. Es herrscht dort kein Zustand von Abwesenheit. Es fällt einfach Getrenntheit weg.
Jenseits des Platzes trifft der Pilger auf die schweren Eichen- oder Bronzetüren des Gotteshauses. Durch diese hindurch muss jeder einzeln gehen. Er kann sich nach dem hinter ihm Nachfolgenden höchstens noch kurz umschauen, wenn er ihm die Tür aufhält, der wiederum seinem Nächsten die Tür aufhält und so weiter. Doch einmal drinnen im Gotteshaus ist jeder Mensch nur noch auf sich selbst gestellt. Das Schwatzen und das Lachen verbieten sich hier. Jeden weht die von Gebeten und Fürbitten geschwängerte Atmosphäre im Gotteshaus auf andere Weise an, lässt jeden auf andere Weise still oder auch ängstlich zu sich selbst finden oder sich seines Anliegens, seines Leidens erst richtig bewusstwerden. Auf dem Weg zum Altar wird sich der Übende seiner Alleinheit bewusst, vor allem dann, wenn der Weg hinunter in eine Gruft oder Krypta führt.
Verblasst ist die Erinnerung an Kristalle, Düfte, Sternzeichen, Sahnetorten oder Wurstspezialitäten. Sehr entblösst fühlt sich der Pilger nun, sehr ausgesetzt und verletzlich, auch ratlos, sogar traurig vielleicht – vorausgesetzt, er ist wirklich auf Pilgerfahrt und es treibt ihn nicht nur Neugierde an.
Beim Altar angekommen ist er nur noch leidender, verehrender, hingegebener oder im Wissen verstummter Mensch. Er kniet tief in sich drin und möchte um keinen Preis der Welt in seiner Zwiesprache gestört, aus dieser „Nähe“ herausgerissen werden. Nicht einmal von Familienmitgliedern. Er kann dabei zu solch tiefer Konzentration finden, dass es ihm erscheint, als stehe Zeit still. Durch seinen verwandelten energetischen Seinszustand können ihm Erkenntnisse gewährt werden, die sein Leben von Grund auf verändern oder plötzliche Heilung von Krankheit ermöglichen.
Wie auch immer: das oben Beschriebene sind lediglich Bilder. Es ist nur eine Geschichte. Die darin angetönten Vorgänge lassen sich mit Worten nicht einfangen. Sie bieten Hinweise an, zeigen mit dem Finger in eine bestimmte Richtung. Den Weg muss jeder allein unter die Füsse nehmen und ihn, von einem gewissen Punkt an, sogar ohne jede Hilfe weitergehen. - Das ist der Weg von Vipassana-Meditation. Das ist der Weg innerer Arbeit überhaupt. Das ist – aus innerer Sicht - der Sinn, die Erfüllung menschlichen Lebens auf Erden.
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Inzwischen ist die leere Mitte des Areals dem Herzstück des Klosters, dem „Ubosoth“ gewichen. Die Anlage besteht nun aus dem Mönchshaus, aus einem Längsbau, in dem die Bibliothek sowie die Sonntagsschule für Kinder untergebracht ist, dem Ubosoth in der Mitte des Geländes, unter dem sich auch ein Mehrzweckraum mit Bühne befindet, aus zwei kleinen Tempeln, aus dem obligatorischen Fischteich und der alles umgebenden Tempelmauer. Die Gebäude konnten ausschliesslich auf Spendenbasis errichtet werden. Kuanin, die weibliche Verkörperung des Buddha, residiert im einen der beiden kleinen Tempel, eine Statue König Ramas V im zweiten. Seitdem die Figuren ihre provisorischen, Wind und Wetter ausgesetzten Unterstände verlassen konnten, werden sie rege aufgesucht. Kuanin wird von Frauen angerufen, die schwanger sind oder es werden möchten, Rama wird als Erneuerer und Befreier Thailands gefeiert, und da er edles Gebranntes und Zigarren liebte, damit beschenkt. Und niemand stibitzt Flaschen, Schachteln aus seinem Tempelchen oder eine Handvoll Perlenketten, mit denen Kuanin über und über beschenkt wird.
Thais sind in einer Weise selbstlos und spendenfreudig, die den weit verbreiteten westlichen Geiz schonungslos offenlegt. Ich bekam es mit der Angst zu tun, als mir dieser Umstand bewusst wurde, ich meine wirklich bewusst, so dass ich ihn in Haut und Knochen und in jedem Blutstropfen als leibhaftige Bedrohung erlitt. Die Thais spenden, selbst wenn sie nichts zum Spenden erübrigen können. Für den Bau der Klosteranlage wurden keine Bankkredite benötigt. Es gab zwar welche zur Sicherheit, doch sie brauchten nicht angetastet zu werden. Die vielen Millionen, die zum Landkauf sowie zum Erstellen der Anlage benötigt wurden, entsprangen ausschliesslich den Taschen thailändischer Familien, die in der Schweiz leben sowie von deren Angehörigen in Thailand. Oder von Familien, von denen zumindest ein Elternteil thailändisch ist. Weder schweizerische noch thailändische Behörden haben zu den Millionen beigetragen.
Die Mutter des kürzlich verstorbenen Königs spendete allein mehr als eine Million. Nach ihr ist denn auch der Tempel benannt. Als Witwe war sie in die Schweiz übergesiedelt, um ihren Kindern die bestmögliche Erziehung und Schulung angedeihen zu lassen. Sie liebte die Schweiz, den Genfersee, an dem sie wohnte. Und sie wollte diesem Land, das ihr, wie sie sagte, soviel Gutes erwiesen habe etwas zurückgeben. Als dann der Ruf der in der Schweiz residierenden Thailänderinnen und Thailänder nach einem eigenen Kloster, einem eigenen Kulturzentrum stärker und stärker wurde und schliesslich auch an ihr Ohr drang, entschied sie sich, die Schirmherrschaft für das Zentrum zu übernehmen.
Vom königlichen Kloster in Bangkok, an dem er als Professor der angegliederten Universität sowie als rechte Hand des Abts gewirkt hatte, wurde der heutige Abt von Wat Srinagarindravararam, Phratep Kittimoli in die Schweiz entsandt, mit der Aufgabe, die Vipassana-Meditation in den Westen zu bringen. Als erstes musste ein angemessenes Grundstück gefunden werden. Und in Gretzenbach, in der Nähe von Aarau, entdeckte er den richtigen Ort dafür.
Gestartet wurde das Projekt in einem Bauernhaus in Bassersdorf, Zürich. Dort kamen, dank der Initiative des Abts die ersten Hunderttausender zusammen.
Später wohnten der Abt und die Mönche in Containern neben dem zukünftigen Klostergelände, um die beginnenden Bauarbeiten zu begleiten.
Dem Abt fiel der Start in der Schweiz nicht leicht. Das Klima machte ihm zu schaffen: er fror erbärmlich. Und er kam auch mit der schweizerischen Mentalität schlecht zurecht. Er hätte liebend gerne Reissaus genommen - was natürlich nicht ging: die Flinte ins Korn zu werfen entspricht nicht buddhistischer Weltsicht. Er biss sich durch – lernte rasch – wurde gemocht – und fand die notwendige Akzeptanz: das gesamte Vertrauen in den Klosterbau verlagerte sich auf seine Schultern.
Phratep Kittimoli, der Abt, entstammt einem Bauerndorf hunderte von Meilen von Bangkok entfernt. Seine Karriere begann er als Kuhhirt. Ins Kloster zu gehen war keine Option für den aufgeweckten Knaben. Er hatte weltlichere Pläne. Doch das Schicksal nahm darauf keine Rücksicht. Als er zwölf war, schlug es zu: der Knabe wurde Novize – und bereute diese Wendung keinen Augenblick: er wurde zur unentbehrlichen Stütze seines Lehrers, obwohl er um seinen zwanzigsten Geburtstag herum kurz mit dem Gedanken liebäugelte, das Klosterleben hinter sich zu lassen und eine Familie zu gründen. Weder persönliche Wünsche, noch eiserner Wille, noch Ehrgeiz trieben seine Karriere an: sie fiel ihm sozusagen in den Schoss, ohne dass er einen Finger dafür zu krümmen brauchte.
Rasche Auffassungsgabe, Anpassungsfähigkeit, Hilfsbereitschaft und ausnehmende Freundlichkeit zeichneten ihn aus sowie tiefe innere Verpflichtung der Arbeit gegenüber. Zu seiner Überraschung fand er sich plötzlich im königlichen Kloster in Bangkok wieder, unterrichtete an der buddhistischen Universität, hielt Vorträge und Vorlesungen und leitete Meditationskurse an – arbeitete pausenlos, studierte asiatische Sprachen und schrieb zwischendurch an seiner Dissertation.
Der Abt ist eher klein, aber stark und stämmig gebaut, im Gegensatz zu vielen Thais, die für westliche Verhältnisse oft sehr zart und fragil erscheinen. Den Abt und die Mönche gehen zu hören, ist fast unmöglich. Der Schritt ihrer nackten Sohlen ist so leicht, als flögen sie. Ihre Bewegungen sind fein und beseelt, sozusagen „vom Atem getragen“. Nicht nur dem Kloster sondern auch seinen Bewohnern wohnt ein Zauber inne. Nichts Sentimentales, ganz und gar nicht. Viel eher natürliche Konzentriertheit, die jeder Krampfhaftigkeit entbehrt.
Ohne der Pali-Sprache mächtig zu sein und dadurch die Bedeutung seines Mönchsnamens zu verstehen, ist es unmöglich, den Rang zu erkennen, den ein Theravada-Mönch in der klösterlichen Hierarchie einnimmt, denn einer sieht aus wie der andere. Alle sind sie gleich gekleidet. Rangabzeichen gibt es keine. Unterschiede lassen sich nur erspüren, nicht erspähen. So unterscheidet sich etwa der Abt von jungen Mönchen nur durch tiefere Präsenz innerer Stille – so könnte man sagen - durch selbstverständlicheres Da-sein.
Die meisten Mönche, die ins Kloster kommen, für einige Zeit dort bleiben und wieder weiter reisen, sind jung, doch nicht so jung, dass nicht jeder von ihnen einen Universitätsabschluss in der Tasche hätte. Ein Abschluss ist Grundvoraussetzung für eine Arbeitserlaubnis im Wat Srinagarindravararam. Nur die Besten werden zu Botschaftern ihres Landes, ihrer Religion und ihrer Kultur ausgewählt.
Weder das Kloster noch irgendetwas, das sich darin befindet, gehört dem Abt oder den Mönchen. Die Mönche sind besitzlos. Müssen sie verreisen, ist das innerhalb einer Minute möglich. Das für den Alltag Unentbehrliche, wie Zahnbürste, Rasierzeug, Brille oder Uhr tragen sie in einem Beutel, der nicht einmal so gross ist wie die Handtasche der meisten Frauen, am Arm mit sich herum. Das tun sie sogar während den Festtagszeremonien im grossen Tempel, dem Ubosoth, zum Zeichen dafür, dass ihr Leben an keinerlei Bedingungen geknüpft ist und sie ständig abrufbereit sind – auch wenn es ums Sterben gehen sollte.
Das Kloster selbst ist eine Stiftung. Es erwirtschaftet nichts, ist zu hundert Prozent abhängig von Spenden. Die Mönche essen das, was die Menschen ihnen bringen. Würde nichts gebracht, würden die Mönche hungern. Auf Betteltour wie in Thailand, Burma oder Kambodscha gehen die Mönche hier in der Schweiz nicht, denn die Schweiz ist kein buddhistisches Land. Der Buddhismus als solcher geniesst keine behördliche Anerkennung. Und da es für die Mönche selbstverständlich ist, sich den Gepflogenheiten ihres Gastlandes nahtlos anzupassen, verzehren sie dargebotenes Essen von Schweizern mit der gleichen Dankbarkeit wie thailändisches, selbst wenn es sie vielleicht Überwindung kostet.. Sie weisen nichts als unpassend zurück. Sie essen um des Essens, um der Ernährung willen. Dennoch ist der Abt ein Riesenfan von - als Beispiel - Spaghetti an italienischer Sauce geworden!
Während des Essens sprechen die Mönche nur das Allernotwendigste. Sie schauen sich nicht um. Auch wenn Kinder an ihrem Tisch vorüber rennen, laut schreien und einander schubsen – was an Sonn- und Feiertagen häufig der Fall ist. Die Mönche bleiben auf sich selbst und ihre Tätigkeit konzentriert. Ich habe nie eine Regung des Unwillens oder der Ungeduld bei irgendeinem von ihnen erlebt. Auch der schrecklichste Lärm scheint sie unberührt zu lassen. Was nicht heisst, dass die Mönche nicht auch von Herzen mit den Besuchern lachen oder mit den Kindern herumalbern mögen.
Den Mönchen gehört auch immer nur gerade das Gewand, das sie am Leib tragen. Es setzt sich aus einer kurzen Tunika zusammen, über die ein weiter Umhang drapiert wird. Der rechte Arm bleibt immer frei. Denn im Buddhismus wird auf das Tun besonderen Wert gelegt. Richtiges Tun erzeugt gutes Karma. Das Tun steuert das Resultat von Ursache und Wirkung.
Über der linken Schulter wird wie eine Art Schärpe, ein zu einer Bahn zusammen gefaltetes zusätzliches Tuch getragen, das auf Wanderschaft als Unterlage oder zum Zudecken dienen kann, und auf dessen unteres, über das Knie des Abts auf den Boden hinaus ragendes Ende auch Gaben – „Dana“ - für das Kloster gelegt werden, die Besucher anbieten. Dieses Tuchende dient als Zwischenstation. Die Mönche nehmen nichts für sich selbst. Alles ist immer „für den Buddha“ bestimmt, für das Wesen des Erleuchteten, das erwachte Eine, das keinen Gegenpol kennt. Die Mönche dürfen davon zehren, geben jedoch sämtliche Gaben für den Unterhalt des Klosters, Schüsseln mit Essen, Getränke immer gleich weiter an die ständig aus- und eingehenden Gäste, sobald sie den von ihnen benötigten Teil davon abgezweigt haben. Persönlich eignen sich die Mönche nichts an, gar nichts.
Oft ist das Wetter bei uns in der Schweiz alles andere als sonnig und warm. Dann empfinde ich es als besonders wohltuend, den Mönchen in ihren leuchtend orangefarbenen Gewändern zu begegnen. Auf mich wirkt die Farbe belebend, erfrischend, Herz und Gemüt erwärmend. Mäntel zu tragen ist den Mönchen nicht erlaubt. Doch im Winter stehen ihnen langärmlige T-Shirts und wollene Socken zur Verfügung - falls sie welche geschenkt bekommen. Ebenso verhält es sich mit dem Schuhwerk. Die Mönche bitten nie um etwas. Es ist dem Gast überlassen herauszufinden und zu erspüren, was sie benötigen könnten.
Das Kloster ist ein ausgesprochen fröhlicher Ort. Ich habe in der Gesellschaft mit den Thais mein Lachen wiedergefunden. Das, was mich am meisten berührt ist ihre Freundlichkeit, ihre Herzlichkeit, ihre selbstverständliche und selbstlose Hilfsbereitschaft und ihr Bemühen, andere - ganz anders geartete Menschen, als sie selbst es sind - als gleichwertig anzunehmen.
Zu Beginn meiner Meditationsarbeit gab es das Kloster erst seit knapp vier Jahren und es hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass dort Meditation gelehrt wurde. Demzufolge sass ich manchmal allein im Meditationsraum. Manchmal waren wir zu zweit, selten zu dritt. Und auch heute sind es nur knapp zwei Dutzend Schweizerinnen und Schweizer, die zu den beiden Meditationsklassen erscheinen, die wöchentlich stattfinden.
Bei Baubeginn hatte der Abt befürchtet, es werde nie genügend Besucher für die damals riesig erscheinende Anlage geben. Heute ist sie längst zu klein. Das Kloster hat inzwischen mehr als dreitausend Familien als Mitglieder. Während grossen Festen quillt das Kloster über, schwappt der Strom der Gäste über auf benachbarte Grundstücke, auf denen grosse Zelte errichtet werden. Und inzwischen ist eines dieser Grundstücke zusätzliches Eigentum des Klosters, das wachsen und wachsen will und mittlerweile als Kulturzentrum nicht nur in Europa bekannt geworden ist. Wat Srinagarindravararam, in traditionell thailändischem Stil erbaut, streng nach den Gesetzen heiliger Architektur, ist heute ein ernstzunehmender Faktor im religiösen Leben vieler Menschen. Es ist auch ein Schmuckstück, das unter Heimatschutz steht und als Touristenattraktion gehandelt wird. Seine goldene Kuppel leuchtet weit herum.
Mit dem Abt verband mich von meinem ersten Besuch an tiefe Freundschaft. Ich hatte keinerlei Autoritätsprobleme. Ich wollte von ihm lernen - ohne mir emotional im Weg zu stehen. Auch die Frage des Vertrauens stellte sich mir nicht. Die Fruchtlosigkeit des Zweifelns kannte ich aus Erfahrung. Der Psychospiele war ich überdrüssig. Zudem erschien die spirituelle Vertrautheit zwischen dem Abt und mir so rein und klar, dass es sich erübrigte mich zu verstecken. Wir kannten einander seit unendlich langer Zeit: das spürte ich. Verstellung wäre Zeitvergeudung. Der Abt hätte sie durchschaut. Und meine Dankbarkeit gegenüber dem Kloster und den Mönchen verbot das Mogeln.
Auch meine Verehrung für den Abt erscheint mir als natürlich. Sie hat sich von selbst ergeben. Doch bin ich nicht von seinem Hier-sein abhängig. Ginge der Abt zurück nach Thailand, würde ich das bedauern, könnte aber mit einem eventuellen Nachfolger genauso gut weiterarbeiten. Das Vertrauen der Menschen ruht zu Hundert Prozent auf seinen Schultern. Er wird geschätzt und ist äusserst beliebt. Und es suchen ihn auch immer mehr Menschen auf, die den Buddhismus nur vom Hörensagen her kennen. Auch deshalb, weil sie sich von ihm und im Kloster ernst genommen fühlen.
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Wie schon erwähnt, begann ich mit meinem Vipassana-Training, als ich an einem Tiefpunkt in meinem Leben angelangt war. Buchstäblich nichts ging mehr. Und obwohl ich genau wusste, dass dieser Umstand nur mit mir selbst zu tun hatte, beobachtete ich mich dabei, wie ich die ganze Welt, angefangen von der durch meine Unachtsamkeit zerbrochenen Haarspange bis hin zu meinen Vorfahren, dafür verantwortlich machte.
Ich war mein eigener Feind. Und dadurch betrachtete ich auch alles ausserhalb meiner selbst als Feind. Was für ein qualvoller Zustand! Was immer geschah, ich reagierte mit Ablehnung darauf. Beim geringsten Anlass bäumte ich mich auf wie ein scheuendes Pferd. Und ich nahm alles als Anlass. Ich erstickte an mir selbst, an der unauslotbaren Wut und dem unauslotbaren Hass, die in mir brodelten und von denen ich nicht begriff, woher sie stammten.
In lichten Momenten, die dünn genug gesät waren, dämmerte es mir, dass dieser Zustand viel umfassender war als meine Person. Dann erlebte ich mich wie durch unsagbar leidvolle Welten wandernd. Ich verstand, dass dieses Grauen eine Station auf meinem Weg darstellte und keine Strafe des Allerhöchsten bedeutete. Doch dauerte diese Einsicht meistens nur kurz. Es spülte mich rasch wieder nach unten, wo ich hilflos zerrieben – oder geschliffen wurde – wie ein Stein, der in die Mangel geraten ist.
Ich wütete wie ein Tier im Käfig gegen alles, was sich mir zu nähern versuchte. Die ganze Welt schien gegen mich. Im Hinterkopf blieb die Erinnerung ans Üben, ans Dranbleiben wach. Ich zwang mich auch immer wieder zum Innehalten und Rundumschauen. Das färbte das Grauen der Nacht, die in mir herrschte, nur noch schwärzer.
Um mich aus meiner Gefangenschaft loszureissen, teilte ich wieder und wieder unseren gemeinsamen Besitz auf, visualisierte ich wieder und wieder die Trennung von meinem Partner. Oft streifte ich die Grenze zum Wahnsinn haarscharf. Denn das Bewusstsein unbeirrten geführt Werdens, egal wie gross die Katastrophe, kannte ich seit frühester Kindheit.
Zu Beginn stellte ich bei der Aufteilung des Besitzes noch von Rache- und Sühnegedanken diktierte Ansprüche. Je öfter ich mich jedoch diesem Prozess stellte, der oft Stunden oder ganze Nächte lang dauerte, desto mürber wurde der Widerstand und ich desto williger, im Falle eines Falles die gesamte Vergangenheit zu verabschieden. Dann: nach Monaten des Kämpfens dämmerte der Tag herauf, an dem ich unseren gemeinsamen Besitz als Ganzes meinem Partner schenken wollte. Ich benötigte nur gerade so viel Geld um als Yoga-Lehrerin neu anzufangen, egal wo. Das Ende des Tunnels kam in Sicht.
Der Prozess lief ab, ohne dass ich darüber sprach. Ich frass, was vorging, ungefiltert in mich hinein. Oft fühlte sich das an, als sei ich im Fieber, und das Tage und Wochen lang. Die Erinnerung an das Buch „Die lange, dunkle Nacht der Seele“ des Johannes vom Kreuz streifte mich. Doch seine Gedichte nachzulesen, machte so wenig Sinn wie irgendetwas anderes zu lesen oder zu tun. Nichts machte Sinn. Ich sehnte mich nach dem Tod. Und versuchte gleichzeitig krampfhaft am Leben zu bleiben. Ich war ständig verletzt, auch physisch. Spektakuläre Stürze brachten mich an den Rand stummer Verzweiflung. Ich mochte nicht einmal mehr schreien. Nirgends zeigte sich ein Ausweg. Ich lag wie tausendfach verschnürt gefangen in unentrinnbaren Abgründen.
Meine Lage sah in der Tat dramatisch aus. Ein Glück, dass mein Typ auf „Drama“ abonniert schien. Ich kannte es aus langer Erfahrung. Und natürlich schürte das die ohnmächtige Wut zusätzlich. Einerseits sah ich mich zu hundert Prozent als Opfer. Andererseits war ich zweifellos zu ebensolchen hundert Prozent Täterin. Nichts sprach mich davon frei. Die Erkenntnis, meine Zustände seien hausgemacht, tröstete mich allerdings nicht im Geringsten.
Mit dem Üben von Vipassana-Meditation tat ich mich schwer. Entweder übte ich während Stunden wie verrückt. Eine Zeitlang stand ich sogar um drei Uhr morgens auf und ging, schlotternd vor Kälte, im Zeitlupentempo in meinem Zimmer auf und ab, da ich beim Sitzen eingeschlafen wäre. Dann wieder gelang es mir tagelang nicht, die inneren Widerstände zu überwinden und ich liess das Üben bleiben. Regelmässig zu üben, brachte ich nicht fertig. Mein Körper schien ein einziges Schmerzpaket zu sein und der Zugang zu Kreativität, Vertrauen und Optimismus versperrt. Zu guter Letzt bekam ich die Grippe und durfte endlich ausruhen. Freiwillig hätte ich mir keine Verschnaufpause gegönnt.
Im Bett liegend verbrachte ich die meiste Zeit mit Atmen und Meditation.
In gewissen Momenten fühlte es sich an, als würde ich sanft abwärts getragen, zu einem dunklen Ort aus eiskaltem Stein. Er sah aus wie eine Gruft. Wie ein Grab in einem tiefen Schacht, in den mein Körper genau hineinpasste. Entspannt ergab ich mich. Ich erlaubte Kälte und Dunkelheit den Körper in Besitz zu nehmen. Jede Zelle damit auszufüllen. Der Körper: taub, steif, tot, löste sich auf, atmete langsam und kaum wahrnehmbar. Der Geist leuchtete, durchflutet von Licht. Darin fanden sich die Worte: „Ich gelobe, mein Leben für alle fühlenden Wesen hinzugeben und nicht zu ruhen, bis auch das letzte unter ihnen Vollendung erreicht hat. Ich breche dieses Gelöbnis niemals. Ich bitte alle Buddhawesen, mein Versprechen zu akzeptieren und mein Leben hinzunehmen.“
Das geschah dreimal. Ich dachte es nicht, noch sagte ich es. Ich war es – ohne Gefühl, ohne Gedanken, ohne irgendwelche Angst. Das Gelöbnis geschah durch mich. Ich tat weder etwas dafür noch dagegen. Im Innern, dem Ort des Gelöbnisses, herrschte auch Tage später kristallene Klarheit. Und einmal mehr sah Leben neu und verwandelt aus.
Da ich aus der Arbeit in früheren Schulen wusste, wie wichtig es ist, mit dem Lehrer in Kontakt zu sein, teilte ich dem Abt die Erfahrung mit.
Eine Woche später geschah die Fortsetzung während der Sitzmeditation:
Klar wie nie zuvor, sah ich die Leerheit in den Dingen, in mir selbst, in unserem Haus, in Städten, Landschaften, in Menschen und Tieren, sogar im Kloster und den Mönchen. Alles war ortlos. Es gab niemanden, dem ich hätte Schuld aufbürden, niemanden, dem ich mich hätte zu- oder von dem ich mich hätte abwenden können. Es gab nicht einmal jemanden, an den ich hätte ein Gelöbnis richten können. Auch die Schau liess sich mit Worten nicht beschreiben. Begriffe existierten nicht. Die Schau bestätigte einzig: ich allein war zuständig und verantwortlich für meine Person und mein Leben, in jeder nur denkbaren Hinsicht.
Auch diese Erfahrung schrieb ich dem Abt. Und er fragte mich, ob er meine Berichte übersetzen und in der klosterinternen Zeitschrift veröffentlichen dürfe.
Eine zweiwöchige Meditationsklausur stand bevor und wurde wegen der beginnenden Arbeiten am Bau des Ubosoth in ein Kurszentrum von Franziskanermönchen ausgelagert. Ich meldete mich an. Für zehn Tage. Zehn Tage lang nicht sprechen zu müssen, mit mir allein sein zu dürfen: welch immenses Geschenk.
Einer Kirche, einem Kult, einer religiösen Organisation anzugehören, weigerte ich mich standhaft. Die erste Amtshandlung am Tag meiner Volljährigkeit bestand darin, aus der katholischen Kirche, nach deren Glaubenssätzen ich erzogen worden war auszutreten. Abhängigkeit war etwas für Feiglinge, die nicht den Mumm aufbrachten, sich mit Gott direkt auseinander zu setzen. Ich war stolz auf meine Ungezähmtheit, bildete mir gehörig etwas darauf ein. Sogar dem Abt hatte ich davon erzählt. Er schmunzelte und gab mir augenzwinkernd zu bedenken, dass Probleme vielleicht dann auftreten könnten, wenn es eines Tages darum ginge, mich zu beerdigen und niemand sich dafür zuständig sähe.
Mittlerweile weichgekocht, schien Zugehörigkeit tatsächlich in den Bereich des Möglichen zu rücken. Es erschien plötzlich dringend, den Abt zu fragen, ob die bevorstehende Klausur als Vorbereitung dienen könnte. Der letzte Tag der Klausur fiel auf den Pfingstsonntag: ich bat den Abt, mich am Morgen dieses Sonntags in die buddhistische Gemeinschaft aufzunehmen. Die Zeit war reif. Und ich bereit. Der Schritt stellte die logische Konsequenz der Vipassana-Arbeit dar. Der Abt willigte ein.
Der Text für die schlichte Zeremonie zwischen mir und dem Abt musste auswendig auf Pali gesprochen werden. Ich zündete zwei Kerzen und drei Räucherstäbchen auf dem Buddha-Altar an und setzte mich, nach den Niederwerfungen, auf die Fersen zu Füssen des Abts. Eine Reihe von Thai-Frauen mit ihren Kindern kauerte hinter mir. Die Rezitationen des Abts und meine Entgegnungen wurden von Lachen und Kindergebrabbel begleitet. Fröhlichkeit und Wohlwollen umbrandeten mich. Der Abt weihte eine bronzene Buddhastatue mit Perlmuttaugen und überreichte sie mir - bevor er mit einem Wedel aus Halmen Schauer über Schauer geweihten Wassers über mich sprühte, um mich von allem Vergangenen reinzuwaschen. Fluten von Glückwünschen ergossen sich über mich. Weiss gekleidet, überreichte ich weisse Blumen, eine Spende in weissem Umschlag, weisse Kerzen sowie Räucherstäbchen
Und genauso licht wie die frohen, unbeschwerten Momente der Initiation, fühlte ich mich: im Einklang mit meinem neuen Stand, sprühend vor Kraft und Zuversicht.

Im Tempel zu lernen, gemeinsam mit einem Meister, der seine Tradition vierundzwanzig Stunden am Tag vertritt und weitergibt, bedeutete für mich eine einzigartige Erfahrung. Ich empfand sie als leicht und als verwirrend zugleich. Leicht, weil der Abt einfach, direkt spricht oder auf Fragen antwortet und Buddhismus dadurch logisch und plausibel erscheint. Verwirrend, weil mir klar wurde dass ich, was ich aus Büchern über Buddhismus verstanden zu haben glaubte, getrost vergessen konnte, da meine Interpretationen keineswegs den Tatsachen entsprachen. Die verstiegenen Gedankenspiele trafen voll daneben.
Während den Tagen der Klausur wurden wir von einem aus Thailand eingeflogenen, Meditationsmeister betreut. Er zählt zu den besten auf dem Gebiet. Dass er sich überhaupt die Zeit nahm, für uns wenige Meditierende anzureisen, bedeutete eine Auszeichnung und hing mit der Sonderstellung von Wat Srinagarindravararam und derjenigen des Abts zusammen.
Ich war dem Meditationsmeister schon begegnet, als ich mein erstes Wochenende im Kloster verbrachte. Er erkundigte sich freundlich nach meinen Übungsversuchen. Fragen, die ich hätte in Worte kleiden können waren noch nicht in Sicht. Zu überwältigend fremd erschien mir alles. Die Hilflosigkeit stand mir ins Gesicht geschrieben.
Während den Tagen im Franziskaner-Zentrum änderte sich das grundlegend. Die gut bürgerliche Schweizerkost half dabei. Der Meditationsmeister sprach kaum Englisch. Die Verständigung geschah über Blickkontakt. Das förderte tiefgründige Gespräche. Der Meditationsmeister – „Ajan“ genannt (= „Lehrer“) - war jünger als ich, kannte westliches Denken kaum, wusste wenig über die Beziehung von Westlern zu Religion, Meditation und innerer Arbeit. Er hatte Kurse in westlicher Philosophie besucht, Bücher gelesen. Doch richtig wohl, wie der Fisch im Wasser fühlte er sich nur im Buddhismus. „Buddha“ sang in jeder Zelle seines schmalen, zierlichen Körpers. Buddha hiess Erfüllung, Präsenz, Reinheit. Die meist fehlende innere Ausrichtung westlicher Kultur auf Religion versetzte ihn in Erstaunen und ziemliche Bestürzung.
Der "Ajan“ liess mich wiederholt über diesen Umstand sprechen, beobachtete mich dabei mit Argusaugen, als sitze ich auf dem Prüfstand. In der Folge verwies er mich urplötzlich auf meine Kritiksucht und auf die vorwurfsvolle Haltung gegenüber westlicher Kultur. Ich sass in der Falle: hatte er nicht gewünscht, dass ich erzähle? Und nun das? – Die rasante, unmissverständliche Weise seines Lehrens faszinierte mich!.
Wie alle Mönche, denen ich begegnete, wirkte der Ajan mild, sanft und für westliches Fassungsvermögen fast zu offen, zu rein. Kam er jedoch zur Sache, biss man bei ihm – ebenso wie beim Abt – auf Granit. In inneren Belangen sind der Ajan und der Abt kompromisslos. Eine Haltung, die sich durch direkte, persönliche Erfahrung in Meditation von allein einstellt, wie ich im Laufe der Arbeit selbst feststellte. Wenn für mich unzweideutig eine Tanne eine Tanne ist, nicht nur vielleicht oder wahrscheinlich, und ich sie auch als solche wahrnehme, erübrigen sich Kommentare und Diskussionen. Besonders, wenn sich die Wahrnehmung auf das Leben als Ganzes erstreckt.
Auszuruhen in Anwesenheit des Abts oder Ajans ist ein Ding der Unmöglichkeit: schlicht kein Thema. Sich zu entspannen, zu öffnen, im Atem zu sein - das ja. Das sind Arbeitshaltungen. Und die müssen hart errungen werden. Sich gehen zu lassen, ist keine Arbeitshaltung. Schon allein der Respekt gegenüber dem Meister verbietet sie.
Für den, der sieht und das auch will, der sich getraut kompromisslos hinzuschauen, offenbart sich der Weg im Blick des Meisters. Eigentlich bräuchte es zur Verständigung zwischen Meister und Schüler keine Wörter. Wörter dienen zur Kontaktaufnahme, zur Entspannung der oft energiegeladenen Beziehung zwischen Meister und Schüler und der Verankerung des Gelernten im Alltäglichen. Doch ginge es ohne sie genauso gut. Der Ausdruck in den Augen des Schülers genügt, um dem Meister zu zeigen, an welchem Punkt in der Arbeit der Schüler steht. Begreift der Schüler die Grundlagen der Meditation , reicht diese Gegenüberstellung. Mit der Zeit lernt der Schüler immer subtiler, sich selbst ebenfalls am Blick des Meisters zu orientieren.
Es heisst, der Mensch, der den Weg von Vipassana-Meditation zu gehen beabsichtigt, sollte sich der Beachtung folgender grundsätzlicher Regeln befleissigen:
Die erste empfiehlt, nicht zu töten,
die zweite, nicht zu stehlen,
die dritte, keinen sexuellen Missbrauch zu treiben,
die vierte, sich Bewusstseins trübender Getränke und Drogen zu enthalten,
die fünfte schliesslich, nicht zu lügen.
Buddhismus basiert auf Empfehlungen, nicht auf Geboten und Verboten. Angstmacherei hat im Buddhismus nichts zu suchen. Doch erleichtert eine disziplinierte, moralische Grundhaltung das Üben von Meditation allein deshalb, weil es dem Übenden an der notwendigen Konzentration fehlte, knebelten ihn Schuldgefühle. Konzentration hinwiederum schafft die Bedingung, dass ihm überhaupt Einblicke gewährt werden: Einblicke in die Muster, die ihn konditionieren. Einblicke in Fragen und Probleme, die ihn umtreiben. Einblicke in die „Persönlichkeit“, die die Sicht auf die wahre Natur von Leben verstellt –
und Einblicke in „die Weisheit der vier edlen Wahrheiten“:
die erste betont – „alles, was ist, ist Leiden unterworfen“ -
die zweite empfiehlt – „suche nach der Ursache“ -
die dritte verkündet - „befreie dich vom Leiden“ -
und die vierte zeigt den Weg auf zur Befreiung vom Leiden.
Mit Meditation zu beginnen bedeutet, am Anfang einer schwierigen Arbeit zu stehen. Noch ist der Interessent roh und unvorbereitet. Die moralische Einstellung geht ihm ab. Er ringt mit Schuldgefühlen. Still zu sitzen entpuppt sich als Marter. Ein Tohuwabohu entfesselt sich in seinem Innern, sobald er versucht, sich zu konzentrieren. Das Ego wehrt sich mit Klauen und Zähnen dagegen, angeschaut zu werden.
Doch Hilfen sind vorhanden. Der Weg der Meditation ist paradoxerweise auch ein liebevoller, fürsorglicher Weg, gepflastert mit Unmengen von Zeit, die für den Meditierenden arbeitet. Je mehr er sich ihr hingibt, desto mehr wächst die Geduld. Das führt zu einer positiven, frohen Einstellung zur Arbeit an sich selbst. Und daraus entsteht das Gespür dafür, was zur Verwirklichung des Ziels hilfreich und was schädlich ist. Echtes Bedürfnis dranzubleiben zeigt sich, echte „Medi-tation“, in die „Mitte“ zu gelangen. Nichts bringt den Übenden dann vom unbeirrten Verfolgen des Pfades ab.
Die Philosophie des Buddhismus ist sehr einleuchtend, da sie einfach auf gesundem Menschenverstand basiert. Unter Buddhismus versteht man den Weg, den der Buddha gegangen ist bis hin zur Erleuchtung. Der Weg widerspiegelt auf allen Ebenen des Seins Buddhas eigene, gelebte Erfahrung – und somit die Erfahrung, die jeder Mensch auf seinem Weg durchs Leben machen könnte. Der Unterschied zwischen dem Buddha und einem gewöhnlich Sterblichen besteht nur darin, dass der Buddha den Weg bis hin zur Vollendung, zum „Nirwana“ zurückgelegt hat. Dabei hat er sämtliche Schwierigkeiten, Fallstricke und Enttäuschungen, die das Leben bietet selbst durchlaufen, durch alle Elemente hindurch, in sämtlichen sichtbaren und unsichtbaren Welten, und das aus eigener Kraft und ohne Hilfe Dritter. Er wollte um jeden Preis Befreiung vom Leiden erreichen und scheute dafür keine Gefahr. Er durchlebte die ganze Bandbreite menschlicher Existenzformen, angefangen vom Wohlleben in üppigstem Luxus im Palast seines Vaters bis hin zu den extremsten Qualen physischer Kasteiung.
Als er einmal, dem Tode nahe, wochenlang ohne zu essen und zu trinken, sogar ohne zu atmen, unter einem Baum sass, bis auf die Knochen abgemagert vor glühender Suche und brennendem Verlangen nach Befreiung, erbarmte sich Gott Indra seiner. Er stieg, eine Vina, ein dreisaitiges Musikinstrument im Arm, zu ihm hinunter.
Der Buddha verharrte in tiefer Versenkung. Die erste Saite der Vina war nur ungenügend gespannt und klang wie das Wehklagen einer hungrigen Katze, als Indra sie anschlug. Dennoch vernahm der Buddha den Klang. Die zweite Saite war so straff gespannt, dass sie aufschrie und zerbarst, als Indra sie zupfte. Auch dieser Klang drang bis zum Buddha durch. Die dritte Saite war wohl gespannt, genau richtig, nicht zu schwach und nicht zu stark. Und wundersame Musik ertönte, als Indra auf dieser Saite spielte. Der Klang schreckte den Buddha aus seiner Versenkung auf. Und mit einem Mal erkannte er die „Bedeutung des Mittleren Pfades“ - wie der Buddhismus auch genannt wird. Gerade weil der Buddha das Leben bis hin zum äussersten Grad der Extreme erforscht hatte, erkannte er die „Wichtigkeit des Goldenen Mittelwegs“.
Dieser, auf sämtliche Menschen zugeschnittene, für sämtliche Menschen gangbare Weg bewerkstelligte, was die Extreme nicht hatten bewerkstelligen können: er führte den Buddha zur Erleuchtung und schliesslich ins Nirwana.
Deshalb erscheint der Buddhismus als direkt aus dem Leben gegriffen. Für religiöse Spekulationen bleibt kein Platz. Auch die Natur Gottes, das Wesen Gottes, ist im Buddhismus kein Thema. Denn niemand hat „Gott“ je gesehen – hätte er das, könnte er nicht davon künden, da es in Gott weder einen Schauenden noch einen Angeschauten gibt. So bleibt nur Spekulation übrig, um über Ihn zu sprechen, Ihn zu definieren und Ihn zu beschreiben oder Ihm Qualitäten zuzuordnen. Solange Gott jedoch als allwissend angesehen wird und als allumfassend, muss auch das Gegenteil in Ihm enthalten sein. Und das wiederum machte aus Gott auch einen Strafenden, Rächenden.
Im Buddhismus wird weder auf einen strafenden noch auf einen allumfassenden noch auf einen allgütigen Gott Bezug genommen. Und damit entfällt der Schuld- und Sühne-Gedanke. An seine Stelle tritt die Erfahrung von Ursache und Wirkung - von Karma. Karma ist lebendige, ständig sich wandelnde Erfahrung, kein Konzept. Karma zeigt auf, wie jede Handlung, und sei sie noch so beiläufig, wie auch jedes Gefühl, jeder Gedanke sofort eine Wirkung nach sich zieht. Und diese Wirkung ruft wieder eine nächste Wirkung hervor, und so weiter und so fort. Die Wirkungsweise von Karma kann jeder Mensch, der gelernt hat, sich zu beobachten und auf seine Verhaltensweisen aufmerksam zu werden, unmittelbar an sich selbst nachvollziehen.
Je länger Meditation geübt wird, desto subtiler wird das Gespür für diese Zusammenhänge. Bis der Moment da ist, an dem der Mensch zum Stillstand kommt und zum ersten Mal, vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, ihn eine Ahnung höherer und höchster Zusammenhänge streift. Das verändert sein Leben mit Sicherheit. Er wird von da an sehr viel vorsichtiger, achtsamer und bewusster mit sich und mit seinem Leben, mit anderen Menschen, mit Tieren und mit seiner Umwelt umgehen, selbst wenn er noch eine geraume Weile lang immer wieder in alte Verhaltensweisen zurückfällt. Innere Wandlung braucht Zeit. Und eine kleine Erleuchtung macht noch keinen Erleuchteten. Doch eine Lampe ist angezündet und ein weiteres Stück des Weges sichtbar geworden.
Karma könnte mit einem Schlitten in voller Fahrt verglichen werden. Wobei der Schlitten die nach einem Tod übrig gebliebene, unerlöste Seelensubstanz verkörpert, die weiter und weiter verarbeitet werden muss. Der gegenwärtig auf dem Schlitten Sitzende steuert ihn vielleicht über holprige, glitschige Waldpfade, zeitweise sogar in Abgründe. Sobald er von ihm hinunter fällt – im Sterben – besetzt ihn sogleich der Nächste. Möglicherweise geht dieser schon etwas sanfter mit dem Schlitten um. Der Nächste noch behutsamer. Der Übernächste mag eine Bruchlandung erleiden. Doch je mehr Fahrer, desto grösser die Bandbreite der Erfahrungsebenen. Allmählich gleitet der Schlitten immer sanfter dahin, nach tiefer Nacht in leuchtendem Sonnenschein, so lange, bis weder Fahrer noch Schlitten noch Fahrbahn von einander zu unterscheiden sind und die Fahrt zum Ende kommt. Das „Ziel“ ist erreicht. Befreiung ist erreicht. Das ist ein Vorgang, der allerdings nicht auf einer Abfolge von Zeit, im weltlichen Sinne verstanden, basiert.
Auf andere Weise ausgedrückt, könnte Karma als eine Fackel angesehen werden, deren Feuer zur nächsten Fackel, nochmals zur nächsten Fackel und so fort weiter gereicht wird.....
Oder aber als Strom, in dem Wesen auftauchen und wieder untergehen, in ständig sich wandelnden Varianten und Phänomenen. Der Strom an sich ist neutral. Er erfüllt unparteiisch seine Funktion als Fluss. Doch die egozentrierten Wesen, die von ihm mitgerissen werden und mit der Idee eines Ichs verhaftet sind, nehmen ihn persönlich.
Wegweiser stehen überall. Sie sind nutzlos, wenn der Mensch die Richtung, in die sie weisen, nicht selbst unter die Sohlen nimmt. Letzte Antworten sind nicht möglich. Da dort, wo sie angesiedelt wären, Handlung, Handelnder und Behandelter ineinander aufgehen und jede Begrifflichkeit wegfällt.
Von einem meiner früheren Lehrer habe ich die Worte erhalten:
„Alle Phänomene sind Illusion,
weder ziehe ich sie an noch weise ich sie zurück.
Wenn ich mich still verhalte,
trägt mein gewohntes Üben mich durch sie hindurch.“
Wobei mit gewohntem Üben die heilsamen Verhaltensweisen gemeint sind, auf denen ich mein Leben – im Bewusstsein, dass alle Phänomene Illusion sind – durch Meditation aufbaue.
Im Buddhismus erscheint das Göttliche nicht als etwas Personifiziertes, von dem ich mir ein Bild mache. Da das Vollendete, Eine, Untrennbare keinerlei Eigenschaften besitzt, kennt es auch kein Gegenüber, keine Polarisierung. Alle Gegensätze sind darin erlöst. Also befindet es sich jenseits von Parteinahme. Im Zustand reinen Lichts ist Dunkelheit überflüssig. Folglich beten Buddhisten auch nicht, im christlichen Sinn. Sie huldigen dem, sie verehren „den Weltenlehrer Buddha“, der ihnen den Weg hinaus aus dem Leiden aufgezeigt hat, indem er ihn selbst gegangen ist - den Weg hinaus aus dem Verhaftetsein im Persönlichen bis hin zur Erlösung von Gebundenheit an Existenz. Das ist ein Weg, der in jedem fühlenden Wesen angelegt ist.
Das Universum besteht, physikalisch gesehen, aus denselben Bausteinen wie die Pflanze, wie das Tier, wie der Mensch. Die Möglichkeit zur Befreiung ist universell und hängt auch nicht von Religionszugehörigkeit ab. In diesem Sinne wird auch gesagt, der Buddhismus sei ein Lebensweg, jedoch keine Religion. Erscheinungen, Dinge sind bar jeder Substanz, aus Sicht von Erwachtheit. Das gilt auch für Gefühle und Gedanken.
Das Herz des Universums ist Rhythmus, Schwingung, Klang.
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Als ich damit begann, Vipassana-Meditation zu üben, hatte ich erst eine sehr vage Vorstellung davon, was die Bedeutung von Karma sein könnte.
Als Kind genoss ich eine ausgesprochen repressive Erziehung. Mitbestimmung oder eine eigene Meinung wurden mir nicht zugestanden. Das Damokles-Schwert einer strafenden Gottesfigur hing ständig über mir. Mir wurden meine Schlechtigkeit und mein Ungenügen bei jeder sich bietenden Gelegenheit um die Ohren gehauen. Das trug dazu bei, dass meine Meinung über mich selbst auf ein sehr tiefes Niveau sank. Ich hielt mich für aussergewöhnlich böse und schlecht.
Um mich physisch und emotional über Wasser zu halten, brauchte ich Angriffs- und Verteidigungsmechanismen. Ich wäre sonst hoffnungslos unter die Räder dumpfer Anpassung geraten. Und das durfte auf keinen Fall geschehen. Aus Not mutierte ich zum rabiaten, unerziehbaren Biest. Und obwohl mir immer wieder versichert wurde, der Herrgott würde mich früher oder später bitter dafür bestrafen, hielt ich aus purer Angst an meiner Haltung fest. Mit dem Herrgott versuchte ich mich in Stunden verzweifelten Forderns, Bittens und Flehens, dahingehend zu einigen, dass meine Strafe sich in Grenzen hielte. Ich fühlte mich daher auch nie total als Opfer. In mir fand sich stets ein winziger Spalt, durch den ich noch schlüpfen konnte, wenn mir das Wasser bis zum Hals stand. Ich war nie zu hundert Prozent den Machenschaften anderer Menschen ausgeliefert. Es stützten mich meine inbrünstige Hoffnung und mein unerschütterlicher Glaube. Wären diese Qualitäten weggefallen, hätte es, als allerletzte Lösung, noch den Selbstmord gegeben. Diese Version hielt ich Jahrzehnte lang für möglich, so lange bis sich mein erster Mann das Leben nahm und diesen Zwang für mich erlöste.
Inzwischen ist mir bekannt, dass in der Mystik jeder der grossen Weltreligionen das Wissen um Reinkarnation vorhanden ist. Wenngleich möglicherweise nicht in der Konsequenz, mit der der Buddhismus dieses Bewusstsein, diese in der Meditation unmittelbar nachvollziehbare Erfahrung vertritt.
In zahllosen Lehrgeschichten über das Leben und Wirken des Buddha wird laufend auf die Art und Weise Bezug genommen, mit der der Mensch das Garn seines „Karma“ weiter und weiter spinnt. Wird ihm irgendwann bewusst, dass die Qualität jedes seiner Atemzüge unweigerlich die Qualität der darauffolgenden prägt, so wie seine Haltung in jedem Augenblick seines Lebens seine Haltung in jedem nächsten Augenblick bestimmt, streift ihn ein Ahnen davon, welch unerhörte Verantwortung er hat, wenn er sich einem auf Karma beruhenden Leben verpflichtet. Wird er sich dieser Sichtweise bewusst, stoppt das sein egozentrisches, chaotisches Dasein auf der Stelle. Solches Erkennen kann schockartig tiefe Einblicke vermitteln und Mauern zum Einstürzen bringen, die sich nicht mehr einfach wieder aufrichten lassen.
Für einen Vipassana-Übenden gibt es weniger und weniger Verstecke auf dem Weg, weniger und weniger Höhlen oder verborgene Winkel, die ihn vor der Auseinandersetzung mit sich selbst schützen. Als Zufluchtsort hat er nur sich selbst und seine Meditationsarbeit. Und je mehr er erkennt, wie jeder Gedanke, jedes Gefühl und jede Handlung, die darauf folgenden inszeniert, desto dünner wird das Eis unter seinen Füssen. Es gibt kein über den Wolken thronendes, himmlisches Wesen, an das er seine Verantwortlichkeit delegieren könnte. Buddha ist der Lehrer, der den Weg zwar geebnet hat, indem er ihn in all seinen Schattierungen aufzeigte. Aber er wird nicht als der Erlöser angesehen, der den Menschen ein für alle Mal von Sünde und Mühsal befreit hat. Der Übende muss jeden Schritt auf dem Weg selbst aktiv tun. Davon dispensiert ihn niemand. Der Weg erledigt sich nicht, indem er darum bittet, er möchte, ohne sich zu mühen und zu plagen an dessen Ende getragen werden. Er kann ihn entweder selbst gehen oder es bleiben lassen. Es enthebt ihn niemand der Arbeit.
So gesehen, gleicht Vipassana-Meditation tatsächlich einem Stierkampf. Den Stier verkörpert das Ego. Es versucht, den Übenden ständig aufzuspiessen. Es will um jeden Preis die Oberhand behalten. Doch so wenig es im Stierkampf darum geht, den Stier kurzerhand abzumurksen, so wenig geht es in der Meditation darum, dem Ego den Garaus zu machen. Der Torero geht mit Respekt, mit äusserster Aufmerksamkeit und Eleganz ans Werk. Er verliert den Stier keinen Augenblick aus den Augen. Er erspäht jede seiner Drehungen, seiner Sprünge und Angriffe. Er lernt den Stier aufs Genaueste kennen. Eine tiefe Beziehung entspinnt sich zwischen Stier und Torero, eine Art Liebesbeziehung.
Auch in der Meditation muss der Übende eine Liebesbeziehung zu sich selbst, zu den Machenschaften seines Egos aufbauen. Wie sonst sollten sie sich ihm zeigen? Was er verdrängt und entrüstet oder angewidert von sich weist, wird sich vor ihm versteckt halten und ihn irgendwann, wenn er am wenigsten darauf vorbereitet, ist hinterrücks überfallen. Entspannung, Offenheit und Ehrlichkeit bringen das Ego dazu, seine Schliche und Tricks zu offenbaren. So wie der Torero sich dem Stier frontal stellt, muss auch der Übende sich in der Meditation seinem Ego frontal stellen. Nur dann wird es sich ihm eröffnen und sich anschauen lassen.
Genau so funktioniert Karma. Offenheit erzeugt Offenheit – Hinterhältigkeit erzeugt Hinterhältigkeit. Die Funktionsweise von Karma ist konsequenter als selbst das genialste menschliche Denkvermögen sie erfinden könnte.
Eine der Geschichten, anhand derer der Buddha seine Zuhörerschaft lehrte, karmische Abläufe zu verstehen, möchte ich als Beispiel hier anfügen:
In einem Dorf herrschte grosse Dürre. Viele Menschen verhungerten und verdursteten. Ein junges Ehepaar beschloss, dem Elend zu entfliehen. Es machte sich auf den Weg. Der Mann trug den neugeborenen Sohn. Nach langen Stunden voller Entbehrungen erreichten die beiden eine Gegend, in der keine Dürre herrschte. Sie durchquerten einen Wald auf der Suche nach menschlichen Behausungen. Der Mann war so erschöpft, so hungrig und durstig, dass er das Kind nicht mehr zu tragen vermochte. Die beiden beschlossen, dass sie sich in dieser Arbeit abwechseln würden. Als wieder einmal dem Mann das Kind schwer im Arm lag und ihn beinahe zu Boden riss, sagte er zur Frau, er wolle seinen Sohn zurücklassen, da seine Kräfte aufgebraucht seien. „Wenn du das tust, sterbe ich“, entgegnete die Frau verzweifelt. Also plagte sich der Mann noch ein Stück des Weges. Die Frau ging voraus. Als der Mann unmöglich weitergehen konnte, brach er einen Ast von einem Baum, bettete das Kind darauf und lief seiner Frau nach. Sobald sie das sah, schrie sie laut auf und rannte zum Kind zurück, das in der Zwischenzeit jedoch verstorben war. Die Frau weinte untröstlich. Der Mann zog sie durch den Wald mit sich fort. In einer Lichtung trafen sie auf ein Bauernhaus, das einem vermögenden Mann gehörte, der viele Kühe, Schafe und Ziegen besass, ebenso wie eine stattliche Hündin, die gerade von einer Magd mit köstlichem Fressen versorgt wurde. Dem Mann lief das Wasser im Mund zusammen, als er das sah. Er wurde beinahe ohnmächtig vor Entkräftung. In einem Stossgebet wünschte er, anstelle der Hündin zu sein. Nachdem die Hündin versorgt war, hiess der Bauer die Magd, auch die Besucher zu speisen. Die Magd reichte ihnen zwei Teller voller Leckerbissen. Dem Mann traten die Augen aus den Höhlen vor Gier. Als seine Frau das beobachtete, schaufelte sie zusätzlich die Hälfte ihres eigenen Tellers auf den seinen. Der Mann stopfte sich so ungestüm mit Essen voll, dass er in der Nacht darauf an Übelkeit verschied und sofort im Schoss der Hündin inkarnierte – ein Umstand, der wohl weniger auf seinen zuvor ausgesprochenen Wunsch zurückzuführen war als auf die Tatsache, dass er seinen Sohn dem Verhungern und den wilden Tieren des Waldes preisgegeben hatte.
Sobald die Stunde der Hündin gekommen war, warf sie ein einziges Junges. Tiere, die normalerweise mehrere Junge haben, bei einer Geburt jedoch nur ein Junges werfen, geniessen in der buddhistischen Tradition eine Sonderstellung. Solche Tiere gelten als aussergewöhnliche Inkarnationen. Das Junge, ein Rüde, entwickelte sich denn auch zu einem ausnehmend kraftvollen, anmutigen und intelligenten Tier. Schon bald nahm es der Bauer in die Schule und brachte ihm manchen hilfreichen Trick bei.
In der Nähe des Bauernhauses lebte in einer Hütte im Wald der Patcheka-Buddha, der zwar Vollendung erreicht hatte, jedoch nicht mit der Fähigkeit ausgestattet war, Lehrer zu sein und sein Wissen an Menschen weiterzureichen. Der Bauer verehrte den Buddha sehr und lud ihn oft zu Tisch oder liess ihm durch seine Diener Essen und Almosen überreichen. Fehlte dem Bauern die Zeit, den Buddha selbst abzuholen, schickte er von nun an seinen klugen Hund zu ihm. Der Hund setzte sich auf die Schwelle des Buddha, bellte drei Mal und begleitete den Buddha zurück zum Hause seines Herrn. Der Hund liebte den Buddha über alles und strengte sich an ihm, wo immer es ging, zu Diensten zu sein. Es war offensichtlich, dass er kein gewöhnlicher Hund war.
Nach einiger Zeit entschied der Patcheka-Buddha, er wolle seine Hütte verlassen und an einen anderen Ort weiterziehen, da er befürchtete, der Bauer könnte sich zu sehr an ihn binden und zu abhängig von ihm werden. Als der Hund das hörte, begann er vor Schmerz zu bellen und herzzerreissend zu jaulen. Der Buddha breitete seine Arme aus und flog über Hügel und Wälder davon. Kaum war er den Blicken der Zurückgebliebenen entschwunden, stürzte der Hund entseelt zu Boden. Sofort inkarnierte er in der Welt der Götter. Dort traf er wieder auf den Patcheka-Buddha und diente ihm treu bis zu seinem Tod.
Seine nächste Inkarnation führte den ehemaligen Hund deshalb in den Schoss einer Prostituierten, zurück ins Menschendasein also, dank seiner Verdienste, die er als Diener des Buddha erworben hatte. Einen Knaben konnte die Prostituierte nicht gebrauchen. Wie hätte er, wenn sie einmal alt war, für sie anschaffen und ihren gemeinsamen Lebensunterhalt verdienen sollen? Also warf sie den Knaben kurzerhand auf den Müll. Krähen und Kühe, im Buddhismus heilige Tiere, die in der Nähe nach Futter suchten, bemerkten das und erhoben ein fürchterliches Geschrei, das sämtliche Dorfbewohner zusammenrief. Ein Mann erbarmte sich des starken und hübschen Knaben und nahm ihn mit nach Hause, da er wohlhabend genug war und es ihm auf einen Esser mehr oder weniger am Tisch nicht ankam.
Während sieben Leben hintereinander wurde der Knabe von jemandem weggeworfen und von jemand anderem gerettet, geriet in Todesgefahr und überlebte........
Diese Geschichte setzt sich endlos fort. Sie zeigt auf rudimentäre, aber wirkungsvolle Weise das Funktionieren von Karma. Weil der Mann seinen Sohn dem Tod aussetzte, inkarnierte er in der Welt der Tiere. Doch da er dem Patcheka-Buddha so überaus zu Diensten war, fand er sich nach seinem Tod in der Welt der Götter wieder. Und weil er dort für den Buddha auch weiterhin bedingungslos sorgte, durfte er dafür in die Welt der Menschen zurückkehren.
Denn nur der Mensch hat die Möglichkeit zu meditieren, innere Arbeit zu leisten und Erleuchtung zu erlangen. Es heisst: „Ein Mensch, der Nirwana erreicht hat, steht höher als sämtliche Götterwesen.“ Zum Gott macht den Menschen die Erleuchtung. In anderen Traditionen würde man einen erleuchteten Menschen einen Mystiker, einen Meister oder einen Heiligen nennen.
Die Welt der Götter im Theravada-Buddhismus zeichnen sechzehn Stufen aus. Auf den ersten elf Stufen erscheint der Mensch noch in menschlichem Körper. Die letzten fünf verbringt er nicht mehr auf der Erde. Und sobald er Nirwana erreicht hat, ist er aller Wiedergeburten ledig und geht auf im Unnennbaren.
Durch Meditation gelangt der Mensch nirgendwo anders hin, an keinen anderen Ort und in keine andere Zeit als in die, in der er sich in diesem Leben ohnehin befindet. Er kann stets nur mehr und mehr zu sich selbst finden, tiefer und tiefer in sich selbst hinein gehen, in sich selbst drin sein. Er erreicht auch nichts durch Meditation. Ihm wird nur etwas genommen, und zwar seine Illusionen, seine Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen sowie seine sämtlichen Erwartungen. Sie werden von ihm abgeschält, als sei er eine Zwiebel. Eine Zwiebel ist ohne Kern. Sobald ihre letzten Deckblätter weg gezupft werden, bleibt nichts von der Zwiebel übrig. Sobald sich auch die letzten Illusionen vom Menschen verabschiedet haben, wird seine Nicht-heit offenbar.
Für mich war bereits als junges Mädchen klar, dass die Idee von Reinkarnation die einzige Betrachtungsweise des Lebens ist, die Sinn macht. Als ich mit achtzehn Jahren die Schriften von Platon las, vor allem den „Phaidon“, kam ich zum ersten Mal damit in Kontakt. Mir ging dabei buchstäblich ein Licht auf. „Warum hat mir das bisher niemand gesagt“, durchfuhr es mich. Durch die Entdeckung dieser Offenbarung kam ich erst wirklich auf die Welt. Sie traf mich wie ein Blitz. Meine Füsse stiessen auf Grund. Und obwohl sich mein Leben deswegen nicht weniger schwierig gestaltete, veränderte das Bewusstsein von Reinkarnation meine Haltung dazu total. Es zeigte sich mir noch deutlicher als bisher, dass es einzig und allein an mir selbst lag, was daraus entstehen würde.
Die Idee von Karma allerdings verstand ich noch eine geraume Weile lang einfach in dem Sinne, dass alles was geschieht, vorherbestimmt ist und dass sich nur dann etwas daran verändert, wenn ich das Unumstössliche annehme.
Es brauchte seine Zeit – und es bedurfte noch mancher Schicksalsschläge und Katastrophen - ehe ich begriff, dass durch innere Arbeit nicht nur mein Leben, sondern in viel grösserem Mass ich selbst verändert, verwandelt werden konnte. Bis dahin verstand ich mein Leben und mich selbst als zwei voneinander getrennte Dinge. Mein Leben wurde durch die Umwelt bestimmt und gelenkt, dachte ich. Und ich hatte wenig Macht darüber, etwas an diesem Umstand zu verändern.
Diese Vorstellung wandelte sich grundsätzlich durch den Tod meines ersten Mannes und durch andere schicksalshafte Ereignisse, die sich zu jener Zeit häuften. Sanfte Winke hätten nicht ausgereicht, um mich zur Vernunft zu bringen. Es bedurfte dafür sehr massiver Schläge. Erst wenn ich am Abgrund stand, wenn ich drauf und dran war, von Messers Schneide zu kippen, gingen mir gewöhnlich die Augen auf. Ich war sehr hartnäckig in dieser Hinsicht.
Und hartnäckig bin ich geblieben – auch stur. Doch nun, seitdem ich mit Vipassana-Meditation arbeite, richten sich diese Qualitäten gebündelt in eine einzige Richtung. Und von dieser Richtung bin ich, aus gutem Grund, um keinen Preis mehr abzubringen.
Dadurch hat sich auch die Sicht auf mein Leben gedreht. Äussere Ereignisse haben viel von ihrem Stachel verloren. Sie sind zu Wegweisern geworden, sind nicht mehr Essenz meines Lebens. Die Essenz meines Lebens – daran besteht kein Zweifel – hat mit äusseren Ereignissen nichts zu tun und ist weder an sie gebunden noch durch sie bedingt. Äussere Ereignisse zeigen mir nur auf, womit ich Energie verschleudere, wenn ich an ihnen hängen bleibe, mich mit ihnen verhafte. Sie zeigen auf, in welchem Gebiet Unklarheit herrscht, welche Ecke in mir noch verdunkelt ist und so weiter.
Äussere Ereignisse sind für mich zu reinen Hinweistafeln geworden. Das hat von meinem Leben viel Leidenspotenzial abgezogen. Leichtigkeit ist dadurch möglich geworden und Dankbarkeit. Tiefe Dankbarkeit. Und Mitgefühl für das Leiden, das Leben als solches kennzeichnet. Das empfinde ich als das grösste Geschenk überhaupt.
Weitere Geschenke sind, dass ich zu schweigen und auch, dass ich zu beobachten und hinzuschauen gelernt habe. Die Konsequenz davon ist, dass ich Ereignisse, die passieren, Angriffe von aussen, aber auch Positives, das mir gewährt wird, nicht mehr persönlich nehme. Die Notwendigkeit innerer Arbeit ist zu einer solchen Kraft geworden, dass sie wie ein Licht ist, das durch keinen Schatten mehr verdunkelt wird. Ich kenne meinen Weg: ich kenne „den Weg“, weil ich ihn selbst gehe.
Konkret bedeutet das, dass ich alles, was tagaus und tagein geschieht, als Lern- und Übungspotenzial ansehe und nicht als persönliche Bestrafung oder Bestätigung. Selbst Ekstase oder Schuldgefühle, die auftauchen, dienen nun einfach der Bewusstwerdung. Mir ist klar geworden, dass jede Reaktion meiner Umwelt auf etwas, das ich denke, sage oder mache, direkt mit mir selbst zu tun hat, und zwar nicht deshalb, weil ich mich als Bauchnabel der Welt verstehe, sondern deshalb, weil es Ursache dafür ist, wie ich mich weiterhin positioniere, beziehungsweise wie ich darauf reagiere. Das gilt für unscheinbarste Vorkommnisse ebenso wie für fundamentale. Nichts ist zu gering, als dass ich mich nicht testen könnte, ob ich mich damit identifiziere oder erkenne, wie der Faden läuft.
Das mag hart klingen, ist es aber nicht. „Kompromisslos“ wäre der korrektere Begriff dafür. Ich bin weit weniger verführbar geworden und nicht mehr käuflich. Bedingt durch das Verstehen und die immer unmittelbarere Erfahrung der Wirkungsweise von Karma, von Ursache und Wirkung dank Vipassana-Meditation, geschieht innere Klarheit: Klarsicht.
In Konzentration innezuhalten, im Atem dem Augenblick standzuhalten, ist sicher attraktiver, als vom Ego umgetrieben zu werden. Dadurch nehme ich das Leben selbst an die Hand - in Liebe, Dankbarkeit und Mitgefühl.
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Zwischen Weihnachten und Neujahr – im zweiten Jahr meiner Meditationsarbeit - fand die erste Meditationsklausur statt, während der ich im Kloster selbst wohnte.
Ich kaute schwer an dieser Vorstellung. Da ich überhaupt nicht daran gewöhnt war, mit fremden Menschen so hautnah zusammen zu schlafen, bat ich den Abt, in der kleinsten der Zellen allein hausen zu dürfen. Diese Bitte wurde mir, zu meiner Überraschung, gewährt. Noch liessen sich solch exklusive Wünsche erfüllen, da die Zahl der Meditierenden erst rund ein Dutzend betrug. Ich war aussergewöhnlich dankbar für diese Lösung. Zuvor hatte ich mich nächtelang vor Platzangst im Bett herumgewälzt. Und obwohl ich die Beschränktheit meiner Möglichkeiten betreffend Anpassung erkannte, änderte das nichts an der Tatsache, dass ich in dieser Hinsicht noch nicht bereit war, über meinen Schatten zu springen.
Während der Klausur beobachtete ich wie, einem inneren Gesetz gehorchend, die Meditation sich im Laufe der Tage veränderte. Besonders auffallend zeigte sich das in der Gehmeditation. Zu Anfang meiner Meditationspraxis liebte ich die Gehmeditation sehr. Sie diente wunderbar als Ausweichmöglichkeit gegen Schmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche während des Sitzens. Leicht fiel mir das Gehen nicht. Ich wurde das mehr oder weniger stark auftretende Schlottern in den Fussgelenken nie wirklich los. Auch deshalb nicht, weil mich der Meditationsmeister stets zu noch mehr Gemächlichkeit animierte. „Langsam, langsam“, raunte er mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Ohr, auch dann, wenn ich das Gefühl hatte, noch mehr Langsamkeit bedeute vollständiges Stehenbleiben.
Zu Anfang der Klausur ging ich noch recht hölzern. Der Körper zeigte Mühe, auf das gewohnte Tempo zügigen Schreitens zu verzichten. Plötzliche Schweissausbrüche, Abwehrreaktionen und Ungeduld förderten unterschwellige Hassgefühle zutage. Ich nahm wahr, wie wenig sich mein Körper im Gleichgewicht, im Lot befand. Die Hüftgelenke bockten. Die Beine schienen steif und ungelenk. Es brauchte den schmerzhaften Prozess des Suchens, Forschens und Tüftelns, damit, wie mir schien, das Gehen in Fluss kam. Nebenher zeigten sich auch Verletzungen, die Wasser auf die Mühle meiner ohnehin rheumatischen Veranlagung gossen. Verkrampftheit meldete sich in den Gliedern. Und ich benötigte Schmerzmittel, um über die Runden zu kommen – so dachte ich wenigstens. Als ich dem Meditationsmeister davon erzählte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und bedauerte, dass ich mir dadurch die Möglichkeit zu noch tieferer Auseinandersetzung mutwillig raubte. Erneut begriff ich, dass ich nur die Wahl hatte, entweder den Stier bei den Hörnern zu packen oder vor ihm Reissaus zu nehmen.
Ich spürte und beobachtete wie der Körper, und demzufolge auch der Geist im Laufe der Tage mehr und mehr nachgaben. Unverhofft stellte sich Leichtigkeit beim Gehen ein. Ohne dass ich begriff, was genau ich anders machte, wurde mein Gehen stabiler, meine Konzentration konstanter und kamen Gedanken und Gefühle zur Ruhe.
Am Ende der Klausur schien es, als sei ich nach langer und beschwerlicher Reise durch Wüsten, Urwälder, Dickichte und Abgründe zu einem neuen Ausgangspunkt gelangt. Ich fühlte mich klar, gefasst, ausgeglichen und bereit, aus vollem Herzen weiter zu üben.
Und noch etwas förderte diese Klausur zutage: obwohl ich vom Gegenteil überzeugt gewesen war, stellte ich fest, dass ich thailändisches Essen liebte. Wir wurden als Meditierende überaus verwöhnt. Jeder, der den Tempel besuchte, begegnete uns mit tiefem Respekt, da wir für ihn innere Verdienste erwarben. Jeden Tag standen an die zwanzig Schüsseln mit auserlesenen Köstlichkeiten auf unserem Mittagstisch.
Ich wusste zwar nicht, ob das angebracht wäre und hatte keine Ahnung davon, ob ein Ding genannt „Buddhistische Poesie“ überhaupt existierte. Aus Dankbarkeit getraute ich mich dennoch, meine Eindrücke über die Klausur auf Englisch in Verse zu fassen und sie zitternden Herzens dem Abt zu schicken. Sie lauteten:
DIE STIMME
Lass dich nicht knebeln,
Wovon du denkst, es trage sich zu.
Handlungen, Gedanken, Gefühle,
Schmerz und Freude,
Sind Fantasien, Träume,
Die dich zum Narren halten.
Nie hat ein Anderer dir etwas getan,
Da es den „Anderen“ nicht gibt –
Nichts hat sich je zugetragen,
Da ein „Aussen“ nicht existiert.
Schenk' Handlungen, Gedanken, Gefühlen,
Schmerz und Freude keinen Glauben.
Lass dich nicht in Bann schlagen.
Verlierst du den Weg nicht aus den Augen,
Erkennst du ihre schrille Pracht
Wie projiziert auf Plakatwände,
Die entlang der Autobahn prunken.
Bestaunst du sie, wirst du ihr Opfer.
Durchschaust du das Blendwerk,
Winkt dir Befreiung.
"Vertrau' der Stille
Und bitte den Atem, dir Führer zu sein.
Echte Zeichen äussern keinen Laut.
Sie sind offensichtlich,
Obwohl dem fordernden Auge unsichtbar."
So spricht „die Stimme“,
Ohne Gebrauch von Worten.
Horche auf sie:
Und sie gerät zum Donner,
Der das Geschwätz und Gejaule
"Draussen" verstummen lässt.
***********
Für den Sommer danach plante ich eine Reise in die Staaten und nach Kanada. Die Route sollte mich, gemeinsam mit einer Freundin, die ich in New York treffen wollte, nach Santa Fe führen, dann nach San Francisco, nach Nevada City, wo ich mich bei weiteren Freunden für einen Malkurs eingeschrieben hatte, weiter nach Vancouver, hinüber auf Vancouver Island und von dort hinauf in den Norden.
Je näher die Reise rückte, desto mehr stellte ich fest, wie unbeeindruckt mich dieser Umstand liess. Normalerweise freute ich mich wie verrückt darauf, unterwegs zu sein. Dieses Mal geschah nichts dergleichen. Der jugendliche Enthusiasmus blieb vollständig aus. Ich bereitete mich vor, als sei das ohne Bedeutung. Ich trat die Reise an, weil ich mir vorgenommen hatte, die Reise anzutreten. Gewiss freute ich mich darauf, meine Freunde endlich wieder in die Arme zu schliessen. Doch etwas war anders als früher. Ich schaute mir aus Distanz bei allem zu, was ich dachte, fühlte, sagte oder unternahm. Das tat dem Erleben erstaunlicherweise keinen Abbruch. Im Gegenteil: Es vertiefte es enorm. Ich ging durch Strassenschluchten um des Gehens durch Strassenschluchten willen. Ich blickte an Wolkenkratzern hoch um des Blickens willen. Eine Vorstellung am Broadway war nicht mehr als eine Vorstellung am Broadway. In den überklimatisierten Innenräumen fror ich wie ein Hund, weil ich fror wie ein Hund. Und die Füsse schmerzten vom tagelangen Umhergehen, weil ich überhaupt Füsse besass.
Es erschien verrückt und wunderbar – und gleichzeitig nichts von alledem. Meine Sichtweise hatte sich nur grundsätzlich verschoben. Zuhause in meiner gewohnten Umgebung war mir das nicht so sehr aufgefallen. Nun brachte es mich zum Erstaunen. Und doch auch wieder nicht. Denn auch mit meinen Gefühlen schien etwas geschehen zu sein. Sie fuhren nicht mehr Achterbahn. Mit Gleichgültigkeit hatte es offenbar nichts zu tun. Sie wurden einfach weniger beansprucht, weil ich klarer sah. Nach wie vor genoss ich das Reisen. Ich lehnte mich wohlig zurück im Bewusstsein unterwegs zu sein. Doch mehr war nicht. Die Reise quer durch die Staaten und hinauf nach Norden gestaltete sich äusserst abwechslungsreich. Ich traf christliche, muslimische, jüdische, buddhistische und indianische Freunde. Doch allesamt waren sie schlicht Menschen. Menschen mit den gleichen Leiden, Freuden, Schmerzen und Ängsten, wie auch ich sie kannte. Auf dieser Reise wurde mir stärker denn je bewusst, dass Menschen einfach Menschen sind. Und mir wurde zudem bewusst, wie gleich und doch wie unterschiedlich Menschen sein können. Ich begegnete ein paar unsäglich schrägen Typen, die, genau besehen jedoch ebenfalls einfach nur Menschen waren. Der Kontakt mit ihnen gestaltete sich dann leicht, wenn ich mich nicht mit ihnen, mit ihren Ansichten und Verhaltensweisen identifizierte und wurde dann schwierig, wenn ich glaubte, Urteile fällen oder Kritik anbringen oder auch nur Bedenken äussern zu müssen. Liess ich Menschen Menschen sein, so wie sie mich Mensch sein liessen, lief Beziehung reibungslos, und ich wurde obendrein noch beschenkt, materiell und ideell.
Auch mein Geburtstag ging auf dieser Reise vergessen. Und es fiel mir nicht schwer, auf Glückwünsche und Aufmerksamkeit zu verzichten. Viel emotionaler und mentaler Ballast glitt von mir ab während diesen Wochen. Eine Häutung fand statt.
Von Santa Fe bis nach San Francisco und weiter nach Nevada City benötigten meine kanadische Freundin und ich insgesamt vierundzwanzig Stunden. Stürme hielten Flugzeuge vom Fliegen ab – andere waren überbucht, Schalter geschlossen - das Übernachten auf dem eiskalten Fussboden eines Terminals gestaltete sich höllisch unbequem – doch mir als Mensch geschah dabei rein gar nichts. Ich blieb völlig intakt, ungewaschen wie ich war, verschwitzt, durstig, mit Essensresten zwischen den Zähnen. Alles fühlte sich unheimlich entspannend an, obwohl wir kaum zum Schlafen kamen. Und gleichzeitig sah es fast gespenstisch einfach aus. Die Euphorie, die rosarote Brille fehlte gänzlich. Das Gefühl von Trennung hatte sich verflüchtigt. Ich war mit jeder Faser dort, wo ich mich gerade aufhielt. Ich dachte weder voraus noch rückwärts. Dafür gab es keine Zeit. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, das Viele, das immer gerade ablief, innerlich zu filmen und tief wahrzunehmen. Mich selbst eingeschlossen, mich in Relation zu allem anderen. Ich brauchte weder mit etwas noch gegen etwas zu kämpfen. Kampf war überflüssig. Diese Reise machte mir das deutlich. Kampf macht nur blind, taub und dumpf. Kampf tötet die Möglichkeit zur Wahrnehmung – und zur Kreativität, das heisst: zum Zugang zur inneren Quelle, zur Quelle von Leben insgesamt.
Am Tag meines Geburtstags flogen wir in einem kleinen, zweimotorigen Flugzeug mit abgewetzten Sitzen unter stahlblauem Himmel über rabenschwarze Wolken, in denen Gewitterstürme tobten. Blitze färbten die Wolken blutrot. Die Hölle schien dort unten los zu sein. Doch bei uns oben herrschte Stille und klare Sicht. Es lässt sich kein besseres Bild für den Charakter dieser Reise finden.
Nun wurde mir auch von Tag zu Tag deutlicher bewusst, wie wichtig es war, dass ich mich dem Abt und dem Meditationsmeister unmittelbar mitteilte. Sie mussten durch mich selbst erfahren, wie ich das und dass ich das, was sie an Veränderung bei mir bemerkten, selbst auch wahrnahm. Ich musste lernen, mich klar und unmissverständlich darüber zu äussern. Das würde mir den nächsten Schritt in der Arbeit ermöglichen. Und ich musste meine Lehrer auch an mich herankommen lassen, emotional und spirituell.
Mönche sind im Theravada-Buddhismus unberührbar, zumindest für Frauen. Man reicht ihnen auch nicht die Hand zum Gruss. Ich schätze das sehr. Für mich erleichtert es die Arbeit, da die Gefahr ausgeschlossen ist, dass Übergriffe solcher Art auch in meinem Raum geschehen. Es unterstützt meine Eigenständigkeit und meine Selbständigkeit. Ich empfinde mich als voll respektiert, ungeachtet gewisser Einwände, die besagen, Frauen gelten im Buddhismus als minderwertig. Auf mich trifft das nicht zu: ich geniesse den freien Raum um mich herum, gerade während Klausuren. Ich geniesse es auch, den Blick während der Meditation nicht heben zu müssen, nicht einmal während der Gehmeditation und schon gar nicht während des Essens, sondern konzentriert der Meditation sogar dann nachgehen zu können, wenn ich dem Abt begegne oder auf dem Weg zur Toilette bin - was bei der oben erwähnten Langsamkeit allein eine halbe Stunde in Anspruch nimmt.
Während den Lehrvorträgen erzählte der Abt manchmal von Zeremonien zur Haussegnung, zur Reinigung und Klärung der Atmosphäre, die er überall dort, wohin er gerufen werde, abhalte. Das brachte mich auf die Idee, ihn darum zu bitten, auch in unserem Haus eine solche Zeremonie durchzuführen. Vieles lief in der Beziehung mit meinem Mann und in unserer Arbeit nicht gerade rund. Und ich dachte mir, ein bisschen zusätzliche Hilfe könnte nicht schaden.
Auch diesmal galt es, eine zünftige Schrecksekunde zu überwinden, als ich den Abt anrief und ihm meine diesbezügliche Bitte vortrug. Er lachte nur und meinte, dass das durchaus im Bereich des Möglichen läge. Während eines persönlichen Interviews wählte er anhand seiner astrologischen Unterlagen einen günstigen Termin für die Zeremonie aus. Zu jener Zeit ging das noch. Heutzutage muss man froh darüber sein, überhaupt einen Termin zu bekommen. Ein paar Hinweise zur Zeremonie und zu etwaigen Vorbereitungen gab mir der Abt persönlich. Im Übrigen verwies er mich an Schweizer, die sich im Klosterleben auskannten. Er versprach, auch einige Thai-Frauen zur bevorstehenden Zeremonie einzuladen, die mir mit Rat und Tat beistehen würden. Den Rest sollte ich selbst herausfinden und herausspüren. Ins kalte Wasser musste ich selbst springen.
Und so fühlte es sich zu Beginn auch an. Da ich noch nie bei einer Zeremonie zugegen gewesen war, hatte ich nicht den blassesten Schimmer, wie dergleichen vor sich ging und was es dafür brauchte. Ich litt unter argen Ängsten. Doch nicht lange. Sobald der Termin näher rückte und ich anfangen konnte zu handeln, lief alles wie am Schnürchen. Mein Mann bot sich an eine Thai-Flagge zu besorgen, die am entsprechenden Morgen zusammen mit der Berner- und der Schweizer-Flagge gehisst wurde. Leider wehte kein Wind. Die blau-rot-weisse Fahne hing schlaff am Mast herunter. Doch genau in dem Augenblick, als der Caravan der Mönche auf unseren Parkplatz einbog, blähte eine Bö die Flagge zu voller Pracht, sehr zur Erheiterung der Mönche und des Abts. Die Freunde, die wir zur Feier eingeladen hatten, die Thais: alle klatschten. Der Empfang hätte perfekter nicht ausfallen können.
Im grössten Raum unseres weitläufigen Hauses, dem Praxisraum meines Mannes, hatten wir einen Altar umgeben von Massen von Blumen aufgestellt. Darauf thronten alle kleineren und grösseren Buddha-Statuen, die unseren Haushalt bevölkerten. Die Mönche brachten ihre eigene Statue mit, die sie zuoberst auf dem, durch kleine Tischchen in Stufen ansteigenden Altar platzierten. Der Abt und die Mönche setzten sich auf ihre roten, goldumrandeten Teppiche. Unsere Gäste, fast alles Christen, kauerten auf Meditationskissen, die älteren auf Stühlen, die Thais auf den Fersen. Als Gaben an den Tempel hatte ich grosse Plastikkörbe mit Zahnpasta, Seife, Papierservietten, Getränkebüchsen, Reis, Früchten, Schokolade, Räucherstäbchen, Kerzen und anderen Dingen, von denen ich mittlerweile wusste, dass sie im Kloster benötigt wurden, gefüllt. Mit Schleifen verziert standen sie neben dem Altar und wurden den Mönchen im Laufe der Zeremonie feierlich überreicht. Auch hatte jeder Gast einen Umschlag mit einer Geldspende für den Tempel in einem Korb deponiert und zudem etwas zum Essen für die gemeinsame Tafel mitgebracht. Unser feinstes Leinen - ein Erbstück mit schweren, von Hand gearbeiteten Spitzen - von Hand bemaltes, antikes Porzellan, altes russisches Silber sowie Blumen und Kerzen schmückten sie. Nur das Beste sollte für die klösterlichen Besucher, die ich sehr schätze, gut genug sein. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, im Abt etwas anderes zu sehen als einen Meister, dem ich höchste Achtung und Verehrung zolle. Dafür brauche ich mich nicht einmal anzustrengen. Es ist selbstverständlich für mich.
Die Zeremonie dauerte etwa dreiviertel Stunden. Die Rezitationen der Mönche verstanden wir allesamt nicht. Und ich stellte mich auch nicht überaus geschickt an, als ich Wasser aus einem Kännchen in eine Schale giessen sollte zum Zeichen dafür, dass alles im Fluss, in andauerndem Wandel begriffen ist, dass alles Dunkle und Schwere freigelassen werden kann. Eine Thailänderin nahm meine Hände und führte sie durch diesen Teil der Zeremonie. Ich bin selten so zart und einfühlsam berührt und angeleitet worden.
Der Abt und die beiden Mönche fühlten sich sichtlich wohl bei uns.
Nach dieser Zeremonie fuhren wir in verschiedenen Wagen zu meinem Yoga-Raum, der ebenfalls gesegnet und gereinigt wurde und über dessen Eingangstüre der Abt ein Segenszeichen malte.
Darauf wurde es höchste Zeit, die Mönche zu bewirten, da sie nach zwölf Uhr mittags keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen sollen. Die Thailänderinnen summten umher wie Bienen, waren gleichzeitig überall, zeigten mir wie ich den Mönchen die Speisen darreichen sollte, über ein Tuch, das sie zwischen sich und mich legten. Darauf platzierte ich jede einzelne Schüssel, bot sie „dem Buddha“ an. Und von dort nahmen sie die Mönche, um sich zu bedienen und sie wieder zurückzugeben.
Zuerst assen die Mönche allein. Doch bald gab mir der Abt ein Zeichen, wir sollten alle mit ihnen gemeinsam tafeln. Die Sonne schien. Unsere Gäste verzogen sich mit ihren Tellern in den Garten hinaus. Und sobald schmutziges Geschirr anfiel, standen die Thailänderinnen am Trog und begannen es abzuwaschen. Ich sagte überrascht, sie sollten das bleiben lassen, wir würden später selbst aufräumen, sie seien doch zum Feiern und nicht zum Arbeiten hergekommen. Doch die Frauen bestanden darauf. Und der Abt, dem nichts was sich ereignete entging, klärte mich dahingehend auf, dass es thailändische Tradition sei, alles gemeinsam zu machen und einander bei allem zu helfen. Darum also schienen alle Thailänder einander zu kennen und Freunde über Freunde zu haben! Mir ging ein Licht auf. Auch im Hinblick auf westliches Verhalten.
Der Abt fühlte sich offensichtlich ausgesprochen wohl bei uns. Obgleich im Kloster Besucher aus Deutschland auf ihn warteten, bot er sich an, denjenigen, die das wünschten noch Fragen zu beantworten. Unsere Gruppe von rund dreissig Leuten stieg also wieder in den Zeremonienraum hinauf. Und der Abt nahm sich noch einmal fast eine Stunde lang Zeit für Erläuterungen, Erklärungen und Geschichten.
Als er zusammen mit den Mönchen weg fuhr, war ihr Auto bis obenhin angefüllt mit Blumensträussen und Gabenkörben für das Kloster. Ich hatte drei Tage lang das Haus von oben bis unten geschrubbt, Vorhänge gewaschen und gebügelt, den Garten hergerichtet, so gut es sich zu dieser frühen Jahreszeit machen liess. Nun erschien jeder Raum licht und leicht. Überall hatte der Abt Weihwasser versprüht, Segens- und Glückwünsche hinterlassen. Sogar die Fahne blähte sich zu seinem Abschied noch einmal.
Die auf diese Zeremonie folgenden Tage verliefen ruhig und harmonisch. Dann jedoch machte es den Anschein, als meldeten sich sämtliche angesprochenen Geister auf einmal zum Wort. In mir stiegen längst vergessen geglaubte Verletzungen und Schmerzen hoch. Es ging mir wie dem legendären Prinzen, der sich durch Dickicht und Dornen hindurch kämpfen muss, an bösartigen Drachen vorüber, von Dieben und Mördern verfolgt. Tiefe Schichten schienen in mir freigelegt worden zu sein. Darüber hinaus schlitterte ich in eine böse Rheuma-Krise hinein.
Die Wucht der auf mich einstürzenden Negativität erschreckte mich. Dagegen tun konnte ich nichts. Es blieb mir nur, ihr standzuhalten, sie anzuschauen und wahrzunehmen. Diese Erfahrung zementierte meinen Entschluss, mit der Meditationsarbeit unermüdlich fortzufahren und der Negativität irgendwann endgültig das Handwerk zu legen.
Ich fing an, um Schutz, Hilfe, Segen und Führung zu bitten und mich liebender Güte anheim zu geben.
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Immer wieder wurde ich beim Meditieren mit meinem westlichen Erfolgsdenken konfrontiert. Es stand da wie eine Mauer, die nicht weichen wollte.
Und noch etwas rückte nicht zur Seite, nämlich meine Idee eines Rächer-Gottes.
Obwohl mir oft genug gezeigt worden war, dass es niemanden gab, der mich wann auch immer, wo auch immer und für was auch immer bestrafte, regte sich bei der subtilsten Gelegenheit das Gefühl in mir: „O, schon wieder habe ich etwas falsch gemacht“, und folgte der Gedanke: „dafür werde ich Strafe erleiden.“
Dieses Muster nagte an meinem Lebensnerv wie ein Blutegel. Mit der Muttermilch eingesaugt, liess es sich durch nichts besänftigen.
Ich war nun einmal keine Asiatin. Mir fehlte die asiatische Form von Hingabe, von Geduld, von Sanftmut. Bis in die Meditation hinein reichte mein westliches Erfolgsdenken, reichte der Ehrgeiz, etwas durch sie zu erreichen, Fortschritte zu erzielen – selbst, wenn ich im Kopf genau wusste, wie sehr ich mir dadurch die Meditationsarbeit erschwerte.
Dass ich als Westlerin nicht auf die gleiche Weise meditierte wie die Thais stellte ich auch fest, wenn ich den Abt dabei beobachtete, wie er mit Thais arbeitete, wenn ich dem Klang seiner Stimme zuhörte, obwohl ich kein Wort vom Gesagten verstand, wenn ich zu spüren versuchte, was zwischen ihm und den Thais an Austausch vor sich ging.
Am meisten verblüffte mich der natürliche, ungezwungene Respekt, den Thais dem Abt sowie auch den Mönchen entgegen brachten. Schon allein ihre Körper waren, im Vergleich zu westlichen Körpern leicht, geschmeidig und geschickt. Ihre Niederwerfungen wirkten wie Tanz, waren wunderschön anzuschauen. Trotz des grossen Respekts schienen mir Thais nie gehemmt. Natürlich spielte dabei die Sprach-Barriere eine Rolle. Doch nicht nur sie. Der Mentalitätsunterschied zwischen Ost und West war zweifelsfrei ausschlaggebend.
Zu Beginn, als nur wenige Meditierende das Kloster aufsuchten, gestalteten sich die Lehrgespräche des Abts anders als zwei, drei Jahre später. Eine gemeinsame Verständigungsebene wurde gebraucht, Begriffe, die beide Parteien erfassen konnten. Es fühlte sich an, wie ein gegenseitiges Abtasten. Auch der Abt musste eine Sprache entwickeln, die Menschen aus dem Westen erreichte. Nicht nur wir bewegten uns auf dünnem Eis. Auch er setzte seine Schritte behutsam, um verstanden zu werden.
In den Lehrgesprächen mit dem Abt wurde deutlich, dass im Denken von uns Schweizern, die wir einen vorwiegend christlich geprägten Hintergrund hatten, Feindbilder und Gegnerschaft eine unübersehbare Rolle spielen. In einer Glaubensrichtung, die die Gefahr ewiger Verdammnis predigt, ist eine kämpferische Haltung unentbehrlich.
Der Gedanke: "Als Sünderin unterliege ich unweigerlich der Repression", grassierte. Ein einziger falscher Schritt kann mich für alle Zeit ins Unglück stürzen. Selbst wenn die Verheissung der Vergebung der Sünden immer und immer wieder betont wird, befinde ich mich - schon weil ich als Sünderin apostrophiert werde - dennoch auf abschüssigem Gelände und kann nie wirklich sicher sein, ob ich nun im Stande der Gnade oder im Stande der Ungnade stehe. Schuldbewusstsein macht Menschen verkrampft, depressiv und aggressiv. Diese Haltung bedingt das Bedürfnis des Missionierens – ein Bedürfnis, das gerade dem Buddhismus abgeht.
Über solch grundlegende Ansichts- und Verstandesweisen mussten behutsam Brücken geschlagen werden. Das war für beide Seiten nicht immer einfach.
Zwar war es wenig genug, und dennoch freute mich das Bisschen, das ich über Buddhismus wusste, auch wenn es nur aus Büchern stammte und sich, wie mir zu Beginn schien, nicht wirklich in meinem Inneren niedergeschlagen hatte. Da ich keinen Widerstand hegte, fanden die Aussagen des Abts ungehinderten Zugang zu meinem Herzen. Ich filterte, ich hinterfragte sie nicht. Alles was ich damit anstellte war, dass ich versuchte, sie in meine eigenen Worte zu kleiden, wenn ich Reflexionen darüber in regelmässigen Berichten an den Abt schickte. Dadurch fanden wir eine gemeinsame Ebene gegenseitigen Verstehens, die sich rasch stabilisierte und wie von selbst ausdehnte. Mit der Zeit wurde mir, zu meinem grossen Erstaunen, immer mehr bewusst, dass das, was der Abt ansprach, in mir widerhallte, als habe es dort schon immer gelegen und nur darauf gewartet angetippt zu werden. Als ich mich vom Abt initiieren liess, erschien mir das auch nicht wie eine Konversion, sondern vielmehr wie eine Ausweitung meines Lebens- und Menschen-Verständnisses. Ebenen meines Denkens, Fühlens und Empfindens wurden angesprochen, die brachgelegen hatten und sich nach Kultivierung sehnten.
Durch die Arbeit mit dem Abt und der Meditation ist für mich auch ein tiefer greifendes Verständnis für andere Traditionen möglich geworden, mehr Weitsicht, mehr Toleranz und grössere Wahrnehmung für das, was ich an Dogmen, Geboten und Verboten nicht länger zu akzeptieren bereit war. Das Lernen mit dem Abt hat meinem gesunden Menschenverstand grünes Licht gegeben. Der Umgang mit dem Buddhismus, mit der Meditation, mit dem Abt – mit dem mich Einfühlen in die Andersartigkeit seiner Herkunft – hat meine Selbständigkeit gefördert, meine innere Unabhängigkeit und mein Denk- und Wahrnehmungsvermögen auf entscheidende Weise vertieft.
Während ich an diesem achten Kapitel schreibe, erreicht mich die Nachricht, ein naher Freund werde bald sterben.........
Markus leidet an Krebs. Ein Melanom auf der linken Halsseite, dem er zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, wuchert trotz Operation weiter und hat mittlerweile die Lungen, die Nieren und die Leber angegriffen.
Markus, der sich bis dahin fast ausschliesslich an Äusserlichkeiten orientiert hatte, nimmt die Verantwortung für seine Krankheit beispiellos an. Seiten kommen an ihm zum Vorschein, deren Vorhandensein kaum jemand vermutete. Von Tag zu Tag wird er empfindsamer, einfühlsamer, liebevoller. Je mehr seine Krankheit ihn verändert, auch physisch, desto mehr öffnet sich sein Herz.
Vor einer Woche sass ich an seinem Bett. Wir hielten uns an den Händen und er sagte mit strahlenden Augen, es verwundere ihn, wie viele Empfindungen er nun habe und wie viele Gedanken er nun denke, von deren Existenz er noch vor kurzer Zeit nicht die geringste Ahnung gehabt habe.
Mit Erstaunen beobachtete ich, wie er die Kraft aufbrachte, in wenigen Wochen alle seine Angelegenheiten zu regeln. Er liess letzte Reparaturen am Haus vornehmen, trennte sich von seinen über alles geliebten Pferden, sprach mit seiner Frau über seine Beerdigung – und all das ohne jede Verbitterung, ohne Selbstmitleid.
Mein Freund ist sehr mager geworden, isst kaum noch, und seine Widerstandskraft pendelt am Nullpunkt entlang. Und an schlechten Tagen, an Tagen voller Schmerzen und Übelkeit, spürt man, dass er leidet. Doch seine innere Kraft und seine innere Stärke wachsen von Augenblick zu Augenblick. So wehleidig und quengelig er früher oft beim geringsten Anlass gewesen ist, so wenig quält er seine Umgebung jetzt mit seinem Leiden. Er sagt einfach: „Ich lege mich ein wenig hin“, schläft eine Stunde und zeigt sich wieder, wenn er sich besser fühlt - oder bleibt still mit sich allein liegen. Dafür hat er allerdings selten Zeit. Denn seine Krankheit hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Er ist Mitglied mehrerer Vereine gewesen, hat verschiedene öffentliche Ämter bekleidet. Und als Jodler hat er oft im Rampenlicht gestanden, so dass viele Menschen ihn gekannt und auch bewundert haben.
Doch nicht nur sein Bekanntheitsgrad zieht die Menschen nun an. Es ist die Veränderung, die mit ihm geschieht, die auf andere geradezu magisch wirkt. Seine inzwischen erwachsenen Kinder lernen in ihm einen neuen Vater kennen. Er versteht es, ihnen die Angst vor seinem Sterben zu nehmen, durch die Art und Weise wie er mit ihnen darüber spricht, durch die Natürlichkeit, mit der er sich seiner Krankheit stellt. Er beschönigt sie nicht, noch dramatisiert er sie. Für uns, seine Freunde, erscheint es wie ein Wunder. Es hat etwas Erlösendes, an seinem Bett zu sitzen und ihm in die Augen zu schauen, in denen nicht der leiseste Schatten von Angst oder Entsetzen zu erkennen ist. Ich gehe gerne zu ihm. Er ist sehr echt geworden, echt und unverstellt. Sehr natürlich. Ohne Mätzchen. Er spielt keinerlei Spielchen mehr. Das hat eine Herzlichkeit in ihm zutage gefördert, in der ich mich wohl und entspannt fühle. Ich brauche nichts zu tun, nichts vorzugeben, niemand zu sein. Trost benötigt er keinen. Er spendet im Gegenteil selbst Trost, spricht Leuten, die durch sein Sterben leiden und verunsichert sind, Mut zu und stärkt ihre Hoffnung.
Erst gestern wieder bin ich bei ihm gewesen. Und für einmal waren wir nur zu dritt, denn meistens geben sich die Besucher Tag für Tag die Klinke in die Hand. Sein Haus ist zum Bahnhof geworden. Weit über hundert Gäste sind schon dagewesen. Abends sinkt meine Freundin halbtot vor Erschöpfung ins Bett. Das ständige Händeschütteln, Besucher betreuen, Blumen arrangieren, Geschenke entgegennehmen, zehrt an ihren Nerven. Zumal sie auch nachts immer wieder aufsteht, um nach ihrem Mann zu sehen. Obwohl er sie andauernd darum bittet, Sorge zu sich zu tragen, damit sie sein Sterben heil überstehe. Es gibt keine Tabus mehr in der Kommunikation zwischen den beiden Ehegatten. Das macht den Aufenthalt bei ihnen bereichernd und beglückend.
Da wir eine enge Beziehung zueinander pflegen, hatte ich mir überlegt, was ich zusätzlich tun könnte, um meinem Freund unter die Arme zu greifen. Dabei kam mir in den Sinn, dass ich vor einigen Jahren die moderne Version des Tibetischen Totenbuchs eines berühmten amerikanischen Lehrers ins Deutsche übersetzt hatte. Diese Version des Totenbuchs ist zwar ein spezifisch amerikanisch empfundenes Buch. Doch ich hoffte - nun da mein Freund sich so weit geöffnet hatte, dass Schranken und Grenzen keine Rolle mehr spielten - es könnte ihm dabei helfen seinen Weg noch leichter, noch zielsicherer und unumwundener zu gehen. Deshalb kopierte ich die Texte über den „Übergang“ aus meiner Übersetzung und gab sie meiner Freundin, die sie ihm nun dreimal täglich vorliest. Ihr Mann entspannt sich dadurch noch mehr. Und sie sagt, es sei verblüffend zu erleben, wie tief er sich darauf einlasse. Von Abwehr oder Missbilligung, von Vorbehalten oder Kritik kein Spur.
Gleichzeitig lese ich bei mir zu Hause einer Photographie meines Freundes ausgedehntere Partien des Totenbuchs zweimal täglich laut vor. Schon vor Tausenden von Jahren kannte man diese Methode, Sterbende auf ihrem Weg zu begleiten, um ihnen Umwege zu ersparen, sie vor Gefahren in den Zwischenwelten zu warnen und sie sicher hinüberzugeleiten.
Und natürlich entsteht während diesen Lesungen eine Rückkoppelung auf mich selbst. Ich lese zwar für meinen Freund, doch werde dadurch genauso ich selbst angeleitet. Die Wirkung bleibt nicht aus. Noch stärker, noch schmerzhafter wird mir bewusst, dass genau so wie ich des Nachts träume, ich auch tagsüber träume. Wird mir klar, dass auch dieses scheinbar reale Leben nur Traum ist, aus dem aufzuwachen möglich wäre – und zwar durch das Sterben, durch den Prozess des „Stirb, bevor du stirbst“, wie er auch heisst. Mehr denn je schaue ich mir bei der Erledigung meiner täglichen Geschäfte zu und frage mich, zu welchem Zweck dies alles zu geschehen habe. Manchmal scheint mir, ich müsse nur die Hand ausstrecken, um den Vorhang, der dem Traum meines Lebens als Kulisse dient herunterzureissen.
Die Tage sind lang und weit geworden durch dieses Bewusstsein. Die Stunden rennen mir nicht mehr davon. Ich habe meistens Arme voller Zeit. Und es macht immer weniger Sinn, sie einfach mit Aktivitäten totzuschlagen, die nichts mit dem Dranbleiben an innerer Arbeit, am Atem und an der Meditation zu tun haben.
Anhand des Sterbens meines Freundes erfahre ich die Symptome des Überganges von dem, was wir "Leben" nennen in das hinüber was als "Sterben" bezeichnet wird, mit jedem Üben klarer. Der Weg in die zweite Phase von Vipassana-Meditation – in die Verwandlung anhand des Durchgangs durch die vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft – wird erkennbar und bewusst begehbar wie ein Pfad. Im Tibetischen Totenbuch ist er auf die genau gleiche Art beschrieben, einfach anhand von Bildern, die nicht so sehr Amerikanern, sondern vielmehr Tibetern geläufig sind: darin wird erwähnt, dass auf ein Gefühl zunehmenden Drucks, so als ob jemand nach unten gezogen werde, etwa in flüssiges Blei hinein, Schauer von Kälte folgen, so als werde der Sterbende in Eiswasser getaucht. Hitze löse diesen Zustand ab, bis er vermeint zu explodieren, gefolgt von vollkommenem Frieden, vollkommenem Alleinsein ausserhalb von Zeit und Raum, und so weiter und so fort........., dieselben Symptome also, die jeder Sterbende während seines Übergangs erlebt, sofern er sich dessen bewusst ist.
Je tiefer ich in die Meditation eintauche, desto klarer sehe ich nun, dass es Tod als etwas vom Leben Getrenntes nicht geben kann. Der Weg von Vipassana-Meditation ist der gleiche Weg, den ein Mensch geht, der seinen Körper im Tod zurücklässt.
Derjenige, der sich wirklich auf das Üben von Vipassana-Meditation einlässt, erfährt früher oder später leibhaftig in sich selbst, dass Leben kein Gegenstück hat, sondern dass das, was wir "Leben und Tod" nennen nur die beiden voneinander nicht trennbaren Seiten einer und derselben Medaille sind.
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Rund zehn Jahre sind vergangen, seitdem mein zweiter Mann und ich von unserem früheren Wohnort dorthin gezogen sind, wo wir nun leben. Das fühlte sich an wie ein Umzug aus dunkler Nacht in hellen Tag.
Wir bewohnten damals ein altes Bauerngut, das aus drei Gebäuden bestand, wovon wir das Wohnhaus eigenhändig um- und ausgebaut hatten. Wir erfüllten uns damit einen Traum. Geld besassen wir gerade knapp genug, um von der Bank die notwendige Hypothek zum Kauf der Liegenschaft zu erhalten sowie einen Stapel Baumaterial zu erstehen. Wir zogen im Herbst aus der Stadtwohnung, in der ich die dreizehn Jahre meiner Ehe mit meinem ersten Mann verbracht hatte aufs Land, wo wir hundert Meter von unserem zukünftigen Heim entfernt eine Wohnung mieteten, um während des Winters das Wohnhaus unserer Neuerwerbung bezugsbereit zu machen.
Es wurde ein sehr kalter Winter. Die Arbeit gestaltete sich äusserst schwierig, da unsere Körper sich an die Strapazen des Bauens zuerst gewöhnen mussten. Und unsere Gesundheit erlitt ziemlichen Schaden dabei, da die Gewichte der Bohlenbretter, der Balken, der Pflasterkübel, der Sanitärartikel viel zu schwer zum Herumwuchten für uns beide waren. Manchmal schufteten wir auf unserer Baustelle bis tief in die Nacht hinein, natürlich bei ungenügender Beleuchtung. Keiner unserer zukünftigen Nachbarn traute uns zu, das Haus termingerecht bewohnbar zu machen. Je länger der Stress dauerte, desto stärker wurden meine Rückenprobleme. Ich litt fürchterliche Schmerzen. Zudem froren wir oft schrecklich, da unser Kachelofen wegen der Sanierung der Böden noch nicht beheizbar war. Und dennoch bedeutete es für uns eine glückliche, kreative Zeit des Aufbruchs. Die Schufterei machte Sinn. Gemeinsam bauten wir uns eine vollständig frische Zukunft auf. Auch mein Mann nahm eine Neuorientierung seiner Lebensumstände vor. Und als wir, allen Unkenrufen zum Trotz, am festgesetzten Termin ins Haus einzogen, freuten wir uns diebisch darüber, auch wenn nicht alle Arbeiten professionell ausgeführt worden waren. Der Rest konnte warten. Hauptsache, wir hatten das neue Dach über dem Kopf, die neue Zukunft im Blick und die rosarote Brille auf der Nase.
Denn natürlich glaubten wir felsenfest daran, dass nun der grösste Teil unserer Probleme hinter uns liege, dass für uns beide ein ungeahnt erfolgreiches und erfülltes Leben beginne und dass wir es, gesamthaft gesehen, nun geschafft hätten. Dass das Gegenteil der Fall war, zeigte sich ziemlich rasch.
Wir waren vom ersten Besuch unseres zukünftigen Heims so begeistert gewesen – vom Geruch nach Holzfeuer in der Küche, von den eisernen Beschlägen an den zerfurchten Türen, dem sandsteinernen Kellergewölbe, dem Wald gleich hinter dem Haus – dass wir die eher ungünstige Lage der Liegenschaft nicht genügend in Betracht gezogen hatten. Am Tag dieser Besichtigung goss es in Strömen. Und man könnte sagen, wir entschieden uns, wie unter Zwang, blind für das Haus.
Es gab noch andere Interessenten, die das Bauerngut gern gekauft hätten. Doch bewogen unsere Ernsthaftigkeit und unsere Bereitschaft, den Charakter der Gebäude zu erhalten, die damalige Besitzerin dazu, es uns zu überlassen.
Während der Bauzeit lag viel Schnee. Das Wetter zeigte sich oft trüb und übellaunig. Und es fiel uns nicht auf, dass während Wochen – guckte die Sonne überhaupt einmal aus den Wolken hervor – kein Sonnenlicht das Haus streifte. Es wanderte während des ganzen Winters im Bogen um die Liegenschaft herum, da diese in einer Art Waldkuhle lag, eine Lage, die es uns vom ersten Augenblick an aus dem Grund angetan hatte, weil wir beide uns nach Geborgenheit sehnten. Sowohl mein zweiter Mann als auch ich vermissten Geborgenheit seit unserer Kindheit. Wir hatten beide keine wirkliche Familie gehabt. Und deshalb erschien uns dieses Haus als eine Art Arche, als Nest, in das hinein wir uns kuscheln und in dem wir endlich zur Ruhe kommen durften.
In Tat und Wahrheit erwies sich der Ort für uns als die ultimative Herausforderung. Es kam mir vor, als ob wir in einem Trichter gelandet seien, der uns geradewegs mit unserem Unterbewusstsein verkoppelte. Unsere Beziehung durchlief Phasen von Anschuldigung, von Kampf, von Verwirrung, die ich nur als Hölle bezeichnen kann. Wir mussten uns über Jahre hinweg blutig zusammenraufen. Und obwohl ich mich oft und oft fragte, warum ich diesen Wahnsinn nicht einfach beendete, schien es dafür keine Möglichkeit zu geben. Wir waren auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet. Ich dachte zahllose Male an Trennung. Doch wenn ich mich dann fragte, was hinterher geschähe, wenn ich wieder allein wäre, erkannte ich nur zu genau, dass ich mich dadurch der besten aller Arbeitsmöglichkeiten berauben würde. Ich spürte intuitiv, dass mir keine zweite solche Herausforderung mehr geschenkt werden würde, falls ich ausbräche. Und so schmerzhaft dieser Prozess des Zurechtgestutzt- und Geschliffenwerdens sich auch anfühlte, war ich doch nach jedem ausgefochtenen Streit, nach jeder gemeinsam oder jeder mit mir allein durchkämpften Schlacht unaussprechlich dankbar dafür, einen ebenbürtigen Partner an meiner Seite zu haben, der willens war, seine und meine Höllen gemeinsam mit mir zusammen auszuloten und daraus zu lernen. In meinem Bekanntenkreis gab es genügend Beispiele von Paaren, die schon beim ersten Drama gegenseitig auf Distanz gegangen waren oder sich einfach hatten scheiden lassen.
Natürlich erlebten mein Mann und ich auch glückliche Zeiten. Ich lernte einen Garten zu gestalten, im Holzofen Brot zu backen, Sauerkraut einzustampfen. Ich wurde nahezu Selbstversorgerin. Der Schnapsbrenner kam zu uns und destillierte feurige Wässerchen aus Beeren und Birnen, die unser Garten uns schenkte. Wir pressten und sterilisierten unseren eigenen Most, schlachteten unsere eigenen Lämmer, auch wenn uns das Herz dabei blutete. Und bei all dem standen uns tausend Schutzengel zur Seite. Wir kamen bei aller Plackerei mit einem hellblauen Auge davon, auch deshalb, weil mein Mann sich in der Landwirtschaft von früher her auskannte. Nur im Stall bei unseren Schafen lief manches schief. Totgeburten trieben uns die Tränen in die Augen, regelmässige Unfälle der Tiere machten uns das Herz schwer. Über den Schafen schien ein trauriger Stern zu stehen – sowie auch über unseren Katzen, deren Junge immer wieder Mardern oder blutrünstigen fremden Katern zum Opfer fielen. Nur den Ponys passierte nie etwas. Sie erwiesen sich als krisensicher, obwohl sie im selben Stall wie die Schafe hausten.
Mit der Zeit kamen wir darauf, wie viel die Tiere zu unserem beiderseitigen Leben an Kraft und Ausgleich beitrugen. Es sah so aus, als ob das was wir an persönlichen Schwierigkeiten nicht zu bewältigen in der Lage waren, auf dem Rücken unserer Tiere ausgetragen würde. Sie schienen als eigentliches Ventil ausersehen worden zu sein. Und ein Ventil brauchten wir dringend. Denn während den Jahren, während denen wir an jenem Ort lebten, durchliefen wir beide in rasantem Tempo eine solche Menge an Entwicklungsstadien, die wir ohne ein „Ventil“ nicht unbeschadet hätten durchlaufen können. In dieser Hinsicht erwies sich dieser oft schwierige Wohnort als reiner Segen. Er wirkte wie eine Mühle zum Zermahlen von Verhärtungen, von Widerständen, von Lieblosigkeiten, die wir uns als Folge unseres mühseligen Vorlebens als Schutz zurechtgelegt hatten. Lange Zeit dachten wir, wir würden das Haus nur mit den Füssen nach vorne gerichtet wieder verlassen. So sehr hingen wir an ihm, an der Härte der Arbeit, die wir an ihm, in ihm und durch es leisteten, gezwungenermassen leisteten, möchte ich fast sagen, schicksalsbedingt. Manchmal dachte ich sogar, wir hätten an dem Ort etwas Vergangenes gutzumachen, Versäumtes nachzuholen, vielleicht sogar begangene Vergehen zu sühnen.
Als wir uns dann doch dazu entschieden, weiterzuziehen – auch weil ich den Sonnenmangel von einem Tag auf den anderen nicht länger verkraften konnte – ging der Verkauf der Liegenschaft erstaunlich einfach über die Bühne, so als zögen wir ein ausgetragenes Kleid aus und schlüpften in ein frisches, sorgfältig gebügeltes hinein.
Und das stellte unser nächstes Zuhause, im Vergleich zum vorhergehenden, auch dar. Zudem lag es in der prallen Sonne. Darauf freuten wir uns wie verrückt. Wieder dachten wir, dass nun endlich alles anders – und natürlich besser werden würde. Und wieder stellten wir nach kurzer Zeit fest, dass wir uns geirrt hatten. Auch konnten wir mit dem plötzlichen Überschuss an Licht nicht umgehen. Wie zwei Maulwürfe, die am helllichten Mittag auf einem Tablett der brennenden Sonne ausgesetzt werden, litten wir unter einem Lichtschock. Wir benötigten etwa ein Jahr, um uns an die veränderten Verhältnisse zu gewöhnen.
Auch was den Standard betraf ließ sich das neue Haus in keiner Weise mit dem früheren vergleichen. Eine Erbschaft war uns bei dessen Kauf und Restaurierung zu Hilfe gekommen.
Dennoch lösten selbst Licht, Luft, Schönheit und Weite der Landschaft unsere Probleme nicht auf einen Schlag. Das Übermaß an Licht verstärkte im Gegenteil die Dunkelheit der in uns noch der Erlösung harrenden Schatten. Die Arbeit daran gestaltete sich allerdings unter Einwirkung von so viel zusätzlichem Licht in mancher Hinsicht einfacher. Auch der neue Wohnort, am Pilgerweg nach Santiago de Compostela gelegen, besitzt Trichterqualität, jedoch auf andere Weise. Der Ort beflügelt nicht nur die persönliche Arbeit an uns selbst, sondern er zieht noch dazu Menschen von außen an, die vorwiegend Hilfe in genau den Bereichen suchen, an deren Erlösung wir an unserem alten Wohnort zu arbeiten hatten. In unserem früheren Heim war es uns – auch weil wir zuerst so viel Arbeit an uns selbst zu verrichten gehabt hatten – nicht wirklich gelungen, "das Zentrum innerer Arbeit", von dem wir träumten, seitdem mein Mann und ich uns getroffen hatten aufzubauen. Die Praxis meines Mannes fing erst im neuen Haus an zu florieren, wenn auch nicht von einem Tag auf den anderen. Und auch meine Idee einer Yoga-Schule nahm erst hier tatsächlich Form an.
Da nichts was Leben ausmacht, von irgendetwas anderem getrennt existieren kann, mussten auch wir - bevor wir die Arbeit in Angriff zu nehmen imstande waren, die wir uns zum Ziel gesetzt hatten - zuerst unsere eigenen Hausaufgaben lösen Es ging um grundsätzliches Aufräumen Unsere angestammten Berufe ließen wir zurück. Von der äusseren Reinigung – wir gründeten ein Gebäudereinigungsunternehmen, lernten professionelles Putzen, den Umgang mit entsprechenden Maschinen - von der äusseren Reinigung also mussten wir den Weg zur inneren Reinigung finden, bevor wir fähig sein würden, das Erarbeitete an andere weiterzugeben. Von zuunterst wollten wir neu starten. Und es wurde uns kein Schritt erspart auf diesem Weg. Eine Erkenntnis, für die wir beide heute äusserst dankbar sind und die mir nun in der Meditationsarbeit von grossem Nutzen ist.
Der Mensch kennt nur das wirklich, durch das er selbst hindurchgegangen ist, was er selbst durchlitten, was er sich selbst erarbeitet hat. Existentielles, menschliches Leiden kann niemand aus Büchern lernen. Verständnis für Mitmenschen, für Mitgeschöpfe erarbeitet sich niemand in Kursen. Nur das direkte persönliche Erfahren macht den Übenden wissend. So wie der Buddha es aufgezeigt hat. Indem er den prunkvollen Palast seines Vaters verliess, seinem Luxusleben den Rücken zuwandte, sich unters Volk mischte, beobachtete, erfuhr, durchlitt, was des Menschen elementares Leiden beinhaltet, wurde er sehend.
Als Lehrer auf dem Weg kann dem Übenden alles dienen. In einer der härtesten Perioden meiner eigenen Lehrzeit wurde sogar der Misthaufen hinter unserem Haus Lehrmeister für mich – so wie ich es in meinem ersten Buch „Über die Brücke des Atems“ beschrieben habe. Nichts ist dafür zu gering. Unterschiede in der Bewertung der Arbeitsmittel diktiert dem Menschen nur sein Kopf, der von Natur aus opponiert, wenn ihm etwas, dem er sich zu stellen hätte, nicht in den Kram passt. Deshalb ist auch nicht der Kopf das Werkzeug, das den Weg zur Erkenntnis gräbt, sondern das Herz. Der Blick des inneren Auges macht den Übenden sehend. Die inneren Sinne müssen entwickelt werden. Darum schliesst der Übende auch die Augen während der Meditation und senkt den Blick tief in sich hinein. Dadurch ebnen sich Gegensätze allmählich aus. Und er begreift, dass alle Welten – nicht nur die, die ihm gefallen - am Erlösungsprozess beteiligt sein müssen. Der gesamte Inhalt seines Lebensrucksacks, seines Karmas, muss angeschaut, ans Licht, ins Licht gebracht und in Liebe geopfert werden. Erst wenn nichts mehr an Unerledigtem vor sich hinmodert, dort wo früher seine Psyche das Sagen zu haben glaubte, geschieht Befreiung.
Um diese Entwicklung möglich zu machen, muss der Übende gewillt sein, sich ständiger Wandlung zu unterwerfen. Wenn er ein Leben lang an Grundsätzen, die er gefasst und zementiert hat festhält, als seien es die einzig gültigen, wird keine Entwicklung stattfinden. Eines der grundlegenden Gesetze des Lebens besagt, dass alles was wird ständiger Umwandlung unterworfen ist. Widersetzt sich der Übende dieser Umwandlung aus Angst – oder aus Stolz, der die Verbrämung von Angst darstellt – würgt er sein Lebendigsein im Keim ab. Manche Menschen denken, dass das, was ihnen etwa von Eltern als wahr, anständig und befolgenswert überliefert worden ist, etwas sei, das sie sicher und ohne grössere Verletzungen durchs Leben führe. Und sind masslos enttäuscht, wenn dieser Fall nicht eintrifft und sie im Gegenteil, wegen des Klammerns an Überzeugungen und Glaubenssätzen, doppelt leiden. Sie sehen nicht, dass sie gerade deswegen unglücklich werden. Dass gerade wegen der Unbeweglichkeit ihr Leben in die Brüche geht.
Das heisst jedoch nicht, dass Leben nicht in die Brüche gehen kann, wenn der Mensch versucht, mit der Entwicklung der Dinge und den Umständen Schritt zu halten. Dafür gibt es keine Garantie. Es ist sogar möglich, dass ihn noch grösseres Leiden erwartet, wenn er versucht, sich mit dem Leben zu verändern und sich durch das Leben verändern zu lassen. Innere Flexibilität zu erwerben ist niemals einfach. Auch dafür ist das Beispiel, das das Leben des Buddhas liefert, von grossem Nutzen. Auch er sass zeitweise fest in Überzeugungen und Dogmen, denen sich zu unterwerfen er als notwendig erachtete. An seinem starren Festhalten des Asketentums etwa wäre er beinahe umgekommen. Erst die Einsicht in die Notwendigkeit eines mittleren, wohl ausbalancierten Pfades führte ihn zum Erfolg, zur Erleuchtung und schliesslich zur Erfahrung von Nirvana.
Das beweist, dass jegliche Eingleisigkeit, jegliches Ausschliessen zusätzlicher Möglichkeiten – und somit der Glaube an eine persönliche Unfehlbarkeit – in die Irre führt. Das Aufgeben dieser oft nur unterschwellig vorhandenen, kaum je wirklich eingestandenen Selbstüberschätzung ist mit sehr grossen Leiden verbunden. Auch hier gilt "der goldene Mittelweg". Weder Überschätzung noch Unterschätzung führen zum Ziel. Es kommt bei allem auf das Gleichgewicht an. Auch in der Meditation. Verpasst der Übende es, die Mitte, das Lot in sich zu finden, wird Vipassana nicht geschehen können. Nur das Beherrschen aller fünf Elemente – nicht nur der vier, die er gemeinhin als gegeben annimmt – macht den Menschen zum Meister. Und diese fünf sogenannten Königreiche lebender Kreaturen sind: Feuer, Luft, Wasser, Erde – und Äther, der für das steht, was die moderne Psychologie das Unterbewusstsein nennt.
Erst wenn der Mensch das Wissen über das kollektive Leiden all dieser zahllosen Myriaden von Wesen auf sämtlichen Ebenen des Seins besitzt, wird er zum König. Und erst dadurch, dass er ganz und vollständig erfüllt von diesem transzendenten Bewusstsein ist, wird er zum eigentlichen Herrscher und es offenbart sich ihm die unzählbare Menge seiner elementaren «Untertanen» in ihrer wahren Natur.
Dann wird er zum vollendeten Diener und gleichzeitig zum "Herrn" durch göttliches Recht - und damit zu einem Buddha.
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Ich zählte achtzehn Jahre, als ich anfing, Yoga-Stunden zu nehmen. Zu jener Zeit war ich Schülerin am Lehrerinnenseminar. Ein Lehrer, dessen Namen ich längst vergessen habe, übte zusammen mit einer Handvoll von Männern und Frauen zwischen vierzig und fünfzig Jahren Yoga, in einem Raum, in dem zu anderen Zeiten Tanzstunden für Kinder stattfanden. Vom Fenster meines Zimmers im Haus meiner damaligen Vermieterin konnte ich in den Raum hinunterschauen. Von Yoga hatte ich insofern bereits eine Ahnung, als ich mich schon als Jugendliche sehr für Philosophie interessierte sowie für alles Grenzwissenschaftliche, das mir in die Finger fiel und das ich an meinen Eltern vorbeischmuggeln konnte, die von meinen ausgefallenen Neigungen nicht sonderlich erbaut waren. Selbst meine Vermieterin erhielt von ihnen die Aufgabe, mir in dieser Hinsicht auf die Finger zu schauen und es ihnen zu melden, falls ich mich an Verbotenem vergriffe. Und verboten war alles, was nicht einer soliden, bodenständigen Weltanschauung entsprach, mit der ich später meinen Lebensunterhalt verdienen könne, wie mein Vater betonte.
Da ich emotional auf ständigem Kriegsfuss mit dem Leben und mit meinen schwierigen Umständen stand, schlief ich auch schlecht. Als sich mir deshalb die Möglichkeit bot, Yoga-Stunden zu besuchen, packte ich sie beim Schopf. Ich verdiente an freien Nachmittagen ein paar Franken mit dem Einpacken von Prospekten in einer Firma, die mit Orientteppichen handelte.
Die Yoga-Klasse, die ich dann besuchte, war Teil einer internationalen Yoga-Schule. Als der weitaus jüngsten Teilnehmerin wurden mir nähere Auskünfte über die Schule verheimlicht. Fragen meinerseits blieben ohne Antwort, ein Muster, das ich von Haus aus gut kannte. Auch dort blieben Fragen von meiner Seite meistens unbeantwortet. Vieles ging mich nichts an, wie man mir versicherte. Ich war deshalb daran gewöhnt, auf eigene Faust zu erkunden, was mir wichtig erschien. Und der Name der Schule, der Name des Lehrers an ihrer Spitze, erschien mir von dem Moment an bedeutend, als darüber gesprochen wurde, dass bald ein vierzehntägiger Meditationskurs stattfinden werde, und dass es wichtig sei, sich frühzeitig dafür anzumelden, da die Nachfrage bestimmt gross sein werde. Selbstredend meldete ich mich sofort an. Über die Kosten machte ich mir keine Sorgen. Irgendwie würde das Geld zu beschaffen sein. Davon war ich überzeugt. Ich freute mich sehr auf den Kurs, denn Meditation war genau das, was ich schon lange hatte lernen wollen. Darüber gehört hatte ich viel, auch am Goetheanum in Dornach, das ich ebenfalls hinter dem Rücken meiner Eltern besuchen musste, da es ebenso auf der Liste des Verbotenen stand.
Nun sollte ich endlich leibhaftig erfahren, wie sich Meditation anfühlte. Mein Herz jubilierte vor Glück. Umso härter traf mich der Schlag, als ich eine Absage erhielt, mit der Begründung, ich sei zu jung für Meditation. Ich verstand die Welt nicht mehr. Die Yoga-Übungen fielen mir so leicht. Ich fühlte mich dabei so wohl, war im Kurs voll integriert, verhielt mich still, andächtig, konzentriert – und nun das! Ich war am Boden zerstört. Den Yoga-Kurs quittierte ich augenblicklich. Mit Leuten, die mich und mein Anliegen so wenig ernst nahmen, wollte ich nichts zu tun haben. Ich war sehr erbost über die Absage. Und noch wütender machte mich die Feststellung, ich sei zu jung für Meditation. Wann denn, wenn nicht solange ich noch jung und gesund war, sollte ich damit beginnen, mich gezielt um mein Innenleben zu kümmern? Ich fühlte mich so zornig, dass ich kaum Worte fand für meinen Unmut und die Verachtung, die ich für den Lehrer des Yoga-Kurses hegte.
Grollend drehte ich dem Yoga den Rücken zu und mein Geschick wollte es, dass ich stattdessen in noch intensiveren Kontakt mit dem Goetheanum kam, das ich von da an regelmässig besuchte. Ein wunderbarer Lehrer, weise wie Sokrates – den er auch auf der Bühne verkörperte – bot mir an, mich in Stimmbildung zu unterrichten. Er wurde wie ein Vater für mich, ein liebevoller Führer meiner ungebärdigen Natur, ein Mentor und Freund, wie er im Buche steht, der meine Ausbrüche und Launen mit Humor parierte. Und einer, der mich von Herzen liebhatte. Ich wurde in seinem Haus aufgenommen wie eine Tochter. Da ich zu nichts gezwungen wurde, lernte ich begeistert, leicht und rasch. Universen gingen mir auf in den anderthalb kurzen Jahren, die mein Lehrer noch lebte. Als er starb, drei Wochen vor meinem Vater, ging für mich eine Welt unter. Doch der Grundstein für meinen Werdegang lag, solide verankert, in meinem Herzen.
Es dauerte ein paar weitere Jahre, bis ich meinen nächsten Yoga-Lehrer fand. Diesmal handelte es sich um einen Meister aus Fleisch und Blut, um den sich keine Geheimnisse rankten. Während der ersten Stunde musste ich mir vor lauter Geniertheit und Verlegenheit das Lachen verbeissen. Doch schon nach der dritten Stunde gehörte ich dazu, als hätte ich nie etwas anderes getan, als Yoga zu üben.
Fünf schlaflose Jahre lagen hinter mir. Das heisst, dass ich des Nachts nie mehr als eine Stunde lang geschlafen hatte. Den Rest der Nacht wälzte ich mich im Bett herum, zählte die Glockenschläge, die jede Viertelstunde vom nahen Kirchturm wie Hammerschläge auf mich herunterprasselten. Es war zum Verzweifeln. Diesem Übel rückten die Yoga-Übungen wunderbar zu Leibe. Und ich kam sogar mit Meditation in Kontakt, lernte die Grundlagen der Astrologie kennen, das Prinzip des Tarots und viele andere, damals für mich erleuchtende und nützliche Methoden innerer Arbeit. Ich war ein unruhiger Geist, streitbar und ständig auf der Suche. Für meine Eltern muss es eine schmerzhafte Herausforderung gewesen sein, mich unter Kontrolle zu halten, besonders für meine Stiefmutter, die nicht darum herumkam, mich, als sie meinen Vater heiratete, ebenfalls zu übernehmen. Wir litten nicht pausenlos, doch wir litten sehr oft aneinander. Wir fanden keine gemeinsame Sprache. Und ihre, wie ich fand, spiessige Sicht der Dinge, war für mich absolut unakzeptabel. Doch ich kämpfte gegen sie einen Kampf gegen Windmühlenflügel. Meine Auflehnung endete stets in einer Niederlage, da mein Hebel kürzer war als der ihre. Repressionen zwangen mich früher oder später in die Knie und zum Einlenken.
Der Aufenthalt im Lehrerinnenseminar, weitab vom Wohnort meiner Eltern, gedieh mir zum Segen. Ich bekam mein eigenes Zimmer, zuerst in einem Haus, das von katholischen Schwestern geleitet wurde, später bei verschiedenen Vermieterinnen. Meistens war ich dort mehr oder weniger wohl gelitten, das heisst, dass ich mit meiner Versponnenheit, wie meine Art zu sein genannt wurde, nicht allzu sehr aneckte und deshalb nicht allzu sehr darin beschnitten wurde. Ich fand am Seminar auch Lehrer, die mich so sein liessen, wie ich war, die meine Neigungen hin zu Literatur, zu Philosophie, zu grundsätzlichen Lebensfragen, zu Kunst, Musik und Theater unterstützten, sogar förderten und nicht einfach abzuwürgen versuchten, wie das meine Eltern für notwendig erachtet hatten.
Nach dem Tod meines Vaters, noch vor Abschluss meiner Ausbildung, heiratete ich meinen ersten Mann. Das Lehrdiplom erhielt ich schon als verheiratete Frau. Ich wollte diese Ehe. Mein zukünftiger Mann drohte mit Selbstmord, falls ich seinen Antrag ablehnte. Und da er mir lieb war, hatte ich nichts gegen eine Heirat einzuwenden. Wir waren beide jung, wollten beide weiter studieren. Ich war sowieso gegen das Kinderkriegen, aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen in der Kindheit. Und ich glaubte, mein Mann empfände genauso.
Erst später – vielleicht zu spät - entdeckte ich, dass er wahrscheinlich vorwiegend meinetwegen seine Studien fortführte. Wir arbeiteten tagsüber - ich bei einer Versicherung, er in einem Architekturbüro - und gingen abends zur Schule. Wir waren arm wie Kirchenmäuse. Und dennoch zufrieden. Auch wenn unsere Verbindung bald von Schatten überlagert wurde. Ich wollte viel mehr vom Leben als mein Mann. Er wünschte sich eine Familie. Und er wünschte sich Wohlstand. Ich jedoch wünschte mir Wissen, inneres Wissen. Ich wünschte mir Weite, Durchbrüche - Durchbrüche künstlerischer und spiritueller Natur. Dafür war ich bereit, auf fast jede Bequemlichkeit zu verzichten und jeden geforderten Preis zu bezahlen.
Meine Ehe nahm ich dennoch tiefernst. Ich war treu. Es wäre für mich unvorstellbar gewesen, meinen Mann zu betrügen. Aber ich wollte auch nicht einfach meinem Mann zur Verfügung stehen, wenn er fand, es sei wieder einmal an der Zeit dafür. Ich wünschte mir vollständige Autonomie für mich und meinen Körper. Und das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Als ich erfuhr, dass mein Mann eine Freundin hatte, brach wieder einmal eine Welt für mich zusammen. Mein Ideal einer gleichberechtigten, freien Studentenehe lag in Trümmern.
Doch dieser Schmerz öffnete auch für mich die Tür zu einem Liebeserlebnis, und zwar zum Liebeserlebnis schlechthin. Er war Schauspieler, prominent, viel älter als ich. Und er konnte fliegen! Das war das Ausschlaggebende für mich. Endlich traf ich jemanden, der fliegen konnte! Was das für mich bedeutete? In Worte zu fassen war es nicht. Es meinte etwas in der Art wie, dass er sich weder vor Tod noch Teufel fürchtete, jedoch nicht im zerstörerischen, sondern im kreativen Sinn. So dachte ich mir das in meinem jugendlichen Überschwang. Denn als wir uns erst gefunden hatten, gab es nichts und niemanden mehr auf der Welt als uns beide. Nichts anderes zählte mehr ausser unserer Ekstase und unseres grossartigen, übermenschlichen Leidens daran. Diese Verrücktheit - im wahrsten Sinne des Wortes - bedeutete allerdings Zerstörung genug. Sie gipfelte im Selbstmord meines Mannes. Obwohl mein Mann, der um meine Liebesgeschichte wusste, nicht sie zum Anlass seines Sterbens nahm. Er sah einfach keine Zukunft mehr für sich, denn ich wollte mich scheiden lassen – keineswegs, um zu meinem Liebsten zu ziehen, oh nein: Das wäre für mich nie in Frage gekommen. Sondern um mit den neu gewonnenen Erkenntnissen und der, durch diese Liebe neu gewonnenen Kraft, meinen weiteren Weg allein zu gehen. Das, sowie die Tatsache, dass seine beruflichen Wünsche sich nicht im erhofften Mass zu erfüllen schienen und auch, dass der ersehnte Wohlstand ausblieb, nahm mein Mann zum Anlass, sich umzubringen. Damit gedroht hatte er während der ganzen Zeit unserer Ehe. Immer wieder einmal war ich des Nachts zusammen mit meiner Schwiegermutter durch die Gegend gefahren, um ihn zu suchen und heimzubringen, wenn er in tiefer Depression ziellos umherirrte. Medizinische Hilfe hätte er nie angenommen. Ebenso wie ich beharrte auch er auf absoluter Eigenständigkeit. An Dickköpfigkeit standen wir uns beide in nichts nach.
Mein Yoga-Meister stammte aus Indien und war einer der schönsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin. Vor ein paar Jahren ist er gestorben. Von ihm sowie von seiner Mitarbeiterin, mit der zusammen er über Ungarn in die Schweiz gekommen war, erhielt ich kraftvolle, kompetente Förderung, die mir half, den Tod meines Mannes - ohne mich mit Schuldgefühlen geisseln zu müssen - zu überleben und gestärkt daraus hervorzugehen. Nur ein Ziel kam für mich noch in Frage: Der Weg zur Befreiung.
So tief in den Yoga einzudringen, dass ich ihn als direkten Pfad zu diesem Ziel erkannt hätte, war mir allerdings damals nicht vergönnt. Yoga erschien mir dafür zu einfach, da ich noch nicht in der Lage war, die vielen verschiedenen Ebenen, die den Yoga ausmachen, auszuloten. Immer wieder einmal unterbrach ich das Üben für kürzere oder längere Zeit. Unruhig fahndete ich nach stärkerer Herausforderung - und fand sie schliesslich in einer Schule, die auf der Mystik des Islams, dem Sufismus, fusste. Ohne den Yoga je ganz aufzugeben, arbeitete ich mit beiden Methoden mehr oder weniger gleichzeitig. Zu jener Zeit heiratete ich auch meinen zweiten Mann. Und wir zogen aufs Land in den früher beschriebenen Bauernhof. Wieder schloss sich ein Kreis in meinem Leben.
Mein Leben fühlt sich tatsächlich so an, als bestehe es aus lauter ineinandergefügter, sich weiter und immer weiter ausdehnender Kreise. Jeder Kreis produziert verstärkten Druck, verstärkte Kraft, weiter gefassten Raum und durchlässigere Grenzen.
Dadurch fing nach dreizehn weiteren Jahren auch die Sufi-Schule an, sich zu erübrigen und eröffnete sich mir der Weg zum thailändischen Kloster und zur Vipassana-Meditation. Den Yoga allerdings trug ich immer noch im Gepäck. Und, bedingt durch die Meditationsarbeit, offenbarten sich mir nun seine effektiven Möglichkeiten.
Mittlerweile unterrichte ich in meiner eigenen Yoga-Schule – und verstehe nun erst das Machtvolle dieser Methode.
Immer noch sehe ich mit meinem inneren Auge meinen Yoga-Meister den Fussweg zum Übungsraum seiner Sommerschule in der Südschweiz entlangschreiten. Er kleidete sich stets in Weiss. Und wenn er ging, wirkte es, als schwebte er über dem Boden dahin. Sein Schritt war unhörbar. Sein Lächeln strahlte aus jeder Faser seines Seins. Nichts Künstliches, nichts Anmassendes haftete ihm an. Er ruhte vollständig in sich, ohne Bedürfnisse – genauso wie der Abt, genauso wie der Meditationsmeister aus Thailand. Als ich das innewurde, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mein Leben barg solchen Segen in sich! Ich durfte Menschen kennenlernen - einen nach dem anderen - die alle unmittelbar aus der Quelle lebten und lehrten. Das verwandelte auch meine Yoga-Arbeit grundlegend. Und wiederum schloss sich ein Kreis.
Heute unterrichte ich Yoga so, wie ich Meditation praktiziere und weiter gebe. Ich verstehe den Yoga nicht mehr einfach als Körpertraining mit spirituellem Überbau, so wie er im Westen meistens geübt wird, sondern als subtilste Disziplinierung aller Sinne, die ausschliesslich dem einen Ziel geistiger Entwicklung dient, dem Vipassana: Das heisst: der Einsicht, der Klarsicht, der direkten inneren Schau.
Yoga in Verbindung mit Meditation ist dadurch für mich zur Lebenshaltung schlechthin verschmolzen. Es gibt keine Trennung: Die beiden Welten, Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, sind eine – sind Eins, das sämtliche Ebenen in sich begreift.
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Inzwischen sind zehn Tage vergangen, seitdem mein Freund, der an einem Melanom leidet, in die Sterbephase eingetreten ist. Jeden Tag haben meine Freundin und ich – ich nun auch direkt an seinem Bett sitzend - ihn anhand des «Totenbuches» angeleitet, den Weg nicht zu verfehlen. Wir haben uns dabei auf die Belehrungen über „die Symptome des Todes und die Begegnung mit dem Primären Klaren Licht“ beschränkt. Mein Freund wirkte so gelöst, so zufrieden und im Einverständnis mit sich selbst, dass es schien, diese Anweisungen genügten vollauf, um ihm den direkten Übergang zu erleichtern.
Vor fünf Tagen sah es dann so aus, als werde er in Kürze den Übergang schaffen. Er selbst hielt den Mittwoch für den Stichtag - oder den Freitag, falls es der Mittwoch nicht sein sollte. Am Mittwoch stand er noch auf, ass etwas, trank Wasser. Am Freitag blieb er zum ersten Mal den ganzen Tag über liegen. Er konnte auch nicht selbständig duschen und vertrug kein Essen mehr. Als ich an seinem Bett sass, stöhnte er, er halte es nicht länger aus. Meine Freundin und ich schlotterten vor Kälte. Er jedoch lag ohne Decke und nur leicht bekleidet da, beharrte darauf, dass das Fenster offenzubleiben habe, klagte dennoch über unerträgliche Hitze. Wobei „klagen“ nicht das richtige Wort ist. Er jammerte nicht. Jammern habe ich ihn während der ganzen Zeit seines Dahinscheidens nie gehört. Ihm war einfach in höchstem Masse unwohl. Es schien ihm, er würde bei lebendigem Leib innerlich verbrannt. Der direkte Übergang ins Primäre Klare Licht war ihm von den Führern dieser Ebene verwehrt worden. Und nun war er gezwungen, seinen Weg weiterzuverfolgen, bis ihm das Sekundäre Klare Licht dämmern würde, so schien es.
Noch einmal manifestierte sich seine frühere Ungeduld, seine Ruhe- und Rastlosigkeit. Zeit war in seinem Leben Mangelware gewesen. Er hatte stets Mühe damit bekundet, seine vielen Aktivitäten unter einen Hut zu bringen. Seine Familie behielt dabei oft das Nachsehen. Nun behinderte das Überbleibsel dieser Altlast sein Hinübergehen. Er gebärdete sich unruhig und missmutig, seufzte, es gelinge ihm einfach nicht loszulassen.
Vielleicht gerade deswegen folgte er den Lesungen so aufmerksam wie nur möglich. Er ersuchte seine Frau ausdrücklich, sie nicht zu unterlassen, auch wenn er dabei einschlafen sollte. Dass er immer wieder einschlief, konnte er nicht verhindern. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen und fühlte sich bald sogar zu schwach, seinen Kopf selbst anzuheben. Oft schnarchte er so laut, dass die Lesungen kaum zu hören waren. Insgesamt atmete er schwer und angestrengt wie jemand, der eine ungeheure Last einen steilen Berghang hinauf zu schleppen gezwungen ist. Nur sein Blick blieb sanft und strahlend entspannt.
Am folgenden Tag fand er zu seiner Ruhe zurück. Sein Zustand stabilisierte sich. Er äusserte Enttäuschung darüber, dass er noch da sei und gleichzeitig Erleichterung, fand, es wäre doch schade gewesen, wenn er schon abberufen worden wäre. Dabei zwinkerte er mir schelmisch zu. Er war nun endgültig bettlägerig geworden und seine Pflege musste organisiert werden. Doch kleine, schräge Spässe gelangen ihm sogar jetzt.
Tags darauf verschlechterte sich sein Zustand weiter. Und ich dehnte die Lesungen auf die zweite Stufe der Belehrungen aus, auf „die Begegnung mit dem Sekundären Klaren Licht“ also. Sein Blick fing an, sich zu verschleiern. Er schien sich in der Illusion von Raum und Zeit gefangen zu haben, stöhnte, er finde die Türe nicht. Einige Zeit später handelte es sich schon um ein Tor, das er nicht auszumachen vermochte. Er wirkte angespannt und äusserst erschöpft, wie jemand, der unbekannten Mächten schonungslos ausgeliefert ist. Ich las ihm die dritte Stufe der Lesungen vor. Im Totenbuch ist diesbezüglich von karmischen Trugbildern die Rede, von Klängen, Lichtern und Strahlungen, deren Kraft schmerzt und verzehrt und dadurch karmische Überbleibsel verbrennt.
Auch einen Tag später ist mein Freund noch am Leben. Er hat nun seit drei Tagen nichts mehr getrunken. Austrocknung macht sich bemerkbar. Das hindert ihn jedoch nicht daran, schön und würdevoll auszusehen. Seine Ungeduld hat sich gelegt. Er pendelt zwischen den beiden Welten hin und her. Die Lesungen helfen ihm, sein Gleichgewicht zu stabilisieren. Er ist im Einverständnis mit sich, auch wenn sein Körper offensichtlich leidet.
Für mich stellt die Tatsache, dass ich an diesem Sterben teilhaben darf, ein unschätzbares Geschenk dar. Bis dahin konnte ich mit dem Totenbuch wenig bis nichts anfangen. Nun, da ich am Beispiel meines Freundes erkennen darf, wie sein jeweiliger Zustand in den Lesungen unmittelbar gespiegelt erscheint, kennt meine Dankbarkeit keine Grenzen. Und ich stelle dabei mit Erstaunen fest, dass das Totenbuch auch eine direkte Parallele zur Vipassana-Meditation aufweist. Das Totenbuch ist tatsächlich ein Reiseführer durch die Welten des Unbewussten, des Unterbewusstseins, durch das fünfte der Elemente, das Element Äther. Die Lesungen für meinen Freund sowie seine Reaktionen darauf zeigen überaus deutlich an, dass, wie und in welch ausschliesslichem Mass die beiden Welten Eine sind. Das Totenbuch erbringt den Beweis dafür, dass es keine Alternative zu Leben gibt, dass Tod und Leben die beiden Seiten einer und derselben Medaille verkörpern.
Dadurch erkenne ich auch den Weg, den ich selbst seit meiner Geburt gegangen bin in viel klarerem Licht. Beschreibungen von Kämpfen, die ich ausgefochten, von Stadien von Verwirrung, von Isolation, von entsetzlichster Einsamkeit und Todesangst, die ich durchlaufen habe – aber auch von Ekstase, Entrückung, dem „Verschmelzen im Herzen des Geliebten“ - begegnen mir während der Lektüre des Totenbuchs im Verhältnis eins zu eins. Ich war nicht übergeschnappt, wenn ich als Kind von Dingen, Erfahrungen und Begebenheiten erzählte, die anderen Menschen unbekannt zu sein schienen, da sie ihnen nicht ausgesetzt gewesen waren. Selbst wenn meine Eltern mich das periodisch glauben machen wollten und sich meiner schämten, da ich so wenig ihrem Wunschbild einer wohl erzogenen, gefügigen Tochter entsprach.
Bei meiner ersten Begegnung mit dem Abt, als er zu mir sagte: „Ich sehe, du hast schon viel gearbeitet“, fügte er noch hinzu: „Und du hast das Potenzial. Wenn du hart an dir arbeitest, kannst du es schaffen. Du bist gerade noch im richtigen Moment hier aufgetaucht.“
Dass ich gerade noch im richtigen Moment den Weg ins Kloster hatte finden dürfen, war mir instinktiv bewusst. In der Vipassana-Meditation erkannte ich meinen Rettungsanker. Die Vipassana-Meditation bot mir die höchstmögliche Herausforderung, derer ich bedurfte, um nicht in Negativität abzugleiten. Ich war auf dem besten Weg dorthin gewesen. Ich war den Höllenbewohnern und den teuflischen Wesen bereits bei lebendigem Leib begegnet. Todesangst hatte mich jahrelang durch meine Tage und Nächte gepeitscht. Ich wusste, dass ich über sehr viel Kraft verfügte. Ich wusste nur nicht, wie ich sie verwirklichen, für mich – und für andere – zu bahnbrechendem Nutzen verwenden konnte. Das zeigte mir erst der Abt auf, als er mir das Werkzeug der Vipassana-Meditation in die Hand gab.
«Das Totenbuch» ist nicht nur ein Führer durch das Jenseits, durch die sogenannte Unterwelt. Es zeigt auch die gesamte Bandbreite menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten auf. Das Menschendasein ist darin in seiner unermesslichen Vielfalt, Grenzenlosigkeit und Macht gespiegelt. Das Totenbuch ist das Buch über den Menschen schlechthin, über sein gesamtes Potenzial. Die Vipassana-Meditation ist der Schlüssel zu seiner Erkundung, zu seinem Verständnis.
Und das Sterben meines Freundes hat mir eine Ahnung vom Ausmass dieses Unterfangens in die Hand gegeben. Dafür werde ich ihm bis zu meinem letzten Atemzug auf eine Weise dankbar sein, die jenseits von Worten liegt.
Einmal mehr versetzt mich in Erstaunen, wie unglaublich vernetzt die verschiedenen Ebenen von Dasein miteinander sind. Jede einzelne Station meines Lebens ist ein Trittstein auf dem Weg zu diesem jetzigen, gegenwärtigen Augenblick gewesen. Keiner ist daraus wegzudenken. Ein Trittstein hat mich unweigerlich zum nächsten geführt, in überwältigender Konsequenz.
Solange ich mir lediglich der vier Elemente von Feuer, Erde, Luft und Wasser bewusst bin, verstehe ich mich, verstehe ich meine Person als alleinigen Mittelpunkt des Universums. Und ich beziehe alles, was mir zustösst, was mich beschäftigt, mich freut oder verletzt unwillkürlich auf mich selbst. Diese Bauchnabelschau verhindert, dass ich andere Menschen, dass ich das grundsätzlich Andere an sich überhaupt wahrnehme. Alles bemesse ich nach meinem persönlichen Massstab. Ich sehe die gesamte Schöpfung durch diese persönliche Brille. Und da diese Schöpfung meistens überhaupt nicht im Einklang steht mit meinem Denken und Empfinden darüber, wie sie sein sollte, mache ich sie mir zum Feind, der so lange bekämpft werden muss, bis er sich meinem Willen und meinen Vorstellungen unterwirft – bis zum Sankt Nimmerleinstag also.
Zumindest westliches Denken funktioniert oft so. Was der Mensch nicht einordnen, bewältigen und kontrollieren kann, ist suspekt, wirkt bedrohlich und muss ausgerottet werden. Da der Mensch jedoch, ohne entsprechendes Meditationstraining, seine persönlichen Gefühle, Gedanken, Träume und Alpträume gar nicht unter Kontrolle, beziehungsweise im Bewusstsein hat, legt er sich auch mit diesen an. Sind sie schon nicht ausrottbar, versucht er, sie wenigstens schönzureden, schönzudenken, sie in sentimentale Geschichten zu kleiden oder ihnen anhand von Psychologie das Bedrohliche auszutreiben. Gerade im Westen besteht die Gefahr, dass der Mensch diese Methode perfektioniert und auf die Spitze treibt. Science-Fiction-Bücher und –Filme bringen inzwischen auf der ganzen Welt spektakuläre Blüten hervor. Dank ihrer wird oft versucht, der eigenen, meist uneingestandenen Ängste vor dem Unnennbaren, vor sämtlichem, was mit Tod und dem Jenseits zu tun hat, Herr zu werden. Doch bleibt der Mensch dabei gezwungenermassen erfolglos. Die Entwicklung unserer Zivilisation beweist, dass diese Art des Vorgehens, des Totschweigens oder des Überspielens fundamentaler Ängste in die Irre führt. Eines Tages wird die Flasche dem eingesperrten Gespenst zu eng werden, und es wird diesen Teufelskreis sprengen.
Schwierige Lebensverhältnisse übrigens können der Sprengung dieses Teufelskreises sehr förderlich sein. Wenigstens in meinem Fall hat sich das bewahrheitet. Mit dem Messer meiner chaotischen Lebensgrundlagen am Hals war ich dazu gezwungen, mich nach Lösungen umzusehen. Ich wäre sonst unweigerlich unter die Räder von Negativität geraten. Meine Angst, unter jene Räder zu geraten, wirkte als Sicherheitsventil, das mich auf dem Weg meiner Suche weiter und weiter trieb. So weit, bis ich begriff, dass weder die Weltlage daran schuld war, wenn es mir nicht gelang, ein erfülltes, reiches, liebevolles Leben für mich aufzubauen, noch meine persönlichen Verhältnisse dafür verantwortlich gemacht werden konnten. Sondern dass es einzig und allein an mir selbst lag und an meiner Haltung dazu. Diese Erkenntnis wirkte wie ein Bremsklotz an meinem Bein, der Verlangsamung herbeiführte und damit das Innehalten - und schliesslich die Umkehr ermöglichte.
Schon bevor ich mit dem Vipassana-Training begann, lernte ich, mein eigenes Verhalten im Gegensatz zum Verhalten anderer Menschen mir gegenüber zu beobachten. Die Bilanz war erschreckend. Meinem grundsätzlichen, persönlichen Verhalten und Betragen auf die Spur zu kommen, bedeutete höchsten Schock. Ich kriegte es mit schierer Panik zu tun, als mir das zum ersten Mal passierte. Dass ich mich so jämmerlich verhielt, und mir dabei auch noch einbildete, im Recht zu sein, konnte ich kaum glauben. Und dennoch war es unleugbare Tatsache. Und ich brauchte mich deswegen nicht einmal zu verdammen. Denn das sehen zu können, bedeutete an sich schon ein grosses Geschenk, ein Geschenk, das mir mein Leben höchst persönlich als Hilfe anbot. Und diese Erkenntnis hinwiederum leitete Umkehr in die Wege. Wirklich zu unternehmen brauchte ich eigentlich nichts. Umkehr geschah durch das Erkennen. Und natürlich geschah sie nicht von heute auf morgen. Viel Geduld war dazu notwendig, viel Demut, viel Liebe zu mir selbst und Dankbarkeit dafür, dass ich überhaupt am Leben sein durfte. Dadurch begann ich, andere Menschen erst wirklich wahrzunehmen und sie anzuschauen, ohne sie pausenlos mit meinem persönlichen Massstab zu messen, sie nach meiner persönlichen Sicht der Dinge zu beurteilen. Das hatte im Gegenzug zur Folge, dass ich das Lieben lernte, zuerst an mir selbst, dann auch an anderen.
Zu begreifen, dass die Welt ganz und gar nicht nur diejenige Idee widerspiegelte, die ich mir von ihr machte, sondern dass sie die Summe sämtlicher manifestierter und unmanifestierter Ideen überhaupt widerspiegelte, riss reihenweise Mauern ein, die bloss meine Angst davor, persönlich nicht zum Zuge zu kommen, aufgerichtet hatte. Ich erkannte dadurch auch, dass ich Liebe nur vom Hörensagen her kannte, aber selbst in Sachen Liebe Neuland betrat. Dadurch, dass ich meine Angst vor persönlichem Übergangenwerden loslassen konnte, trat Liebe ins Spiel. Bis dahin hatte die Triebfeder meiner Existenz hauptsächlich in Ablehnung bestanden. Eine weitere Erkenntnis, die das Blut in meinen Adern gefrieren liess. Ein weiteres Geschenk des Lebens an mich, das mir Mut machte, meinem Weg zu folgen.
Nicht mehr Angst davor zu haben, mich zu zeigen, einfach da zu sein, ohne mich zu verstellen, ohne mich künstlich in Szene zu setzen, liess Tonnen an Gewichten von mir abfallen. Dadurch machte es erst Sinn, Yoga zu lehren, Vipassana-Meditation zu unterrichten, mit anderen Menschen zusammen etwas aufzubauen, das allen diente, dem Leben sowie der Entfaltung jedes Einzelnen, nicht immer nur mir selbst und meinen scheinbaren Bedürfnissen. Diese erwiesen sich durch die Arbeit an mir selbst ohnehin als äusserst gering und rutschten mit der Zeit von selbst in die zweite, dritte, vierte und fünfte Reihe ab, je weiter ich mich darin voran wagte, darauf zu verzichten, die Welt ausschliesslich aus meiner persönlichen Sicht zu betrachten und zu beurteilen.
Aus meiner rein persönlichen Sicht heraus würde auch das Totenbuch keinen Sinn machen, da ich mich darin nicht gespiegelt sähe. Und auch in der Meditation käme ich nicht auf einen wirklich grünen Zweig. An gewissen Punkten des Übens wird Umkehr unumgänglich. Das ist die Mautgebühr, die ich auf dem Weg – wieder und wieder – entrichten muss.
Durch diesen Prozess verändert sich nicht nur die Sichtweise auf Leben, sondern der ganze Mensch. Der Augenausdruck wandelt sich, die Körperhaltung wird anders, die Bewegungen werden weicher, fliessender. Und nicht zuletzt verändert sich die Stimme. In dem Mass, wie sich der Atem wandelt, wird auch sie sanfter, modulationsfähiger und liebevoller.
Nun liegt mein Freund in den letzten Zügen. Draussen giesst es in Strömen. Das Ende der Woche wird er nicht erleben. Oder anders ausgedrückt: Am Ende dieser Woche wird er seinen jetzigen Körper als Wohnstatt hinter sich gelassen haben. Er liegt meistens auf der Seite, friedlich und hingegeben wie einer, der alle Zeit der Welt hat, den nichts mehr aus der Fassung zu bringen vermag und der einfach im Wartehäuschen an der Haltestelle ausharrt, bis der richtige Bus ihn abholt. Eine grosse Würde hüllt ihn ein. Nicht das geringste bisschen Fleisch ist auf seinen Knochen zurückgeblieben. Doch macht er keineswegs den Eindruck, als fehle ihm etwas. Er hat all sein Gepäck abgeworfen und ruht nun aus, seinem letzten Atemzug entgegen.
Wie ein kostbares Juwel liegt dieses Erleben in der weit geöffneten Hand meines Herzens. Und ich kann dafür nur tausendmal «danke» sagen.

Mein Freund wurde eine Woche vor der alljährlich stattfindenden Meditationsklausur beerdigt.
Diese Klausur dauerte, wie üblich, zwei Wochen. Für mich war es die fünfte, der ich mich unterzog. Ich schrieb mich auch dieses Mal für zehn Tage ein. Zehn Tage lang schweigend an der Arbeit zu bleiben, ohne sich um die Gestaltung des Alltags kümmern zu müssen – einfach rund zwanzig Stunden am Tag in Konzentration verharren zu können - erscheint mir jedes Jahr wie eine Erlösung. Gerade weil ich weiss, was mich währenddessen erwartet.
Klausuren sind keine Sonntagsspaziergänge. Wie harmonisch und ungestört sie verlaufen, hängt von den jeweiligen Teilnehmern ab. Wenn jemand die innere Spannung, die sich durch das permanente Schweigen rasch aufbaut, nicht mittragen kann, wenn er oder sie aufbraust, davonläuft oder sonst tobt, beeinflusst das die ganze Gruppe. Das kann die Konzentrationsfähigkeit einzelner Teilnehmer stark beeinträchtigen, da solche Vorkommnisse die Bildung von Gedankenformen drastisch anregen und beschleunigen. Gerade Menschen mit psychischen Problemen sollten sich deshalb eingehend prüfen, bevor sie sich zu einer Meditationsklausur anmelden. Wenn sie sich davon überfordert fühlen und darauf aggressiv oder depressiv reagieren, erweisen sie weder sich selbst noch den anderen Meditierenden einen Dienst.
Klausuren sind dazu da, damit Meditierende sich in einer Weise hingeben und öffnen können, die nur in einem geschützten, intakten Raum möglich ist. In der Meditation stösst der Mensch auf vollständig unbekanntes Gebiet vor. Er lässt sich so auf sich selbst ein, wie er das mit dem Alltagsverstand nicht tun würde. Meditation mag ihm vorkommen wie Schlittschuhlaufen auf sehr dünnem Eis. Vom Sturz in den Abgrund trennt ihn nur eine hauchzarte Schicht. Ob sie ihn trägt, weiss er nicht. Und was geschähe, falls sie einbräche?
Meditation zu üben, erfordert Mut – ganz sicher in fortgeschrittenen Stadien, wenn immer tiefere Schichten unterbewussten Seins aufgedeckt werden, und das zuvor so solide Selbstbild, das der Meditierende von sich hatte, sich in nichts auflöst. Menschenleid wird dadurch schonungslos sichtbar. Tierisches Leiden zeigt sich, die Gequältheit von Existenz überhaupt. „Der Menschheit ganzer Jammer“ offenbart sich ungetrübt – jedoch auch der Menschheit Glück - obwohl es bis dorthin ein weiter Weg ist. Wahrscheinlich haben die meisten, die zu meditieren beginnen, die Absicht, sich nur gerade so weit auf Konzentration einzulassen, dass ihr Selbstverständnis keinen Schaden nimmt. Die Illusion, Meditation sei einfach ein weiteres Wellness- oder Wohlfühlprogramm auf der Angebotspalette von Lebenshilfe, dürfte den Übenden allerdings rasch genommen werden.
Meditation zu üben, bedeutet in der Tat, sich harter physischer, psychischer und energetischer Atem- und Konzentrationsarbeit zu verschreiben. Je mehr die Konzentrationsfähigkeit ansteigt, desto tiefer dringt der Übende zu den unbewussten, bisher von ihm unentdeckten und deshalb oft auch abgelehnten Schichten seiner Existenz vor. Der Energiepegel steigt an. Die Spannung steigt an. Schmerzen können auftreten. Verborgenes, Verdrängtes rückt ins innere Blickfeld und verlangt nach Auseinandersetzung, nach Bereinigung. Exaktes Hinschauen ermüdet am Anfang sehr. Deshalb genügen für den Anfänger meistens auch eine halbe Stunde Geh- und eine halbe Stunde Sitzmeditation pro Tag.
Vipassana-Meditation ist die Meditation der Klarsicht.
Der Übende lässt sich dabei auf Dinge, die in ihm aufsteigen und angeschaut werden wollen nur in der Hinsicht ein, dass er sich bewusst macht, was es überhaupt ist, das er sieht. Sobald er sieht, was in ihm auftaucht, benennt er es dreimal und lässt es dann los, lässt es sozusagen auf dem Fluss des Ausatmens davonfliessen. Erkennt er Schmerz, benennt er ihn mit „Schmerz, Schmerz, Schmerz“, lässt den Schmerz los und wiederholt diesen Vorgang so lange, bis der Schmerz sich ergibt. Falls der Schmerz das, aus welchem Grund auch immer, nicht tut, wird ihm vielleicht bewusst, dass er möglicherweise seine Sitzstellung ändern sollte. Er bereitet sich darauf vor mit dem Benennen: „die Absicht, sich zu bewegen, die Absicht, sich zu bewegen, die Absicht, sich zu bewegen“. Und mit dem Begriff: „bewegen, bewegen, bewegen“ verändert er behutsam seine Stellung. Hinterher kehrt er sofort zum Beobachtungsmuster der Meditation zurück, zum: „heben – senken – heben – senken – heben – senken“, dem Beobachten des Hebens und des Senkens der Bauchdecke beim Atmen. Und das so lange, bis sich innen drin das nächste Phänomen zeigt. Diesmal handelt es sich möglicherweise um Gedankenschwärme, die der physische Schmerz, der den Übenden zur Stellungsänderung veranlasste, hervorgerufen hat. Den aufkeimenden Gedanken rückt er mit: „denken, denken, denken“ zu Leibe, und das ebenfalls so lange, bis sie sich beruhigen, verstummen, in den Hintergrund treten und er zum: «heben – senken» zurückkehren kann.
Vipassana-Meditation bedeutet pausenlose Aufmerksamkeit, pausenlose Arbeit. Empfindet der Übende währenddessen Langeweile oder gar Überdruss, benennt er sie mit: „Langeweile, Langeweile, Langeweile“ oder „Überdruss, Überdruss, Überdruss“, bis das Phänomen verschwindet oder einem neuen Platz macht. Kehrt Ruhe ein, erklingt wieder der Grundtenor des: „heben – senken“.
Während der Meditation führt sich der Übende ständig an der Leine. Geraten die Gedanken auf Abwege und bemerkt er das, ist: „wandernde Gedanken, wandernde Gedanken, wandernde Gedanken“ an der Reihe. Es gibt kein Ausscheren. Oder es sollte kein Ausscheren geben – obwohl gerade das ununterbrochene Dranbleiben für den Anfänger besonders hart ist. Und manchmal nicht nur für den Anfänger. Die Tagesform und der aktuelle Gesundheitszustand spielen eine Rolle dabei, ob die Meditation „gut“ läuft, Es kommt auf die inneren sowie auf die äusseren Umstände an. Wobei der Begriff „gut laufen“ bereits wieder eine Falle darstellt, denn er beinhaltet Erwartung. Was bedeutet, dass, sobald sich der Übende innerlich mit Erwartung konfrontiert sieht, auch diese sogleich als: „Erwartung, Erwartung, Erwartung“ deklariert und losgelassen werden sollte.
In der Arbeit mit Vipassana-Meditation ist demnach nichts, was geschieht, was sich zeigt, was jemand empfindet, denkt, fühlt oder erleidet Nebensache. Alles will ins Auge gefasst, benannt und so lange sein gelassen werden, bis es sich ergeben kann, wie ein ungebärdiges Kind - oder ein Tier, das erst dann Ruhe gibt, wenn der Besitzer sich seiner in gebührendem Mass angenommen und den Mangel behoben hat, der es zum Aufbegehren gebracht oder in Unruhe versetzt hat.
Das Üben von Vipassana-Meditation hört während einer Klausur auch dann nicht auf, wenn der Gang zur Toilette fällig ist. Angemessen langsam schreitet der Meditierende darauf zu. Ebenso langsam und bedacht wäscht er sich die Hände, zieht er sich aus oder an, kämmt er sich, putzt er sich die Zähne, legt sich ins Bett, steht er auf, setzt er sich an den Tisch, führt er den Löffel zum Mund, kaut und schluckt er die Nahrung hinunter, trinkt er, säubert er das Geschirr. Genau genommen hört das Üben von Vipassana-Meditation für den Menschen, der sich vollkommend darauf einlassen will, nie mehr auf, weder bei Tag noch bei Nacht, während keines Atemzugs, keines Augenblicks, nicht einmal im Schlaf.
Am Anfang mag diese Vorstellung albtraumhaft wirken. Fragen wie: „Wann soll ich noch leben“, „wann soll ich mein Leben noch geniessen», «wann soll ich mich noch unbeschwert freuen“ oder, „wann soll ich überhaupt noch ausspannen und mich erholen“, mögen zwangsläufig auftauchen.
Dazu lässt sich folgendes sagen:
Die Anfängerin oder der Anfänger beginnt ohnehin damit, Vipassana-Meditation zuerst nur während einer Stunde pro Tag zu üben. Vipassana-Meditation bekommt damit für ihn vielleicht die gleiche Bedeutung wie die Turnstunde, die er pro Tag absolviert oder der Mittagsschlaf nach dem Essen. Sie stellt nur einen Abschnitt seines Tagesprogramms dar, eine Handlung, die er so ausführt, wie die vielen übrigen Handlungen, die seinen Tag ausmachen. Es vergeht möglicherweise eine gewisse Zeit, bis der oder die Übende Vipassana-Meditation nicht mehr nur als etwas von ihm oder ihr Getrenntes erlebt, dem er oder sie sich widmet, wie einer besonderen Pflicht, auf die er oder sie sich eingelassen hat.
Der erhöhte Druck einer Klausur kann dazu beitragen, die Kluft zwischen der Vipassana-Meditation und den Übenden zu verringern, so dass die Meditation ihnen unverhofft als etwas völlig Normales erscheint, das der innersten Natur des Menschen nahtlos entspricht. Ein Meditierender versteht sie dann nicht länger als eine Technik, als eine Methode zur inneren Erkenntnis. Sondern sie wird zu einer Lebenshaltung für ihn, die auch in den Stunden des Tages weiterläuft, in denen er nicht mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Kissen sitzt oder im Zeitlupentempo Fuss vor Fuss setzt.
Sie trägt nun Früchte. Das heisst, dass durch das Üben innere Verwandlung anfängt stattzufinden. Bis zu diesem Punkt ist grosse Hartnäckigkeit gefragt. Gibt der Übende zu früh auf, wird die Vipassana-Meditation eine von vielen Methoden bleiben, die ihm auf dem spirituellen Weg angeboten werden, zwecks Erlangung von Erkenntnis, beziehungsweise Erleuchtung, und die so wenig funktioniert hat wie etwa seine Abmagerungsdiät vom vergangenen Frühjahr. Eben weil sie Methode geblieben ist, hat sie nicht funktioniert, so wie die Diät. Da er sich die Arbeit nicht wirklich einverleibt hat, so dass die Meditation ihr Werk der Verwandlung an ihm tun konnte, trug sie keine Frucht.
Vipassana-Meditation funktioniert nur, wenn man sich mit Leib und Seele in sie hinein begibt, wenn man selbst zu Vipassana, gleich «Klarsicht» wird. Nur partiell findet Verwandlung statt, wenn man zwar seine Zeit in Meditation absitzt, hinterher jedoch zur üblichen Tagesordnung zurückkehrt und die Meditation wieder aus dem Bewusstsein verdrängt.
Je ausdauernder geübt wird, desto mehr sollte sich die Einstellung, sollte sich die Haltung zum persönlichen Leben und zu anderen Menschen sowie zu Dingen, Erscheinungen und Ereignissen wandeln. Jemand, für den das Üben von Vipassana-Meditation zur Lebenshaltung geworden ist, versteht Leben anders als jemand, für den Meditation immer noch nur eine von vielen möglichen Methoden darstellt. Vipassana-Meditation als Lebenshaltung macht das Dasein eines Menschen in einem Mass durchsichtig und durchlässig, das tiefgreifende Einblicke und Erkenntnisse sichtbar macht. Vipassana-Meditation macht weise und verfeinert das Nervensystem auf eine Art, die schlussendlich Befreiung, Erleuchtung ermöglichen kann.
Wahrnehmung – das heisst: das Sehen und das Benennen von dem, was im Meditierenden, was mit ihm, durch ihn und um ihn herum geschieht – sind die Späne, die die Glut, die zur Erkenntnis führt, anheizen. Wahrnehmung ist nicht dasselbe wie Erkenntnis. Doch ohne Wahrnehmung wird Erkenntnis ausbleiben.
Noch eine Stufe subtiler als Wahrnehmung ist Achtsamkeit. Denn Achtsamkeit beinhaltet die Konsequenzen, die das Sehen und das Benennen mit sich bringen. Achtsamkeit umfasst die vollständige Verantwortung des Übenden als menschliches Wesen.
Die erste dieser Konsequenzen, die dem Uebenden auffallen mag, ist vielleicht die Idee, er gehe ständig – oder etappenweise – einen Schritt hinter sich her und schaue sich bei der Erledigung der alltäglichen Verrichtungen zu. Wohl hat er während des Übens, gemäss der Instruktion des Meisters, nicht nur jeden seiner Gedanken, jedes Gefühl beobachtet und benannt, sondern auch jede seiner Handlungen. Schritt er zur Toilette, lief das unter „schreiten, schreiten, schreiten“. Ergriff er langsam und mit Bedacht die Türklinke, tat er das im Bewusstsein von „berühren, berühren, berühren“, „hinunterdrücken, hinunterdrücken, hinunterdrücken“, „Türe öffnen, Türe öffnen, Türe öffnen“ und so fort. Für den Übenden hört Achtsamkeit nie mehr auf. Und sogar, wenn er sich vergisst und sich dessen bewusst wird, benennt er das mit „vergessen, vergessen, vergessen“. Dennoch kann das sich unerwartet von hinten Zuschauen ein kurzes Erschrecken zur Folge haben.
Einen verborgenen Haken hat die Sache: mit genügend Routine kann es geschehen, dass das Benennen sich verautomatisiert. Der Kopf benennt eifrig und pflichtgetreu, was sich ihm darbietet, doch die Gedanken haben sich längst verselbständigt und sind mit bevorstehenden Ferien, mit der nächsten Party, der Sorge um die Familie oder um die Karriere beschäftigt. Auch solche Doppelspurigkeit wird natürlich benannt und entsprechend sein gelassen.
Je mehr Distanz der Übende durch andauerndes Beobachten seiner selbst zu sich aufbaut, desto klarer erkennt er seine Art zu leben, dieses aus zahllosen Fäden gesponnene, in alle Richtungen ineinander und auseinander laufende Gespinst unkontrollierter, ins Kraut schiessender Emotionen, Gedanken, Handlungen und Ereignisse.
Als bei mir dieser Fall auftrat und ich meinem Meditationsmeister mitteilte, dass ich kaum noch aus und ein wüsste und mit dem Benennen längst nicht mehr klarkäme, weil sich plötzlich Tausende von Phänomenen vor mir aufbauten, die alle bezeichnet werden wollten, lachte er schallend und rief aus: „O nein, es sind Millionen, Milliarden! Wenn du erst einmal damit anfängst, sie zu erkennen und zu benennen, melden sie sich in Legionen zu Wort!“ Was ich denn nun tun sollte, fragte ich. Und geradlinig und unkompliziert, wie es die Buddhisten sind, antwortete er: „Dann benennst du eben das Erstbeste. Alle wirst du niemals schaffen. Und das musst du auch nicht.“- Das ist, im buddhistischen Sinn, gesunder Menschenverstand.
Mit der Zeit kam ich von selbst darauf, dass auch das sture Benennen irgendwann in eine sanftere Version übergeht. Denn je mehr «Leere» anfängt Gestalt anzunehmen, desto weniger hat Ablenkung von aussen eine Chance. Je mehr Konzentration zur Verfügung steht, desto mehr Hilfe wird mir zuteil. Je mehr meine Qualität, dem Leben als Gefäss zu dienen, zunimmt, desto mehr werde ich zu diesem Zweck benutzt. „Wir sind die Flöten, doch Dein ist die Musik.“
Gedanken, die der Übende mit „denken, denken, denken“, Gefühlen, die er mit „fühlen, fühlen, fühlen“ benennt und so weiter, kommt auch ganz allmählich die persönliche, die subjektive Qualität, die er ihnen normalerweise unbewusst anhängt, abhanden. Und früher oder später mag der Moment eintreten, in dem er unmissverständlich klar erkennt, dass Gedanken und Gefühle, denen keine egozentrierte Qualität mehr anhaftet, reine Energie sind, der enorme Kraft und Macht innewohnt. Und es ist genau diese Energie, die zur Stosskraft werden kann, die zu guter Letzt Befreiung, Erleuchtung und Nirwana herbeiführt.
Vipassana-Meditation kann im Menschen tatsächlich sehr machtvolle Kräfte freisetzen, Kräfte, die bei sorglosem Umgang damit auch Selbstüberschätzung zur Folge haben und dementsprechende Abstürze begünstigen können. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur an die Geschichte des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde – oder an das Drama von «Faust» erinnern.
Ein Meister des Vipassana ist ein Mensch, der Meisterschaft erlangt hat im Umgang mit Energie schlechthin. Doch bis dahin ist es ein überaus weiter Weg, auf dem viele Gefahren lauern. Deshalb ist umsichtige und kompromisslose Führung durch einen ausgewiesenen Meister unumgänglich für denjenigen, der diesem Weg folgen möchte.
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Die immer tiefer greifende Erfahrung davon, für andere Menschen, andere Wesen nicht wirklich etwas tun zu können, in dem Sinne, dass ich ihnen Schweres abnehmen oder wenigstens erleichtern, dass ich Frohes, wie man so sagt, mit ihnen teilen kann, hat noch nicht ganz aufgehört, Perplexität in mir hervorzurufen. Dass jeder Mensch sein unausweichliches, nur ihm eigenes Karma besitzt, leuchtet mir ein, da ich es sehe und ständig neu erlebe. Doch dass auf fremdes Karma kein Zugriff möglich sein soll – weder im negativen Sinn noch im positiven - findet mein Kopf schwer begreifbar. Konsequent verstanden bedeutet das, dass ich weder einen anderen Menschen glücklich machen noch ihn zerstören kann. Und selbstverständlich ist das eine wundervolle Nachricht, sogar eine der wundervollsten, die es gibt. Zur Hauptsache, weil sie mich einerseits bei allem was passiert oder mir zustösst, auf mich selbst zurückwirft und dadurch mich selbst schützt – so wie andere vor mir. Und weil sie andererseits Schuldgefühle überflüssig macht.
Von einem meiner Lehrer erhielt ich den Satz: „Dein Leben ist beschränkt auf den Raum innerhalb deiner Armspanne.“ Und der Lehrer führte weiter aus, dass innerhalb dieser Armspanne alles enthalten sei, was Leben ausmache – alles: ohne Unterschied.
Durch die Meditationsarbeit kann dem Menschen bewusst werden, dass diese Behauptung zutrifft. Sobald er in der Vipassana-Meditation das Tor zur Wirklichkeit findet, das Tor zu den Welten jenseits dessen, was er mit den physischen Augen als real erachtet, offenbart sich die Richtigkeit dieser Behauptung. Reichtum, Weite und Grenzenlosigkeit haben nichts mit irgendetwas von dem zu tun, wovon er träumen mag, es in seinem Leben zu gewinnen. Alltag, Physis, Gedanken und Gefühle, Raum und Zeit erweisen sich als Illusion, sobald es dem Menschen gelingt, sich unverwandt auf den Raum innerhalb seiner Armspanne zu konzentrieren. Genauer gesagt: auf den Punkt inmitten dieses Raumes, der den Schlüssel im Tor zur Wirklichkeit umzudrehen vermag. Wobei auch das ein mit Worten nicht zu beschreibender Vorgang ist.
An diesem Punkt, der keinem durch Augen sichtbaren Ort entspricht, ist nichts mehr so, wie irgendwer es zu denken, zu sehen oder zu empfinden gewohnt ist. Dort scheinen Dimensionen auf, in die er zwar eingehen kann, jedoch nicht mehr als Person, die seinen Namen trägt, sich auf seine genau definierbare Lebensgeschichte beruft - nicht mehr als Person, die seine Schmerzen und seine Freuden erfährt.
Das Tor zu den inneren Welten, wie es auch heisst, springt erst dann auf, wenn der Meditierende darauf verzichtet, in anderer Menschen Leben einzugreifen, sei dies physisch, gedanklich oder gefühlsmässig.
Den Schlüssel zu den inneren Welten trägt jeder Mensch in sich, ungeachtet seiner Herkunft. Es ist somit überflüssig zu versuchen, auf anderer Menschen Karma einzuwirken. Denn jeder Mensch ist mit für ihn Notwendigem genauso gut ausgestattet wie er selbst. Zu versuchen, über andere Menschen, Tiere oder Dinge für sich selbst mehr Erfülltheit im Alltag herauszuschinden, ist sinnlos. Das sind Machenschaften des Egos, des «Kopfes», der Psyche – die in den niederen Ebenen des Daseins haust. Das Ego, die Psyche, denkt nicht daran, sich ohne Notwendigkeit auf sich selbst in der Meditation zu konzentrieren. Sie denkt nicht daran, Triebe und Begierden aufzugeben. Sie will den Menschen in Abhängigkeit, in Sklaverei sehen. Die niederen Bewusstseinsebenen beanspruchen die Regentschaft: koste es, was es wolle. Die Frage nach dem Woher und dem Wohin interessiert sie nicht im Geringsten. Sie wollen essen, trinken und sich fortpflanzen – oder einfach: fressen, saufen und bumsen.
Doch: ohne Anhaftung keine Fortpflanzung.
Bestünde die Menschheit nur aus Mönchen und Nonnen, oder sogar nur aus Erleuchteten und Meistern, stürbe sie aus. Eine Horrorvorstellung für die Psyche. Sie will kriegen, erreichen, dominieren, triumphieren: sie ist Materialistin und Kapitalistin.
Doch: was möchte dieses andere im Menschen?
Der Mensch ist nicht sein Körper. Wäre er sein Körper, könnte er sich nicht als menschliches Wesen wahrnehmen und erkennen.
Tiere sehen sich zwar im Spiegel. Doch nicht als sich selbst. Sie glauben, ein fremdes Tier befinde sich im Spiegel, knurren oder fauchen es an. Tiere erkennen ihr Spiegelbild nicht als sich selbst. Ihnen fehlt das unterscheidende Bewusstsein, die Erkenntnisfähigkeit, die einzig Menschen geschenkt worden ist. Durch sie reifte Siddhartha zum Buddha heran.
Tiere leben im Augenblick. Sie denken nicht nach, kennen Schuldzuweisung nicht. Aus Erfahrung schützen sie sich vor Gefahr, instinktiv. Sie greifen Feinde an. Sie jagen und töten: nicht immer aus Hunger. Gut und Böse, Schuld und Unschuld bedeuten ihnen nichts.
Bis zu einem gewissen Grad sind Tiere lernfähig. Man kann sie dressieren. Und hochentwickelte Tiere: Hunde, Pferde, Elefanten können sogar Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln, Menschen helfen, sie retten, Blinde führen. Hunde etwa wissen haargenau, wann und wie sie eine Belohnung ergattern können, und auf welches Verhalten ihr Meister abweisend reagiert. Er hat ihnen das schliesslich beigebracht. Ein paar Tage in vollständiger Ungebundenheit und Freiheit genügten allerdings, um sie wieder verwildern zu lassen. Aus wohlerzogenen Hunden würden im Nu wilde, kämpferische Bestien, die nur auf Beute aus sind, um nicht zu verhungern.
Die Vipassana-Meditation ist ein Weg, um begreifen zu lernen, wie unabdingbar es ist, dass der Mensch an sich arbeite. Sein Leben kann sich nicht von dem, was es jetzt ist, zu dem wandeln, was er möchte, dass es sei, wenn er nicht daran arbeitet. Das zu hoffen ist genauso illusorisch, wie es ertrotzen zu wollen. Aus einem Bachkiesel wird kein Diamant, indem der Mensch mit den Zähnen knirscht, um das zu erzwingen. Obwohl er das noch und noch versucht. Tausendmal am Tag kann ein Übender gerade diese Haltung an sich selbst feststellen, wenn er sich nicht in die Finger nimmt, sich besinnt, tief innen, und seinen Trieben, die sich ungebremst Befriedigung verschaffen wollen, laufend einen Riegel vorschiebt.
Das bedeutet keine Vergewaltigung seiner selbst. Und der Mensch verdrängt damit auch nichts. Es lässt sich eher so beschreiben, als besitze er ein Haus, das über und über von Ranken und Dornenhecken überwuchert ist, in das kein Licht mehr hineindringt, und dessen Türen und Fenster nicht mehr geöffnet werden können. Nun beginnt er in schweisstreibender Arbeit, die Hecken niederzuhauen, die Ranken abzuschneiden, die Stämme umzusägen. Allmählich zeigen sich die Wände des Hauses. Sie sind arg verschrammt durch das Überwuchert sein. Die Türen und Fenster sind halb eingedrückt. Doch nach und nach wird das Haus als Haus erkennbar. Und es kommt der Tag, an dem der Besitzer es betreten, die Fenster öffnen und Licht hineinfluten lassen kann. Das fühlt sich an wie eine Neugeburt für das Haus – sein Haus, beziehungsweise seinen Körper, der durch die Arbeit an sich selbst, durch das achtsame Wahrnehmen dessen, wie er sich gibt, wie er handelt, wie er auf andere zugeht, von dem ihn verdunkelnden Gesträuch befreit wird. Dadurch kommt der Körper zu Atem, zu Licht. Raum und Weite eröffnen sich ihm sowie das Tor nach innen. Es ist die uralte Geschichte von „Dornröschen“, der schlafenden Schönheit, der schlafenden Reinheit - der Lichthaftigkeit, der Göttlichkeit, dem Innewerden der wahren Natur.
Von da an wird Leben zum Spiegel für den Menschen. Im Licht seiner selbst wird offenbar, dass es ein Innen und ein Aussen, dass es ein «anderes» nicht gibt, da im Licht seiner selbst niemand ist, «kein Ich» existiert. Wobei das Wort „Licht“ nur der Konvention dient, der allgemeinen Verständigung. Niemand sollte sich darunter Glühlampenlicht oder Licht im landläufigen Sinn vorstellen.
Erst nun wird offensichtlich, dass der Mensch, der sich mit dem Leben herumschlägt, darum kämpft, gegen sein Schicksal Amok läuft, gegen die, durch seine Negativität heraufbeschworenen Hindernisse anrennt, in Wirklichkeit gegen Windmühlenflügel anrennt.
Ein Meister wird auf der Strasse angerempelt, angepöbelt, beschimpft, mit Steinen beworfen: - - begehrt er auf? Oder erkennt er die Illusion, die Reflexion von Karma und geht seiner Wege? Haben ihn nicht die Ursachen und Wirkungen seiner vielfältigen Lebensspannen an den Punkt gebracht, an dem er nun steht? Wogegen sollte er sich dann zur Wehr setzen?
Karma hat die Qualität, die der Mensch ihm zuschreibt. Schreibt ein Erwachter Karma keinerlei Qualität zu, eignet ihm auch keine. Setzte er sich zur Wehr, wäre da nichts, das sein Wehren erreichen könnte. Herrscht Freiheit, steht Zeit still. Äussere Zeit spult sich ab. Doch Freiheit hat keinen Gegenpol.
Raum und Zeit erweisen sich in Freiheit als nichtig.
Solange Freiheit – Freiheit ohne Bezug auf irgendetwas - nicht vollständig realisiert wurde – braucht es Unterweisung, Anleitung, die den Suchenden allmählich zur Besinnung und zum Stillstand bringt. So gesehen ist Leben nichts als Schule, dient keinem anderen Zweck.
Leben ist Leiden.
Dem Menschen steht nichts, gar nichts im Leben automatisch zu. Alles, was er zu ergattern versucht, stürzt ihn ins Leiden. Lebt er ohne Anhaftung oder lernt er, immer mehr Anhaftung loszulassen, wird ihm alles geschenkt, dessen er bedarf und das er benötigt, um seine Bestimmung zu erfüllen. Er kann reich werden, auch materiell – oder arm bleiben. Er kann krank werden – oder von blühender Gesundheit sein. Hat er das Tor zu den jenseitigen Welten im Diesseits durchschritten – oder es auch nur erkannt - sind Belange wie reich oder arm, krank oder gesund von untergeordneter Bedeutung. Sein Haus: ist vielleicht baufälliger und weniger schön möbliert als ein anderes. So wie der eine Körper vielleicht weniger gesund, weniger wohlproportioniert ist als ein anderer Die Essenz jedoch, die jedem Körper, jedem Menschen innewohnt, ist stets dieselbe. Auch wenn das einen Menschen möglicherweise weder kümmert noch interessiert.
Im Koran findet sich das Zitat: „Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden. Also schuf ich die Welt, auf dass ich erkannt würde.“
Der Schatz liegt verborgen, solange der Mensch nicht ist: im Sein findet Leiden ein Ende.
Hört der Konkurrenz- und Machtkampf auf, wird offensichtlich, dass das was der Mensch durch die Augen sieht, durch die Sinne zu erfahren glaubt, ohne Substanz ist und sich andauernd wandelt, in jedem Atemzug, in jedem Bruchteil einer Sekunde, in noch viel kürzeren Abständen.
Die Möglichkeit zu Freiheit schlummert in jedem. Ihre Keimzelle ist das menschliche Herz. Der Mut, über sich als Person hinauszuwachsen, bringt es zur Reife: ein Vorgang, der ausschliesslich im Inneren des Menschen abläuft. Der erwähnte Mut basiert auf Demut – auf De-Mut – womit eine bestimmte Art von Ent-Mutigung gemeint ist, und zwar die Entmutigung darüber, dass Leben nicht manipulierbar ist, dass nichts so abläuft, wie sich der Mensch das vorstellt. Mit Willen errungen werden kann Freiheit nicht. Sie wird dem Menschen als Frucht innerer Umkehr geschenkt, sofern er das Streben nach persönlicher Macht aufgibt. Freiheit ist ein Zustand bedingungsloser Akzeptanz, entstanden durch das Opfer des Anspruchs, persönlich im Recht zu sein. Freiheit bedeutet, bar von Bindung, bar von Anhaftung zu werden – und somit auch bar der Gier persönlicher Erfüllung. Im Zustand von Freiheit ist der Mensch nicht mehr abhängig von seiner Tagesform, von psychischer und physischer Befindlichkeit. In Freiheit ruht er kampflos in sich selbst und kann erst wirklich für das Leben, für seinen Nächsten, für die Welt von Nutzen sein. Freiheit macht den Menschen zum vollendeten Diener. Buddha, Jesus, Mohammed gingen diesen Weg. Die grossen Yogis, Menschen wie der Dalai-Lama gingen diesen Weg. Jedem Menschen, dessen Herz weit genug geworden ist, um den dafür notwendigen, freiwilligen Verzicht zu leisten, steht dieser Weg offen.
Ich habe während meines Lebens immer wieder Zeiten tiefer Vereinsamung erlebt. Und gerade während diesen Zeiten hat mir ein für die innere Arbeit von manchen möglicherweise als eher unadäquat erachtetes Medium, nämlich das Fernsehen, unschätzbare Dienste erwiesen. Zu Beginn schaute ich fern, weil es mir an Beziehungen und an Eindrücken mangelte. Mit der Zeit jedoch entdeckte ich, was für ein äusserst machtvolles Lehrmittel das Fernsehen sein kann, falls ich es auf eine bestimmte Art verwende. Wenn ich, anstatt mich mit dem zu identifizieren, was auf dem Bildschirm gezeigt wird, es beobachte, so wie ich ein Fachbuch lese, um daraus zu lernen, wird das Fernsehen zu einem Hochleistungs-, Hochgeschwindigkeits-Medium spirituellen Lernens überhaupt.
Während des Schauens wurde mir bewusst, dass Fernsehkost ausschliesslich Vergangenes widerspiegelt, sogar während Direktübertragungen. Explodiert auf dem Bildschirm gerade jetzt eine Bombe, benötigt mein Gehirn Zeit, um die Information ans Nervensystem weiterzuleiten. Erst dann kann es darauf reagieren. Genauso verhält es sich im Alltag: bis ich Dinge realisiere, gehören sie längst der Vergangenheit an.
Anhand dieses Fernsehbeispiels kann auch die Funktionsweise des Denkens, des Fühlens und des Handelns an sich erfahren werden. Ich erlebe Leben in der Vergangenheit! Kaue, wie eine Kuh, längst Gegessenes wieder!
Durch Meditation kam ich diesen Zusammenhängen auf die Spur, anhand des Fernsehens: die exakt gleichen Bilder in zahllosen, wirren Varianten laufen pausenlos ab. Das Gehirn kann den unmittelbaren Augenblick nicht wahrnehmen. Es braucht die Übersetzung mittels der fünf Sinne. Was ist dann noch real an dem, was Menschen Realität nennen? Die direkte Schau braucht keinen Übersetzer: sie geschieht jetzt, im Augenblick. Ohne Person, ohne Psyche, in Stille, wird der Mensch selbst zur Schau.
So wenig, wie sich der innere Weg durch reines Lesen von Büchern erschliesst, so wenig, kann ihn sich das Gehirn ausdenken: wissen tun Menschen nie.
Da der innere Weg das Diesseits sowie das begriffslose Jenseits in sich begreift - wie könnte er im beschränkten, pausenlos vor sich hin rasselnden Computer des menschlichen Gehirns Platz finden?
Betont nicht jede Tradition die Tatsache, dass einzig «das Herz des getreuen Dieners der Arbeit «Es» erfassen könne»?
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Über die Geburt des Buddha wird gesagt, er, «der Herr der Welten», habe sich bei vollem Bewusstsein vom Himmel heruntergelassen und sei als weisser Elefant mit sechs Stosszähnen in den Leib seiner Mutter eingegangen. Sein Kopf war purpurfarben und das Kind wohl gebildet an Körper und Geist. Ebenso wird erzählt, dass es, kaum geboren, sieben Schritte zu Fuss gegangen sei. Seine Mutter empfand höchstes Glück und höchste Seligkeit bei seiner Geburt.
Die weisen Männer, hundertacht an der Zahl, die der König, sein Vater, herbeirufen liess, prophezeiten, es werde ein grosser Mann, ein grosser Prinz aus dem Kind werden, ein die Welt beherrschender König der Gerechtigkeit, der den Menschen ein neues Gesetz geben und ein Reich des Friedens bis zu den Grenzen der Weltmeere errichten werde. Unter seiner Herrschaft würden die Völker in Glück und in Frieden zusammenleben.
Asita, ein altehrwürdiger Seher, nahm den Neugeborenen in die Arme und sagte: “Er wird ein Meister sein, ein Erleuchteter, der das Rad des Gesetzes drehen und eine neue Lehre in Umlauf bringen wird. Das Reich der Wahrheit wird er begründen, zum Heil und zur Freude der Menschen.“ Und er gab dem Kind, aufgrund dieser Weissagung, den Namen Siddhartha. So wird einer genannt, der sein Ziel erreicht und Vollkommenheit gewinnt. Und Asita fügte hinzu, Siddhartha werde Weltkaiser sein und Frieden und Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen.
Der König, sein Vater, verwöhnte den Prinzen, wo er nur konnte. Er trachtete danach, ihn vor allem zu beschützen, was ihn traurig machen könnte. Nichts Hässliches, nichts Widerwärtiges sollte ihm begegnen.
Siddhartha wurde in der brahmanischen Tradition erzogen. Mehrere Jahre lang lernte er bei seinem Lehrer Kschantideva, bevor er die heilige Schnur von ihm erhielt. Siddhartha meisterte die traditionellen Künste und Wissenschaften, ohne Unterweisung zu benötigen. Er beherrschte vierundsechzig Sprachen sowie die dazu gehörenden Alphabete. Auch in der Mathematik war er sehr gewandt. Einmal erzählte er seinem Vater, er könne alle Atome des Weltalls im Zeitraum eines Atemzugs zählen.
Auch gab der Prinz bei jeder sich bietenden Gelegenheit spirituelle Gedanken von sich. Als er einmal an einem Wettkampf im Bogenschiessen teilnahm, rief er aus: „Mit dem Bogen der meditativen Konzentration werde ich den Pfeil der Weisheit abschiessen und den Tiger der Unwissenheit in den Lebewesen töten.“ Daraufhin liess er den Pfeil losschnellen, der geradewegs fünf eiserne Tiger und sieben Bäume durchbohrte, bevor er in der Erde verschwand.
Eines schönen Tages, als er sich zu Hause langweilt, befiehlt Siddhartha einem vertrauten Diener, ihn durch das östliche Stadttor hinauszufahren. Der Diener erschrickt. Was würde der König dazu sagen. Siddhartha sollte doch den Palast nicht verlassen Wie konnte er ihn in der Welt draussen vor dem beschützen, das der Prinz nicht zu Gesicht bekommen sollte? Doch Siddhartha lässt nicht mit sich reden.
Während der Fahrt erspäht Siddhartha einen Greis, der, überwältigt von Hinfälligkeit, auf dem Boden liegt. Siddhartha ist erschüttert, ein Gefühl, das er bisher nicht kennengelernt hat. Der Diener belehrt ihn dahingehend, dass alle Kreaturen dieses Schicksal ereilen. Und Siddhartha ruft aus: „Was soll mir mein Leichtsinn, wenn ich doch alt werden muss!“
Etwas später will der Prinz wieder wegfahren, diesmal durch das südliche Tor hinaus. Dabei trifft er auf einen von Krankheit gebeutelten Mann. Und er erkennt, dass aller Übermut trügerisch ist.
Die dritte Ausfahrt führt ihn durch das westliche Stadttor hinaus, wo er einem Leichenzug begegnet, Menschen sieht, die seufzen und weinen und sich die Haare raufen. Und er stellt fest: „Elend ist ein Leben, das nicht ewig währt.“
Und noch einmal fährt er aus, und zwar durch das nördliche Tor. Er gewahrt einen Mann, der frohen und ausgeglichenen Gemüts seines Weges wandert, aller irdischen Gelüste ledig. Als er ihn fragt, wie das komme, antwortet der Mann, er habe seine innere Ruhe in der Heimatlosigkeit gefunden.
Diese Lektion veranlasst Siddhartha, die gelben Gewänder eines Asketen anzulegen, den Palast, seine Frau, sein neugeborenes Kind und seine Eltern zu verlassen und in die „Hauslosigkeit“ zu gehen, wie der Buddhismus diese Art zu leben nennt. Und nach langer Suche, nach vielen entsetzlich harten Prüfungen erreicht Siddhartha Erleuchtung und schliesslich Nirwana und wird zum Buddha, dem Erwachten.
Das, was der Buddha lehrte, ist ihm nicht, wie man so sagt, von Gott geschenkt worden. Sondern das, was als die Lehre des Buddhas gilt, ist das, was der Buddha während seines Werdegangs sich aus eigener Kraft erarbeitet hat, was er unmittelbar selbst gelernt und erfahren hat. Der Buddhismus ist also keine von Gott dem Menschen übermittelte Religion, sondern die Beschreibung, das Aufzeigen eines Weges, den jedermann selbst gehen kann und auch selbst gehen muss. Niemand kann demjenigen, der diesem Weg folgen will, etwas davon abnehmen. Niemand kann mir oder irgend jemandem den Weg erleichtern. Jeder geht ihn einzig mit dem, was er sich im Laufe seiner vergangenen Leben an Kraft, an Erfahrung und an Substanz erarbeitet hat. Sein Karma führt ihn den Weg entlang. Sein Karma sowie seine daraus resultierenden Verdienste sind das Licht auf diesem Weg.
«Buddhismus» heisst in Sanskrit, der heiligen Sprache Asiens, „Fähre, Fährboot“. Ins Boot einsteigen muss jeder selbst. Auch steuern muss jeder das Boot selbst, es selbst aufrichten, sollte es kentern, bis es dereinst, durch immer tiefer schürfende Arbeit an sich selbst, vielleicht im Hafen von Nirwana anlegt. Wobei Nirwana kein Ort ist, sondern ein Zustand, ein Zustand des Verwehens, des Verlöschens, der vollständigen Befreiung von jeglicher Anhaftung.
Natürlich verhält sich jemand, der diesem Weg folgt nicht wie jemand, der diesem Weg nicht folgt. Tiefgreifende Veränderungen werden in ihm, durch die Arbeit mit Meditation vor sich gehen. Und andere Menschen werden diese Veränderungen feststellen. Wenn jemand anfängt, die Welt, die ununterbrochen auftauchenden, sich pausenlos ablösenden und einander durchdringenden Phänomene des täglichen Lebens auf konzentrierte Weise, im Sinne der Meditation wahrzunehmen, wird klar erkennbar, dass ihnen keine Wirklichkeit als solche innewohnt. Verfälscht wird die Wahrnehmung deshalb, weil sie von der Annahme eines Selbst ausgeht, einer Haltung also, die für den Menschen allgemein üblich ist. Das heisst, dass er automatisch annimmt, ein Phänomen, ein Ding, das er betrachte, sei in Wirklichkeit exakt so, wie er es sehe. Er reduziert es auf seine persönliche Art der Sicht, die er als wahr erachtet. Dadurch hat das Ding keine Möglichkeit, sich ihm in seiner eigentlichen Natur zu zeigen.
Das «einspitzige», konzentrierte Sehen in der Meditation erfolgt nicht durch die physischen Augen. Dem geschulten Geist, der die Selbst-Losigkeit begreift, eröffnen sich Fähigkeiten des Sehens, die unverstellt sind von Ich-Bezogenheit. Und das lässt den Menschen die Dinge in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer So-heit erfassen.
Jeden Menschen trifft hie und da ein Ahnen davon, dass das, was er zu sehen glaubt, einer Täuschung unterliegen könnte. Es kann sein, dass sich seine Perspektive in einem Moment verschiebt, in dem er ungeschützt ist - etwa nach einem Ereignis, das ihn tief ergriffen oder verletzt hat - und er plötzlich ein Gefühl von Entrückung erfährt, so dass es ihm scheint, er falle in bodenlose Tiefe oder werde von unsichtbaren Wesen emporgetragen oder einfach: die Zeit stehe still. Seine Sichtweise verrückt sich dadurch. Er erblickt etwas, das er mit seinem Alltagsverstand nicht einordnen kann, da es in seiner Welt der Phänomene nicht zu existieren scheint. Vielleicht bringt ihn eine solche Erfahrung zu tiefem Nachdenken. Vielleicht erzählt er sie jemandem, von dem er annimmt, jener wisse mehr darüber als er selbst. Vielleicht zeitigt diese Erfahrung sogar eine Art von Umkehr in seinem Leben, von Neuorientierung. Was er daraus macht, hängt allein davon ab, wie klar seine Wahrnehmung während des Vorgangs gewesen ist, wie tief sie ihn ergriffen hat, und ob sie die Kraft in ihm zu Tage förderte, die er braucht, damit er sich veranlasst sieht, definitiv eine Weiche in seinem Leben umzustellen. Mag sein, die Kraft reicht beim ersten Mal nicht aus, und es braucht eine weitere, und immer noch eine Infragestellung seiner zementierten Weltanschauung, um etwas in ihm zu bewegen.
Alle Menschen machen solche Erfahrungen, zumindest in ihren Träumen. Doch nicht jedermann hat die Fähigkeit, sich dessen bewusst zu werden. An manchen laufen sie ab wie Wasser. Sie sagen vielleicht mit einem erlösten Seufzer: „Ich hatte einen grässlichen Traum - ich habe mich überhaupt nicht mehr zurechtgefunden.“ Oder sie wähnen sich krank, denken, sie hätten Halluzinationen und gehörten in eine Anstalt. Während Fieberschüben, wenn dem Menschen seine intellektuellen Kontrollfunktionen abhanden kommen, kann das Tor zu den jenseitigen Welten sich öffnen, während Zeiten von Depression. Oder eben durch die Meditation, wenn der Mensch lernt, sich zu konzentrieren und eine Ebene geistiger Bewusstheit erreicht, die Illusion ausradiert.
Die Folge davon ist, dass Leben, so wie der Mensch es bisher gekannt hat, irreal, also nicht mehr wirklich erscheint. Und das zieht einen Rattenschwanz von Reaktionen hinter sich her....
Als ich als kleines Kind noch nicht schreiben konnte, kritzelte ich wahllos Bögen mit Hieroglyphen persönlicher Erfindung voll. Dann lernte ich das Schreiben. Es brauchte einige Zeit, bis sich meine Finger den Formen der Buchstaben fügten. Später schrieb ich fliessend Schulschrift. Und noch später fand ich den Weg zu meiner eigenen Schrift, zu meinem individuellen Schriftbild.
Mit dem gleichen Bild könnte ich den Weg allmählichen Erwachens durch Meditation schildern.
Hat ein Mensch erst einmal sein individuelles Schriftbild gefunden, wird er es sich von niemandem mehr ausreden lassen. Hat er erst den Weg des Erwachens beschritten, wird ihn niemand mehr davon abbringen. Sobald er durch direkte Erfahrung Einblicke erhascht, wird sich sein Leben notgedrungen verändern. Er selbst wird das veranlassen. Und er wird sogar vor Opfern diesbezüglich nicht zurückschrecken.
Als erstes nimmt er sich möglicherweise vor, nicht mehr so viel Zeit wie bisher mit Nichtigkeiten zu verplempern, mit Geschwätz und damit, alles daranzusetzen, sich von anderen angenommen zu fühlen und um jeden Preis Spass zu haben.
Schon das allein mag in seiner näheren und weiteren Umgebung verständnisloses Kopfschütteln hervorrufen. Vielleicht heisst es: „Er tickt nicht mehr richtig.“ Als Folge davon wird er möglicherweise weniger oft eingeladen, da er als weniger anpassungswilliger Kumpel gilt. Im Betroffenen selbst kann solches Verhalten Niedergeschlagenheit und Ratlosigkeit bewirken. Er fällt zwischen Stuhl und Bank, gehört fortan weder zu den weissen noch zu den schwarzen Schafen. Und das kann eine ziemlich lange Weile so weitergehen. Ihm müssen zuerst Füsse wachsen, die solide genug sind, um ihn auf dem inneren Weg vorwärtszutragen, so dass er immer weniger oft hinfällt, immer weniger oft die Richtung verliert und hilflos in die Irre geht. Um das zu verhindern, benötigt er den Meister. Doch auch dieser kann ihm seinen Teil der Arbeit nicht abnehmen. Jeder Mensch arbeitet auf seine Weise, entsprechend seinem Potenzial, seiner Kraft, seiner ihm gemässen Ebene. Der Meister kann nicht mehr tun, als immer wieder mit dem Finger in die richtige Richtung zu weisen. Den Weg entlang schreiten, Schritt um Schritt, muss der Schüler selbst.
Deshalb muss er auch fähig sein, diejenige Sorte von Alleinheit, die dafür notwendig ist, aus eigener Kraft zu erbringen und auszuhalten. Er muss sich in seinem Alltag freien Raum schaffen, damit Alleinheit sich überhaupt zeigen kann. Anders erhält sein Üben nicht den ihm zustehenden Platz, denn es wird seinem Kopf nicht an Erfindungsgabe fehlen, seine Absicht andauernd mit zahllosen skurrilen Entschuldigungen zu durchkreuzen.
Und natürlich wird es seine Umgebung ziemlich seltsam finden, dass dieser Mensch nun urplötzlich so viel Zeit für sich allein benötigt. Wahllose Vermutungen mögen angestellt werden, eventuelle Gehässigkeiten ins Kraut schiessen, je nachdem wie sein Alltag sich bisher gestaltet hat.
Auch mit diesen Reaktionen muss der Mensch klarkommen und lernen, nicht mehr darauf zu antworten. Nicht weil sie ihm gleichgültig wären, sondern weil er mit der Zeit ihre Mechanismen besser durchschaut und Reaktionen darauf als Energieverschwendung erscheinen.
Es kann ziemlich lange dauern, bis die Umwelt einen Menschen, der sich wirklich der Meditation widmet - nicht nur ein bisschen, wenn ihm gerade danach zu Mute ist - problemlos akzeptiert und ihn so sein lässt, wie er sich neuerdings zeigt.
Dann jedoch kommt der Moment, in dem sich eine allgemeine, grundlegende Wandlung ereignet und Entspannung einkehrt. Die, durch die Arbeit an sich selbst ruhigere, gefasstere und friedlichere Ausstrahlung des Meditierenden fängt an, seine Umwelt im positiven Sinne so zu beeinflussen, dass Erleichterung die Folge ist. Erleichterung auch darüber, dass der Meditierende durch seine Arbeit pfleglicher geworden ist und weniger Umstände macht.
Nun kann der Meditierende einen Schritt weitergehen, da er nicht mehr glaubt, er müsse sich rechtfertigen oder sich entschuldigen.
So geschieht wechselseitige Anpassung, wechselseitige Akzeptanz, und es findet eine Verbesserung des Beziehungsklimas statt. Durch einen ernsthaft Meditierenden kann seine ganze Umgebung auf erstaunliche Weise verwandelt werden. Es ist, als werde in einem lichtlosen Raum eine Kerze angezündet. Die Flamme mag noch so klein sein, doch erleuchtet sie mehr als nur seine Schuhspitzen. Mit der Zeit wird aus der Kerze möglicherweise eine Taschenlampe. Oder sogar ein machtvoller Halogen-Scheinwerfer.
Der Umgang mit diesen Vorgängen benötigt viel Subtilität, so dass zwischen Meditierenden und nicht Meditierenden keine unüberbrückbare Kluft entsteht. Das würde den Zweck der Meditation verfehlen. Ablehnung und Krieg sind keine Attribute von Vipassana-Meditation. Liebende Güte, liebevolles Verständnis und viel Toleranz von beiden Seiten sind gefragt, damit möglichst keine Verletzungen, welcher Art auch immer, entstehen. Menschen, die erst gerade zu meditieren begonnen haben, fühlen sich manchmal wie rohe Eier ohne Schale. Der Gegenseite mag es ähnlich ergehen. Und es wäre ein ungünstiger Ausgangspunkt für die Arbeit mit Meditation, wenn die Regeln von Respekt füreinander und Achtung voreinander bereits zu Beginn entscheidend gestört würden.
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Der Theravada-Buddhismus basiert auf der Lehre, die der Buddha während seiner letzten Inkarnation, nach seiner Erleuchtung verkündete, und zwar auf den zweihundertsiebenundzwanzig Regeln, mit Hilfe derer er das Mönchswesen auf die Beine gestellt und anhand derer er es in die Bahnen gelenkt hat, die er gemäss seiner unmittelbaren Erkenntnis für zweckmässig hielt. Nicht alle buddhistischen Schulen arbeiten nach diesem Prinzip. Einige konzentrieren sich auf frühere Leben des Buddhas und schöpfen die Essenz ihrer Lehre daraus. Das hat zur Folge, dass eine dieser Lehren sich vornehmlich auf Mitgefühl stützt, dass in einer anderen Lehre Lamas heiraten dürfen.
Die Lehre des Theravada-Buddhismus gilt deshalb als die Lehre des Ur-Buddhismus und dreht sich einzig und allein um den Weg, den der Buddha selbst durchlaufen hat.
Manche Menschen empfinden den Theravada-Buddhismus als trocken und karg. In dieser Schule werden in der Tat weder Musikinstrumente noch wird Tanz als Arbeitsmittel für Meditation verwendet. Ausser den täglichen Rezitationen der Mönche gibt es nichts, das Publikumswirksamkeit besässe. Mönche haben ihre Rezitationen zur Verfügung sowie die Meditation und das Studium der umfangreichen Lehrreden des Buddhas.
Diese äusserste Beschränkung auf das Wesentliche könnte man auch als Vorteil betrachten. Sie bündelt zusätzlich Energie, so dass Zielgerichtetheit und Achtsamkeit erheblich zunehmen.
Da Theravada-Mönche an nichts hängen und auf nichts fixiert sind, ausser auf ihre innere Ausrichtung, sind sie ausserordentlich anpassungsfähig. Gesetz ist das, was einer gesunden, alle Fakten berücksichtigenden Erkenntnis- und Verstandeshaltung entspricht. Das schliesst jedoch nicht mit ein, dass Theravada-Anhänger kühle Kopfmenschen sind. Ganz im Gegenteil. Doch bewirkt es, dass das Hauptgewicht im Theravada-Buddhismus auf Weisheit beruht. Der Weg von Karma ist der Weg richtigen Tuns. Also auch der Weg richtigen Helfens. Helfen kann aber nur, wer über die notwendige Weisheit verfügt, die erkennen lässt, wo welche Hilfe von Nutzen sein könnte. Läge der Schwerpunkt zum Beispiel nur auf Mitgefühl, würde wenig Handfestes zustande kommen, denn Mitgefühl allein besitzt keine Hände, die tatkräftige Hilfe in die Wege leiten. Und da im Theravada-Buddhismus auf tatkräftige Hilfe und soziales Miteinander grosses Gewicht gelegt wird, ist Weisheit als Ausgangspunkt unumgänglich, damit sich etwas bewegt und das aufeinander Zugehen und einander Beistehen und Unterstützen möglich werden. Dadurch wird der Theravada-Buddhismus zu einem vernünftigen und sehr liebevollen und herzlichen Weg.
Damit ein Vogel fliegen kann, braucht er zwei Flügel. Damit tatkräftig geholfen werden kann, braucht es zwei Grundprinzipien: Weisheit und Achtsamkeit. Man könnte sagen, dass diese beiden Prinzipien das Glaubensbekenntnis der Theravada-Richtung ausmachen.
Vor einigen Monaten ist der Abt von einer Gruppe von Thailändern nach Spanien eingeladen worden. Es ging um Vorgespräche zur Gründung eines Tempels. Dabei wurden dem Abt auch einige Sehenswürdigkeiten gezeigt, und zur Krönung des Tages sollte er zum Mittagessen in ein Bergrestaurant eingeladen werden, von dem aus sich ihm eine exquisite Rundsicht auf die Gegend darböte. Wider Erwarten hatte es einen Tag zuvor massiv geschneit. Niemand war auf dieses Ereignis vorbereitet. Der Tisch im Restaurant war bestellt, die Speisenfolge besprochen.
Als die Gesellschaft am Fuss des Hügels in die Strasse zum Restaurant einbog, kam ihr von oben ein Geländewagen entgegen. Der Fahrer hielt an und klärte den Abt und seine Freunde darüber auf, dass sie keine Chance hätten, mit ihrer Sorte von Auto den Abhang zu erklimmen, denn es liege zu viel Schnee auf der Strasse und stellenweise sei die Fahrbahn vereist.
Darauf wurde beschlossen, zu einem anderen Restaurant zu fahren. Der Haken an der Sache war der, dass der Abt um halb zwölf Uhr essen musste, da er laut Mönchsregel nach zwölf Uhr mittags bis zum nächsten Morgen um sechs Uhr keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen darf.
Diese Bestimmung datiert aus der Zeit des Buddhas. Als seine Mönchsschar so sehr anwuchs, dass der Buddha befürchtete, sie könnte für die Leute der Orte, an denen er mit den Mönchen Station machte, zu einem Verköstigungs-Problem werden, entschied er kurzerhand, die Mönche sollten nur einmal am Tag, und zwar frühmorgens auf Almosentour gehen. Er wollte damit der Gefahr entgegenwirken, dass die Menschen wegen der Mönche Hunger litten. Aus Ehrerbietung gegenüber dem Buddha verhielten sich die meisten Leute sehr grosszügig. Diese Situation wollte er nicht ausnützen. Deshalb setzte er die Mönche auf Diät. Es kam dadurch vor, dass Mönche, die mit dieser Regelung Mühe hatten und sich davor fürchteten, in der Arbeit mit dem Buddha hungern zu müssen, sofort alles auf einmal aufassen, was ihnen die Menschen reichten. Schon frühmorgens standen die Menschen am Strassenrand und hielten nach den Mönchen Ausschau. Sie rissen sich förmlich darum, ihre Almosenschalen mit Leckereien zu füllen, obwohl die meisten von ihnen selbst sehr arm waren. Nicht jedem Mönch gelang es, sein Essen in zwei gleichmässige Hälften einzuteilen, um auch noch am Mittag davon zehren zu können. Und natürlich förderte dieses Verhalten weder ihre Meditationsarbeit noch die vielen anderen Aufgaben, die sie während des Tages zu erfüllen hatten.
Zu viel Essen macht schläfrig und träge. Das bekommen auch wir Meditierenden zu spüren, wenn die Köchinnen, die uns während der Klausuren im Kloster betreuen, uns mit Köstlichkeiten verwöhnen wollen. Wir möchten sie nicht damit betrüben, dass wir ihr liebevolles Angebot ablehnen. Und da ist es nicht immer leicht, den richtigen Mittelweg zwischen Ablehnen und Zugreifen zu finden. Das macht die frühen Nachmittagsstunden des Meditierens manchmal fast zur Tortur. Und nur das Benennen mit „Müdigkeit, Müdigkeit, Müdigkeit“ schafft Abhilfe….
Mittlerweile war es beinahe elf Uhr. Der Abt und seine Freunde erreichten das andere Restaurant. Und der dortige Koch, über die Situation aufgeklärt, fand sich bereit, die Aufgabe anzupacken, in einer halben Stunde eine Mahlzeit auf den Tisch zu zaubern. Obwohl er über das Ansinnen erstaunt war, denn in Spanien wird dann gegessen, wenn die Sonne am glühendsten vom Himmel brennt und das heisst: gegen halb zwei Uhr. Allerdings schlug der Koch die Hände über dem Kopf zusammen, als er darüber aufgeklärt wurde, dass er nicht nur für den Abt und den ihn begleitenden Mönch, sondern für eine Gesellschaft von elf Personen kochen sollte. Das, so beteuerte er, sei ganz und gar unmöglich. Das schaffe er nie.
Also zog die Gesellschaft wiederum unverrichteter Dinge von der Stelle.
Nun wurde es zeitlich eng. Denn der Zeiger der Uhr rückte immer näher gegen halb zwölf Uhr. Der einzige Ausweg war zu McDonalds zu gehen, wo ständig gegessen werden kann, unabhängig von der Uhrzeit. Gesagt, getan. Der Abt zeigte keinerlei Berührungsängste, als er sich mit der Situation konfrontiert sah, Fast-Food serviert zu kriegen. Er verspürte Hunger. Und jede Möglichkeit, etwas zu essen zu bekommen, war ihm recht. Also resignierten seine Gastgeber und fuhren bei McDonalds vor. Es war für die Betreiber des Ladens sicherlich kein alltäglicher Anblick, die leuchtend orange gekleideten Mönche an ihrer Theke sitzen zu sehen und sie mit saftigen Burgern zu bewirten.
Der Abt erzählte uns nach seiner Rückkehr diese Geschichte, ohne auch nur im das geringsten Aufhebens davon zu machen. Er hätte genauso gut davon berichten können, sie hätten im Ritz getafelt. Ihm war es einerlei. Für ihn stellte die Begebenheit eine willkommene Gelegenheit dar, auf etwas Bestimmtes hinzuweisen.
Der Abt erzählt anlässlich seiner Lehrvorträge nach den Meditationsklassen ständig Geschichten, die er auf seinen Reisen zu Menschen erlebt, die ihn einladen, um Zeremonien abzuhalten, um Leute zu verheiraten, oder andere zu beerdigen. Für ihn sind die Geschichten, die das Leben schreibt, die besten Beispiele, um zu lehren – nebst den Erzählungen über den Buddha.
Nicht Aufhebens von sich oder von der Situation zu machen, in der sie gerade stecken, ist eine Grundhaltung der Mönche. Es soll keinerlei elitäres Verhalten aufkommen. Am Puls des Lebens dranzubleiben, in jedem Atemzug, in jedem Augenblick ist das, was das Leben eines Mönchs oder einer Nonne ausmachen sollte, und was, dementsprechend, das Leben desjenigen ausmachen sollte, der Meditation übt, welcher Konfession oder Tradition er oder sie auch angehört. Diese Haltung stellt die fundamentale Haltung des Übens von Vipassana-Meditation dar.
Sobald sich der Meditierende in irgendeiner Hinsicht, in positiver oder in negativer, als etwas Besonderes fühlt, hat er den Kontakt zu sich und zur Arbeit verloren. Ist er in Kontakt mit sich selbst und mit der Arbeit, kommt es ihm nicht in den Sinn, sich mit etwas zu brüsten, sich über etwas zu beklagen, in Depression zu verfallen oder in Ekstase abzuheben. Nur wenn er den Bezug zum Atem und das innere Erinnern verliert, fahren seine Gefühle Achterbahn.
Es gibt heutzutage massenhaft Angebote an Power-Techniken, die dem Menschen durch spezielle Ernährung, spezielle Atmung und sonstige Übungen innerhalb kürzester Zeit zu sagenhafter Kraft, zu überragendem Erfolg im Geschäfts- und im Beziehungsleben, zu Hellsichtigkeit und zu Erleuchtung verhelfen sollen. Sie werden auch unter den Titeln von Meditation oder Yoga angeboten. Davon distanziert sich der Abt. Er verurteilt sie nicht. Er kritisiert sie nicht einmal. Er erwähnt sie nur. Die Wahl überlässt er jedem Einzelnen.
Der Abt zeigt Richtlinien auf. Er erteilt keine Ratschläge. Wendet sich jemand mit einer Frage an ihn, gibt er die Antwort, die dem Fragenden auf die Sprünge helfen könnte. Ob er sie annimmt, kontrolliert der Abt nicht. Er beobachtet die Situation sehr genau. Doch er enthält sich jeder positiven oder negativen Stellungnahme. Er ist – so wie es sein Amt, seine Stellung als Mönch, sein Wissensstand erfordert – vollständig neutral. Das macht den Umgang mit ihm wunderbar einfach, direkt und offen. Zweideutigkeit und Hinterhältigkeit haben darin keinen Platz. Dadurch entsteht auch nie Manipulation. Irgendjemanden oder irgendeine Situation zu manipulieren, liegt dem Abt fern. Wozu sollte er?
„Lass sie sich von selbst erfüllen“, sagt er dazu. „Du brauchst nichts zu tun. Vor allem brauchst du dich nicht aufzuregen oder dich in Positur zu werfen. Dann schleuderst du dem Leben nur Knebel zwischen die Füsse. Erlaube den Dingen, ihren Lauf zu nehmen. Steh ihnen – steh dir selbst nicht im Weg. Karma entrollt sich ohne Leiden und ohne Verletzungen, wenn du nicht laufend versuchst, aus deiner beschränkten Sicht heraus, seine Fäden ineinander zu verheddern, Unordnung zu schaffen, Chaos zu erzeugen, nur um dir selbst die Illusion zu geben, du bewirktest etwas, du seist wichtig und um dir überhaupt erst das Gefühl zu vermitteln, du seist am Leben. Verhalte dich ruhig, schweig still, und alles wird sich wenden. In der Zwischenzeit arbeite pausenlos, ohne Vergleiche anzustellen, ohne Zwist anzuzetteln, ohne andere mit deiner Ungeduld oder deinem Missmut anzustecken.“
Lauter gesunder Menschenverstand – viel Weisheit – grenzenloses Mitgefühl, Achtsamkeit: das ist Vipassana-Meditation. Mehr nicht. Der Rest wickelt sich in der Stille des Herzens jedes einzelnen Übenden ab. Es werden keine Versprechen abgegeben. Es wird niemandem versichert, dass, wenn er Meditation übe, er in Kürze anstatt eines Hotels deren fünf sein Eigen nenne. Dass, falls er noch mehr übe, er nie mehr krank werde oder dass, falls er nur noch übe, seine ganze Lebensweise umstelle und dazu auch noch seine Ernährung, er ein grandios glückliches und erfülltes Leben habe. Versprechen abzugeben, ist nicht Sache des Abts. Und wenn etwa jemand während der Fragestunde erwähnt, er habe gehört, ein Lehrer habe mit einer Studentin einen Vertrag abgeschlossen, der besage, dass, falls sie seine Ernährungsvorschriften befolge und die von ihm angeordneten Übungen genauestens erfülle, er sie, nach Ablauf ihrer fünf zukünftigen Leben zur Erleuchtung bringen werde - lächelt der Abt nur und gibt eine Geschichte zum Besten, die er gerade erlebt hat, oder er nimmt Bezug auf eine Begebenheit aus dem Leben des Buddhas.
Wie ich schon früher erwähnte, ist alles, was an den Abt, was an einen Mönch herangetragen wird, Arbeitsmittel für ihn, das er weder von sich weist noch kritisiert.
Leben wird unfassbar spannend und grenzenlos vielfältig, wenn der Mensch nicht mehr in es eingreift, nur noch mit ihm mitfliesst.
Das erübrigt es für den Abt auch vollständig, mir Vorschriften für die Bewältigung meines Alltags oder die Gestaltung meines Arbeits- oder Ernährungsplans zu machen. Wenn ich begriffen habe, dass Leben läuft und läuft, anfangs- und endlos läuft - ob ich mich dagegen auflehne, mich dagegen stemme, es angreife oder es skrupellos für meine Zwecke ausnütze - entscheide ich mich wahrscheinlich schon aus lauter Vernunft heraus früher oder später für das Mitgehen.
Das Mitgehen beinhaltet tiefste Demut, umfassendes Wissen und wirkliche Weisheit.
Das Ziel des Übens besteht darin, die ganze Energie darauf zu verwenden, im Augenblick zu erfassen, was im Augenblick geschieht und es genauso im Augenblick wiederzugeben, unverfälscht durch verstiegene Mutmassungen oder Rechtfertigungen. Das bedeutet nicht, dass zwischen einem Ereignis und dessen Wiedergabe keine Zeit vergehen darf. Steht die entsprechende Konzentrationsfähigkeit zur Verfügung, wird keine Verfälschung stattfinden.
Auf diese Art zu leben, spart Energie und vermittelt auf Dauer unglaubliche Kraft - durch die kompromisslose Zielgerichtetheit, die dadurch entsteht. Es findet weniger und weniger Verzettelung von Energie statt. Und der Mut steigert sich.
Infragestellungen geschehen durch das Gehirn. Erkennen entspringt dem Herzen.
Das vom Ego gesteuerte Gehirn ist nachweislich ein meist ungenauer, subjektiver und verfälschender Ratgeber. Das Herz jedoch – nicht das physische Herz – ist in seiner Qualität als unparteiischer Beobachter – nicht Beurteiler – unbestechlich. Im Buddhismus werden diese beiden Zentren allerdings nicht auf diese Weise voneinander unterschieden. Da wird jegliches Erleben dem „Mind“ zugeordnet – was ein englischer Ausdruck ist, der auf Deutsch nur ungenau mit höchstem Verstand, reinstem Geist übersetzt werden kann.
Die Klarheit der Unterscheidung ist damit eine Frage der Ebene, auf der Erfahrung geschieht. Auf den unteren, wenig bewussten Ebenen zeigt sich Erfahrung als ziemlich verschwommen, vernebelt und subjektiv. Und erst auf höheren, bewussteren Ebenen hält Klarheit Einzug und lässt sich Erfahrung wirklich als das sehen und benennen, was sie ist, ohne Hinzufügung persönlicher Empfindungen und Beurteilungen.
Der Film des Lebens spult sich einfach ab. Er ist nicht zu stoppen. Doch macht es einen bedeutenden Unterschied, ob der Mensch darin persönlich eine Rolle spielt, oder ob er ihn von aussen als Zuschauer betrachtet. Dem Zuschauer zeigt sich das sich Ereignende plastisch, subtil, kristallklar und detailliert, da der Betrachtende von keinerlei Glanz, Drama oder Ekstase geblendet ist.
Mir selbst wurde durch diese Art des Arbeitens bewusst, dass ich nicht das Geringste über das Leben als solches weiss. Erscheinungen gestalten sich dermassen vielfältig, dass es mir unmöglich ist, sie jemals alle kennenzulernen. Doch ist das gar nicht notwendig. Wenn ich nur den roten Faden daraus herauszunesteln im Stande bin, genügt das vollkommen. Das legt die Gemeinsamkeit in der Vielfältigkeit der Erscheinungen offen. Und es zeigt sich dabei, dass diese scheinbare Vielfältigkeit auf direktem Weg auf wenige Grundmuster reduzierbar ist. Jeder Mensch trachtet einzig nach Glück und danach, Unglück zu vermeiden. Nur die Art und Weise wie er das anstellt, macht den Unterschied zwischen den Menschen aus.
Es zeigt sich bei dieser Art des Herangehens auch, dass es gar nichts gibt, das der Mensch wissen könnte, oder das zu wissen wäre.
Wissen will der Kopf. Bewusstsein ist Sache des Herzens.
Bewusstsein ist das Ergebnis von genauem Hinschauen, präzisem Hindurchtragen, Durchdringen, Erhellen. Damit hat der Kopf nichts am Hut. Er besteht nur auf seinem Recht. Und das ist immer auf seiner Seite.
Doch in der Vipassana-Meditation geht es nicht um Recht oder Unrecht, sondern um Blindheit oder Klarsicht. Nicht das Wissen ist es, worauf es bei der Meditationsarbeit ankommt, sondern die Befreiung als solche. Befreiung von jeder Art von Anhaftung: Von Anhaftung an die Idee, Wissen ergattern, Macht erringen zu können, reich zu werden, Einfluss zu gewinnen –
Befreiung von Anhaftung an die Idee, dass es dabei auch nur irgendetwas zu ergattern gibt.
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Der Umgang mit diesen Vorgängen benötigt viel Subtilität, so dass zwischen Meditierenden und nicht Meditierenden keine unüberbrückbare Kluft entsteht. Das würde den Zweck der Meditation verfehlen. Ablehnung und Krieg sind keine Attribute von Vipassana-Meditation. Liebende Güte, liebevolles Verständnis und viel Toleranz von beiden Seiten sind gefragt, damit möglichst keine Verletzungen, welcher Art auch immer, entstehen. Menschen, die erst gerade zu meditieren begonnen haben, fühlen sich manchmal wie rohe Eier ohne Schale. Der Gegenseite mag es ähnlich ergehen. Und es wäre ein ungünstiger Ausgangspunkt für die Arbeit mit Meditation, wenn die Regeln von Respekt füreinander und Achtung voreinander bereits zu Beginn entscheidend gestört würden.
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„Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott. Doch die Welt hat es nicht begriffen.“
Dieses Zitat aus der Bibel fasst in seiner prägnanten Schlichtheit die Gesamtheit innerer Arbeit zusammen. Versteht der Übende auch nur annähernd die Bedeutung dieses Zitats, liegt der Weg offen vor ihm, verflüchtigen sich Zweifel und Ängste und erübrigen sich Fragen.
In jeder echten inneren Schule, in jeder über Jahrhunderte gewachsenen Tradition, liegt das Gewicht des Übens auf dem, was der Islam den „Ruh Allah“, den „Geist“, den „Atem Gottes“ nennt. Atem und Geist sind die Basis des Lebens, die Basis allen Lebens. Das Bewusstsein für den Atem ist die Brücke, die aus Körper und Geist ein voneinander Ungetrenntes macht.
Die Physik lehrt, dass ohne Spannung, ohne den Energiefluss zwischen negativem und positivem Pol, Leben weder auf unserem Planeten noch sonst an einem Ort im Weltall stattfinden kann. Diese Periodizität des Energieflusses zwischen positivem und negativem Pol, dieser Austausch – das Ein- und wieder Ausatmen – sind die Grundbedingungen für Leben. Für Leben: das, Atem, Klang, Vibration und Rhythmus ist.
Je feiner, subtiler, losgelöster von Persönlichem - von der Einmischung der Psyche, dem «Kopfkino» - diese Erfahrung sich dem Übenden erschliesst, desto weniger ist seine Wahrnehmung ausschliesslich an Raum, Persönlichkeit und Körper gebunden. Er versteht, dass Raum, Persönlichkeit und Körper zur Welt der Phänomene gehören, vergänglich sind und ohne Substanz. Er sieht, dass solange er sich an diese Vergänglichkeit klammert, als an eine unumstössliche Wirklichkeit, er dem Leiden verhaftet bleiben muss. Nur im vollständigen, freiwilligen Seinlassen lösen sich Gegensätzlichkeiten auf und kann Zeit stillstehen. Ein Vorgang, den das Gehirn nicht zu erfassen vermag. Ein Vorgang, den der Mensch sich weder ausdenken noch willentlich herbeiführen kann. Die Welt – der Mensch – begreift es nicht. Denn dort, wo solches ist, ist der Mensch als Mensch nicht vorhanden. Es ist nicht nichts „dort“. Es mit Nichtheit zu umschreiben, wäre eine Möglichkeit. Doch da im Ortlosen, im Zeitlosen auch Wesenlosigkeit herrscht, gibt es keine Definition dafür. Ohne Zeugen keine Aussage.
Alles ist Gott, und nichts ist Gott, da in Gott nichts ist, ausser Gott.
Die Brücke, der Weg, das Transportmittel vom Örtlichen ins Ortlose, vom Zeitlichen ins Zeitlose, vom Wesenhaften ins Wesenlose ist der Atem. Der Atem ist das einzige Fahrzeug, das dem Menschen auf der Reise ins „Jenseits“ zur Verfügung steht. – «dorthin», wo die beiden Pole sich im Einen auflösen, und Dualität zunichte wird. Dadurch erreichte der Buddha Erleuchtung und Nirwana.
Es wird gesagt: „Es braucht einen Erleuchteten, um einen Erleuchteten zu erkennen.“ Der Mensch nimmt in anderen - in seinem Leben und in seiner Umwelt immer nur das wahr, das er aus eigener Erfahrung kennt. Aus diesem Grund beantwortete der Buddha auch keine Fragen über Gott, über die Erschaffung der Welt oder darüber, was es bedeute, Erleuchtung zu erlangen. Er wollte damit jeglicher Spekulation vorbeugen. Denn Spekulation über etwas, das der Mensch bestenfalls vom Hörensagen oder aus persönlicher Annahme kennt, ruft unweigerlich Diskussionen auf den Plan. Von dort bis zu Uneinigkeit, Streit und gegenseitiger Anfeindung ist der Weg nicht weit. Händel und Kriege sind jedoch keine Attribute von Meditation, von innerer Arbeit. Zudem behindern sie die menschliche Entwicklung, behindern sie die Verfeinerung der Empfindungen und dadurch höchste Sensibilisierung für innere Vorgänge.
Der Weg zur Erleuchtung ist ein individueller Weg, den immer nur der Mensch selbst gehen kann. Und er geht ihn immer auf die ihm entsprechende Art und Weise.
Der Weg ist stets derselbe – doch gibt es so viele Wege, wie es Menschen gibt», besagt ein anderes Zitat.
Auf seinem Weg mitnehmen, kann ein Mensch demzufolge niemanden. Er muss den Mut aufbringen, den Weg selbständig zu gehen, allein. Sogar der Meister kann ihm nur mit Hinweisen dienen. Ob er „das Ziel“ erreicht oder nicht, hängt einzig vom Übenden selbst ab. Auf das Karma kommt es an. Darauf, was der Übende aus vergangenen Aktionen und den daraus folgenden Reaktionen gelernt hat. Darauf, in welchem Mass seine diesbezüglichen Erkenntnisse seine Widerstände zum Schmelzen gebracht haben, so dass Beschränkungen, Begrenzungen sich auflösten und Atem anfangen konnte, zu strömen.
Der Blick eines Menschen hat keine Möglichkeit, eine dunkle Plastikplane zu durchdringen. Auch ein Fell oder ein wollener Vorhang sind dafür noch zu dicht. Sogar durch Seide hindurchzusehen, ist schwierig. Erst bei Gaze offenbart sich das Dahinterliegende, wenn auch noch verschwommen. Sämtliche Vorhänge müssen fallen, sämtliche Beschränkungen und Hilfsmittel, damit der Mensch wirklich sieht, was ist – nicht nur das, wovon er denkt, es sei. Dann beginnt Atem in ihm, durch ihn und um ihn her zu vibrieren, zu klingen. Und die Ahnung von Sein auf einer völlig anderen Ebene als derjenigen seines dumpfen Alltags weht ihn an.
Erwähne ich während meinen Yogastunden oder anlässlich von Seminaren die Tatsache, dass einzig Atem Leben ermögliche, dass einzig die Qualität des Atems Wandlung, und damit ein reicheres, erfüllteres Leben herbeiführen könne, werde ich oft ungläubig angestarrt. Ich sehe dabei in Augen, deren Besitzer klar signalisieren, dass sie mich, wenn nicht gerade für verrückt, so doch für sehr exzentrisch halten. Wem käme es in den Sinn, neben dem Alltagsstress, der Schufterei am Arbeitsplatz und in der Familie noch an den Atem zu denken!? Und wem fiele es auch nur im Traum ein, seinen Alltag überhaupt ganz auf den Atem auszurichten!? Und das von Augenblick zu Augenblick!?
Was für eine Zumutung!
Wüsste ich nicht aus eigener Erfahrung, wie schwierig, wie hart und frustrierend die Umstellung von extravertiertem, mit den Ereignissen mit fieberndem Alltag auf introvertierten, auf dem Atem Mitfliessen ist, es machte keinen Sinn, die Arbeit mit anderen Menschen fortzusetzen. Den Sinn beziehe ich aus der, durch diese Umstellung in mir selbst vorgegangenen Wandlung. Die Entscheidung, dem Atem den ersten Platz einzuräumen, hat mein Leben umgedreht. Anstatt vom Gebrodel des täglichen Stresses mitgerissen zu werden, schaue ich ihm nun über weite Strecken vom Ufer aus ruhig zu.
Da ich aus persönlicher Erfahrung weiss, wie es sich anfühlt, im Brodeln des Alltags ums Überleben zu kämpfen, kenne ich auch den damit verbundenen Schmerz. Das hat meine Motivation, Menschen zu helfen verstärkt. Und es hat gleichzeitig das Wissen verstärkt, dass ich gar nicht helfen kann. Abnehmen kann ich niemandem etwas. Anderer Leiden verringern oder abkürzen ebenso wenig. Mir bleibt nur, am Ufer zu verweilen, wie ein Wegweiser, egal ob jemand hinschaut oder nicht, und in die immer gleiche Richtung zu deuten.
Diese Ausführungen regen vielleicht zum Verstehen der Tatsache an, dass es eine innere Lehre, ein inneres Lehren oder Lernen nicht gibt. Dafür bräuchte es einen, der lehrt und einen, der diese Lehre annimmt und ihr folgt. Da keine zwei Menschen sich gleichen – und da wiederum Trennung nicht existiert - wer könnte anleiten und wer folgen?
Es liegt mir fern, zu behaupten, die Alleinheit im inneren Arbeiten sei einfach und mühelos zu erarbeiten. Immer wieder zeigte sich eine Seite in mir, die liebend gerne helfen würde, die – mit anderen Worten – glaubte, sie wüsste, wessen ein Sucher bedürfe, wie seine Arbeit an sich auszusehen habe und welchen Weg er beschreiten sollte. Die Gefahr von Manipulation ist stets vorhanden. Manipulation vermag sich so sanft zu geben, so lauter daherzukommen, dass sie oft kaum als solche auszumachen ist. Dann wird offenbar: das Kopfkino hat das Atembewusstsein verdrängt. Zurück im Atem, löst sich die Anhaftung, löst sich das Bedürfnis, andere anzuschieben oder zu kontrollieren sofort.
Das pausenlose Erinnern, auf dem Atem zu sein, ist die Grundbedingung für die Arbeit an sich selbst.
Menschliches Leben gleicht einem Supermarkt, in dem es jede Sorte an Qualitäten zu kaufen gibt. Schon bei seiner Geburt zeigt der Mensch eine Affinität für ein gewisses, deutlich umrissenes Sortiment solcher Qualitäten. Je mehr Erfahrungen er während seines Aufwachsens macht, desto mehr vervollständigt er dieses Sortiment, so dass sich mit der Zeit ein ziemlich klar umrissenes Bild der Persönlichkeit ergibt, die er unbewusst darstellen möchte. Er wählt dabei die entsprechenden Qualitäten auf die Weise aus, die es ihm erlaubt, im Normalfall so ungeschoren als möglich seinem Traum von Leben zu frönen. In Wirklichkeit ist das Sortiment an Qualitäten, die er für sich als passend empfindet, das seine Meinungen und Ansichten zutreffend untermauert, äusserst gering. Die Schablone, den Charakter, die Psyche, die er seinem Leben überzustülpen versucht, ist meistens sehr einfach gestrickt. Und natürlich lässt sie nur das zu, was die Bedürfnisse, die seine Persönlichkeit pausenlos anmeldet, unterstützt. Leider funktioniert jeder Mensch nach diesen Regeln. Und so bleibt es nicht aus, dass seine Bedürfnisse und deren Befriedigung in ständigem Konkurrenzkampf mit den ähnlich gelagerten Bedürfnissen und deren Befriedigung von seinen Mitmenschen liegen. Daraus wird das alltägliche Leiden geboren, dem sich der Mensch unentwegt ausgesetzt sieht.
„Und Sokrates ging über den Markt und freute sich all der wunderbaren Dinge, die er nicht brauchte.“
Lässt sich der Mensch tatsächlich auf den Atem als Basis allen Lebens ein, entdeckt er dessen wiegenden Rhythmus, entdeckt er dessen Grenzenlosigkeit und dessen Unauslotbarkeit. Woge um Woge von Atem durchströmt ihn, unerschöpflicher als das Meer, nie stille stehend – und doch regungslos. Inmitten lärmenden Markttrubels ruht er im Atem und nichts vom Angebotenen – auch Gefühle und Gedanken nicht – fehlt ihm. Er sieht es, er beobachtet sein Weben und Wirken. Doch er ist ihm nicht ausgeliefert. Der Atem neutralisiert es. Oder anders ausgedrückt: Innerhalb seines Atemraums verlöschen Phänomene und verglimmt ihre positive oder negative Ladung. Übrig bleiben neutrale Gefühls- und Gedankenformen, die mit ihm persönlich nichts zu tun haben, auch wenn er sie für die Planung des Alltags brauchen mag.
Gleichmut kommt ins Spiel.
Auch in meinem Leben gab es Zeiten, während denen ich mich Gefühlen und Gedankenformen nicht schonungslos genug aussetzen konnte. Die höchste Ekstase wollte ich auskosten, das bodenloseste Elend ergründen. Und ich bekam es knüppeldick, da ich auf Zurückhaltung pfiff. Ich war eine ausgezeichnete Kundin im Supermarkt der Qualitäten menschlichen Lebens und Leidens. Ich frass sie wahllos in mich hinein, bis ich beinahe daran erstickte. Ich konnte den Hals nicht voll genug davon kriegen. Ich nannte das „pralles Leben“. Und ich merkte nicht, dass ich mir damit Schulden über Schulden auflud – um den Vorgang bildlich auszudrücken – die ich über kurz oder lang in Form von Krankheiten, Schmerzen jeglicher Art, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit würde abstottern müssen.
Andererseits lernte ich dadurch, im Zeitraffertempo, sehr viel. Vor allem darüber, was Leben, wie ich es ersehnte, nicht ist. Immer wieder musste ich Angestrebtes seinlassen, da es sich als Illusion entpuppte. Sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste erfüllte ich mir sämtliche Herzenswünsche: Ich kam mit dem Theater, das in jungen Jahren für mich den Himmel schlechthin bedeutete, in Berührung, ich studierte Musik, Tanz, verschiedene Therapieformen, Yoga, ich begegnete meinem Märchenprinzen – alles mit fatalen Folgen. Denn, sobald sich wieder einer meiner, wie die Hölle lodernden Wünsche erfüllte, wurde mir im selben Augenblick bewusst, wie sich dahinter Welten über Welten auftaten und Erfüllung sich in nichts auflöste. Was gibt es Entsetzlicheres, als wenn im Augenblick, in dem ich den seit Äonen herbeigesehnten Geliebten zum ersten Mal im Arm halte und unter seinem Kuss zunichtewerde, die Gewissheit mich überfällt, dass es bei meinem Sehnen gar nie um die Person dieses Mannes gegangen sei, sondern dass das Ersehnte weit jenseits von ihm liege? Im Leiden, das dann einsetzt, muss Illusion über kurz oder lang verdampfen!
So gesehen, kann der Mensch gar nichts anderes tun, als sich seine Wünsche bewusst zu machen und sie sich, solange er an sie glaubt, auch zu erfüllen. Denn nur das, was er gehabt hat, wovon er einmal besessen war, kann er tatsächlich seinlassen. Wie sollte er die Illusion, ein hoch fliegendes Liebeserlebnis etwa erfülle sein Leben mit Glanz und Gloria aufgeben, wenn er nie in einem solchen Zustand gewesen ist? Wie sollte er erkennen, dass die Erfüllung seiner Träume nicht automatisch mit dem Gefühl von Erfülltheit gekoppelt ist, wenn er diesen Vorgang nicht, als aktiv daran Beteiligter, hautnah selbst durchlitten hat?
Die Fassadenhaftigkeit, die Zweidimensionalität dessen, was Leben genannt wird, kann ihm nur aufgehen, wenn er sich mit allen Sinnen in es einlässt. Nur darüber nachzudenken, verschafft ihm keine direkte Erfahrung. Nur darüber zu lesen ebensowenig. Das Glühen einer Herdplatte begreift der Mensch nur, wenn er die Hand persönlich darauflegt. Das Geheimnis der Funktionsweise von Leben begreift er nur, wenn er mit Haut und Haaren in es eintaucht - ohne darin unterzugehen, versteht sich. Wenigstens einen letzten Atemzug, einen letzten Funken von Bewusstsein muss er sich bewahren, damit er im richtigen Augenblick den Ausstieg schafft. Er muss lernen, wie er sich aus der aufgerissenen Tür des dahinrasenden Zugs, Leben genannt, ins Freie rollen lässt, bevor es zu spät ist. Dafür sollte er eine bestimmte Form von Klugheit entwickeln. Eine Art von Klugheit, die ihn immer wieder darauf hinweist, dass er den klaren Blick nicht einbüssen, dass er sich nie in dem, was vor sich geht, vollständig verlieren darf. Das Gegenteil von Sucht ist gefragt. Und daraus entsteht nach und nach eine Art von Weisheit, die es für ihn überflüssig macht, weiter und weiter zu suchen und in die Ferne zu schweifen, um ständig noch exzessiveren Phänomenen nachzujagen. Solche Selbstbefriedigung wird so schal, dass ein Mensch aus purer Einsicht mit der Zeit freiwillig darauf verzichtet.
Alle diese Vorgänge setzen selbstredend ein gewisses Mass an Atembewusstsein, an Achtsamkeit voraus, das der Sucher sich während des Übens von Vipassana-Meditation erarbeitet. Das Benennen dessen, was in ihm während der Meditation hochsteigt, setzt eine minimale Distanz zu den Phänomenen voraus. Sonst könnte er gar nicht erkennen, was genau in ihm hochsteigt und es noch weniger benennen. Und diese Distanz hinwiederum ist direkt von der Qualität seines Atems abhängig. Atem kann sie ins Grenzenlose ausweiten.
Das ist ein Vorgang, der Mut bedingt. Mut, der ebenfalls durch das Üben entsteht und sich im Idealfall, sofern er am Üben dranbleibt, weiter und immer weiter entfaltet. Halbherzigkeit reicht nicht aus. Seine Person darf ihm dabei nicht im Weg stehen. Solange Gedanken und Gefühle sein Üben in den Schatten stellen, weil er sie für bare Münze nimmt und sich mit ihnen identifiziert – also das Kopfkino einschaltet und Gedanken und Gefühle nicht als neutral erkennt, hat es der Atem schwer. Kommt der Atem jedoch zum Zug und verfeinert er sich mehr und mehr, verfeinert der Atem ebenso die molekulare Struktur des jeweiligen Körpers, des Nervensystems, jeder einzelnen Zelle. Vibrierende, pulsierende Durchlässigkeit zeigt sich. Bis der Mensch sieht, dass er auch der Körper nicht ist. Das mag eine schockierende Erkenntnis sein. Vielleicht aber auch eine beseligende. Denn erst dadurch beginnt ein Sucher zu erahnen, welch unglaubliche Macht dem Atem innewohnt. Und erst dadurch beginnt er zu erahnen, dass Frieden nur durch ihn selbst in die Welt hineingeborenwerden kann. Dass Frieden nur in dem Menschen lebendig ist, der im Atem erkennt, dass Leben so lange Leiden bedeutet, als er nicht mit sich selbst Frieden geschlossen hat, mit sich selbst nicht im Reinen ist. Solange der Mensch gegen sich selbst Krieg führt und gegen seine Gedanken und Gefühle ins Feld zieht, werden sich die Völker der Erde gegenseitig bekämpfen und töten.
Solange der Mensch die Idee, ein in sich abgeschlossenes, persönliches Ich zu haben, als gegeben annimmt, stempelt er sich zum Feind seiner selbst sowie seiner Umgebung. Nur durch die Idee eines Ichs, gibt es für ihn etwas zu verteidigen und anzugreifen.
Erkennt der Mensch deshalb – im Atem – die Wandelbarkeit, die Vielfältigkeit menschlichen Lebens auf sämtlichen ihm möglichen Ebenen, wird in ihm selbst und dadurch auch um ihn herum sowie in der Welt überhaupt Frieden einkehren.
Das ist eine Arbeit, die jeder Mensch nur für sich allein erledigen kann. Schuldzuweisungen dagegen schüren das Feuer von Kampf und Tod ins Unermessliche.
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Vom Balkon des Hauses einer meiner Freundinnen sehe ich auf einen Froschteich hinunter, der in dieser eisigkalten Novembernacht wie ein totes, dunkles Auge daliegt. Der Wind pustet die Wolken vor sich her. Unverhofft zerreissen sie. Und in der Schwärze des Wassers spiegelt sich der volle Mond. Doch ebenso überraschend, wie er sich hinter den Wolken hervorgewagt hat, wird er von ihnen wieder verschlungen. Noch zwei Mal geben sie ihn frei, bevor sie endgültig die Oberhand gewinnen. Welch gespenstisches Spiel gigantischer Mächte! Welch Spiel jenseits jedweder menschlichen Kontrollmöglichkeit!
Obwohl verborgen in der Nacht, ist es die Sonne, die dem Mond sein Licht spendet, ein Licht, das, im Wasser gespiegelt, so hell aufleuchtet, dass es blendet. Sonne und Mond existieren immer in ihrer vollständigen, runden Ganzheit. Dennoch sehe ich den Mond am Tag selten bis gar nicht und die Sonne in der Nacht nie. In regelmässigem Zyklus zeigt sich mir der Mond sogar nur als schmale Sichel oder in der Form eines halben Apfels. Und dennoch sind beide Gestirne andauernd unversehrt präsent.
Im Dorf, in dem ich wohne, gibt es keine Strassenlaternen. Das hat den Vorteil, dass sich mir die Welt der Gestirne bei klarem Wetter, spät nachts, wenn ich mit den Hunden noch einmal unterwegs bin, in ihrer vollen Pracht darbietet. Ich lege oft den Kopf in den Nacken, schaue himmelwärts und frage mich, wo ich mich eigentlich in dieser Unendlichkeit befinde. Mittendrin? An deren Rand? Oder kann ich diese Unendlichkeit vielleicht nur wahrnehmen, weil sie direkt in mir selbst liegt?
Gerade jetzt schubst mich der grössere meiner Hunde an und blickt zu mir hoch. Warum gehen wir nicht weiter, scheint er zu fragen, gilt es doch für ihn, entlang des Weges so vielen köstlichen Duftmarken nachzuspüren.
Die Bauernhäuser liegen da wie dumpfe, fette Tiere. Das heisere Bellen eines Fuchses, nicht weit von uns entfernt, lässt die Hunde aufhorchen. Ihre Körper sind gespannt, wie Bogen, kurz bevor der Pfeil davonzischt. Der eine knurrt. Die Nacht, die eben noch so friedvoll, so überaus verschwiegen dalag, prickelt vor Elektrizität. Im Osten haben die Wolken ein Fenster zum Himmel geöffnet. Dort hinein fällt wie ein silberner Strahl ein Stern. Mein Herz hüpft. Doch da ist kein Wunsch mehr, den ich an den Stern heften könnte. Ich gehe weiter durch diese Nacht, in der sich nichts wirklich zu bewegen scheint und die dennoch gespickt voll ist von sich Ereignendem.
Noch bevor der Mensch auf die Welt kommt, noch im Mutterschoss, kaum ist er empfangen worden, fängt er damit an, sich zu rühren, zu zappeln und um Platz zu ringen. Wie ein Tier – das er, als körperhaftes Wesen auch ist – hängt er an der Leine seiner Nabelschnur. Einmal geboren, lernt er zwar, selbständig zu krabbeln, aufzustehen und zu gehen. Doch angeleint ist er noch immer. Auch wenn es weniger offensichtlich ist. Denn die Leine, an die er nun gekettet ist, ist vorwiegend unsichtbarer Natur.
Als Embryo kauerte er fest angebunden in der Fruchtwasserblase seiner Mutter. Durch die Nabelschnur floss ihm Nahrung zu.
Als ein auf Erden wandelnder Mensch steckt er fest angekettet in der Blase der Vorstellungen über die Natur seiner persönlichen Welt. Und was wird dadurch genährt? Die vage Grösse, genannt: „Ich“? Dieses Etwas, das sich jeglicher Fassbarkeit entzieht? Und das ihm nichts als Leiden beschert – sogar, wenn er sich freut?
Um ihn herum ist alles zu, ist er gefangen in seinem persönlichen Weltbild – gefangen in dieser Kapsel pausenlosen Urteilens, pausenloser Stellungnahme. Dass er darin noch atmen kann, gleicht einem Wunder. Wie an einer Kette hängt er in diesem Käfig. Krampfhaft hält er sich darin in Bewegung, wohl wissend, dass er erstickte, täte er es nicht. Seine Tage sind randvoll von Terminen, von der Wichtigkeit, die er der Befindlichkeit seiner Person beimisst. Ihm würde speiübel, machte er sich die Situation auch nur einen Moment lang bewusst. Um das zu vermeiden, aus purer Angst heraus, strampelt er ununterbrochen vor sich hin, euphorisch oder gequält, halb bewusstlos oder in wilder Entschlossenheit – doch nie wach. Obwohl er diese Erkenntnis niemals gelten lassen würde. Wie könnte es ihm an Wachheit fehlen, wo er sich doch rastlos plagt, da zu sein! Er glaubt felsenfest an seine Wachheit und stempelt jeden zum Feind, der ihm darin nicht beipflichtet.
So ist Leben, wie der Mensch es normalerweise lebt. Doch ist das nur ein verschwindend kleiner Teil von dem, was Leben tatsächlich umfasst.
Als ich selbst das begriff, löste es einen Zustand von Panik in mir aus. Aus lauter Entsetzen davor, dass es mir misslingen könnte, der Enge der Kapsel meiner Urteile und Vorstellungen jemals zu entfliehen, fing ich eines Tages an, bewusst an meiner Kette zu zerren. Ich gehorchte nicht mehr nur einem Trieb, einem Instinkt, sondern traf, mit dem Mut der Verzweiflung, eine Entscheidung. Mein Entschluss war gefasst: Ich musste um jeden Preis von dieser Kette freikommen.
Die Kraft, die aus dieser Entscheidung geboren wurde, die sich aus vielen, während den langen Jahren innerer Arbeit immer wieder neu formulierten Entscheidungen zusammensetzte, veränderte unmerklich die Qualität der Kette, an der ich hing. Plötzlich kriegte ich Luft. Zum ersten Mal überhaupt kriegte ich Luft. Es brauchte Zeit, bis ich mir dieses Umstands bewusst wurde. Die Muster des Zerrens und Ummichschlagens holten mich immer wieder ein. Und sie tun es noch heute. Und sie mögen es bis an mein Lebensende tun. Mit dem Unterschied, dass ich ihnen immer weniger ausgeliefert bin, weil ich sie erkenne und deshalb auch immer weniger von ihnen abhänge.
Irgendwann – den Zeitpunkt kann ich nicht nennen – ist es für mich offensichtlich geworden, dass es die Kapsel nicht mehr gibt, in der ich auf Gedeih und Verderb gefangen lag. Irgendwann – ohne Aufregung – hat sich die Kapsel in der Luft meines Atems aufgelöst. „Haltet euch fest am Seil Gottes“, heisst es. Der Atem ist zu diesem Seil geworden. Einem Seil, an dem ich nicht nur hänge, von dem ich nicht nur herumgewirbelt werde, sondern das ich nun, wachen Sinnes, in den eigenen Händen halte, es sozusagen mit den Händen des Herzens umfasse.
Diese Vorgänge lassen sich nur in Bildern aufzeigen. Denn, wie schon früher erwähnt, finden innere Vorgänge in Regionen statt, in denen menschliche Sprache kein Kommunikationsmittel mehr darstellt.
Der im Froschteich gespiegelte Vollmond hat mich zu diesen Worten inspiriert. Obwohl der Mond in andauernder Rundheit die Erde umrollt, sehe ich ihn oft nur bruchstückhaft, eben als Sichel, als halben Apfel oder auch gar nicht, wenn Wolken ihn verhüllen.
Genauso sehe ich die Welt, in der ich zu leben vermeine, nur bruchstückhaft. Solange ich an der Kette meiner persönlichen Überzeugungen, die Welt betreffend hänge und davon, wie andere Menschen seien oder zu sein hätten - davon, was mir das Leben schuldig sei oder was ich davon erwarte - sehe ich die Welt noch viel bruchstückhafter als den Mond. Es ist ein hilfloses, des Menschen unwürdiges Hängen, wenn ich mir dessen bewusst werde. Doch ohne innere Arbeit habe ich keine Chance, diesen Zustand jemals zu verändern. Ohne Arbeit an mir selbst geht nichts. Die Entscheidung, frei zu werden, muss ich selbständig fällen und auch die Anstrengung, mit der Arbeit zu beginnen und sie durchzuziehen, muss ich selbständig leisten. Die Zielgerichtetheit und Unumstösslichkeit meiner Absicht geben dabei den Ausschlag.
Solange der Mensch unwillkürlichen Eingebungen wahllos folgt – weil es doch solchen Spass macht, Leben in vollen Zügen zu geniessen - was immer das auch heissen mag – verpufft seine Energie in Nichtigkeiten. Irgendwann muss er eine Wahl treffen. Das ist unumstösslich. Es reicht nicht aus, sich wie Sand vom Wind in alle Richtungen zerstieben zu lassen. Doch Sand als Strahl gebündelt, durchbohrt Mauern.
Es geht nicht darum, dass der Mensch sich in irgendeiner Form verändern müsste. Sich als Mensch verändern, kann er nicht. Wie sollte das gehen, ist er doch als Mensch bereits in seiner umfassendsten Bedeutung geboren worden. Er muss sich dessen nur bewusst werden. Nur diesen einen, winzig kleinen Schritt muss er tun. Wobei es nicht reicht, sich diese Tatsache einfach einzureden oder sie sich auszudenken. Der erforderliche Schritt ist endgültiger: er muss gegangen, unter die Füsse genommen werden, mit dem ganzen Sein und mit allen Sinnen. Der Mensch selbst muss zum Sandstrahl werden, der Mauern, der die Hülle der Ansichten und Meinungen, die ihn einkerkern, durchbohrt. Dann kann der Tag kommen, an dem es diese Hülle nicht mehr gibt.
Zwar ist er selbst an diesem Tag noch nicht frei. Doch geht von diesem Tag an der Mond für ihn nicht mehr unter, da er Leben und das damit einhergehende Leiden des Menschseins, in tiefer und tiefer greifenden Dimensionen erfasst. Er erkennt es, beginnt, seine Tragweite zu erahnen. Nur erleidet er es nun nicht mehr nur persönlich, so wie vorher als Person, die seinen Namen trug, die so aussah wie er und die seine Gewohnheiten aufwies. Sondern er erfährt es freiwillig, aus freien Stücken, gemäss seiner eigenen freien Entscheidung, weil er es so will, um seine Tragweite auch wirklich zu verstehen. Leiden wird von dem Moment an freiwillig, von dem an der Mensch über seinen persönlichen Zaun hinweg weit ins Leben hinaus, beziehungsweise in es hineinschauen kann. Dann fällt auch der Zaun weg. Und der Mensch wandelt sich vom Personsein zum Menschsein. Wohlverstanden, ohne dass er sich dabei verändert. Leben ist ungeteilt, ist Einheit. Wohin sollten Teile von ihm, die er nicht mehr will und vermeintlich durch andere ersetzt, denn gehen? Er ist stets vollumfänglich Mensch, ist es immer gewesen, nur konnte er das nicht erkennen.
Sobald er nicht mehr an der Kette seiner persönlichen Einstellungen hängt, sieht Leben vollständig anders aus. Der Mond ist immer da, in seiner vollen Grösse. Und der Mensch beginnt zu verstehen, dass der Mond nur Spiegelbild ist. Die Sonne spiegelt sich in ihm. Auge in Auge verharren Mond und Sonne ineinander. Sie sind eins.
Begreift der Mensch das erst, geht er sehr still am Seil des Atems, wortlos, gibt es doch fortan nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu beweisen, und nichts mehr zu bekämpfen. Er sieht zappelndes, schreiendes Menschenleid um sich herum. Doch selbst vertritt er es nicht mehr. Sein Körper schmerzt vielleicht. Mag sein, er ist, an diesem Punkt angekommen, erschöpft vor Anstrengung, ohne jede Perspektive, ohne Sicht auf eine Zukunft. Doch denkt sich das nur sein Ich, seine Person aus, dieses Tier, das einzig auf Begriffe wie Verlust oder Gewinn programmiert ist. Die Tatsache, dass der Mensch diesen Umstand sehen und erfassen kann, zeigt deutlich genug auf, dass er diese Tatsache selbst nicht ist. Sonst könnte er sie nicht erkennen!
Was nun noch bleibt, ist: sich ruhig zu verhalten, das Seil des Atems in keinem Atemzug aus den Augen zu verlieren und immer mehr dahinzuschmelzen. Nicht willenlos. Nicht hörig wie in den Armen eines Geliebten. Sondern mit gebündelter Kraft geradeaus. Einspitzig, wie das der Buddhismus nennt. Indem der Mensch, unbewegten Blicks, das "Ziel" nicht aus den Augen verliert.
Mit der Zeit erübrigt sich auch die Idee, es gebe überhaupt ein Ziel. Mit der Zeit erübrigt sich sogar jede Form von Unterscheidung. Atem, Arbeit, Ziel, Ausgerichtetheit – sie alle werden mit der Zeit zu Synonymen, zu Begriffen, die alle das gleiche beinhalten, nämlich: Er-nicht-er.
Es gibt keine Worte dafür. Sonne und Mond sind die Kehrseiten einer Medaille. So wie Leben und Tod die Kehrseiten einer Medaille sind. So wie ich und du die Kehrseiten einer Medaille sind – und so weiter, ohne Ende.
Und unversehens steht Leben still, und Freiheit ist.
Gerade eben prescht ein Fuchs mit pfeilgerader Rute knapp vor uns über den Weg. Die Hunde weichen entsetzt zurück. Auch mir stockt der Atem für einen Augenblick.
Wieder zu sich gekommen, bellen und geifern die Hunde dem Fuchs wütend hinterher. Zu blöde, dass sie an der Leine hängen. Was für eine Hatz hätte das abgegeben! Und was für prächtige Spiegelbilder liefern die zahllosen Vorkommnisse von Hund und Fuchs, von Hatz und Gehetztwerden mir tagaus tagein. Ich muss nur hinschauen wollen. Wille, dieser besondere Wille zum Sehen, der keinem persönlichen Ehrgeiz entspringt, ist auch eine der Stationen auf dem inneren Weg.
Sehend bin ich nie die Angekettete. Sehend bin ich nie Opfer. Sehend geht mir nicht das Geringste ab. Sehend bin ich auf sämtlichen Ebenen, in jeder einzelnen der Welten zu Hause. Im Sehen ist Licht über Licht.
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Weihnachten rückt heran und bald auch Neujahr. Und wie jedes Jahr kursiert in den Familien, unter Freunden und am Arbeitsplatz die Frage: „Hast du deine Vorsätze fürs Neue Jahr schon gefasst?“ Und oft folgt die Antwort: „O, diese Untugend habe ich mir längst abgewöhnt“.
Das Fassen guter Vorsätze weist in der Tat einen Haken auf. Wie soll der Mensch sie fassen, an welchem Ende, wo soll er sie packen? Beinhalten sie doch genau die Aspekte seines Lebens, die er nicht in den Griff bekommt, und von deren Verwirklichung er deshalb meistens auch nur eine vage Vorstellung hat. Oft hängen die Inhalte solcher Vorsätze so hoch, dass es ihm dabei unweigerlich ergehen muss wie dem Fuchs mit den Trauben: Er ist schlicht zu klein gewachsen, um sie zu erreichen. Und da er nicht weiss, wie er sich grösser machen könnte, bleibt der Zwischenraum zwischen den Trauben und ihm selbst unüberbrückbar.
Dieses Hindernis kann jedoch aus dem Weg geräumt werden.
Leider gaukeln die Medien den Menschen auf weite Strecken vor, wie schön, reich und herrlich ihr Leben sein könnte, wenn sie es nur fertig brächten, selbst schön, reich und herrlich zu werden. Da die meisten unter ihnen, bei gewöhnlichem Licht betrachtet, aber weder schön noch reich noch herrlich sind, werden sie dieses Ziel nie erreichen. Es hängt dafür, wie gesagt, zu hoch.
Dennoch hat der Mensch Möglichkeiten, um mit diesem Umstand fertig zu werden. Entweder er erkennt die Beschränktheit seiner Verhältnisse an und macht das Beste daraus – oder er setzt alles daran, den erwähnten Idealzustand zu erreichen – oder aber er flüchtet sich in eine Traumwelt hinein, die sich aus Schwärmerei für solche Personen nährt, zu deren glamouröser Welt ihm selbst die Tore verschlossenen bleiben – oder aber er lässt sich in Depression fallen. Es gibt zahllose Wege, um sich mit den Gegebenheiten des Lebens auseinanderzusetzen. Sie bilden das grundlegende Leiden, in dem der Mensch als Mensch gefangen ist. Und natürlich wählt jeder Mensch den Weg aus, der ihm und seinem Entwicklungsstand am besten entspricht. Kein Weg ist besser als ein anderer.
Als Bild zur Beschreibung dieser Behauptung bietet sich, zum Beispiel, das Bild der Pyramide an.
Zuunterst, tief im Sand vergraben, liegen bei einer Pyramide die Steinquader, die nie das Tageslicht sehen, die keine andere Perspektive haben als diejenige, die ganze Bürde des Gebäudes unaufhörlich auf ihren Schultern zu tragen, tagaus, tagein. Auf dieser Ebene herrschen Qual und Mühsal ohne Hoffnung auf Erlösung. Hier wird Leben nur erlitten. Etwas weiter oben befinden sich die Quader, die bereits etwas aus dem Wüstensand hinausragen. Sie erblicken schon Licht. Ihre Anzahl ist sogar etwas geschrumpft, da sich die Pyramide nach oben verjüngt. Sehr weit reicht die Sicht der Quader von diesem Punkt aus auch nicht. Noch haben sie wenig Selbstbestimmung, können kaum wählen, wie sie ihr Leben zubringen wollen. Immer noch bestimmt harte, physische Arbeit ihren Alltag. Doch gewisse Möglichkeiten der Unterscheidung werden ihnen schon zugestanden.
Je höher der Mensch auf der Pyramide emporsteigt, desto geringer wird ihr Umfang, desto weniger Quader liegen auf jeder Stufe. Die Aussicht, die die Quader auf dieser Höhe geniessen, wird stetig grosszügiger, die physische Last, die sie tragen müssen, schwindet zusehends.
Auf den ersten Blick haben es die Steinquader, die die Pyramide krönen, am leichtesten. Ihnen steht niemand vor dem Licht. Sie begegnen ihm Auge in Auge. Und nichts Menschliches ist ihnen fremd, da das Leben sich unverhüllt rund um sie herum ausbreitet.
Auf den zweiten Blick gesehen ist die Funktion der die Pyramide abschliessenden Quader allerdings kein bisschen weniger arbeitsintensiv als diejenige der Quader, die ihre Basis bilden, im Gegenteil. Denn mit zunehmender Höhe der Stellung wächst auch die Verantwortung. Zuoberst ist das Gebäude schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt. Die obersten Steinquader benötigen unglaubliche Standfestigkeit, um nicht zu zerbröseln, nicht undicht zu werden oder gar hinunterzurutschen. Ihre Stabilität muss dergestalt sein, dass absolut nichts, dass wirklich keine Art von Katastrophe ihnen etwas anhaben kann. Das Gegenteil hätte die Zerstörung der ganzen übrigen Pyramide zur Folge. Ein Loch im Dach eines Gebäudes lässt mit der Zeit das ganze Haus von innen heraus verfaulen. Das darf selbst bei einer Pyramide auf keinen Fall geschehen, birgt sie doch den kostbarsten der Schätze in ihrem Inneren: den ins Jenseits hinübergetretenen Gottkönig.
An einem der letzten Meditationsabende in meinem Yoga-Zentrum erwähnte eine Teilnehmerin verschämt, sie habe immer noch Angst vor dem Tod. Sie errötete, währenddem sie das sagte, als sei sie auf frischer Tat, beim Begehen einer zutiefst verpönten Handlung ertappt worden. Im Laufe des Gesprächs, das durch ihre Äusserung entstand, präzisierte sie, es sei nicht so sehr der Tod, vor dem sie sich fürchte, sondern vielmehr das Sterben. Die mögliche Qual, das Leiden, das ihr dann vielleicht bevorstehe, jage ihr tiefen Schrecken ein.
In der Runde der Meditierenden entstand durch diese Feststellung eine eigenartig betretene Atmosphäre. Niemand wusste, was darauf zu erwidern sei. Niemand getraute sich, dazu Stellung zu nehmen. Die Leute schauten einander verstohlen von der Seite an und rutschten sichtlich verlegen auf dem Sitzkissen hin und her. Einerseits bewunderten sie den Mut der Teilnehmerin, die sich derart offen zu ihrem Problem bekannte. Andererseits stand der Vorwurf in ihren Augen geschrieben, es sei heutzutage doch gar nicht mehr zulässig, vor etwas wie dem Sterben Angst zu haben, schon gar nicht als Meditierende.
Es fällt auf, mit welcher Leichtigkeit Prominente in Talkshows am Fernsehen oft verneinen, sich vor dem Sterben zu fürchten, wenn sie danach gefragt werden. Ob eine solche Aussage der Wahrheit entspricht oder nicht, erscheint dabei nicht von Bedeutung zu sein. Viel wichtiger ist die Wirkung, die eine solche Aussage auf gewisse Zuschauer haben mag. Und zwar auf jene, für die das Thema des Sterbens sehr wohl ein, wenn vielleicht auch uneingestandenes Problem darstellt und die sich, ob der Saloppheit der Darstellung, mit der das Problem heruntergespielt wird, in die Enge getrieben fühlen. Möglicherweise werden sie, sollte die Frage einmal an sie selbst herangetragen werden, mit der gleichen Saloppheit darauf antworten oder die Frage, aus Angst, erst gar nicht zur Kenntnis nehmen. Und das vielleicht einfach aus der Unfähigkeit heraus, gegenüber der am Fernsehen interviewten Berühmtheit auf Distanz zu gehen.
Es ist zu beobachten, dass Menschen sich an Aussagen von Prominenten orientieren und dadurch sich selbst und ihre persönliche Situation dahinter kaum noch wahrnehmen. Sie identifizieren sich mit den Vorbildern. Das mag den Vorteil haben, dass ihr eigenes, sogenannt «bescheidenes» Leben ihnen dadurch weniger beschränkt erscheint. Der Nachteil, den Identifikation mit sich bringt, besteht darin, dass sich ein Mensch seiner persönlichen Situation nicht bewusst ist, sich in seinem Sosein nicht wahrnimmt und sich verachtet. Aus Scham über seine eigene Schäbigkeit, verleugnet er seine Ängste, Bedürfnisse und Wünsche.
Doch was soll – um beim erwähnten Beispiel zu bleiben – falsch daran sein, sich vor dem Sterben zu fürchten? Was weiss der Mensch schon, wie er sich in der Sterbephase fühlen mag. Ist er noch fähig zu denken und selbst über sich zu bestimmen? Oder muss er hilflos zusehen, wie andere über sein Wohl und Wehe befinden? Und bleibt ihm die Kraft, die letzten Atemzüge wach und bewusst zu tun – falls ihm das ein Anliegen ist? Oder wird sein Lebensfaden einfach gekappt, in einem Augenblick, in dem ihm jede Bewusstheit abgeht?
Das sind wichtige Fragen, die zu stellen ein Mensch sich nicht im Geringsten zu schämen braucht, selbst wenn ihn andere dabei scheel mustern und sich unangenehm berührt fühlen.
Kommen wir zum Thema dieses Kapitels:
so wenig wie der Fuchs sich die Trauben vom Stock herunterholen konnte, weil sie für ihn zu hoch hingen, so wenig ist der Mensch fähig, eine Entscheidung zu fällen, wenn er an sich Massstäbe anlegt, die ihm nicht entsprechen. Zuerst muss er sich selbst kennenlernen. Muss er lernen, zu sich zu stehen, so wie er sich sieht und muss sich vollkommen akzeptieren – und lernen, sich selbst zu achten, zu schätzen und zu lieben. Erst dadurch versteht er den sonst unüberbrückbaren Abgrund zwischen der Idee, die er von seiner Person hat und dem idealisierten Bild, das er sich von ihr macht.
Der Abgrund zwischen der Persönlichkeit eines Menschen und den Vorstellungen und Ansprüchen an sie, kann nur durch Meditation, durch innere Arbeit überbrückt werden. Durch das Benennen dessen, was sich in ihm während der Meditation zeigt, lernt der Mensch, sich mehr und mehr zurückzunehmen. Das Bild, das er sich von sich macht, verblasst: der Mensch «kommt zu sich selbst» - wie nach langer, schwerer Krankheit. Das Verleugnen seiner selbst entspricht tatsächlich einer langen, schweren Krankheit. Und das allmählich Zusichkommen trägt wirklich den Charakter von Genesung.
Schätzt sich der Mensch nicht mehr gering, schämt er sich nicht mehr für drängende Fragen, die ihn umtreiben, «gescheite» oder «dumme» – Hauptsache er schämt sich nicht, sie zu stellen. Dadurch entspannt sich sein Nervensystem auf wundersame Weise. Auch wenn prominente Götzen deswegen von hohen Sockeln plumpsen und jämmerlich zerschellen: was soll’s, er braucht sie ja nicht mehr. Er kann selbst für sich denken! Sich selbst eine Meinung bilden: kein Stein fällt aus seiner Krone, und die Welt geht nicht unter, auch wenn ihm niemand beipflichtet - falls er eine unpopuläre Ansicht vertritt, die der öffentlichen Meinung diametral entgegenläuft. Anstatt sich an Modetrends – auch die Natur seiner Gefühle und die Sicht der Welt betreffend – zu orientieren, bleibt er still bei sich und sucht dort nach seinem Weg. Er wird sich selbst zur Orientierung, zum Licht auf seinem Weg. Und es ist ihm fortan gleichgültig, ob andere schön, reich und herrlich sind, er selbst es jedoch nicht ist. Er will nur noch sich selbst – ohne Attribute.
Und nur aus dieser Position heraus beginnt der Mensch immer besser zu sehen, wie andere, im Gegensatz zu ihm, denken, fühlen und sich darstellen.
Zuerst entdeckt er sich tatsächlich über den Vergleich mit anderen. Am Anfang ist es für ihn wichtig, solche Vergleiche anzustellen. Am Beginn der Arbeit, solange die Beziehung zu sich selbst noch vage ist und auf wackligen Beinen steht, braucht der Mensch Vorbilder. In der Meditationsarbeit wird der Meister zu einem solchen Vorbild. Doch je mehr ein Mensch von sich selbst wahrnimmt, desto unabhängiger wird er von Führung, von Lob und Tadel, von Bestätigung von aussen. Je mehr er von sich selbst wahrnimmt, desto grösser wird die Akzeptanz seiner selbst, desto weniger wund schlägt er sich an seiner Situation, so wie sie nun einmal ist, auch wenn sie ihm nicht sonderlich gefällt, und desto weniger fühlt er sich schuldig, weil er keinem gängigen Idealbild entspricht. Das macht ihn still und auf eine neue Art glücklich. Leben ist, wie es ist. Er steckt mittendrin, und zwar mittendrin in seinem eigenen Leben und nicht in demjenigen eines prominenten Vorbildes oder eines von ihm selbst zurecht gezimmerten Wunschtraums. Heilsame Ernüchterung macht sich breit. Doch auch für Humor gibt es nun Platz. Der Mensch lernt, über sich selbst zu schmunzeln. Und mit der Zeit lernt er sogar, an sich selbst Spass zu haben und sich an sich selbst zu freuen. Er braucht nicht mehr krampfhaft zu signalisieren, wie gut er ist, wie viel er kann und was er in seinem Leben schon alles geleistet hat. Er darf ganz einfach auch etwas nicht können. Er darf zugeben, dass ihm im Leben vielleicht noch nicht allzu viel wirklich gelungen ist. Er darf sogar dazustehen, dass er – vom gängigen Schema her betrachtet – eher auf der Versagerseite steht. Es hat nichts zu bedeuten.
Viel wichtiger ist, dass er nun sich selbst gehört. Und das ist mehr als alle Schätze dieser Welt zusammengenommen. In diesem Sinne ist er einzigartig. In diesem Sinne ist er unvergleichlich. Daraus erwächst ihm keinerlei Konkurrenz. Und dadurch kann er auch alle Ängste fallen lassen. Denn Ängste, die erkannt worden sind, die nicht verheimlicht werden müssen, über deren Vorhandensein er sich nicht mehr schämt, die er nicht unterdrückt, verlieren ihr beängstigendes Potenzial. Dann weiss er zwar, dass er sich vor dem Sterben fürchtet, davor, im Augenblick des Übergangs nicht wach genug zu sein. Doch da er gelernt hat, den Weg zu sich selbst zu gehen, hat er auch gelernt, sich seiner Bedürftigkeit bewusst zu werden. Und daraus ist in ihm die Gewissheit gewachsen, dass, egal was passiert, Hilfe da ist.
Und ist er sich selbst erst so nahe gekommen, ist auch das Vertrauen in die Richtigkeit seines Lebens, so wie es ist, in einem Mass gewachsen, das es ihm erlaubt, mit sich selbst Frieden zu schliessen. Aus unüberbrückbaren Problemen werden einfache, unerledigte Situationen, mit denen er zielgerichtet arbeiten, die er zielgerichtet einer Lösung zuführen kann. Die Bedrohlichkeit von Existenz wird massiv entschärft. Und erst jetzt kann er sich in sich selbst ausbreiten und sich entspannen, tief in seinem Körper – im Herzen.
Und will er nun einen Vorsatz fassen oder eine Entscheidung fällen, steht ihm nicht mehr ein Wald von fadenscheinigen Idealvorstellungen im Weg, durch den hindurchzudringen, sein magerer Wille von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Sondern, da er tief in sich drin die Notwendigkeit einer Veränderung veralteter Gewohnheiten erkennt, kann er auch tief in sich drin, auf dem Grund der Meditation, im Augenblick der Stille von Meditation, den Entschluss fassen, ein schädliches oder überholtes Verhalten durch ein anderes zu ersetzen, zum Beispiel, oder in ein ganz neues, noch unerforschtes Gebiet seiner Talentpalette zu expandieren. Wie auch immer: Nichts steht ihm dann noch im Weg, sein Leben nach bestem Wissen und Gewissen in Grosszügigkeit und Mitgefühl mit allem, was ist, sich entfalten zu lassen. Da er in diesem Zustand auch nicht mehr auf Kosten anderer oder zum Schaden von anderen handelt.
Nur über diesen Weg gelangt der Mensch zu wirklicher Kreativität, was so viel bedeutet wie: Zu leben aus der eigenen Quelle. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, lehrt „Der Kleine Prinz“.
Entscheidungen, die dieser Herzensqualität entspringen, fahren nicht mehr Achterbahn. Kein Zweifeln bringt sie in Wallung. Tief still, bilden sie eine schnurgerade Linie. Kristallklar stehen sie da, Bereichen entstiegen, in denen „falsch“ und „richtig“ keine Kriterien mehr sind.
Entscheidungen, die auf solche Art gefällt werden, wohnt keine Schuld inne.
An diesem Punkt angekommen, weiss der Mensch auch um das Geheimnis der Pyramide und darum, was es mit dem Gottkönig auf sich hat, den sie tief in sich birgt.
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Zwei Wochen vor Weihnachten lud meine Freundin, deren Mann ich im Frühjahr mit dem «Totenbuch» durch sein Sterben begleitet hatte, die Mitglieder unserer Yoga-Gruppen zu einer Adventsfeier in ihr Haus ein. Jeder sollte etwas zu essen mitbringen sowie einen besinnlichen oder humoristischen Beitrag.
Als ich das Haus betrat, traf ich erst wenige Gäste an, die mit Kochen, mit dem Anordnen von Speisen und Getränken beschäftigt waren. Ich zog Schuhe und Mantel aus und setzte mich in eine Ecke, von der aus ich unbemerkt beobachten konnte, wer neu dazu kam, wie sich die Gäste untereinander begrüssten, ihre Geschenke überreichten, sich zu Gruppen versammelten und rasch in verschiedene Unterhaltungen eintauchten.
Mir fiel dabei die dichte und geballte Atmosphäre auf, besonders im und um den Raum herum, in dem mein Freund erst vor wenigen Monaten verstorben war. Die Präsenz des Ereignisses in der Wohnung schien unübersehbar, wenigstens für mich, die ich darum wusste. Eine neutrale, friedvolle Präsenz. Ein Da-sein bar jeder Qualität.
Später teilte ich meiner Freundin die Beobachtung mit. Es ging ihr wie mir. Sie empfand die Präsenz des Toten ebenso stark.
Für mich fühlte es sich sogar so an, als liege ihr Mann immer noch, in schwarze Hosen und ein weisses Hemd gekleidet, im Dämmerlicht der Kerzen auf seinem Bett, die kleine, schwarz-weisse Katze zwischen den Oberschenkeln, die sich um keinen Preis entfernen liess. Hin und wieder streckte und wand sie sich behaglich, gähnte und schlief weiter, solange bis der Körper des Toten zu erkalten begann.
Selbst jetzt noch sehe ich dieses Bild so klar vor mir und bin so tief in dieser längst der Vergangenheit angehörenden Situation, als sei sie ebenso lebendig wie am Tag, an dem sie sich zugetragen hat. Nicht dass ich dabei Trauer oder Bedauern empfinde. Das ist es nicht. Mir wird nur einmal mehr bewusst, wie nicht vorhanden das ist, was der Mensch Zeitabläufe nennt. Das was für uns Menschen Leben bedeutet, sieht eher aus wie in eine unsichtbare Matrix eingebrannte Muster, zwischen denen keinerlei Zusammenhänge bestehen.
Schaue ich mir einen Film an, ohne dass er läuft – ich meine, wenn ich die Filmrolle lose in meiner Hand halte und mir, im Gegenlicht, Bild um Bild ansehe – ist jedes Bild in sich abgeschlossen, ohne dass es in irgendeiner Verbindung zum vorangegangenen oder zum nachfolgenden steht. Erst dadurch, dass ich die Rolle auf die Spule lege und den Film abzukurbeln beginne, entsteht zwischen den einzelnen Bildern scheinbar eine Art von Ablauf, entsteht scheinbar Bewegung. Und zwar deshalb, weil mein Gehirn, wegen des Tempos des Abspulens, die Übersicht verliert und die Unterschiedlichkeit und das Vorüberrattern der einzelnen Bilder nicht mehr rasch genug wahrzunehmen vermag. Im Gehirn entsteht dadurch die Illusion, die Bilder zeigten fliessende Abläufe, die Anfang und Ende hätten. Und ich sei Zeuge eines Ereignisses, das gerade jetzt ablaufe, obwohl der Film vielleicht schon Jahre zuvor gedreht worden ist. Wäre mein Gehirn geschult und flexibel genug, begriffe es die Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Bilder untereinander wie zu Beginn, als ich den Film noch lose in der Hand hielt und im Gegenlicht ein Bild nach dem anderen betrachtete. Die Illusion, es finde Bewegung statt, bliebe aus. Und das Gesehene erschiene mir nach wie vor als Bild, auf das ein nächstes und wieder eines willkürlich folgt. Auf ähnliche Weise, als sehe ich mir einen Dia-Vortrag an.
Was will ich damit sagen?
Einzelne Bilder auf einem Filmstreifen sind nichts anderes als Phänomene, die keiner Wirklichkeit entsprechen. Sie sind irgendwann aufgenommen worden. Und damit, dass der Film abgespult wird, soll mir weisgemacht werden, sie seien real, stellten reale Begebenheiten und vor allem reale Abläufe von Zeit dar. Könnte mein Gehirn dem Abgespulten jedoch rasch genug folgen, würde offensichtlich, dass dem nicht so ist.
Wie aber, wenn diese Feststellung für alle Phänomene, die das tägliche Leben ausmachen, Gültigkeit hätte? Was würde dann aus dem, was ich Erinnerung nenne? „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, wird gesagt. Was wäre nun, wenn es im gesamten Bereich der Phänomene nichts Neues gäbe, wenn alles immer schon dagewesen wäre? Als Splitter in die unsichtbare Matrix allen Seins eingebrannt? Und wenn deshalb nichts je vorüberginge? Da Zeit in der Form von Ablauf, wie ich ihn mir vorstelle, nicht existierte? Wenn mich die Trägheit des Gehirns in meiner Wahrnehmung täuschte? Wenn da nur immerwährende Gleichzeitigkeit herrschte, jetzt und immer wieder jetzt? Und ich diese Gleichzeitigkeit, wieder nur wegen der Langsamkeit, wegen der Beschränktheit meines Gehirns, nicht wahrzunehmen vermöchte? Und mir nur deshalb einbildete, Abläufe, Phänomene folgten aufeinander, weil meine Sicht viel zu begrenzt ist, um die Unendlichkeit des Seienden auf einmal zu erschauen? Diese Unendlichkeit jenseits aller Phänomene, deren schattenhafte Umrisse den Vorhang bilden, der mich an direkter Schau hindert? Und was würde aus diesen Phänomenen, aus den Dingen des alltäglichen Lebens, den Ereignissen, meinem Schmerz und meinen Freuden, wenn dieser Vorhang endlich fiele und schattenlos aufschiene, was wirklich ist?
Durch die Meditationsarbeit wird das Schattenhafte von Existenz deutlich erkennbar, wird begreifbar, dass die Phänomene des menschlichen Lebens die Sicht auf die Wirklichkeit nicht klären, sondern verhindern. Wobei die Phänomene an sich noch nicht einmal das Problem darstellen. Der Glaube an ihre Wirklichkeit lässt sie zum Problem werden, macht, dass der Mensch ihrer eigentlichen Natur gegenüber blind ist. Vollends zur Illusion werden sie, wenn er sie persönlich nimmt und dadurch ins Beurteilen verfällt. Dann lebt er in der Getrenntheit, im Leiden. Dann gibt es für ihn auf der einen Seite die Phänomene, auf der anderen Seite seine Person, die sie wahrnimmt und ihnen gegenüber machtlos erscheint. Denn als Mensch erlebt er die Phänomene, erlebt er das, was tagtäglich unkontrollierbar in ihm und um ihn herum abläuft, als feindlich – weil er es nicht kontrollieren kann. Er kann den Phänomenen nicht gebieten. Dadurch verliert er den inneren Draht zu sich selbst und zur Wirklichkeit. Dann fängt er aus lauter Angst vor ihnen an, Phänomene zu verdrängen, anstatt sie seinzulassen, auf dem Ausatem loszulassen, wie es in der Meditation geübt wird. Er vergisst den Atem und taucht unter in der Traumwelt, die er sich aus Vorstellungen, Vorlieben und Abneigungen gebastelt hat, die er für seine Psyche, ausgibt, an der nicht gezweifelt werden darf.
Nach unserer Adventsfeier erzählte meine Freundin, sie habe während des Abends ständig versucht, das Bild ihres verstorbenen Mannes und das Phänomen seiner starken Präsenz im Raum seinzulassen, doch das sei ihr nicht geglückt.
Es könnte sein, dass die Freundin nur versuchte, das Bild und die Präsenz des Toten zu verdrängen, weil sie schmerzten und die Feier störten.
Gibt es etwas, das weggemacht werden müsste? Gibt es etwas, das nicht hierher oder dorthin oder wohin auch immer gehört? Gibt es den Ort, den einzigen überhaupt? Und was wäre, wenn es ihn nicht gäbe? Dürfte dann vielleicht einfach alles sein? Und gerade so sein, wie es ist? Ohne dass das Denken, das Wollen, das Wünschen oder Hoffen in etwas umgewandelt werden müsste, das menschlicher Vorstellung genehm ist?
Mir wird mit jedem Üben klarer, dass mir die Meditationsarbeit vor allem eines beibringt: aufzuhören, mich gegen Phänomene, gegen was auch immer zur Wehr zu setzen. Das Wehren ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel, da ich den vermeintlichen Gegner nicht kenne. Sämtliche Phänomene sind Ausprägungen der Psyche, verschleiert und ihrer wahren Natur beraubt. Phänomene können nicht bekämpft, verdrängt oder ausgeschaltet werden. Phänomene sind, dürfen sein. Ich brauche nichts gegen sie zu unternehmen. Auch wenn ich ihrer überdrüssig bin. Wo sollten sie hin?
Es gibt kein „dort“. Nur den Augenblick – jetzt - ohne Ausdehnung. Er enthält, was ist, dimensionslos.
Meine Zeit ist zu kostbar, um sie mit nichtigem Kämpfen zu vergeuden.
Die Natur von Illusion wurzelt in der persönlichen Beziehung, die ich zu ihr aufbaue. Kein Wunder, werde ich «die Geister, die ich rief, nimmer los». Was sollten dagegen Geister, die ich nicht belästige, die ich in Frieden lasse, mir anhaben? Und: demzufolge: was sollten Phänomene, die ich in Frieden lasse, mir antun? Im Atem schmelzen sie dahin und geben Ruhe. Und die Bäume des Waldes der Phänomene, den ich für undurchdringlichen Urwald hielt, weichen zur Seite und lassen mich durch. Sie haben mir nie im Weg gestanden. Ich bildete mir das nur ein.
Das sind Gedankengänge, die einen Zustand von Bodenlosigkeit hervorrufen, Angst einflössen können, es sei denn, die Meditationsarbeit zeitige Achtsamkeit.
Wenn alles sein darf, wie es ist – wenn ich mich gegen nichts zur Wehr setzen muss, tritt Leere ein. Und ich bin mittendrin, gleichzeitig im Jenseits und im Diesseits. Trennung fällt weg. Bilder erscheinen und verschwinden. Wie Sterne, die aufleuchten und verlöschen. An keinen bin ich gebunden. Keiner gehört mir. Keiner ist ich. Die Augen erkennen, wie sie geboren werden und sterben. Das innere Auge erschaut das Dahinter, den dimensionslosen Raum.
Jedes Karma ist geprägt von einer gewissen Palette an Phänomenen und unempfindlich gegenüber andere. Andere Paletten an Phänomenen stehen zwar zur Auswahl, nur entsprechen sie anderen psychischen Konstellationen. Sonst hätte ein Kind Recht, das die Hände vors Gesicht schlägt, in der Annahme, es werde dadurch unsichtbar. Tatsächlich sind Menschen wie Kinder, solange sie glauben, dass Leben und Welt ihrer persönlichen Vorstellung entsprächen. Sie halten Phänomene für real. Ein Irrtum, der das Leiden der Wesen unaufhörlich in Gang hält.
Diesem Irrglauben abzuschwören, offenbart, was wirklich ist.
Doch will die Psyche das? Möchte sie den so fleissig auf Wohlbehagen, Erfüllung und Geborgenheit getrimmten Alltag, derart mutwillig aufs Spiel setzen? Will sie aufwachen, in der ganzen Konsequenz?
Diese Frage kann nur jeder für sich selbst beantworten. An ernsthaft Meditierende wird sie früher oder später herangetragen.
Zu Beginn des Übens kann es sein, dass Phänomene laufend Junge kriegen, sich in Windeseile vermehren und der Übende nicht weiss, wo ihm der Kopf steht. Allein das Sprechen über Phänomene, über ihre Beschaffenheit, regt die Produktion an. Übende hören während Lehrvorträgen Unerhörtes. Ebenen des Denkens erschliessen sich, an die sie im Traum nicht gedacht hätten.
Die Produktion unbekannter Phänomene läuft auf Hochtouren.
Ein Ende ist nicht in Sicht. Es sei denn, der Übende entsteige bewusst dem reissenden Strudel. Was nicht möglich ist, solange er glaubt, als Person Wandel bewirken zu können.
Die Person ist das Phänomen, der Splitter in der Matrix, die ihn daran hindert. Der Glaube an die Realität seines Ichs gaukelt ihm vor, er habe Macht, weltbewegende Macht.
Die Regeln und Gebote, die den Menschen im Alltag auf Trab halten, gelten je weniger, desto tiefer er in die Meditation eintaucht. Zuerst bleibt der Eigenwille auf der Strecke. Später trifft es das Selbstbild, die Meinung, die er von sich hat, die Selbstüberschätzung. Je mehr Erkenntnis dem Übenden zuteilwird, desto mehr geht ihm auf, dass die Psyche in der Meditationsarbeit keinen Platz hat. An ihre Stelle tritt Absichtslosigkeit. Nur sie führt ans «Ziel». Auch die Idee eines «Ziels» wird zunichte. Die Zwiebel weist, einmal geschält, keinen Kern auf. Der Mensch als Person hat keine Chance, die Realität zu erschauen. Sogar die Annahme der Schau von Realität ist Phänomen.
Liegt etwa im Aufgeben die Lösung? Auch dieser Glaube ist Phänomen. Wo denn gibt es einen Ausstieg aus dem Festsitzen im Labyrinth der Phänomene? Wo findet sich das Nadelöhr?
Es zeigt sich von selbst, sobald genug gelitten, genug gekämpft worden ist, sobald das Fass der Widerstände ausgelaufen ist. Auch dieser Zustand ist nur über die Hilfe eines Phänomens beschreibbar: über das Fass!.
Wann der Zeitpunkt für Befreiung reif ist, hängt vom jeweiligen Karma ab.
Einmal hat es ausgedient. Einmal ist Ichheit geschmolzen. Einmal hören Drängen und Verdrängen auf.
Einmal ist Seinlassen da – ohne dass Zeit im Spiel wäre..
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Es war einmal ein König mit Namen Bintusara, der seinen Schatzmeister beauftragte, verschiedene Einkäufe für ihn zu tätigen. Der Schatzmeister delegierte, so wie es seiner Stellung bei Hofe entsprach, deren Erledigung an die Verwandten des Königs, die, entsprechend ihren Fähigkeiten, mehr oder weniger untergeordnete Posten im Palast bekleideten. Ein Umstand, der sie anfällig für Gier und Neid machte. Aus diesem Grund veruntreuten sie die ihnen anvertrauten Gelder. Und als ihre Leben, eines nach dem anderen, zu Ende gingen, sahen sie sich mit der Tatsache konfrontiert, in den Höllenwelten wiedergeboren worden zu sein.
Bintusara wurde in der Zwischenzeit ein Sohn geschenkt, der den Namen Bimbisara erhielt und der seinem Vater nach dessen Tod auf dem Thron nachfolgte. Bimbisara war ein kluger, umsichtiger und gerechter Herrscher, der die Armen speiste und ein offenes Ohr und eine offene Hand für jeden hatte, der in irgendeiner Form in Not geraten war.
Dem Buddha war Bimbisara sehr zugetan. Er verehrte ihn zutiefst und schenkte ihm einen Bambushain sowie die Mittel zum Bau eines Tempels. Der Tempel wurde inmitten des Bambushains errichtet. Und es war ein grosszügiges, prachtvolles und in allen Teilen gelungenes Bauwerk.
Eines Nachts, als der König im Bett lag, weckte ihn eigenartiges Wehklagen. Er setzte sich auf und entdeckte zu seiner Verwunderung seltsame, schattenhafte Wesen in Menschenform, die sich an die Gitter der Fenster seines Gemaches klammerten, die in den Fluren des Palastes umherhuschten, von den Wänden herunterhingen sowie Sessel und Teppiche belagerten.
Voller Sorge besuchte der König am nächsten Morgen den Buddha in seinem neu errichteten Tempel und fragte ihn, was das zu bedeuten habe. Der Buddha klärte Bimbisara über den Umstand auf, dass diese Wesen zu seiner verstorbenen Verwandtschaft gehörten, die an seinem Vater übel gehandelt habe und deshalb in den Höllenwelten schmore. Er machte dem König begreiflich, dass diese unerlösten Wesen darum zu ihm gekommen seien, damit er ihnen seine Verdienste weihe. Der Buddha zeigte dem König auf, dass er ihm sowohl den Bambushain geschenkt als auch den Tempel habe errichten lassen. Es jedoch versäumt habe, dieses umfangreiche Verdienst den Wesen zu widmen, die darauf angewiesen seien, um Befreiung aus ihrer misslichen Lage zu erlangen.
Sofort holte Bimbisara sein Versäumnis nach. In tiefer Meditation weihte er sämtliche seiner Verdienste seinen unglücklichen Vorfahren. Und sofort verstummte das Wehklagen, verschwanden die ungebetenen Gäste, und Ruhe und Frieden kehrten in den Palast zurück.
In der «Inneren Arbeit» gibt es ein Gesetz, das das Gesetz der Gegenseitigkeit genannt wird und das besagt, dass einem Menschen immer gerade nur so viel von etwas gegeben werden könne, wie er selbst dafür zu investieren bereit sei. Dieses Gesetz gilt in allen Traditionen und in allen Lebenslagen, in die Wesen, die über Bewusstsein verfügen, gelangen können. Es gilt unter allen Umständen. Sobald der Mensch das Gesetz von Karma zu verstehen beginnt, stösst er automatisch auf die Bedeutung des Gesetzes von Gegenseitigkeit.
In diesen Wochen vor Weihnachten finden in Dörfern und Städten grössere und kleinere Weihnachtsmärkte statt. Die Zeit der Kälte, der Dunkelheit, gerade in mitteleuropäischen Regionen, scheint viel unverarbeitetes Leid in Menschen an die Oberfläche zu spülen. Sonnenschein wird rarer, das Prekäre menschlichen Daseins offenbarer. Jeder muss sich warm anziehen. Der Gedanke ans Erfrieren liegt auf der Hand. Eis, Schnee und endlose Nächte schüren die Angst vor Vereinsamung. So wie sich Tiere aneinander kuscheln, um sich gegenseitig Wärme zu spenden und sich vor feindlichen Überfällen zu schützen, so tun es instinktiv auch Menschen. Wer nun kein Heim hat, ist übel dran. Wer nun Hunger leidet, ist eher dem Tod geweiht als in sonnendurchtränkten Sommertagen, während denen Bäume und Sträucher voller Früchte hängen.
Es ist auch zu beobachten, dass, je verworrener und gefährlicher die politische und ökologische Situation sich auf dem Planeten Erde gestaltet, desto üppiger die Auslagen in Geschäften, vorwiegend in Ländern der «ersten Welt» sich zeigen. Und je mehr die Idee von Luxusgütern ins Kraut schiesst, desto ausgefallener, glitzernder und kostspieliger bieten sich auch die tausenderlei Dinge zur Ausgestaltung des Heims, zur Optimierung des Weihnachtsfestes an. Die Märkte quellen über von exklusiven Dekorationsobjekten, von exklusivem Christbaumschmuck. Die Augen vieler Menschen quellen über, wenn sie fasziniert von Laden zu Laden, von Stand zu Stand spazieren, sich nicht satt sehen können an der zur Schau gestellten Herrlichkeit und fast zwangsläufig dem Kaufrausch verfallen. Solche Pracht müsste doch die heimlichen oder offensichtlichen Ängste im Menschen zum Verstummen bringen. Wenn nur genug davon gehamstert würde, wäre Weihnachten bestimmt wunderschön! Und alle Sorgen gebannt.
Nichts von dem Feilgebotenen hält je, was es verspricht. Kaum ausgepackt, scheint ein Schmuckstück nach dem anderen seinen Glanz einzubüssen, wirkt ein Designerobjekt nach dem anderen bald nur noch banal. Weder Frieden noch Freude vermögen Dinge auf Dauer ins Heim zu zaubern, weder unverarbeitete Probleme zu lösen noch Ängste zu übertönen.
Das gleiche Muster mag sich bei Menschen zeigen, die in der gegenteiligen Lage sind und keine Geschenke unter dem Weihnachtsbaum vorfinden. Die Muster menschlicher Reaktionen mögen sich unterscheiden. Doch Muster bleiben Muster: So oder so stehen sie dem Freisein im Weg.
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Gerade die Vorgänge im Zusammenhang mit Weihnachten zeigen auf, wie wenig das Gesetz der Gegenseitigkeit unter Menschen wirklich wahrgenommen wird. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und auch wenn einem als Kind beigebracht worden ist, das Stück Schokolade mit anderen zu teilen, kommt dieses Wissen mit zunehmendem Erwachsenwerden - und vor allem mit zunehmendem Wohlstand - meist abhanden. Zwar fällt es auf, dass heutzutage gerade nach Naturkatastrophen mehr Spendengelder denn je gesammelt werden. Doch nehmen nicht auch die Schuldgefühle der Menschen, so wie die Naturkatastrophen, ständig zu? Spenden manche nicht vielleicht aus lauter Angst, das nächste Unglück könnte sie selbst treffen? Oder spenden sie, weil andere spenden, um nicht als Geizhals zu gelten?
Je mehr der Mensch mit dem Gesetz von Karma – und folglich mit dem Gesetz der Gegenseitigkeit - vertraut ist, desto mehr fallen Schuldgefühle, fallen Zwänge weg, denn er lernt zu verstehen, dass ihm selbst nur gerade so viel zuteil wird, wie er von seiner Seite aus selbst beisteuert.
Diese Gesetzmässigkeit zu entdecken, hat mit Beobachtungsgabe, mit Wahrnehmungsfähigkeit zu tun. An einem banalen Beispiel wie der Aufzucht von Salat, wird das leichter verständlich: Der Boden, in den die Setzlinge eingegraben werden, muss locker gehalten, genügend gegossen, gedüngt und der Salat vor Schnecken und Läusen bewahrt werden. Dann wird der Salat die Bemühungen des Gärtners mit dem Hervorbringen satter, praller Köpfe belohnen. Und gilt dasselbe nicht ebenso für die Aufzucht von Tieren, für irgend etwas, dem der Mensch zum Blühen und zum Gedeihen verhelfen möchte – inklusive seiner selbst?!
Beim "Inklusive-seiner-selbst" liegt ein Hund begraben.
Scheint doch bei vielen Menschen dieses Grundgesetz plötzlich an Gültigkeit zu verlieren. Schaut der Mensch sich bei der Art und Weise, mit der er mit sich selbst umgeht, ehrlich zu, wird ihm klar, dass das mit Sorgfalt, Umsicht, liebevollem Hegen und Pflegen über weite Strecken seines Alltags nicht das Geringste gemein hat. Keinen Hund würde er so schlecht behandeln, wie er sich selbst oft behandelt.
Es hat lange gedauert, bis auch ich mir dieses Umstands bewusst geworden bin. Und es hat nochmals eine zusätzliche Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich als Folge davon auch andere Menschen nicht besser behandle als mich selbst. Wie könnte ich auch? Ist doch der Massstab, den ich an meine Person lege, auch der Massstab, mit dem ich die Welt, mit dem ich das Leben überhaupt messe. Mit anderen Worten:
liebe ich mich selbst nicht, kann ich auch andere nicht lieben, lasse ich mir selbst keine Sorgfalt angedeihen, lasse ich auch anderen keine Sorgfalt angedeihen.
Doch wodurch sollte der Mensch Sorgfalt gelernt haben?
Das Bewusstsein dafür muss er sich erst erarbeiten.
Und wie sollte er sich dieser Notwendigkeit bewusst werden? Gilt doch auf der freien Wildbahn von Leben das Gesetz des Stärkeren, heute wie vor Tausenden von Jahren.
Solange der Mensch sich des Bewusstseins nicht gewahr ist, gilt für ihn das Gesetz der Prärie, das Gesetz des Stärkeren - und das Gesetz von Gegenseitigkeit bleibt auf der Strecke. Diese Tatsache gilt für sämtliche Stufen von Entwicklung bis hinein in die Bereiche innerer Arbeit.
Laufend wird in Meditationsklassen die Frage gestellt: „Wie werde ich meine Gedanken los? Was kann ich tun, damit das pausenlose innere Geschwätz in meinem Gehirn aufhört? Wie finde ich Frieden und Ruhe?“
Und Hand in Hand mit dieser Frage geht diejenige, ob an der Meditation wirklich nicht mehr dran sei, als dieses ständige beobachten und benennen Müssen von dem, was im Inneren hochkommt und so oberflächlich und frustrierend aussieht, dass der Übende am liebsten aufstehen und davonlaufen möchte. «Ist der Mensch – bin ich wirklich so schäbig und gemein, so dürftig in meinen Gedankengängen und verborgensten Regungen? Bin das ich?».
Eine Freundin sagte kürzlich nach einer Meditationsklasse entmutigt: «Meine Mutter liegt im Spital und ist ernsthaft krank. Doch während der Meditation habe ich festgestellt, dass ich nur darauf fixiert war, herauszubekommen, wo im Haus ich gewisse Lämpchen, die ich als Weihnachtsdekoration aufhängen möchte, gelagert habe. Diese Feststellung hat mich tief deprimiert. Bin ich so egoistisch?» Und eine weitere Freundin fügte hinzu: «Es wäre alles halb so schlimm, wenn ich während der Meditation nur irgendetwas sähe in mir drin, wenn wenigstens ein Bild auftauchte, an das ich mich halten, das mir einen Hinweis geben oder eine Richtung aufzeigen könnte, in die ich gehen sollte. Aber da ist nichts, rein gar nichts – ausser diesen grässlichen Gedanken, die mich ständig von einer Ecke in die andere hetzen.»
Beispiele, die aufzeigen, dass der Mensch es in der inneren Arbeit mit den genau gleichen Haltungen und Mustern zu tun hat, wie sie ihn im Alltag umtreiben. Dieser Umstand zeigt ebenfalls auf, dass die innere Arbeit, die Meditationsarbeit, nichts vom Alltag Losgelöstes ist. Sie ist im Gegenteil Spiegel des Alltags. Und gerade deshalb kann es auch in der Meditationsarbeit nicht darum gehen, etwas zu kriegen oder auf andere Ebenen der Erfahrung zu gelangen als auf exakt die Ebene, auf der das Leben eines Menschen ohnehin abläuft.
Meditation ist nichts, das dem normalen Leben übergeordnet wäre, nichts, das besser oder edler wäre als der Alltag. Die Meditationsarbeit liefert lediglich eine zusätzliche Lupe zum Entdecken dessen, was den Alltag tatsächlich ausmacht. Richtig ausgeführt, ist sie stocknüchtern, bar jeder Sensation. Auch macht den Menschen allein die Tatsache, dass er meditiert, noch nicht zu einem besseren Menschen. Indem er Meditation praktiziert, entschliesst er sich lediglich dazu, nicht mehr bloss hinzunehmen, dass sein Leben in den immer gleichen Bahnen abläuft, sondern sich bewusst zu werden, in welchen Bahnen es überhaupt abläuft.
Die Bahnen, in denen es abläuft, kann er zwar nicht verändern.
Denn er ist, wie er ist und wer er ist. Und das wird er auch bleiben. Nur auf das Erfassen dessen, wie und was er letztendlich ist, kommt es an. Nur dadurch, dass er erfasst, wie oberflächlich, wie stur, wie unkonzentriert und flatterhaft er ist, lernt er sich und sein Menschsein zu begreifen - sein persönliches Menschsein sowie das Menschsein als solches. Denn solange er sich des Bewusstseins nicht wirklich gewahr ist, ist er oberflächlich, stur, unkonzentriert und flatterhaft. Und dadurch abgeschnitten von der Entwicklung seiner inneren Möglichkeiten, einsam und gefangen in der Idee von Gedrängtheit.
Deswegen glaubt er auch daran, er finde Befriedigung, Geborgenheit und Liebe im Untertauchen in der Menge, im Anhäufen von Gütern, im Jagen nach Sensationen und Emotionen. Und übt er sogar Meditation auf diese Weise aus, wird ihm keine Befreiung zuteil. Und er wird sich von der Meditation genauso frustriert abwenden wie von anderem, das ihm bisher die Erfüllung seiner Bedürfnisse verweigert hat.
Das Üben von Meditation ohne Erwartungshaltung würde dem Menschen erlauben, aus dem gewohnten Teufelskreis von Hoffnung und Enttäuschung auszusteigen, sofern er verstünde, dass es die grundsätzliche menschliche Erwartungshaltung ist, die ihm im Weg steht.
Gewinnstreben mag im Geschäftsleben angebracht sein. In der Meditation ist es kontraproduktiv. Beginnt der Mensch diesen Zusammenhang erst einmal zu ahnen, kann er einen entscheidenden Schritt vorwärts tun in der Arbeit. Da das Verständnis von Akzeptanz in ihm erwacht.
Sobald er auch in der Meditation damit aufhört, absahnen zu wollen, auf Profit aus zu sein, kommt er seiner Gier und seiner äussersten Bedürftigkeit auf die Spur. Und daraus folgend auch der Gier und der Bedürftigkeit anderer Lebewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben, nimmt er dann vielleicht wahr, dass er nicht allein ist, sondern dass es um ihn herum nur so wimmelt von seinesgleichen.
Mag sein, das erschreckt ihn. Mag sein, das macht ihn traurig - auch weil er so spät begreift, wie egozentrisch er bisher ans Werk gegangen ist, und wie viel kostbare Zeit er vergeudete, weil er sich nur um sich selbst drehte.
Mitgefühl kann sich nun zeigen, zuerst mit sich selbst. Mitgefühl, das es dem Menschen erleichtert, die Idee fallen zu lassen, er sei der Bauchnabel der Welt. Er begreift, dass alle Wesen zusammengenommen im selben Boot sitzen, zwar jedes als eine Person für sich, vom anderen unterschieden und einzigartig, doch dass diese Regel nur in der äusseren Welt, in der Welt der Phänomene Gültigkeit hat. Als Lebewesen ist er allen anderen gleich, gleich frustriert, gleich gierig, gleich hilflos, gleich ausgeliefert - solange er sich dessen nicht bewusst ist.
Das Rad dreht und dreht sich ohne Unterlass.
Im Arbeiten an sich selbst kehrt der Übende laufend zum selben Ausgangspunkt zurück.
Das Leben bevorzugt niemanden, benachteiligt niemanden. Seine Vorstellung gaukelt das dem Menschen vor. Seine Vorstellung davon, das Leben sei dazu da, ihn zu beschenken, zu belohnen, das Leben sei es ihm schuldig, warte auf ihn: das nährt die Vorstellung von Hierarchie im Menschen. Und daraus erwächst die Erwartung, er als Höhergestellter, als Vermögenderer, Schönerer verdiene mehr Zuwendung, Anerkennung und Lohn als einer, den er als niedriger gestellt ansieht, als weniger vermögend, weniger schön.
Diesen und vielen zusätzlichen Vorstellungen kommt der Mensch in der Meditation auf die Spur. Er kann sich zwar, sobald sie auftauchen, sogar in der Meditation vor sich selbst rechtfertigen, sie nicht als blosse Einbildungen zur Kenntnis nehmen, sondern als Grundrechte, die ihm zustehen und an deren Berechtigung er nicht zu rütteln bereit ist.
Wie tief er sich in die Meditationsarbeit einlässt, ist jedem Menschen selbst überlassen. Ist er willens, selbst die geringste Nuance von Selbstbetrug in sich aufzudecken und auszuräumen, wird ihm irgendwann klar, dass Leben unpersönlich ist und nichts und niemanden bevorzugt oder benachteiligt.
Leben ist im Hier und Jetzt. Immerdar. Leben IST – ohne Merkmal, ohne Qualität.
Wie Wasser nimmt es die Farbe an, die das Gefäss aufweist, in das es hineinfliesst. Das Gefäss ist die Person. Doch das Leben - von dem diese Person erfüllt ist - ist mit der Person nicht identisch.
Die Person mit ihren Gedanken und Gefühlen, mit den Dingen, die sie ihr Eigen nennt, auf die sie sich bezieht, ist Phänomen, und deshalb ständiger Veränderung unterworfen. Phänomene werfen Schatten. Die Welt der Phänomene ist das Reich der Schatten. Der Mensch als Phänomen lebt im Reich der Schatten. Phänomene sehen ihr Leben als ihr persönliches Eigentum an. Deshalb fürchten sich die Wesen vor dem Tod, davor, ihr Leben, das sie als persönlich ihnen zugehörig empfinden, einzubüssen.
Durch die Meditation – die auch als Rückbesinnung bezeichnet werden kann – kommt der Mensch mehr und mehr mit dem Bewusstsein in Kontakt. Auch Bewusstsein ist nichts ihm Zugehöriges. So wie Leben, ist auch Bewusstsein immer da. Durch Bewusstsein findet er mehr Distanz zu seiner Person, lernt er, sie in ihrer Funktionsweise zu erkennen, ihre Mechanik zu begreifen. Dem Bewusstsein kann er sich nur öffnen. So wenig, wie er Leben festhalten kann, so wenig kann er Bewusstsein festhalten. Weder Leben noch Bewusstsein stehen ihm als Besitz zu. Die Arbeit an sich selbst, macht ihn für sie empfänglich. Indem er sich ihnen öffnet, kommen sie in ihm zum Tragen, gemäss dem Gesetz von Gegenseitigkeit, nur durch Hingabe, nicht durch Gier.
Dann wird auch offensichtlich, dass es keine Alternative zu Leben gibt. Leben ist ewig und überall, auch wenn ein Mensch nur fähig sein sollte, Splitter dieser Grenzenlosigkeit zu erfassen. Dann schwindet die Angst vor dem, was der Mensch «Tod» nennt. Denn ihm wird klar, dass nichts und niemand je «verlorengeht», auch wenn es oder er seinem Blick entzogen wird.
Alles ist JETZT und immerdar HIER - nicht als Prozess, nicht als Zyklus, nicht als Alternative.
Meditation ist ein energetisches Phänomen, so wie jedes andere Phänomen auch. Sitzt der Mensch in Meditation und Aussendruck und Innendruck des Körpers gleichen sich einander an, nehmen auch Klarheit und Konzentration im selben Ausmass zu - und die Illusion von Getrenntheit verflüchtigt sich. Dadurch gelangt er in die Mitte. Das setzt ein sehr hohes Niveau an Spannkraft und gleichzeitig an Seinlassen voraus.
Und dadurch beginnt, unter dem Klang des Atems, der Diamant des Herzens zu erstrahlen.
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Was habt ihr zusammen unternommen?

Von einem berühmten Lehrer, der schon lange tot ist, stammt der Satz: „Der Mensch ist ein Transformer feinstofflicher Energie.“
Und vom Abt, einem der heutigen Lehrer, stammt der Hinweis: „Behalte nie etwas für dich allein. Gib alles, was dir gegeben wird, gib vor allem die Verdienste, die du dir durch deine Arbeit an dir selbst erwirbst, laufend weiter. Widme das, was du an Substanz gewinnst, ohne Unterschied allen fühlenden, sichtbaren und unsichtbaren Wesen zur Hilfe, jeden Tag, mit jedem Atemzug und jedes Mal am Ende deiner Meditation.“
Es ist in der inneren Arbeit unabdingbar, Geschehnisse ununterbrochen im Fluss zu halten. Das Fahrzeug, das dem Menschen dafür gegeben worden ist, besteht im Atem. Genau so wie die Wellen des Meeres pausenlos heranrollen und sich zurückziehen, genauso strömt auch der Atem pausenlos ins Dasein hinein und aus ihm hinaus. Vorausgesetzt, der Mensch erlaubt es dem Atem. Vorausgesetzt, er ist sich dieses Vorgangs bewusst und gibt sich ihm hin, vorbehaltlos, wie sich ein Blatt vom Wind wiegen lässt. Geschieht das bewusst, verändert sich das Leben des Menschen - zuerst unmerklich, dann markant. Das ist ein Naturgesetz. Es funktioniert. Nach dem gleichen Prinzip, nach dem steter Tropfen den Stein aushöhlt.
Wie war es, bevor ich lernte, mir des Atems bewusst zu sein? Mir scheint, ich glich einem Fisch auf dem Trockenen, der verzweifelt nach Luft schnappte, beziehungsweise nach Atem rang. Ich wusste nicht, wie es ist, wenn Atem fliesst – wenn ich zulasse, dass Atem durch mich und in mir drin strömt, vibriert, klingt.
Ja: der Weg zum Erkennen dessen, was der Mensch Tag und Nacht mit sich anstellt ist beschwerlich. Die Schwierigkeiten nehmen laufend zu, je mehr er lernt, sich dem Atem zu öffnen, sich ihm hinzugeben, anstatt ihn als selbstverständlich vorauszusetzen, und ihn so zu behandeln wie ein ihm zustehendes Gut, mit dem er nach Belieben schalten und walten darf. Doch gelingt es dem Menschen ein winziges Mal zu erleben, wie sein Körper, wie sein ganzes Wesen im Atem mitfliesst, ist es, als sei er an Energie- und an Kraftreserven angeschlossen worden, von deren Existenz er nicht die leiseste Ahnung gehabt hat. Vielleicht passiert das in einem Augenblick von Hoffnungslosigkeit, wenn er sich, am Boden zerstört, nicht mehr wehrt. Oder es offenbart sich in einem Moment tiefer Enttäuschung darüber, dass er nichts weiss, nichts begreift, dass seine Anstrengung keine Früchte hervorbringt. Oder es passiert in einem Augenblick der Erschöpfung, bedingungslosen Seinlassens, in dem er sieht, dass sein Wollen und Wünschen letztendlich zu keinem Ziel führen kann.
Doch geschieht es, scheint es ihm, als rutschten Lasten von seinem Herzen und er zerströme im Atem, dem kein Widerstand mehr anhaftet. Mag sein, die Nichtigkeit der Idee von Trennung streift ihn, die Phänomene eines Innen und Aussen, eines Diesseits und Jenseits lösen sich auf. Das, was er bisher als Wirklichkeit betrachtet hat: die Dinge des täglichen Lebens, Städte, Landschaften, Tiere, Menschen, ihre Sprachen und Sitten - diese launige Unterschiedlichkeit der Welt der Erscheinungen – dass alles Reflex ist, eine irrwitzige Show in einem Spiegelkabinett, aus dem er nicht hinausfindet.
Unwissenheit macht den Menschen glauben, die Welt und das Leben seien so, wie er sie sich vorstellt. Er ist wie der Fisch im Aquarium, der im Kreis herumpaddelt. Vom Meer, in dem tausende seinesgleichen Kilometer um Kilometer zurücklegen, hat er keine Ahnung.
Exakt so unerfahren wie der Fisch ist auch der Mensch. Doch ist das kein Grund, sich deswegen Schuldgefühle aufzuhalsen. Es ist, wie es ist: Tatsache. Tatsachen haftet keine Emotionalität an. Es sei denn, der Mensch selbst projiziert Emotionen in Tatsachen hinein. Und das tut er leider unaufhörlich. Als Mensch, der nicht an sich arbeitet, ist er auf diesem Auge blind. Er weiss nichts von Arbeit an sich selbst. Niemand hat in aufgeklärt. Er kennt nur das Aquarium. Das ist ihm vertraut, er hat sich darin arrangiert.
Was ist daran falsch? Es zu verlassen? Niemals! Er ist doch nicht verrückt. Das «Elend» des Jetzt ist ihm bekannt. Warum es eintauschen gegen Unbekanntes? Mag sein, er sitzt in einem Gefängnis. Mag sein, er ist blind. Doch welchem vernünftig Denkenden käme es in den Sinn, sich auf einer im offenen Meer treibenden Eisscholle zu installieren, wenn er die Wahl hätte, auf dem Festland zu logieren – auch wenn das Logis vor Enge schmerzt?
So klingen etwa Selbstgespräche, die im Kopf eines Anfängers Runden drehen, wenn das Kartenhaus gewohnheitsmässigen Denkens ins Wanken gerät. Es braucht Mut, sich Unerprobtem zu öffnen, ihm die Chance einzuräumen, in einem Fuss zu fassen. Im Vertrauen darauf, das Biwak auf der Eisscholle zu wählen, sei vielleicht nicht so verkehrt – auch wenn es anmute wie russisches Roulette.
In der inneren Arbeit ist die Rede von „jüngeren“ und „älteren“ Suchenden. Beide, jüngere und ältere, mögen Dutzende von Lebensspannen durchlaufen haben, in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Die jüngeren mit weniger Arbeit an sich selbst, willentlich oder aus Mangel an Gelegenheit. Das Wollen bedingt das Bekommen – die Notwendigkeit bedingt die Möglichkeit. Was nicht heisst, der Mensch packe die Möglichkeit auch beim Schopf. Was, wenn herkömmliche Überzeugungen Vorrang haben? Anhaftungen gebärden sich tückisch: freiwillig geben sie die Kontrolle nicht aus der Hand. Sand in die Augen von Suchenden zu streuen, kann Sucher glauben machen, sie seien doch dran, am Ball, meditierten, übten Yoga, und nicht zu knapp – auch wenn sie vor gewissen Grenzüberschreitungen zurückscheuten, aus reiner Vernunft.
Ein Vogel kann nicht fliegen, ohne von der Erde abzuheben, eine Ente nicht schwimmen, ohne das Festland zu verlassen. Der Mensch Anhaftung nicht aufgeben, solange er auf Sicherheit aus ist, solange er nur so weit zu gehen bereit ist, als es ihn als Person nicht in Frage stellt. Die Psyche hat in jedem Fall Vorrang, darf nicht in Frage gestellt werden, sonst könnten sich Situationen häufen, in denen er vor die Wahl gestellt wird, entweder neue Wege und Verhaltensweisen auszuprobieren oder aber darauf zu verzichten, sich als Mensch auszugeben, der an sich arbeite. Das eine schliesst das andere aus. Entweder er bleibt, wie er ist, wie er sein und gesehen werden will - oder er macht sich auf in Unbekanntes. Im ersten Fall tritt er an Ort, lebt und stirbt «an Ort». Im zweiten Fall entschliesst er sich für das „Altern“: dafür, sich Neuem und Unbekanntem zu öffnen, »Vergangenes» zu verabschieden und Überzeugungen laufend zu hinterfragen. Im ersten Fall mögen sich Gefahren in Grenzen halten. Im zweiten Fall gehen sie Hand in Hand mit ihm. Denn «den nächsten Schritt» kennt er nicht: Vertrauen ist gefragt – nicht Blindheit.
Jemand fragte den Abt, worauf die Überbevölkerung auf der Erde zurückzuführen sei. Der Abt lächelte und antwortete voller Liebe: „Darauf, dass die Menschen nicht mehr ins Nirwana kommen wollen. Sie sind zu begierig auf Leben und voller Angst, die Kontrolle darüber zu verlieren, so sehr, dass sie nicht mehr loslassen können. Sie begreifen nicht, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Gerade in der westlichen Welt ist der Tod aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verbannt worden. Jeder kämpft darum, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Die Medizin selbst unterstützt diese Haltung. In den Ländern der dritten Welt dagegen treibt das schiere Entsetzen vor Auslöschung die Menschen dazu, immer noch mehr Kinder zu zeugen – aus lauter Anhaftung.“
Ein Phänomen, das auch in der Natur zu beobachten ist. Stehen schlechte Winter bevor, produzieren Mäuse wie verrückt Junge, um als Population nicht vor Hunger und Kälte unterzugehen. Ohne Bewusstsein reagiert der Mensch genauso. Das Bewusstsein macht den Unterschied. Begreift er das, wachsen Mut und Bereitschaft, die breit ausgetretenen Pfade der Normalität zu verlassen und Unbekanntem Tür und Tor zu öffnen.
Eine in einem Transportkoffer verpackte Violine klingt nicht. Dafür muss der Musiker sie auspacken, sie stimmen. Dann muss er sich mit ihr dem Publikum im Konzertsaal stellen, sich sehen und hören lassen, im Bewusstsein des Risikos, dass in keinem Augenblick garantiert ist, wie die Musik, die er der Violine entlockt, klingen und ankommen wird. Doch ist er während des Spielens so sehr bei sich selbst, dass ihm alles andere gleichgültig ist und er nur Musik sein will, wird seine Musik die Herzen der Zuhörer zum Klingen bringen und wird sie eine Art von Zauber im Saal verbreiten, die nach dem Konzert weiterwirkt? Das ist die Frage - und gleichzeitig das Geheimnis vom Wissen um den Atem, um die jede Schranke durchdringende Macht des Atems.
Alle Wesen atmen dieselbe Luft. Die Luft, die ich atme, ich im Gegensatz zu dir, gehört nicht mir, so wenig wie sie dir gehört. Luft ist nichts Persönliches. Luft ist eine Form von Materie, wie Licht, wie Klang, oder auf einer anderen Ebene, wie Holz, Stein, wie Fleisch oder Blut. Auch Gedanken sind Materie, ebenso wie Gefühle. Materie ist Phänomen. Jede Form von Phänomen ist demnach Materie. Die Trägersubstanz von Materie könnte Gott genannt werden, oder Allah, Jehova, beziehungsweise Nichtheit. Sie könnte mit „Es“ oder im Prinzip mit irgendeinem Wort bedacht werden. Denn diese „Trägersubstanz“, die nicht Gegenpol ist, entzieht sich der Begrifflichkeit. Kein irdisches Wesen vermag sie zu schauen. Sie zu definieren, bleibt Spekulation. Und da Spekulation zu nichts führt, es sei denn zu Rechthaberei, wird sie im Theravada-Buddhismus auch nicht praktiziert. Für den Übenden kann das enorme Erleichterung bedeuten.
Was mich betrifft, bin ich des Diskutierens schon lange müde. Mir scheint, es bringe tatsächlich nichts, Meinung gegen Meinung ins Feld zu führen. Am Ende ist die eine Seite frustriert, die andere grollt, eine dritte fühlt sich in ihren Ansichten bestätigt und steht als Gewinnerin da. Bin ich mir dagegen bewusst, dass alle Menschen, ich eingeschlossen, dieselbe Luft atmen, erübrigen sich Spekulationen und Diskussionen.
So wie der Mensch als die Trägersubstanz für Bewusstsein angesehen werden könnte, ebenso könnte die Luft als die Trägersubstanz von Gedanken- und Gefühlsformen angesehen werden. Das bedeutet, dass jeder Mensch willkürlich Gedanken- und Gefühlsformen ein- und wieder ausatmet. Alle Menschen, alle Wesen um ihn herum müssen sich demzufolge mit Gedanken- und Gefühlsformen auseinandersetzen, die er ausatmet. Und er muss sich damit auseinandersetzen, was andere ausatmen. Das bewirkt ständiges Geben und Nehmen. Geschieht das unbewusst, führt es zum Phänomen des himmelhoch jauchzen, zu Tode betrübt Sein. Das heisst, die Gedanken und Gefühle fahren Achterbahn, ohne dass irgendwer scheinbar etwas dagegen tun kann.
Praktiziert der Mensch dagegen bewusstes Atmen und lernt diese spezielle Eigenschaft der Luft kennen, hört er von selbst auf, für Überzeugungen oder Meinungen auf die Barrikaden zu steigen. Dann sieht er aus direkter Erfahrung, dass weder Gedanken- noch Gefühlsformen ihm persönlich gehören. Und was hätte es für einen Sinn, für die Richtigkeit der einen oder der anderen zu kämpfen, wenn er sie gar nicht besitzt?
Durch die Vipassana-, die Klarsicht-Meditation lernt der Mensch auch zu verstehen, dass er weder seine Gedanken- noch seine Gefühlsformen ist. Das heisst, dass weder seine Gedanken noch seine Gefühle er sind. Dadurch fällt die Identifikation mit ihnen weg. Und somit auch die Notwendigkeit von Diskussion.
Gleichzeitig wird es ihm möglich, hinter den Phänomenen von Gedanken und Gefühlen den Menschen als solchen zu erkennen. Er begreift, dass die Gedanken und Gefühle nichts dem Menschen Zugehöriges, sondern nur eine Art von Verkleidung sind, die er sich, zum besseren Schutz vor Angriffen, übergezogen hat. Zwar definiert er sich über die Gedanken und Gefühle und glaubt, wirklich so zu sein, wie es ihm diese Phänomene eingeben. Was aber nicht stimmt. Er hat sie sich übergezogen, um weniger nackt, weniger hilflos dazustehen. Wer wäre er auch ohne diese Verkleidung? Nichts? niemand? - Oder einfach Atem, Präsenz?
„Nichts“ kann nur in der Polarität von „etwas“ existieren. Sogar das, was in der inneren Arbeit „Leere“ genannt wird, enthält nicht nichts.
Wird der Mensch fähig, einen anderen Menschen losgelöst von dessen Gedanken und Gefühlen zu sehen, kommt er der Natur von Substanz auf die Spur. Es wird gesagt: „Er sieht Energie.“ Obwohl auch das keine sehr glückliche Bezeichnung ist. Auch Energie ist nichts Persönliches, Substanzielles. Ein Mensch – ebenso wie jede andere Erscheinungsform – hat die Möglichkeit so und so viel Energie zu manifestieren, genauso wie ein Gefäss die Möglichkeit hat, einen oder mehrere Liter Flüssigkeit in sich aufzunehmen. Über die Qualität des Gefässes sagt das nichts aus.
Das ist eine Beobachtung, die auf der Fähigkeit basiert, andere losgelöst von ihren vermeintlichen Gedanken und Gefühlen wahrzunehmen - weil der Mensch gelernt hat, sich selbst losgelöst davon zu erfahren. Dazu befähigt hat ihn die Arbeit mit dem Atem.
Je mehr er in sich selbst zurückgeht, durchlässiger und durchsichtiger wird, desto mehr spiegelt sich das in seiner Umwelt wider. Die Arbeit an sich selbst wird nicht umsonst der Weg zurück, zurück zum Ursprung genannt. Er könnte auch als „der Weg weg von Anhaftung“ bezeichnet werden.
Je mehr der Mensch also von sich selbst absieht, das heisst, je weniger er an einer Vorstellung von sich haftet, desto weniger haftet er an Vorstellungen von anderen. Freiheit kommt ins Spiel. Das macht Leben auf unfassbare Weise einfach. Es wird durchsichtig wie Kristall.
Gefangen in persönlichen Anschauungen, ist der Mensch blind, dumpf und umständlich.
Zu «altern» bedeutet für Übende demnach: Widerstände lösen sich auf – dank des Erkennens der unbeständigen Natur von Leben, dank seiner Substanzlosigkeit - die Schülergeige ist zur kostbaren Konzertvioline mutiert. Über den Wert der Violine sagt diese Behauptung nichts aus. Beide Violinen erfüllen ihren Zweck. Eine Konzertgeige in den Händen eines Anfängers wirkte deplatziert. Er wüsste nichts damit anzufangen. Es braucht den Meister.
Zusammenhänge zu erkennen, hilft, unparteiisch zu werden. Wie das? Indem der Mensch zuerst sich selbst beobachtet, den Raum umkehrt, sich selbst gegenüber unparteiisch wird.
Das öffnet die Sicht auf die unermessliche Bandbreite von Existenz, von menschlicher, tierischer, pflanzlicher – aber auch von göttlicher Existenz. Das Verurteilen seiner selbst, schürt das Verurteilen anderer. «Gott» Attribute, Namen, Gedanken und Gefühle anzuhängen, verhüllt, erstickt die Schau, erstickt den Suchenden selbst, erstickt sein Innerstes bis zur Unkenntlichkeit.
Unvoreingenommenheit führt zur Auflösung von Anhaftung. Der Sucher ist nun: hoffnungslos auf sich allein gestellt.
Wozu braucht er «Hoffnung», wenn er erwacht ist?!
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Von einem berühmten Lehrer, der schon lange tot ist, stammt der Satz: „Der Mensch ist ein Transformer feinstofflicher Energie.“
Und vom Abt, einem der heutigen Lehrer, stammt der Hinweis: „Behalte nie etwas für dich allein. Gib alles, was dir gegeben wird, gib vor allem die Verdienste, die du dir durch deine Arbeit an dir selbst erwirbst, laufend weiter. Widme das, was du an Substanz gewinnst ohne Unterschied allen fühlenden, sichtbaren und unsichtbaren Wesen zur Hilfe, jeden Tag, mit jedem Atemzug und jedes Mal am Ende deiner Meditation.“
Es ist in der inneren Arbeit unabdingbar, Geschehnisse ununterbrochen im Fluss zu halten. Das Fahrzeug, das dem Menschen dafür gegeben worden ist, besteht im Atem. Genau so wie die Wellen des Meeres pausenlos heranrollen und sich zurückziehen, genauso strömt auch der Atem pausenlos ins Dasein "hinein" und aus ihm "hinaus". Vorausgesetzt, der Mensch erlaubt es dem Atem. Vorausgesetzt, er ist sich dieses Vorgangs bewusst und gibt sich ihm hin, vorbehaltlos, wie sich ein Blatt vom Wind wiegen lässt. Geschieht das bewusst, verändert sich das Leben des Menschen - zuerst unmerklich, dann markant. Das ist ein Naturgesetz. Es funktioniert. Nach dem gleichen Prinzip, nach dem "steter Tropfen den Stein aushöhlt".
Wie war es, bevor ich lernte, mir des Atems bewusst zu sein? Mir scheint, ich glich einem Fisch auf dem Trockenen, der verzweifelt nach Luft schnappte, beziehungsweise nach Atem rang. Ich wusste nicht, wie es ist, wenn Atem fliesst – wenn ich zulasse, dass Atem durch mich und in mir drin strömt, vibriert, klingt.
Ja: der Weg zum Erkennen dessen, was der Mensch Tag und Nacht mit sich anstellt ist beschwerlich. Die Schwierigkeiten nehmen laufend zu, je mehr er lernt, sich dem Atem zu öffnen, sich ihm hinzugeben, anstatt ihn als selbstverständlich vorauszusetzen, und ihn so zu behandeln wie ein ihm zustehendes Gut, mit dem er nach Belieben schalten und walten darf. Doch gelingt es dem Menschen ein winziges Mal zu erleben, wie sein Körper, wie sein ganzes Wesen im Atem mitfliesst, ist es, als sei er an Energie- und an Kraftreserven angeschlossen worden, von deren Existenz er nicht die leiseste Ahnung gehabt hat. Vielleicht passiert das in einem Augenblick von Hoffnungslosigkeit, wenn er sich, am Boden zerstört, nicht mehr wehrt. Oder es offenbart sich in einem Moment tiefer Enttäuschung darüber, dass er nichts weiss, nichts begreift, dass seine Anstrengung keine Früchte hervorbringt. Oder es passiert in einem Augenblick der Erschöpfung, bedingungslosen Seinlassens, in dem er sieht, dass sein Wollen und Wünschen letztendlich zu keinem Ziel führen kann.
Doch geschieht es, scheint es ihm, als rutschten Lasten von seinem Herzen und er zerströme im Atem, dem kein Widerstand mehr anhaftet. Mag sein, die Nichtigkeit der Idee von Trennung streift ihn, die Phänomene eines Innen und Aussen, eines Diesseits und Jenseits lösen sich auf - das, was er bisher als Wirklichkeit betrachtet hat: die Dinge des täglichen Lebens, Städte, Landschaften, Tiere, Menschen, ihre Sprachen und Sitten - diese launige Unterschiedlichkeit der Welt der Erscheinungen – er sieht, dass alles Reflex ist, eine irrwitzige Show in einem Spiegelkabinett, aus dem er nicht hinausfindet.
Unwissenheit macht den Menschen glauben, die Welt und das Leben seien so, wie er sie sich vorstellt. Er ist wie der Fisch im Aquarium, der im Kreis herumpaddelt. Vom Meer, in dem Tausende seinesgleichen Kilometer um Kilometer zurücklegen, hat er keine Ahnung.
Exakt so unerfahren wie der Fisch ist auch der Mensch. Doch ist das kein Grund, sich deswegen Schuldgefühle aufzuhalsen. Es ist, wie es ist: Tatsache. Tatsachen haftet keine Emotionalität an. Es sei denn, der Mensch selbst projiziert Emotionen in Tatsachen hinein. Und das tut er leider unaufhörlich. Als Mensch, der nicht an sich arbeitet, ist er auf diesem Auge blind. Er weiss nichts von Arbeit an sich selbst. Niemand hat in aufgeklärt. Er kennt nur das Aquarium. Das ist ihm vertraut, er hat sich darin arrangiert.
Was ist daran falsch? Es zu verlassen? Niemals! Er ist doch nicht verrückt. Das «Elend» des Jetzt ist ihm bekannt. Warum es eintauschen gegen Unbekanntes? Mag sein, er sitzt in einem Gefängnis. Mag sein, er ist blind. Doch welchem vernünftig Denkenden käme es in den Sinn, sich auf einer im offenen Meer treibenden Eisscholle zu installieren, wenn er die Wahl hätte, auf dem Festland zu logieren – auch wenn das Logis vor Enge schmerzt?
So klingen etwa Selbstgespräche, die im Kopf eines Anfängers Runden drehen, wenn das Kartenhaus gewohnheitsmässigen Denkens ins Wanken gerät. Es braucht Mut, sich Unerprobtem zu öffnen, ihm die Chance einzuräumen, in dich drin Fuss zu fassen. Im Vertrauen darauf, das Biwak auf der Eisscholle zu wählen, sei vielleicht nicht so verkehrt – auch wenn es anmute wie russisches Roulette.
In der inneren Arbeit ist die Rede von „jüngeren“ und „älteren“ Suchenden. Beide, jüngere und ältere, mögen Dutzende von Lebensspannen durchlaufen haben, in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Die jüngeren mit weniger Arbeit an sich selbst, willentlich oder aus Mangel an Gelegenheit. Das Wollen bedingt das Bekommen – die Notwendigkeit bedingt die Möglichkeit. Was nicht heisst, der Mensch packe die Möglichkeit auch beim Schopf. Was, wenn herkömmliche Überzeugungen Vorrang haben? Anhaftungen gebärden sich tückisch: freiwillig geben sie die Kontrolle nicht aus der Hand. Sand in die Augen von Suchenden zu streuen, kann Sucher glauben machen, sie seien doch dran, am Ball, meditierten, übten Yoga, und nicht zu knapp – auch wenn sie vor gewissen Grenzüberschreitungen zurückscheuten, aus reiner Vernunft.
Ein Vogel kann nicht fliegen, ohne von der Erde abzuheben, eine Ente nicht schwimmen, ohne das Festland zu verlassen. Der Mensch Anhaftung nicht aufgeben, solange er auf Sicherheit aus ist, solange er nur so weit zu gehen bereit ist, als es ihn als Person nicht in Frage stellt. Die Psyche hat in jedem Fall Vorrang, darf nicht in Frage gestellt werden, sonst könnten sich Situationen häufen, in denen er vor die Wahl gestellt wird, entweder neue Wege und Verhaltensweisen auszuprobieren oder aber darauf zu verzichten, sich als Mensch auszugeben, der an sich arbeite. Das eine schliesst das andere aus.
Entweder er bleibt, wie er ist, wie er sein und gesehen werden will - oder er macht sich auf in Unbekanntes.
Im ersten Fall tritt er an Ort, lebt und stirbt «an Ort». Im zweiten Fall entschliesst er sich für das „Altern“: dafür, sich Neuem und Unbekanntem zu öffnen, »Vergangenes» zu verabschieden und Überzeugungen laufend zu hinterfragen. Im ersten Fall mögen sich Gefahren in Grenzen halten. Im zweiten Fall gehen sie Hand in Hand mit ihm. Denn «den nächsten Schritt» kennt er nicht:
Vertrauen ist gefragt – nicht Blindheit.
Jemand fragte den Abt, worauf die Überbevölkerung auf der Erde zurückzuführen sei. Der Abt lächelte und antwortete voller Liebe: „Darauf, dass die Menschen nicht mehr ins Nirwana kommen wollen. Sie sind zu begierig auf Leben und voller Angst, die Kontrolle darüber zu verlieren, so sehr, dass sie nicht mehr loslassen können. Sie begreifen nicht, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Gerade in der westlichen Welt ist der Tod aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verbannt worden. Jeder kämpft darum, um jeden Preis am Leben zu bleiben. Die Medizin selbst unterstützt diese Haltung. In den Ländern der dritten Welt dagegen treibt das schiere Entsetzen vor Auslöschung die Menschen dazu, immer noch mehr Kinder zu zeugen – aus lauter Anhaftung.“
Ein Phänomen, das auch in der Natur zu beobachten ist. Stehen schlechte Winter bevor, produzieren Mäuse wie verrückt Junge, um als Population nicht vor Hunger und Kälte unterzugehen. Ohne Bewusstsein reagiert der Mensch genauso. Das Bewusstsein macht den Unterschied. Begreift er das, wachsen Mut und Bereitschaft, die breit ausgetretenen Pfade der Normalität zu verlassen und Unbekanntem Tür und Tor zu öffnen.
Eine in einem Transportkoffer verpackte Violine klingt nicht. Dafür muss der Musiker sie auspacken, sie stimmen. Dann muss er sich mit ihr dem Publikum im Konzertsaal stellen, sich sehen und hören lassen, im Bewusstsein des Risikos, dass in keinem Augenblick garantiert ist, wie die Musik, die er der Violine entlockt, klingen und ankommen wird. Doch ist er während des Spielens so sehr bei sich selbst, dass ihm alles andere gleichgültig ist und er nur Musik sein will, wird seine Musik die Herzen der Zuhörer zum Klingen bringen und wird sie eine Art von Zauber im Saal verbreiten, die nach dem Konzert weiterwirkt? Das ist die Frage - und gleichzeitig:
das Geheimnis vom Wissen um den Atem, um die jede Schranke durchdringende Macht des Atems.
Alle Wesen atmen dieselbe Luft. Die Luft, die ich atme, ich im Gegensatz zu dir, gehört nicht mir, so wenig wie sie dir gehört. Luft ist nichts Persönliches. Luft ist eine Form von Materie, wie Licht, wie Klang, oder auf einer anderen Ebene, wie Holz, Stein, wie Fleisch oder Blut. Auch Gedanken sind Materie, ebenso wie Gefühle. Materie ist Phänomen. Jede Form von Phänomen ist demnach Materie. Die Trägersubstanz von Materie könnte Gott genannt werden, oder Allah, Jehova, beziehungsweise Nichtheit. Sie könnte mit „Es“ oder im Prinzip mit irgendeinem Wort bedacht werden. Denn diese „Trägersubstanz“, die nicht Gegenpol ist, entzieht sich der Begrifflichkeit. Kein irdisches Wesen vermag sie zu schauen. Sie zu definieren, bleibt Spekulation. Und da Spekulation zu nichts führt, es sei denn zu Rechthaberei, wird sie im Theravada-Buddhismus auch nicht praktiziert. Für den Übenden kann das enorme Erleichterung bedeuten.
Was mich betrifft, bin ich des Diskutierens schon lange müde. Mir scheint, es bringe tatsächlich nichts, Meinung gegen Meinung ins Feld zu führen. Am Ende ist die eine Seite frustriert, die andere grollt, eine dritte fühlt sich in ihren Ansichten bestätigt und steht als Gewinnerin da. Bin ich mir dagegen bewusst, dass alle Menschen, ich eingeschlossen, dieselbe Luft atmen, erübrigen sich Spekulationen und Diskussionen.
So wie der Mensch als die Trägersubstanz für Bewusstsein angesehen werden könnte, ebenso könnte die Luft als die Trägersubstanz von Gedanken- und Gefühlsformen angesehen werden. Das bedeutet, dass jeder Mensch willkürlich Gedanken- und Gefühlsformen ein- und wieder ausatmet. Alle Menschen, alle Wesen um ihn herum müssen sich demzufolge mit Gedanken- und Gefühlsformen auseinandersetzen, die er ausatmet. Und er muss sich damit auseinandersetzen, was andere ausatmen. Das bewirkt ständiges Geben und Nehmen. Geschieht das unbewusst, führt es zum Phänomen des himmelhoch jauchzen, zu Tode betrübt sein. Das heisst, die Gedanken und Gefühle fahren Achterbahn, ohne dass irgendwer scheinbar etwas dagegen tun kann.
Praktiziert der Mensch dagegen bewusstes Atmen und lernt diese spezielle Eigenschaft der Luft kennen, hört er von selbst auf, für Überzeugungen oder Meinungen auf die Barrikaden zu steigen. Dann sieht er aus direkter Erfahrung, dass weder Gedanken- noch Gefühlsformen ihm persönlich gehören. Und was hätte es für einen Sinn, für die Richtigkeit der einen oder der anderen zu kämpfen, wenn er sie gar nicht besitzt?
Durch die Vipassana-, die Klarsicht-Meditation lernt der Mensch auch zu verstehen, dass er weder seine Gedanken- noch seine Gefühlsformen ist. Das heisst, dass weder seine Gedanken noch seine Gefühle er sind. Dadurch fällt die Identifikation mit ihnen weg. Und somit auch die Notwendigkeit von Diskussion.
Gleichzeitig wird es ihm möglich, hinter den Phänomenen von Gedanken und Gefühlen den Menschen als solchen zu erkennen. Er begreift, dass die Gedanken und Gefühle nichts dem Menschen Zugehöriges, sondern nur eine Art von Verkleidung sind, die er sich, zum besseren Schutz vor Angriffen, übergezogen hat. Zwar definiert er sich über die Gedanken und Gefühle und glaubt, wirklich so zu sein, wie es ihm diese Phänomene eingeben. Was aber nicht stimmt. Er hat sie sich übergezogen, um weniger nackt, weniger hilflos dazustehen. Wer wäre er auch ohne diese Verkleidung? Nichts? niemand? - Oder einfach Atem, Präsenz?
„Nichts“ kann nur in der Polarität von „Etwas“ existieren. Sogar das, was in der inneren Arbeit „Leere“ genannt wird, enthält nicht "nichts".
Wird der Mensch fähig, einen anderen Menschen losgelöst von dessen Gedanken und Gefühlen zu sehen, kommt er der Natur von Substanz auf die Spur. Es wird gesagt: „Er sieht Energie.“ Obwohl auch das keine sehr glückliche Bezeichnung ist. Auch Energie ist nichts Persönliches, Substanzielles. Ein Mensch – ebenso wie jede andere Erscheinungsform – hat die Möglichkeit so und so viel Energie zu manifestieren, genauso wie ein Gefäss die Möglichkeit hat, einen oder mehrere Liter Flüssigkeit in sich aufzunehmen. Über die Qualität des Gefässes sagt das nichts aus.
Das ist eine Beobachtung, die auf der Fähigkeit basiert, andere losgelöst von ihren vermeintlichen Gedanken und Gefühlen wahrzunehmen - weil der Mensch gelernt hat, sich selbst losgelöst davon zu erfahren. Dazu befähigt hat ihn die Arbeit mit dem Atem.
Je mehr er in sich selbst zurückgeht, durchlässiger und durchsichtiger wird, desto mehr spiegelt sich das in seiner Umwelt wider. Die Arbeit an sich selbst wird nicht umsonst der Weg zurück, zurück zum Ursprung genannt. Er könnte auch als „der Weg weg von Anhaftung“ bezeichnet werden.
Je mehr der Mensch also von sich selbst absieht, das heisst, je weniger er an einer Vorstellung von sich haftet, desto weniger haftet er an Vorstellungen von anderen. Freiheit kommt ins Spiel. Das macht Leben auf unfassbare Weise einfach. Es wird durchsichtig wie Kristall.
Gefangen in persönlichen Anschauungen, ist der Mensch blind, dumpf und umständlich.
Zu «altern» bedeutet für Übende demnach: Widerstände lösen sich auf – dank des Erkennens der unbeständigen Natur von Leben, dank seiner Substanzlosigkeit - die Schülergeige ist zur kostbaren Konzertvioline mutiert. Über den Wert der Violine sagt diese Behauptung nichts aus. Beide Violinen erfüllen ihren Zweck. Eine Konzertgeige in den Händen eines Anfängers wirkte deplatziert. Er wüsste nichts damit anzufangen. Es braucht den Meister.
Zusammenhänge zu erkennen, hilft, unparteiisch zu werden. Wie das? Indem der Mensch zuerst sich selbst beobachtet, den Raum umkehrt, und sich selbst gegenüber unparteiisch wird.
Das öffnet die Sicht auf die unermessliche Bandbreite von Existenz, von menschlicher, tierischer, pflanzlicher – aber auch von göttlicher Existenz. Das Verurteilen seiner selbst, schürt das Verurteilen anderer. «Gott» Attribute, Namen, Gedanken und Gefühle anzuhängen, verhüllt, erstickt die Schau, erstickt den Suchenden selbst, erstickt sein Innerstes bis zur Unkenntlichkeit.
Unvoreingenommenheit führt zur Auflösung von Anhaftung. Der Sucher ist nun: "hoffnungslos auf sich allein gestellt".
Wozu braucht er «Hoffnung», wenn er erwacht ist?!
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Es gibt diese besondere Geschichte vom Meister, der Besuch vom König erhielt. „Was kann ich tun, um Erleuchtung zu erlangen“, fragte der König den Meister. Ohne den König anzuschauen und ohne zu antworten, schickte sich der Meister an, Tee in die dafür bereitgestellte Tasse des Königs zu giessen. Die Tasse füllte sich. Der König schaute zu. Die Tasse füllte sich noch mehr. Der König war wie hypnotisiert. Die Tasse lief über. „Haltet ein, Meister“, rief der König verstört, „es hat doch keinen Platz mehr in der Tasse!“ Der Meister stellte den Teekrug auf den Tisch und erwiderte leise, ohne dem König ins Gesicht zu sehen: „Siehst du, genau so verhält es sich mit dir. Du bist so voll von dir selbst. Du läufst über ob der Wichtigkeit deines Amtes, deiner Macht. Wie soll da noch Erleuchtung in dir Platz finden?“ Der König erbleichte und schwieg. Er hatte verstanden. Mit tiefer Ehrerbietung verabschiedete er sich wortlos vom Meister. Sein Pferd überliess er seinem Diener und ging zu Fuss zum Palast zurück.
Geiz und Gier sind Zwillinge und weit verbreitete Phänomene, vorwiegend unter westlich denkenden Menschen. Es sind Phänomene, die sich wie Krebsgeschwüre immer weiter über die Erdkugel ausbreiten. Und sie haben nicht nur mit dem Zusammenraffen von Geld zu tun. Die Schäden, die Geiz und Gier im emotionalen Bereich verursachen, können weit schlimmere Folgen haben. Lieblosigkeit gehört dazu. Gleichgültigkeit ist Teil davon. Ebenso wie Skrupellosigkeit, Dummheit, Arroganz, Brutalität und vieles mehr. Obwohl der Mensch sich dieser Zusammenhänge meistens nicht bewusst ist. In die Kategorie von „Geiz und Gier“ könnte alles eingeordnet werden, was ihn daran hindert, mit dem Leben, mit den Mitmenschen, der Tierwelt, der Natur, mit den spirituellen Welten frei und offen zu kommunizieren – also mit allen Ebenen, die das Menschsein ausmachen. Demnach sind Geiz und Gier die am weitesten verbreiteten Phänomene. Denn wie viele Menschen sind schon frei, offen und unverstellt in sich selbst?
Immer wieder sieht sich der Mensch mit der Tatsache konfrontiert, dass er den Hals nicht voll genug kriegen kann. Er wünscht sich, als ebenbürtiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Er wünscht sich, Mitspracherecht eingeräumt zu bekommen. Er wünscht sich, respektiert, geliebt, beachtet zu werden. Er wünscht sich, dass seine Verdienste, seine Bemühungen honoriert werden. Er wünscht sich – er wünscht sich – er wünscht sich......
Und was ist er dafür zu geben bereit? Davon spricht meistens niemand. Ist eine solche Frage überhaupt statthaft in einer Gesellschaft wie, zum Beispiel, der westlich denkenden, in der es hauptsächlich um Selbstbestätigung, Selbstbefriedigung und Selbstverwirklichung zu gehen scheint?
"Geiz ist geil", ist ein Stichwort der heutigen Zeit. Es könnte nicht eindeutiger ausdrücken, wo der Schuh viele Menschen drückt – und das sicher nicht erst in unserem Jahrhundert.
In der inneren Arbeit gilt, wie schon früher erwähnt, neben vielen anderen Gesetzen das Gesetz der Gegenseitigkeit, das besagt, dass dem Menschen stets nur so viel gegeben werden kann, als er selbst zu geben bereit ist. Einfach ausgedrückt, heisst das: er bekommt eine Blume und gibt eine Blume zurück. Oder er bekommt ein liebes Wort und gibt ein liebes Wort zurück. Oder weiter: er bekommt Segen und gibt Segen zurück. Oder noch weiter: er bekommt einen Atemzug und gibt einen Atemzug zurück. Oder das alles unter einen Hut gebracht: er bekommt Leben und gibt Leben zurück – er bekommt sich, in der ganzen Fülle seiner Möglichkeiten, bei seiner Geburt geschenkt und gibt sich, in der ganzen Fülle seiner Möglichkeiten, während seines Lebens an das Leben zurück. Das wäre demnach die Erfüllung des Gesetzes von Gegenseitigkeit. Doch schaue ich nur schon bei mir selbst nach, sehe ich sofort, dass auch bei mir von solcher Grosszügigkeit nicht immer die Rede sein kann.
So wie dem König, geht es manchen Menschen im Leben einzig darum, zu kriegen, was immer sie kriegen können, und zwar auf allen nur möglichen Ebenen. Und sie merken dabei ebenso wenig wie der König, dass sie schon so voll von dem Ergatterten sind, dass gar nichts mehr in sie hineingeht. Dennoch versuchen sie, stets noch mehr zu erhaschen, noch mehr Eindrücke und Informationen, noch mehr Sinneswahrnehmungen, noch mehr Stimulation des Nervensystems, noch mehr Materielles, Kulturelles, Religiöses, Spirituelles – was auch immer. Vor allem auch darum, um nicht stillstehen zu müssen und um sich zu schauen – in sich hinein - würden sie doch dann direkt mit ihrer Gier konfrontiert, und ihr Geiz würde offenbar.
Gier und Geiz sind wie die beiden Hände des Egos.
Die eine ist die Raffhand, die andere die Klammerhand.
Schwer sind sie geworden, diese Hände, im Laufe meines Lebens. Auch müde und enttäuscht. Sie hängen an mir hinunter wie unnütz gewordene Schaufeln. Denn sogar mir dämmert inzwischen, dass sie, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, letztendlich immer leer bleiben werden.
Leer waren sie, als ich zusammen mit ihnen diese Welt betrat. Leer werden sie sein, wenn ich zusammen mit ihnen diese Welt verlasse. Obwohl ich doch so bemüht darum war, sie mit Dingen zu füllen, an denen mir lag, die ich als kostbar empfand. Ich legte sie um das Haupt des Geliebten und sie zitterten vor Glück. Ich hauchte Gebete der Verzweiflung, der Ekstase in sie hinein und sie entfalteten sich wie Blüten. Ich mistete Ställe mit ihnen aus, wusch, schnitt Gemüse, grub Gärten um. Sie litten unter Kälte und Hitze, waren mit Wunden übersät, wenn ich hinfiel. Und doch ist kein Zeichen davon auf ihnen haften geblieben. Sie sind so unausgefüllt wie eh und je.
Dennoch scheint es, meine Hände haben mehr Verstand als ich. Sie begreifen zumindest, dass sie ein Ding loslassen müssen, um ein anderes ergreifen zu können. Oder etwa doch nicht? Zum Begreifen gehören Weichheit, Sanftheit und Zartheit. Sind meine Hände so?
Eine sehr lange Zeit meines Lebens waren sie es nicht. Rein äusserlich verstanden sie zwar, dass sie nichts wirklich festhalten konnten, ohne handlungsunfähig zu werden. Doch innerlich versuchten sie es dennoch. Sie wurden hart und steif. Und es brauchte sehr viel Arbeit, Aufmerksamkeit und Einfühlsamkeit von meiner Seite, um sie davon zu überzeugen, nachzugeben und sich schliesslich sogar zu ergeben. Diesen Prozess zu beobachten, veränderte mein ganzes übriges Körperverständnis. Je nachgiebiger und leichter meine Hände wurden, desto nachgiebiger und leichter wurde mein restlicher Körper. Und damit einher ging die subtile Auflösung von Geiz und Gier, da immer mehr Angst von mir wich. Über meine Hände lernte ich den Zusammenhang zwischen Geiz, Gier und Angst zu sehen.
Daraufhin fing ich an, mit meinen Augen zu arbeiten. Ich lernte, mir im Spiegel direkt in die Augen zu schauen, und das über mehrere Minuten. Zuerst erschrak ich vor mir selbst. So viel Trauer, so viel Einsamkeit, so viel Ratlosigkeit zeigte sich darin. Es waren die Augen eines halb verhungerten, ausgestossenen Tieres. Ich mochte ihren Blick nicht. Dennoch hielt ich ihm stand. Ich hatte keine Wahl.
Mit der Zeit wandelte sich der Ausdruck meiner Augen. Nun sah mich ein hilfloses, Schutz suchendes Kind aus ihnen an. Es schaute voller Vorwurf auf Ereignisse draussen in der Welt, in denen es sich nicht zurechtfand. Es schaute voller Hass auf Menschen, von denen es dachte, sie hätten ihm Schaden zugefügt. Es bettelte nach Liebe. Es erfand das Selbstmitleid, um andere gefügig zu machen. Mit der Zeit wurde das Kind ordentlich trickreich, um zu erreichen, worauf es Lust verspürte.
Das und vieles mehr fand ich in meinen Augen. Geschichten über Geschichten. Vor allem Geschichten über Tod, Verderben und Verzweiflung. Mir ging auf, dass ich voll von Negativität steckte. Ich definierte mich über die meinem Leben zu Grunde liegende Negativität. Über die hellen, liebenswerten Seiten meiner selbst definierte ich mich so gut wie nie. Stets nur über die dunklen, schwierigen, leidvollen. Mein Leben schien aus nichts anderem als aus Schmerz zu bestehen. Das zu entdecken, war ein Schock.
Über den Atem schmolz die Härte in meinen Händen. Ich versuchte deshalb, dasselbe für meine Augen zu tun. Es funktionierte. Ich weiss nicht einmal, wie lange diese Heilungszeit gedauert hat. Eines Tages entdeckte ich, dass mit meinen Augen etwas geschehen war. Sie waren so leicht, so weich geworden wie meine Hände. Und ihr Blick verurteilte viel weniger oft, wies viel weniger häufig Schuld zu, drückte kaum noch Zorn aus. Und tat er es, merkte ich es sofort, da es sich krank und falsch anfühlte. Wütend auszusehen, verbrauchte zudem viel zu viel Energie. Also liess ich es von selbst bleiben. Es machte keinen Sinn mehr.
In dem Mass, wie sich der Blick meiner Augen veränderte, verwandelte sich auch meine Sicht auf die Welt. Die Dinge sahen dadurch anders aus. Ich stellte mit Erstaunen fest, dass ein liebevoller Blick Liebe erblickt,
anstatt, zum Beispiel, Hass oder Hässlichkeit. Diese Entdeckung glich einem Wunder.
Mit der Zeit griff die Verwandlung meiner Hände und meiner Augen auf den ganzen Rest des Körpers über. Weichheit, Leichtigkeit floss langsam in sämtliche Zellen hinein. Ich sah, wie jede einzelne der Zellen ein vollständiger, vollgültiger Organismus ist. Ich sah, dass jede Zelle Augen hat, Hände, ein Gehör, ein Gespür, pulsierende, vibrierende Lebendigkeit versprüht. –
Ich sehe, dass die Augen jeder Zelle leuchten, wahrnehmen können.
Raum, Weite hat sich hinter dieser Sicht aufgetan.
Anstatt aus den Augen hinaus, habe ich gelernt, durch meine Augen hindurchzuschauen.
Das gibt dem Erschauten eine neue Dimension. Es rückt das Dahinter, das was sich hinter den Dingen offenbart, ins Blickfeld. Viel Platz ist in mir drin dadurch entstanden. Und tiefe Verwurzelung. Das mag paradox klingen. Doch da dieser Prozess nur durch die Arbeit mit dem Atem möglich wurde, war ich gezwungen, mir Zeit zu nehmen, um für mich allein still zu werden. Ich musste lernen, mit mir selbst ruhig dazusitzen. Tief im Körper, im Becken, in jeder Zelle drin. Wie eine Blumenzwiebel, deren Blüte sich nur entfalten kann, wenn die Zwiebel fest in der Erde verankert ist. Sonst fällt sie um und verdorrt.
Das Geheimnis von Leichtigkeit ist ein Geschenk des Atems.
Im Atem lösen sich Geiz, Gier und Angst auf. Und die wahre Natur des Menschseins tritt zutage. Sie definiert sich nicht über Negativität. Sondern über Weite, Fülle und Mitgefühl.
Ich selbst muss mir diese Haltung jeden Tag neu erarbeiten. Leichtigkeit lässt sich nicht fangen und festhalten. Wie ein Schmetterling geht sie kaputt, wenn ich es versuche. Sie ist Duft und Klang, Stille und Reglosigkeit. Sie ist unauslotbar und von unfassbarer Macht. Gedanken und Gefühle kommen nicht gegen sie an. Sie schmilzt die Mauern von Hass, Stolz und Gier, ohne dafür etwas unternehmen zu müssen. Sie blüht auf in der Arbeit mit dem Atem. Ohne Atem bleibt sie ein unbefruchtetes Samenkorn, nicht mehr als eine ferne Möglichkeit im Leben eines Menschen.
Geiz, Gier und Angst können nicht einfach so, durch puren Willen, aus dem Leben verbannt werden. Keine der sogenannt menschlichen Regungen kann der Mensch rein durch Willen aus seinem Leben verbannen. Da es keine Alternative zu Leben gibt, wohin sollten diese elementaren menschlichen Regungen auch verbannt werden? Das Leben besitzt keine Aussenposten für unerwünschten emotionalen Müll. Er bleibt, wo er ist, zeitlebens, bis in alle Ewigkeit. Der Mensch wird ihn nie los. Solange sein Körper, sein Nervensystem und seine Psyche die Dumpfheit und die Dichte manifestieren, die der Ebene von Geiz, Gier und Angst entsprechen, werden Geiz, Gier und Angst in ihm drin herrschen.
Erst wenn er zu begreifen lernt, wie das Gesetz von Gegenseitigkeit funktioniert und aufhört, das Leben für sich allein zu beanspruchen, die Dinge des Lebens besitzen, sich das Leben untertan machen zu wollen, lösen sich Dumpfheit und Härte auf. Sie lösen sich auf wie Gewitterwolken am Himmel, nachdem sie sich entleert haben – in einem Prozess der Reue, könnte man sagen. Zwischen der Ebene von Geiz, Gier, Angst und derjenigen von Leichtigkeit, liegt die Ebene des Schmelzens. Es ist eine Ebene, die mit Feuer zu tun hat, mit Hitze und Konfrontation. Eine Art von Bergwerksatmosphäre herrscht dort. Knochenharte Arbeit wartet dort auf den Übenden. Der Vorgang des Schmelzens funktioniert nur über Hitze und Feuer. Auch Wasser muss zuerst gekocht werden, bevor es sich in Form von Dampf verflüchtigt. Und innere Arbeit ist nichts aus dem irdischen Leben Herausgehobenes. Im Gegenteil. Innere Arbeit folgt den physikalischen Gesetzen des Lebens sehr präzise. Etwas Bodenständigeres als innere Arbeit gibt es nicht. Sie setzt haarscharfe Wahrnehmungsfähigkeit, einen glasklaren Verstand und einen eisernen Willen voraus. Diese Eigenschaften darf der Mensch nicht dazu benützen, sich durch sie in irgendeiner Form zu bereichern, nicht einmal emotional. Diese Eigenschaften dienen nur als Zündstoff, der sein gesamtes Wesen in eine verfeinerte Gangart erhebt, vom schwerfälligen Tritt eines plumpen Riesen ins feinfüssige Tanzen einer Elfe – als Beispiel.
Konkret gesagt, bedingt das Gesetz der Gegenseitigkeit, dass der Mensch nichts, das ihm gegeben wird, weder Schmerz noch Freude als selbstverständlich hinnimmt, dass er demnach auch nichts, das ihm gegeben wird, weder Schmerz noch Freude, ablehnt, sondern stets zumindest „danke“ dafür sagt.
Es gibt Situationen im Leben, die das Nervensystem so hart treffen können, in positiver oder negativer Hinsicht, dass es einem Menschen vielleicht nicht sofort möglich ist, dafür zu danken. Dann sollte er das nachholen, sobald er wieder zur Besinnung gekommen ist. Er sollte für jeden Tag danken, ungeachtet dessen, wie er gelaufen ist. Dankbarkeit im ganzen Körper - vibrierende, pulsierende Dankbarkeit - sollte zu seiner zweiten Natur werden, zur Haupttriebfeder seines Lebens. Diese Haltung wird es möglich machen, dass er sein Leben anders wahrnimmt, mit frischen Augen anschaut. Sein Leben wird sich um hundertachtzig Grad drehen dadurch. Aus diesem neuen Blickwinkel betrachtet, wird nichts mehr so aussehen, wie es ihm früher vorgekommen ist. Er mag sich an den Kopf greifen und ausrufen:
„Warum erkenne ich das erst jetzt? Was habe ich all die Jahre über getan? Wo ist die Zeit geblieben?“
Das ist eine Phase in der inneren Arbeit, die durchlaufen werden will. Sie geht vorüber. Was bleibt, ist immer mehr sich ausbreitende Dankbarkeit. Das Jammern und das Klagen verlieren sich. Auch an ihre Stelle tritt Dankbarkeit - nicht Dankbarkeit als Gefühl, sondern Dankbarkeit als innerer Zustand, der keinen äusseren Bedingungen mehr unterworfen ist.
Nun erkennt der Mensch auch, wie reich sein Leben tatsächlich ist, wie reich Leben an sich tatsächlich ist, das Geschenk, das es bedeutet, als Mensch geboren worden zu sein. Denn nur als Mensch ist es ihm möglich, so an sich zu arbeiten, dass ihm eines Tages Befreiung zuteil werden kann.
Als Mensch, der nur darauf aus ist, Bestätigung, Zustimmung, Beachtung oder was auch immer zu kriegen, ist er so arm wie der elendeste der Bettler.
Als Mensch, dessen Leben in Dankbarkeit wurzelt, ist der Mensch mächtiger als der mächtigste der Herrscher.
Dankbarkeit macht ihn wach für die Bedürfnisse anderer, für Hilfe, die gebraucht wird, dafür, das Leben in seiner reichen Vielfältigkeit zu erkennen und anzunehmen.
Vipassana - (Klarsicht) - Meditation ist der Schlüssel zu Dankbarkeit. Dankbarkeit ist der Schlüssel zu Freiheit.
LEBEN IST
Leben hat weder Augen
Noch Ohren
Noch Mund –
Es handelt nicht,
Noch geht es umher –
Und ist doch Schau,
Klang
Und Tat.
Machtstreben und Geltungssucht
Lassen es kalt.
Überschwang und Ekstase
Reissen es nicht mit.
Von menschlichem Ehrgeiz und Strampeln
Wird es weder befleckt noch verstümmelt.
Traumlos
Ist es überall und nirgendwo.
Weder Gewalt noch Verliebtheit
Vergrössern oder vermindern es.
Dem EINEN HERZEN entspringend,
Im EINEN HERZEN ruhend,
Ist es niemandes Gesetz unterstellt.
Menschen erklimmen Throne,
Schwelgen in Talenten,
Glauben, Geschichte zu schreiben –
Werden weggespült,
Gesichtslos und ohne Spur.
Leben IST,
Von keiner Zeit berührt.
*********************

Einmal mehr stand eine Meditationsklausur vor der Tür. Und einmal mehr freute ich mich sehr darauf.
Der März dieses Jahres war eiskalt gewesen. Unmengen von Schnee fielen innert weniger Stunden vom Himmel und rissen mit ihrem Gewicht Hunderte von Bäumen um, so dass Wald- und Landstrassen zum Teil während Tagen unpassierbar wurden.
Als es hätte Frühling werden sollen, trug ich noch wochenlang Mantel, Kappe und Handschuhe. Der Winter wollte nicht weichen. Ich war energielos und übellaunig. Auch deshalb sehnte ich mich nach der Stille und der Geradlinigkeit der Klausurtage. Und so verbrachte ich die ersten paar Tage der Klausur hauptsächlich froh und glücklich darüber, dem Alltagsstress für eine gewisse Zeit entronnen zu sein. Ich saß nur da und ging vor mich hin, ohne überhaupt zu merken, wie wenig ich mich dabei konzentrierte. Erst als der Meditationsmeister anfing, meine Augen auf eine gewisse erstaunte Weise zu mustern, dämmerte mir, dass ich im Kloster nicht wirklich angekommen war. Das änderte meine Haltung abrupt. Die Meditation bekam Tiefgang. Und die vermeintliche Ruhe und Gelassenheit schwanden jäh.
Es wurde die anstrengendste aller bisherigen Klausuren für mich. Es schien nichts mehr da zu sein, auf das ich mich beziehen, auf das ich zurückgreifen, auf das ich mich verlassen konnte. Ich pendelte zwischen Verstimmung und Euphorie hin und her. Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht, mich in ein Mauseloch verkrochen. Ich fühlte mich unsicher und zutiefst ungeschützt. Nichts hatte ich unter Kontrolle. Visionäre Bilder gewährten mir zwar tiefe Einblicke in Zusammenhänge, die mir wertvoll erschienen. So wurde mir in einer duftigen, wundersamen Erscheinung vor Augen geführt, dass transzendentes Sein weder weiblich noch männlich, sondern neutral ist, was der Meditationsmeister schmunzelnd bestätigte. Auch geriet ich in Zustände solch tiefer Versenkung, dass alles, was ich je dachte, gewusst zu haben, in Zweifel gezogen wurde. Aber etwas fehlte. Ich suchte wie verrückt nach dem Ende eines Fadens, den ich glaubte, aus der Hand verloren zu haben.
Das Zusammensein mit der Gruppe der übrigen Meditierenden empfand ich als so beengend, ohne zu wissen, weshalb, dass ich mir einen Stuhl vor den Meditationsraum hinter einen Container für Pet-Flaschen stellte. Zwar gingen dort Meditierende und Gäste des Klosters ständig an mir vorüber, doch das störte mich weit weniger. Dass ich an der frischen Luft weilte und für mich allein, war die Hauptsache. Ich gewöhnte mir an, schon frühmorgens, um halb sechs Uhr auf meinem Stuhl zu sitzen, eingewickelt in Tücher und in eine ärmellose Felljacke. Die Kühle des Morgens hinderte mich am Einschlafen. Auch für die Gehmeditation blieb ich im Freien.
Eines Morgens kauerte ich schon knapp nach fünf Uhr auf meinem Stuhl. Im Freien zu meditieren, schärfte meine Konzentration. Es war beißend kalt. Ein hauchfeiner Wind zog an meiner Nasenspitze vorüber. Ich richtete meinen Blick in ihre Richtung und Stille kehrte ein. Da gewahrte ich eine Art von Wirbel, ein hauchzartes, feinstoffliches Etwas, das auf mich zuhielt. Es schwebte über dem Boden in Kniehöhe vor mir. In mir tauchten die Wörter auf: „Wenn ich diesem Ding nun meinen Körper gebe, entsteht Frieren. Und wenn ich darauf dem Frieren meinen Körper gebe, entstehen Elend und Trostlosigkeit. Und gebe ich Elend und Trostlosigkeit meinen Körper, entsteht daraus eine überaus missliche Lage, die Selbstmitleid Vorschub leistet.“
Wieder ohne zu denken, zeigte sich in mir der Entschluss, der Erscheinung meinen Körper nicht zu geben, sondern sie dorthin zurück schweben zu lassen, von woher sie gekommen war. Ich sah, wie sich das feinstoffliche Etwas umwandte und in nichts auflöste. Immer noch befand ich mich in Meditation, ohne Gedanken und Gefühle. Ich beobachtete nur und fror nicht. Auch später holte mich das Frieren nicht ein. Mir war wohlig warm, als ich mich zum Frühstück von meinem Stuhl erhob.
Als ich das Geschehen später dem Meditationsmeister erzählte, voller Freude über meine Entdeckung, durchforschte er mit seinem Blick meine Augen auf diese besondere, fragende Weise, die ich immer dann an ihm bemerkte, wenn er mich auf etwas aufmerksam machen wollte. Der Meister sagte gedehnt: „Nun kennst du also das Prinzip von Schöpfung.“ Dann schwieg er, seinen Blick unbeirrt in meinem. Ein paar Augenblicke später fügte er wie beiläufig hinzu: „Ich persönlich sehe in der Meditation nichts.“ „Aber wie soll ich lernen, wenn ich in der Meditation nichts sehe“, rief ich erstaunt aus. „Ich sehe nichts – und lerne“, entgegnete der Meister leise. Mit dieser Bemerkung entließ er mich.
Über die Jahre der Arbeit hinweg hellhörig geworden, lausche ich jedes Mal gespannt auf das, was der Meditationsmeister während den Klausuren von sich gibt. Die Schlüsselsätze sagt er meistens unverhofft, nebenbei, kaum hörbar. Entweder der Übende kriegt sie mit - oder eben nicht.
Die Klausur ging zu Ende.
„Ich sehe nichts – und lerne“, war der Schlüsselsatz, den der Meister mir auf den Weg gegeben, den er mir wie einen Stempel ins Herz gedrückt hatte.
Der Satz bewirkte nicht sofort etwas in mir. Am ersten Tag nach der Klausur herrschten vorwiegend Stille und Dankbarkeit. Dann jedoch braute sich etwas in mir zusammen, das mir den Boden unter den Füssen wegzog. Ich stürzte in Höllen von Zweifel, Schmerz und Grauen, wie ich sie seit vielen Jahren nicht erlebt hatte. Der Inhalt der Büchse der Pandora ergoss sich wie eine Flut über mich. Und ich war dem Ansturm schonungslos ausgeliefert. Er dauerte drei Tage. Wie nicht von dieser Welt, versuchte ich, meine Arbeit zu verrichten, als sei nichts geschehen. Nach Ablauf der drei Tage fühlte es sich an, als breche mit Getöse eine meterdicke Betonmauer in mir entzwei.
Von da an zeigten sich keine Erscheinungen mehr. Und das Einzige, das für mich seither noch Sinn macht, ist, dem Weg ohne Wenn und Aber zu folgen und dabei weder nach rechts noch nach links zu gieren.
Seitdem ich unmittelbar an mir selbst erlebt habe, wie Schöpfung funktioniert, wie effektiv mein Gehirn in jedem Augenblick durch Gedanken, Gefühle, Ansichten und Meinungen den nächsten Augenblick meines Lebens aufgleist, hat sich auch meine Meditationshaltung geändert. Es liegt mir nichts mehr daran, mich für etwas zu engagieren, das mit der inneren Arbeit nichts zu tun hat oder mich an Vorstellungen davon zu klammern, wie Dinge in meinem Leben zu sein hätten. Ich erschnüffle meinen Weg wie ein Hund, lebe ohne Umschweife, noch kompromissloser als zuvor, geradlinig, unkompliziert. An Zerstreuung und Zeitvertreib bin ich kaum noch interessiert. Die Bedeutung von Reinheit hat dadurch eine viel umfassendere Dimension erhalten.
Nun sehe ich auch die Behauptung, die die Wissenschaft vertritt:
dass das Gehirn über keinen Beobachter verfüge,
in neuem Licht.
Ich habe mich zeit meines Lebens gefragt, weshalb nicht alle Menschen gleichermaßen an sich arbeiten wollen oder können, beziehungsweise, warum nicht viel mehr Menschen ihr Leben und sich selbst einfach ändern, insbesondere dann, wenn sie sich unaufhörlich darüber aufhalten, wie gleichförmig ihr Leben ablaufe, wie zäh und nervtötend, schwierig, schmerzhaft und frustrierend.
Dass Menschen nicht grundsätzlich sehen können, wie ihr Leben abläuft, und wie es zu verändern wäre, konnte ich lange Zeit nur schwer akzeptieren. Zwar erlebte ich an mir selbst, wie qualvoll und unendlich langwierig das Umlernen ist. Doch mein Leben fraglos zu erleiden, ohne nicht wenigstens zu versuchen, es in die eigenen Hände zu nehmen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Wer sonst, wenn nicht ich, sollte dafür zuständig sein? Wer sonst, wenn nicht ich, sollte es in die richtigen Bahnen lenken, zumindest in die Bahnen, von denen ich überzeugt war, sie seien die richtigen?
Schaue ich heute auf mein Leben zurück, sehe ich genau, dass auch mein Weg in keiner Art und Weise dem entsprach, das ich mir als Weg ursprünglich vorstellte. Und selbstverständlich gebe auch ich zu, dass manches, von dem ich glaubte, es müsste in meinem Leben Platz finden, sich nicht einmal ansatzweise realisieren ließ. Der „Opfer“, die ein Leben, wie ich es anstrebte, bedarf, war ich mir überhaupt nicht bewusst. Auch der „Gewinne“ nicht, die mir dadurch zuteilwurden. Selbst mein Gehirn dachte sich mein Leben rosig aus, erfolgreich und mühelos. Irgendwann, so glaubte ich, wären meine Probleme gelöst und könnte ich aus dem Vollen schöpfen, ohne dass es dadurch weniger würde. Auch ich habe mich von meinem Gehirn an der Nase herumführen lassen. Und das geschieht zuweilen noch. Es ist des Menschen Los, sich selbst etwas vorzumachen – auch um sich selbst vermeintlich zu schützen.
Hätte ich gewusst, wie unerbittlich "der Weg" ist, ich hätte vielleicht die Kraft gar nicht aufgebracht, ihn durchzustehen. Mag sein, ich hätte, ob der Beschwerlichkeit, die Motivation verloren. Zum Glück gab es in meinem Gehirn diese Instanz, die mir stur jede Möglichkeit verbaute, kampflos aufzugeben.
In der Vipassana-Meditation würde ich mich für dieses Beharrungsvermögen allerdings nicht bei meinem Gehirn, sondern bei meinem Karma bedanken. Im Karma liegt das über viele Lebensspannen hinweg eingebrachte Potenzial gespeichert, auf dessen Hilfe ich mich in diesem Leben stützen kann. Im Karma liegen demzufolge die gesammelten Erfahrungen abrufbereit, die den Weg pflastern, auf dem ich im jetzigen Leben unterwegs bin. Im Karma ist die Ebene meines Seins in diesem Leben aufgezeichnet. Die Frage ist nur, wie viel Kraft, Mut und Durchhaltevermögen ich im gegenwärtigen Leben dazu erwerben kann und will, um mit diesem Potenzial in Kontakt zu kommen. Was gleichbedeutend ist mit der Frage:
Wieviel Präsenz erlangt der Beobachter in mir?
Das Gehirn allein erkennt die Möglichkeiten nicht, die im Menschen verborgen liegen. Dafür braucht es den Beobachter. Und der ist viel umfassender als das, was allgemein unter Bewusstsein verstanden wird.
Nehme ich als gegeben an, dass das Gehirn keinen Beobachter hat, wird klar, dass ein Mensch, den innere Arbeit nicht kümmert, der einfach das Bild, das er sich von sich macht, für den Mittelpunkt seines Lebens hält, keine Notwendigkeit sieht, sich zu ändern. In seinen Augen hat sowieso er Recht, und im Unrecht sind die anderen.
In Wirklichkeit gibt es im Gehirn keine fest umrissene, zentrale Instanz, die für das Denkvermögen, die Sprache oder das Entstehen von Gefühlen zuständig ist. Das Gehirn ist ständig mehr oder weniger als Ganzes an der Entstehung von Emotionen beteiligt. Und das ohne Unterlass. Wie eine Maschine, die sich verselbständigt hat, ist das Gehirn Tag und Nacht ununterbrochen auf Produktion geschaltet. Es irrlichtert pausenlos in ihm. Der Mensch ist nicht fähig, das Ausmaß dieses Geschehens wahrzunehmen. Es läuft dafür viel zu rasant ab. Je weniger der Mensch sich seiner bewusst ist, desto ausgelieferter ist er diesem Ansturm. Er hat keine Kontrolle darüber. Er wird davon vorwärtsgepeitscht, ob er will oder nicht. Wie ferngesteuert folgt er den Eingebungen des Gehirns. Das Bild, das er sich von sich sowie von seinem Leben zurechtgelegt hat, ist sein einziger Wegweiser. Dieses Bild zementiert er ständig neu und macht es dadurch stabiler und krisensicherer. So lange, bis es seinen gesamten Horizont zugemauert hat. Er wird blind für die Wahrnehmung von etwas anderem als von seiner persönlichen Vorstellung von Leben. Sein Selbstbild prägt sein Dasein so ausgesprochen, dass er für etwas außerhalb davon kein Gespür entwickelt.
Außerhalb seines Selbstbildes ist die Welt für ihn zu Ende.
Diese Haltung mancher Menschen prägt auch die Beziehungen zwischen ihresgleichen. Die Kluft zwischen Menschen wird unüberbrückbar, wenn der Einzelne seine persönliche Wirklichkeit für die absolute Wirklichkeit hält. Dazu kommt die grundsätzliche Feindschaft, das Misstrauen, das durch diese Einstellung im Menschen genährt wird. Die Unbeständigkeit von Existenz wird zur Bedrohung. Sich noch mehr in seinem Selbstbild einzumauern, scheint das einzige Hilfsmittel zur Rettung. Wie vielen läge etwas daran, die Ursache für solches Missgeschick bei sich selbst zu suchen und sich und sein Leben von Grund auf zu verändern? Bräuchte es dafür doch einen Beobachter. Und auf den kann nicht einfach zugegriffen werden. Den kann nur der zu sehen anfangen, dessen Selbstbild Risse bekommt. Sei es durch unverhoffte Ereignisse, die ihn hilflos zurücklassen. Sei es, indem er bewusst anfängt, Dinge entgegen seiner sonstigen Gewohnheit andersherum anzupacken oder entgegen seiner gewohnten Vorstellung zu denken und zu sprechen, was viel Energie, Risikobereitschaft und Willen benötigte.
Indem der Mensch anfängt, sein Bild von sich selbst zu sabotieren, lernt er zu verstehen, dass dieses Bild das Problem ist. Dann kann er mit dessen Demontage beginnen. Nur so zeigt sich dem Menschen auch die Notwendigkeit von Arbeit an sich selbst.
Leben als solches ist vollständig neutral, absolut unparteiisch. Solange der Glaube an die Wirklichkeit des Selbstbildes besteht, erscheint diese Behauptung als unverschämt und inakzeptabel. Je mehr der Beobachter im Menschen zutage tritt, je stärker seine Klarsicht wird, desto offensichtlicher wird der Irrglaube. Je machtvoller der Beobachter, desto klarer die Wahrnehmung, dass Geist und Körper nicht dasselbe sind. Und ebenso, dass das Selbstbild mit Leben an sich nicht identisch ist. Der entwickelte Beobachter ist neutral und unparteiisch wie das Leben selbst. Er schwatzt nicht, wälzt keine Emotionen, denkt nicht.
Im Beobachter herrscht Stille, einspitzige Konzentration, atemvolle Präsenz und Unschuld. Die Brücke zwischen Selbstbild und Beobachter bildet der Atem. Ohne Focus auf den Atem, bleibt Bewusstheit Utopie.
Wo der Beobachter sich im Menschen befindet, kann nicht gesagt werden. Da er der Dimension von Ortlosigkeit entstammt, also nicht Person ist, kann der Mensch nicht beim Beobachter klingeln und ihm das "Du" anbieten.
Alles im relativen Leben, im Alltagsleben, wie der Mensch es normalerweise kennt, hat seine Zeit. Das Leiden, das Ausgeliefertsein hat seine Zeit. Das Verurteilen, Kämpfen und Bestrafen haben ihre Zeit. Das langsame, schmerzhafte Aufwachen hat seine Zeit. Und die Realisation hat ihre Zeit.
Zeit in der relativen Welt muss durchlitten, muss ausgestanden werden. Daran führt kein Weg vorbei. Die Meditationsarbeit kann das Zurücklegen dieses Wegs massiv beschleunigen, jedoch nicht eliminieren. Es braucht Entscheidungsfähigkeit und das freiwillige Überwinden eigener Trägheit sowie persönlicher Gleichgültigkeit. Jemandem, der an sich arbeiten will, sollte klar werden, dass er nicht der Bauchnabel der Welt ist, sondern dass ebendiese Vorstellung die Illusion ist, die ihn gefangen hält. Erst wenn er ausgiebig gelitten hat, wird er aufgeben und loslassen.
Leben ist unfassbar gerecht Und es hat alle Zeit der Welt. Es handelt nicht, greift nicht ein. Leben IST.
Durch solche Realisation wird auch die Natur von Karma auf vertiefte Weise begreiflich. Eingekerkert in seinem Selbstbild, kann kein Mensch die Natur von Karma und ebenso wenig die Natur des eigenen Karmas erfassen. Eingekerkert in seinem Selbstbild sieht er nicht, wie umfassend Leben ist, wie grenzenlos und uneingeschränkt. Eingekerkert in seinem Selbstbild erkennt er sich nicht in Beziehung zu etwas anderem, in Beziehung zu dem, was ist. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes "beziehungslos". In seinem Selbstbild sitzt er fest wie in einem Vakuum. Dass er dieses illusionäre Gefängnis sprengen könnte, begreift er nicht. Das Verständnis für die Begrenztheit seiner Wahrnehmung geht ihm ab. Einzig die dem Menschen innewohnende Instanz des Beobachters könnte ihn lehren, dass die Begrenztheit hausgemacht, dass sie Illusion ist.
Ein einziger achtsamer Atemzug könnte ihn vielleicht sogar daraus befreien. Ein einziger achtsamer Atemzug, im Innehalten, im „einen Augenblick“.
Jeder Atemzug ist der erste und einzige, der dem Menschen gegeben ist. Jeder vorausgegangene ist schon Vergangenheit. Jeder zukünftige noch nicht eingetroffen. Also bleibt nur der gegenwärtige zum Aufwachen:
Jetzt und immerdar jetzt.
Nach dieser Meditationsklausur erschien mir Leben so neu und unbekannt, als sei ich auf eine Ebene versetzt worden, die ich nie zuvor realisiert hatte. Diese Wahrnehmung sowie die Perplexität, die sich daraus ergab, veranlassten mich, zum Meditationsmeister zu sagen, ich habe weder Vergangenheit noch Zukunft übrig, ich fühle mich, als gehe ich auf Luft, ohne zu wissen, wohin. „Au fein“, antwortete der Meister mild, „dann kannst du ab jetzt frei entscheiden, was du tun willst, jeden Tag und in jedem Augenblick.“
Der Mensch ist das einzige Wesen auf der Welt, das Grenzen, Begrenzungen hinter sich zu lassen vermag. Die Hingabe an die Meditation, das Zerfließenlassen von Widerständen, das sich mehr und mehr Lösen von Vorstellungen, lässt Begrenzungen zu Räumen mutieren, die mühelos durchschritten werden können. Das Gehirn erschafft aus Grenzen Mauern, die sich der Entfaltung des Menschen in den Weg stellen. Die Meditationsarbeit macht diese Mauern durchlässig und lässt sie schmelzen.
An seinem ersten Todestag erfuhr meine Freundin, deren Mann ich anhand des "Totenbuches" begleitet hatte, dass auch sie an Krebs leide, an Krebs im Endstadium. Auf den Röntgenbildern waren Metastasen im ganzen Körper zu erkennen. Die Ärzte gaben ihr noch zwei Wochen Zeit.
Das war vor neun Monaten. Dank der Hilfe durch die Meditation hat sie sich, nach anfänglichem Schock, emotional in ziemlich kurzer Zeit so weit erholt, dass ihre innere Haltung sich stabilisierte. So wie ihr Mann, verzichtet sie auf invasive Präparate und Therapien. Dadurch hat sie ihre Selbständigkeit behalten. Bis vor zwei Tagen lebte sie allein in ihrer Wohnung, oft besucht und regelmäßig betreut von ihrer Familie und von Freunden. Es herrschte, wie bei ihrem Mann, reges Kommen und Gehen.
Dann, als ihre Kraft anfing nachzulassen, da Atemnot und daraus resultierende Angstzustände ihr zu schaffen machten, entschied sie sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden, ihr Leben in einem Sterbehospiz zu beenden. Ihr Entschluss war so unumstößlich, dass sie sofort den dafür geeigneten Ort fand. Ihre Fenster schauen auf einen Fluss, eine Uferpromenade mit stattlichen Ulmen und eine steinerne Brücke. In der ersten Nacht im neuen Bett schlief sie so tief wie seit Wochen nicht mehr.
Meine Freundin ist entspannt, gefasst und im Einverständnis mit sich selbst und ihrer Lage. Die Betreuung, die sie erfahren darf, ist ausgezeichnet. Sie wird sehr verwöhnt. Und zum ersten Mal in ihrem Leben kann sie das auch genießen. Denn zeit ihres Lebens verstand sie sich als diejenige, von der unbedingte Stärke erwartet wurde. Nun lernt sie das Nachgebendürfen und ist dankbar dafür.
Grenzen erweisen sich für den, dessen Blick sich geklärt hat, als offen zugängliches, freies Gelände, das ihn mitnichten am Fortkommen und in seiner inneren Entwicklung behindert.
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In diesem Jahr zeigte sich der Januar von sehr freundlicher Seite. Entgegen dem, was wir in unseren Breitengraden sonst von ihm gewohnt waren, wartete er mit Milde und vielen Sonnentagen auf. Schnee fiel nicht. Und an besonders geschützten Stellen brachen die ersten Knospen auf und Schneeglöckchen schoben ihre weißen Kappen aus der Erde ans Licht.
Meine Freundin fühlte sich froh und zufrieden in ihrem neuen Heim. Ihre Zimmertüre führte auf einen Kreuzgang aus der Zeit der Gotik hinaus. Wenn es ihre Kraft erlaubte, ging sie darin auf und ab, langsam und meditativ wie vor Hunderten von Jahren die Nonnen, die das Kloster im Mittelalter bewohnt hatten. Auch eine barocke Kapelle, in der ein Organist regelmäßig Bach-Präludien übte, befand sich ein paar Türen weiter.
Mit geistiger Nahrung wurde meine Freundin ebenfalls rundum versorgt. Der Abt fragte laufend nach ihr und trug sie in seinen Fürbitten mit sich. Die von ihm geweihte Buddha- Statue stand neben ihrem Bett. Meine Freundin hatte sich Gebete ausgesucht, die ihre Betreuerinnen mit ihr gemeinsam rezitierten. Und sie hatte gebeten, sie möchten sie für sie hersagen, falls der Tag anbreche, an dem sie nicht mehr in der Lage sei, das selbst zu tun. Es fehlte ihr an nichts. Sie empfand das so und entspannte sich von Tag zu Tag. Nach jedem Besuch sagten wir einander ruhig und fröhlich Adieu, als sei es das letzte Mal. Alles wurde besprochen, alles bereinigt, was noch nicht klar und durchlässig erschien. Auch der letzte Schatten wurde von unserer Beziehung weggewischt. Dass wir uns beide wünschten, im nächsten Leben unsere gemeinsame Arbeit dort wieder aufnehmen zu dürfen, wo wir mit ihr aufgehört hatten, verstand sich ohne Worte. Zuletzt erfüllte ich ihr einen Herzenswunsch und malte das Bild, das ihre Todesanzeige schmücken sollte
Ich befand mich auf der Fahrt nach Lumbini in Nepal, auf dem Weg zur Geburtsstätte des Buddhas, als ich von meinem Mann die SMS mit der Nachricht des Todes meiner Freundin erhielt. Eine Nachricht, die nichts anderes in mir auslöste als Stille, Dankbarkeit und hoffnungsfreies Glück. Es gab nichts dazu hinzuzufügen oder davon wegzunehmen. Das Erfassen der Nachricht war einer dieser vollkommenen Augenblicke, in denen Zeit stillsteht und das Empfinden von Mangel verstummt.
Nach Lumbini fuhren wir ausfolgendem Grund:
Die Idee zur Reise stammte vom Abt. Er verspürte den Wunsch, uns Meditierende sowie zusätzliche Interessierte zu den Wirkungsstätten des Buddhas in Nordindien und in Nepal zu führen. Während seinen Lehrreden benutzte der Abt häufig Geschichten aus dem Leben des Erleuchteten. Und natürlich blieben die Geschichten für diejenigen von uns, die nie in die entsprechenden Regionen der Welt gereist waren, mehrheitlich Geschichten, auch wenn sie in direktem Bezug zu unserer Meditationsarbeit standen. Das wünschte der Abt zu ändern.
Als er am Ende einer Meditationsklasse das Reiseprojekt vorstellte, entschied ich mich innerhalb von Sekunden dafür, mitzufahren. Anderes konnte ich mit meinem Schülerstatus nicht vereinbaren. „Der Meister ruft – der Schüler folgt nach.“ Dieser uralte Grundsatz hat auch für mich Geltung. Ich sehe darin keinen Zwang. Nach Indien zu reisen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Indien liege nicht an meinem Weg, dachte ich. Umso glücklicher war ich, als mir der Abt, dank seines Vorschlags, die Entscheidung abnahm. Das machte es spielend leicht, die Vorurteile über ein Indien meiner Vorstellung fallenzulassen und mich der Wirklichkeit zu stellen. Und diese Bereitschaft ersparte es mir, Angst zu empfinden, Schrecken, Ablehnung oder Anfeindung. In mir herrschte nichts als Zustimmung für was auch immer geschähe. Das bedeutete enorme Energieersparnis. Ich fiel während meinen Vorbereitungen weder zwischen Stuhl und Bank, noch streiften Zweifel oder Urteile mich.
So kam es, dass sich eine Gruppe von fünfunddreißig Reisenden zusammenfand, die zu mehr als drei Fünfteln aus Thais und zu einem kleinen Rest aus Schweizer Meditierenden bestand, eine hervorragende Mischung, wie sich im Laufe des Unterwegsseins herausstellte. Die Thais deckten die traditionelle Ebene der Reise ab, wir Meditierenden die energetische. Unstimmigkeiten, Durchhänger oder Feindseligkeiten erlebten wir während der ganzen Reise innerhalb der Gruppe nicht.
„Das Gesetz der Oktave“, ein Basisgesetz des Lebens, das besagt, Handlungen, Ereignisse, Entwicklungen gehorchten einem bestimmten, in allen Erscheinungen des Lebens sich manifestierenden Ablauf.
Mit den energetischen Qualitäten der Abschnitte, die im Verlauf einer Reise zu berücksichtigen waren, arbeitete ich seit Jahren. Während den Fahrten von Ort zu Ort, versuchte ich, der Schläfrigkeit zu trotzen. Ich wollte um keinen Preis als der Mensch heimkehren, als der ich weggeflogen war. Das bedingte, dass die transformierende Kraft der Energiespirale, die der Abt mit seinem Routenvorschlag vorgegeben hatte, sich auch aus mir selbst entwickelte. Das hieß, genügend Willen aufzubringen, durch den Mantel des Zyklons bis zu seinem Auge vorzudringen. Dementsprechend bedeutete die Reise die potenzierte Ausgabe einer Meditationsklausur.
Mehr als zwanzig Jahre zuvor verbrachte der Abt längere und kürzere Abschnitte seiner Studienzeit in Indien, unter anderem in Delhi und in Varanasi am Ganges. Einige Freundschaften, die er in jenen Jahren schloss, überlebten. Einer jener Freunde besaß ein Reisebüro. Der Abt bat ihn darum, die Reise für uns zu organisieren. Der Freund sagte voller Begeisterung zu, da er den Abt sehr verehrte und ihn gerne wiedergesehen hätte.
„Welche Orte wollen Sie denn besuchen“, fragte er den Abt. Dieser beschrieb die Route, die ihm vorschwebte und fragte zurück, ob es möglich sei, in zwölf Tagen einen solchen Weg zu bewältigen. „O, ich werde alles tun, was Sie wünschen!“ Und dieses Versprechen war der Ursprung der machtvollsten Reise, die ich je erlebt habe. Der Bogen war so hoch und so weit gespannt, dass wir jeweils bis zu dreizehn Stunden am Tag im Bus verbrachten und das mehrheitlich auf ungeteerten, staubigen Pisten voller Löcher und Steine, die dem Chauffeur Konzentration und Geschicklichkeit abverlangten. Das allgemeine Verkehrsaufkommen war für westliche Verhältnisse jenseits des Vorstellbaren. Verkehrsschilder fehlten gänzlich, da jeder Fahrer ohnehin seinen eigenen Regeln folgte. Mit mehr als siebzig Kilometern die Stunde voranzukommen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Meistens fuhren wir mit vierzig oder fünfzig Kilometern und wurden dennoch erheblich durchgeschüttelt. Für ängstliche Menschen müssen indische Verkehrsverhältnisse die Hölle bedeuten. Einmal ums andere kreuzten noch Hunde, Kühe, Schafe, Ziegen oder Schweine die Fahrbahn. Und selbstverständlich musste auf alle und auf alles Rücksicht genommen werden. Das galt nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere sowie für jede Sorte an selbstgebastelten oder sonst wie hergestellten Fahrzeugen. Nichts und niemandem durfte ein Leid geschehen. Hunde, Kühe, sogar Affen gaben sich denn auch erstaunlich zahm und angstfrei. Zudem prangte auf der Rückseite jedes Lastwagens in mächtigen Lettern die Aufforderung „bitte hupen“, ein Befehl, der ausdauernd und mit ohrenbetäubender Lautstärke befolgt wurde. Und da wir uns auf einer Pilgerreise befanden, hielt ein junger Abt, der in Agra zugestiegen war, während den ganzen Fahrten zusätzlich über einen mitgebrachten Lautsprecher Lehrreden auf Thai. Manchmal wurden Teile davon ins Englische übersetzt, und ich übertrug sie dann ins Deutsche.
Die Höhe des Geräuschpegels allein verhinderte das Denken. Dazu gesellte sich die Szenerie, die sich vor den Fenstern des Busses entrollte. Sie wirkte sehr stark auf mich, machte mich kristallen wach und sprachlos. Bleigewichte zogen mich ins Lot. Gedanken und Gefühlen wurde der Nährboden jäh entrissen. Mein Wunsch, die Reise möge mich um- und umpflügen, geschah wunderbarerweise mit jedem Tag mehr. Die Person verschwand. Einzig das Schauen, das Aufnehmen, die Bedingungslosigkeit zählten. Nichts war von Belang außer fugenloses Anwesendsein. Während den knappen Stunden an Schlaf, tauchte ich ab wie ein Stein. Dem Körper ging es gut. Das Essen schmeckte ihm.
Der Fotoapparat klickte pausenlos. Die Augen, die Sinne hätten nicht gereicht, das gänzlich Fremde, andere, das sich der Linse darbot in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und zu speichern. Auch wenn mir klar wurde, das Phänomen Indien sei in seiner, alle Grenzen sprengenden Vielfalt niemals in simplen Bildern einzufangen. Glücklicherweise stellte ich fest, wie wenig fremd mir im Grunde genommen das Geschehen erschien. Genau wie zu Hause schliefen, aßen, schwatzten die Menschen. Auch hier waren Menschen einfach Menschen. Sie litten wie ich. Sie freuten sich wie ich. Sie hingen am Leben wie ich. Nur taten die meisten von ihnen das auf elementarere Weise, mit den nackten Füssen direkt im Staub. „Staub bist du, und zu Staub sollst du werden.“
Das Phänomen der Staubigkeit von Leben bekam ich am Beispiel von Indien porentief mit. Sowie auch die Faszination von Existenz, die nicht rundum zubetoniert ist. Dabei entging mir die Bedürftigkeit vieler Menschen keineswegs. Was mich hinderte, deswegen in Sentimentalität zu verfallen, möchte ich mit Respekt umschreiben. Es lag in den zahllosen verhärmten, eingefallenen, strahlenden, lachenden und leidenden Antlitzen der Menschen am Wegrand oder an den Stationen aus dem Leben des Buddhas, die wir besuchten, eine Kraft, eine Bestimmtheit und eine Direktheit, die mich hinderten, die Menschen frontal zu fotografieren. Geschah es aus Unachtsamkeit dennoch, schämte ich mich dafür. Wenn es sich machen ließ, bat ich um Erlaubnis. Einmal vergaß ich, dass in Indien das Nicken mit dem Kopf ein Nein bedeutet und grämte mich deswegen sehr.
Indien, seine Menschen und Tiere verlangten mir tiefe Hochachtung ab.
Denke ich an Indien, sehe ich große, nachtschwarze Augen, die mich unverwandt und ohne zu zwinkern, anschauen. Es liegen eine Würde und eine Macht in diesem Blick, denen ich mich nicht entziehen kann. Dahinter zu schauen, ist mir nicht möglich. Denn wenn ich diesen Blick in mir selbst suche, finde ich ihn nur auf Ebenen, zu denen das Denken keinen Zutritt hat.
Zahllose Menschen in Indien sind Analphabeten. Und viel Problematisches geschieht im Verborgenen, auch im Namen von Ritualen, von Tradition und Religion. Doch die unglaubliche Vitalität dieses Subkontinents, in dem sich unnennbar viele Volksstämme, Sprachen, Kasten, Sekten, Sitten und Gebräuche die Waage halten, ist erstaunlich. Indien lebt seit Jahrtausenden am Siedepunkt und kocht doch nicht über. Seine kulturelle Vielfalt ist unübertroffen. In einem Reiseführer habe ich gelesen, dass der Tourist Indien entweder liebe oder es so rasch als möglich wieder verlasse. Diese Behauptung mag stimmen. Denn Indien gibt dem Besucher in einem Maß Rätsel auf, das ihn verstummen lassen. Und entweder schlägt ihn diese Tatsache in Bann oder zieht ihm den Boden unter den Sohlen weg.
Keine Rätsel gibt die Geschichte des Inders Buddha dem Besucher auf. Die Stationen seines Lebens, die Orte seines Wirkens umwehen keine Geheimnisse. Pausenlos setzen Menschen ihre Füße in seine genau überlieferten Fußstapfen auf ihrer Suche nach sich selbst. Keiner der Plätze ist nicht offen zugänglich. Alle gehören sie dem Staat und somit dem Volk. Kein Klerus drängt sich zwischen die Menschen und ihre Sehnsucht nach sich selbst.
Diese Beobachtung hat mich tief beeindruckt. Ruinenfelder sind zwar eingezäunt. und die Tore werden des Nachts geschlossen. Doch an den Orten selbst könnte ich Stunden, Tage, sogar Wochen zubringen, ohne dass mich jemand von dort wegjagte. In den Höhlen von Rajgiri, in denen zwei, Buddha am nächsten stehende Mönche Erleuchtung erlangt haben, könnte ich ungehindert meditierend sitzen, in Bodh Gaya auf dem Gelände um den Bodhi-Baum, unter dem der Buddha Erleuchtung erlangte, ungehindert wohnen, schlafen, essen. Massenhaft Pilger tun das. Sehr viele Tibeter in ihren prächtigen Trachten, Tausende von Mönchen, Nonnen, selbst Tiere. - Auch ein Freund von mir verbrachte dort eine Nacht. Am Morgen wurde er sanft von einem Mönch geweckt, der ihm bedeutete, sich nicht zu rühren. Als er die Augen aufschlug, lag neben seinem Kopf der Kopf einer Kobra auf dem Kissen. Polizisten wurden gerufen. Sie scheuchten die Schlange sachte fort. Gelassen verschwand sie in einer Mauerritze. Niemand regte sich wegen des Vorfalls auf. Der Friede und die Eintracht auf dem riesigen Gelände blieben ungetrübt.
Rund um den Bodhi-Baum singen Gruppen von Pilgern, umrunden andere die große Stupa, unter deren Altar der Platz verborgen liegt, an dem der Buddha Erleuchtung fand. Kerzen, Räucherstäbchen und Blütenkränze in den Händen - wieder andere hören sich Lehrreden an, meditieren in Stille oder setzen ihre zahllosen Niederwerfungen fort und fort, auf Brettern, die von Ausdauer und Hingabe so blank poliert scheinen, als seien sie aus schimmerndem Metall. Und die Orte des Wirkens des Buddhas sind Hindus genau so heilig wie Buddhisten. Hindus sehen im Bodhi-Baum gar eine Fruchtbarkeits-Gottheit, die sie glühend verehren.
Dem Inder ist nichts so wichtig wie Tradition, wie Althergebrachtes. Daran klammert er sich, richtet sich daran auf, wenn Not oder Krankheit ihn zu Boden drücken. Obwohl das Kastensystem auf dem Papier längst keine Geltung mehr hat, hält der Grossteil der Bevölkerung stillschweigend daran fest. Darin liegt auch ein hohes Maß an Stolz begründet. Selbst der Inder, der auf der Strasse lebt, zeigt Würde. In seinen Augen ist alles, was dem Überlieferten an den Kragen will, suspekt und deshalb abzulehnen. Weiß er weder ein noch aus, beruft er sich auf die lokale Gottheit, um zu erhärten, dass alles so, wie es sei, seine Richtigkeit habe.
Der Abt hatte unsere Reiseroute bewundernswert klug und umsichtig geplant.
Am ersten Tag besuchten wir verschiedene Sehenswürdigkeiten in Delhi. Damit setzten wir ein starkes DO in der Oktave. Das erlaubte uns, innert nützlicher Frist in Indien anzukommen. Von da aus fuhren wir nach Agra. Diese Fahrt untermauerte den Rhythmus, den Schritt des Tons RE, den die Reise haben würde. Die außerordentlich stressige Fahrt nach Agra wollte nicht enden. Wir erreichten das Hotel erst um halb drei Uhr in der Früh, ausgepumpt und am Ende der Kraft. Um halb sechs Uhr war Tagwacht. Der Besuch des Taj Mahal stand an. Schon um sieben Uhr erwarteten uns Menschenschlangen.
Nach Agra und dem Besuch des Forts steigerte sich das Tempo der Reise rasant. Der Halbtonschritt des MI-FA markierte den Beginn der Pilgerfahrt. Wir besuchten die ersten Buddha-Stätten. Die Konzentration nahm massiv zu, wurde buchstäblich greifbar. Druck entstand. Die Energiespirale begann sich zu drehen.
Wie in der Musik, setzen die beiden Halbtonschritte der Oktave, das MI-FA und das SI-DO, im Alltag entscheidende Akzente. Musik ohne Halbtonschritte erschiene spannungslos. Halbtonschritte ermöglichen Dissonanzen. Musik ohne Dissonanzen klänge fad und öde. Dissonanzen vermitteln Spannkraft und die Möglichkeit zu Kreativität.
Im täglichen Leben packen Menschen oft Dinge an, die sie nicht zu Ende führen, drehen sich im Kreis, kommen nicht vom Fleck, bringen nichts zustande – man könnte sagen, aus mangelnder Kenntnis des Gesetzes der Oktave.
Jeder Handlungsablauf weist Punkte auf, an denen der Energiefluss stockt und Müdigkeit oder Überdruss sich zeigen. Eine Extraportion an Anstrengung ist vonnöten, um die Hemmschwelle zu übersteigen. Dreht sich der Mensch im Kreis, verliert er eine Menge Energie, die er braucht, um Blockaden, Grenzen, Berge, die sich vor ihm auftürmen mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit zu überwinden. Er wird faul und behäbig. Und beginnt, Auseinandersetzung zu scheuen.
Einen Höhepunkt bedeutete für mich der Besuch des Ortes, an dem der Buddha seinen Körper verließ, also starb. Eine liegende, goldene Buddha-Statue markiert den Ort. Darüber wölbt sich eine Stupa aus Steinquadern. Um die Statue herum kann man gehen oder, in Gruppen, eng aneinandergeschmiegt auf dem Boden sitzen. Die Thais hatten ein langes, orangefarbenes Seidentuch dabei, das wir alle gemeinsam über die Statue des liegenden Buddhas breiteten. Es passte in der Länge und der Breite haargenau. Dazu legten wir Blumenkränze nieder. Der Abt, die Mönche und die Thais chanteten. Ich saß dabei und beobachtete, wie Kraft in mir anstieg, bis die Welt um mich herum versank. Tränen rannen über meine Wangen. Doch das geschah so weit entfernt von meiner Wahrnehmung, dass es mich nicht kümmerte.
Zwei, drei Leute ereilte Übelkeit während der Reise. Dank des nahtlosen Zusammenhalts in der Gruppe, wurden sie behutsam mitgetragen und gepflegt und erholten sich erstaunlich rasch. Unfälle geschahen keine. Niemand verlor Geld oder andere Wertsachen. Die Kraft, die die Gruppe einte, erlaubte keine Fugen, in die Unheil hätte eindringen können. Ich bewunderte die Einfühlsamkeit der Thais, die sich zum Wohle der Gruppe vollständig zurücknahmen, sich der indischen Mentalität mühelos anglichen. Für Thais sowie für Inder stellt die Familie den Mittelpunkt des Lebens dar. Für den Erhalt und das Wohlergehen der Mitglieder wird alles getan. Selbst persönliche Interessen haben dahinter zurückzustehen. Diese feinfühlige Haltung, die Bedürfnisse erkennt, bevor sie ausgesprochen werden, machte die Thais für uns Schweizer zu unschätzbar kostbaren Begleitern. Sie gab mir das Gefühl, unangreifbar zu sein.
Die letzte Etappe unserer Reise führte uns nach Varanasi am Ganges. Sie stellte den zweiten Halbtonschritt in der Oktave dar, den Schritt des SI-DO, was so viel bedeutete wie, dass noch einmal besondere Energie aufgebracht werden musste, um den Übergang in das DO der nächsten Oktave zu schaffen.
Schon allein die Fahrt durch die Stadt von Varanasi glich einem Alptraum. Es begann, untypisch für die Jahreszeit, zu regnen. Zudem fiel das Datum unserer Anreise mit einem von den Hindu-Priestern errechneten allgemeinen Hochzeitstermin zusammen. An allen Ecken trafen wir auf Hochzeitszüge mit ihren Fackelträgern und Musikern, die die Strassen zusätzlich verstopften. Das geplante Abendprogramm mit indischen Tanzdarbietungen geriet zu einem Flop. Der eine Teil der Gruppe wollte hinterher noch einkaufen, der andere Teil nur noch schlafen. Es wurde Mitternacht, bis den verschiedenen Bedürfnissen Rechnung getragen war. Um vier Uhr war Tagwacht. Spätestens um fünf Uhr sollten wir am Ganges sein, um mit einem Boot zu den Leichenverbrennungsplätzen gerudert zu werden, da in den entsprechenden Strassen später kein Durchkommen möglich sein würde.
Es goss in Strömen, als wir noch im Dunkeln den Bus bestiegen. Für diese Wetterlage waren die wenigsten von uns gerüstet. Einen Rest des Weges legten wir zu Fuß zurück. Links und rechts schliefen unter Dachvorsprüngen Menschen, Rinder, Hunde. Für Inder bedeutet es höchste Erfüllung, einmal im Leben im Ganges zu baden oder an seinen Ufern als Leiche verbrannt und hinterher als Asche ins Wasser geschüttet zu werden. Der Ganges gilt als die Strasse zum Himmel, Varanasi als das Tor dazu.
Der Weg, auf dem wir uns voran tasteten, war mit Schlick aus Fetzen von Papier und Stoff, aus Strohwischen, Kot- und Urinpfützen bedeckt. Als wir auf den Platz hinaustraten, von dem steile, hohe Stufen zum Wasser hinunterführten, hob in einer Ecke des Platzes wildes Trommeln an, durchsetzt von Schreien und Gesang. Hindu-Priester begrüßten den dämmernden Morgen. Die Magie und die urtümliche Kraft des Ortes ließen mich erschauern. Wir bestiegen das Boot. Rundherum standen Frauen und Männer im Wasser, die sich andächtig aus mitgebrachten Gefäßen damit übergossen, darin untertauchten, beteten und leise sangen. Sie waren kaum auszumachen durch die Regenschleier. Boote und Menschen vermischten sich mit den träge und ölig gegen das Ufer schwappenden Wellen des heiligen Flusses. Ein Wunder, dass dabei niemand zu Schaden kam.
Zwei Feuer loderten auf den Stufen flussaufwärts. Eines im Abteil der Reicheren und Vornehmeren, eines im Abteil der Ärmeren und niedriger Gestellten. Windböen trieben die Flammen der Scheiterhaufen in alle Richtungen. Tiefschwarze, verrußte Gebäude bildeten den Hintergrund einer Szenerie wie auf Gemälden alter Meister: schauerlich, packend, irr. Seit viertausend Jahren brennen die Feuer in Varanasi bei Tag und bei Nacht. Schattenhaft harren fahle Gestalten von Angehörigen daneben aus.
Auf der Rückfahrt zum Bootsanlegeplatz bemerkte ich ein Brennen in der Kehle. Die Nase war verstopft, und die Augen fühlten sich verquollen an.
In welche Richtung ging es zum Bus? Unschlüssig warteten wir unter einem Vordach auf den Reiseleiter. Ich schlotterte vor Kälte. Die Jacke hing schwer und nass an mir hinunter. Ich hustete. Hinter mir hatten es sich einige Rinder bequem gemacht und mampften dumpf vor sich hin, als plötzlich aus einem stinkenden Schacht eine Ratte schlüpfte. Im Schein der qualmenden Funzel, die von der Dachrinne baumelte, glomm ihr Fell faszinierend silbern, wie polierter Stahl. Und ich erkannte schlagartig, wie nichtig Urteile sind, wie wenig sie die Qualität dessen, das beurteilt wird, treffen. Ich gewahrte, wie unauslotbar Manifestationen von Leben sind, wie winzig ich im Vergleich dazu bin und wie unbedeutend meine Gehirnleistung und meine Wahrnehmungsfähigkeit sind, gemessen an der Unaussprechlichkeit von Leben.
Beim anschließenden Frühstück spürte ich, wie das Kranksein von mir Besitz ergriff.
Das vom Abt vorgesehene Morgenprogramm fiel buchstäblich ins Wasser. Ein Anflug von Erschöpfung ließ sich in der Gruppe erkennen. Dieser letzte Schritt der Reise, das Intervall des SI-DO der Oktave, verlangte noch einmal all unsere Kräfte, damit sich nicht Missmut und Enttäuschung breitmachten.
Von Varanasi flogen wir nach Delhi zurück, wo wir im Laufe des Nachmittags landeten. Zehn Stunden blieben uns vor dem Rückflug in die Schweiz. Später wurden gar zwölf Stunden daraus, da das Flugzeug Verspätung hatte.
Ein Bus fuhr uns zum Zeitvertreib durch menschenleere Quartiere von Delhi, in denen wohlhabendere Menschen, als wir sie auf unserer Reise gesehen hatten, wohnten. Der junge Abt versuchte, die Leute durch seine Lehrvorträge bei Laune zu halten. Gegen Abend hielt der Bus vor einem chinesischen Lokal, in das wir zu einem festlichen Abschiedsessen eingeladen waren. Doch ich blieb im Bus liegen. Denn mir war mittlerweile so übel, dass ich weder essen noch trinken mochte.
Um halb drei in der Früh startete unser Flugzeug endlich, und ich wurde kurz darauf ohnmächtig. Man trug mich zur Bordküche. In mir loderte nur ein Wunsch: man sollte mich um alles auf der Welt auf den Boden legen. Wie ein Brand nahm dieser Wunsch von meinem Körper Besitz. Und als das schließlich geschah, war mir, als zerfließe mein Körper, wie Wasser: -
Ich schmolz unendlich sachte in die Erde hinein, löste mich darin auf, und war dabei unbeschreiblich glücklich, fühlte mich federleicht, mit einem Atem so weit wie das Meer: Für mich persönlich war damit der Schritt des SI-DO vollzogen.
Die verschreckten Gesichter der Freunde, die auf mich hinunterstarrten, standen in keinem Verhältnis zu dem, was ich selbst erfuhr. Ich lag kristallen klar, bedingungslos im Augenblick da. Ich war angekommen in Alleinheit, im Herzen des Zyklons, auf Augenhöhe mit mir selbst.
Zuhause zurück, nahm sich mein Körper eine Auszeit von drei Wochen. Als letztes Glied meiner Existenz brauchte er diese Zeit, um den Anschluss ans Erlebte zu finden. Mir war das recht. Ich war einfach dankbar dafür, dass er sich während der Reise ordentlich gehalten hatte.
Am Anfang meiner Meditationspraxis stand für mich die Philosophie des Buddhismus im Vordergrund. Durch das Üben von Vipassana-Meditation verwandelte sie sich im Laufe der Zeit in lebendige Erfahrung. Lebendige Erfahrung gebar bedingungsloses Vertrauen und bedingungslose Liebe. Und daraus entfaltete sich allmählich Freiheit.
Um auf diesen Weg zu gelangen, braucht es massenhaft Brennstoff, braucht es Feuer. Es braucht das lodernde Feuer der Sehnsucht, der Opferbereitschaft, der Hingabe im Herzen – den Brand des „Alles-oder-nichts“.
Der Buddha hatte gelobt, von seinem Sitz unter dem Bodhi-Baum nicht eher aufzustehen, als bis er Erleuchtung erlangt hätte.
Diese Kraft alles durchdringender Beharrlichkeit ist in jedem Menschen verborgen. Sie muss nur offengelegt werden. Halbherzigkeit ist nicht genug. Mit dem Einsatz nur des halben Herzens, ist der Weg nicht auffindbar.
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Während den Monaten, die auf die Ekstase der Indienreise folgten, war ich meistens krank oder verletzt, erlitt Schmerzen, Übelkeit, Erschöpfung oder hing in Depressionen fest. Leber und Galle versagten ihren Dienst. Kieferhöhlen und Stirnhöhle waren entzündet. Ich hustete so stark, dass ich mit meinem Bettzeug in ein entferntes Zimmer unseres Hauses umzog, weil mein Gebell meinen Mann zur Verzweiflung trieb. Ein Arzt verschrieb mir Antibiotika, die jedoch keine Linderung brachten. Ich suchte den Arzt aus schierer Ratlosigkeit auf. Offensichtlich konnte ich die Verantwortung für meinen Zustand jedoch an niemand anderen delegieren, sondern musste mich selbst darum kümmern.
Also griff ich zu natürlichen Produkten und stellte meine Ernährung um. Das half mir, zu erkennen, dass Körper und Geist, der gesamte Organismus Ruhe brauchten, dass ich meinen Organen eine gründliche Verschnaufpause gönnen musste. Eine neuntägige Fastenkur brachte erste Erleichterung. Vor allem stoppte sie das irre Tempo, das Dahinrasen der Zeit in meinem Inneren, das zu verlangsamen mir nach der Indienreise nicht gelungen war. Nebenbei verlor ich auch ein paar überflüssige Pfunde.
Ich verlor rundum an Gewicht, nicht nur aussen, sondern vor allem innen. Die Welt sah durch die Indienerfahrung so vollständig anders aus, dass ich mich neu orientieren, mich zuerst an die neue Situation, meine neue Sichtweise auf das Leben gewöhnen musste. Schmerzen auf allen Ebenen halfen mir zusätzlich, meine Tage langsamer anzugehen, mich immer wieder zurückzunehmen, zu schweigen, das Alleinsein zu suchen. Ich hatte mich grundlegend gewandelt. Das merkte ich auch an der Reaktion meiner Umwelt. Mein Privatleben entvölkerte sich. Freunde begannen, sich aus Hilflosigkeit mir gegenüber von mir zu distanzieren. Das nahm ich allerdings nur allmählich und bloss am Rande wahr.
Nach langer Zeit hörte ich endlich auf zu husten, Leber und Galle versahen ihren Dienst wieder ordentlich und ich begann, in meinem Alltag normaler zu funktionieren.
Ich tat, was getan werden musste: das Naheliegendste zuerst. Das bescherte meinen Tagen einen unspektakulären, neutralen Rhythmus. Am Anfang sah es fast so aus, als ob ich die Fähigkeit zur Freude verloren hätte. Bis ich entdeckte, dass gerade in dieser Beschränkung auf das Wesentliche eine Quelle von Freude lag, die kichernd sachte sprudelte, wie ein von Gras überwuchertes Rinnsal. Es war eine sehr leise Freude, die unabhängig von Äusserlichkeiten sprudelte. Wieder fielen zentnerschwere Gewichte von mir ab. Nicht physisch, sondern verursacht durch die stetig wachsende Fähigkeit zur Akzeptanz - der Akzeptanz, dass Leben aus Tausenden unscheinbarer Verrichtungen, die Existenz mit sich brachte, bestand – nur daraus und aus nichts sonst. Der ununterbrochene Fluss von Atem gehörte genauso zu diesen Verrichtungen wie das Sitzen und das Gehen während den Zeiten von Meditation oder das Sitzen beim Essen, das Gehen durch den Wald mit den Hunden, das Sitzen auf der Toilette oder das Umgraben im Garten, das Schleppen von Körben mit Verblühtem. Anderes gab es nicht. Ich würde ein Leben lang essen müssen, schlafen, mich waschen, Wesen füttern, bügeln, putzen, einkaufen, mich um Freunde kümmern, unterrichten, meditieren. Der Unterschied bestand nur darin, ob das freiwillig auf dem Atem, in Achtsamkeit geschah, in liebender Güte – oder gezwungenermassen, in innerem Widerstreit, gehässig, in der stupiden Annahme, das alles sei unter meiner Würde.
Als es mir besser ging, und ich wieder Boden unter den Füssen spürte, war es erneut Zeit, mich auf die alljährlich stattfindende Meditationsklausur im Kloster vorzubereiten. Einesteils freute ich mich darauf, so wie jedes Jahr. Andererseits erlebte ich Tage, während denen mich, aus unerfindlichen Gründen, grauenhafte Angst verzehrte, und mir sogar Panik im Nacken sass. Erst im Laufe der letzten zwei Wochen vor dem Stichtag wurde mir leichter ums Herz. Zwar erkannte ich, dass ich es nicht schaffen würde, das Haus und den Garten zu meiner vollen Zufriedenheit zurechtzumachen, dass ich es nicht schaffen würde, die notwendigen Einkäufe zu tätigen und das, was sonst noch anstand zu erledigen. Doch fielen auch diese Bedenken schliesslich von mir ab. Ich hörte auf, besinnungslos zu schuften. Ich verstand, wie wenig ich ohnehin auszurichten fähig war, da sowohl das Haus sowie der Garten und ebenso alles andere, das Existenz ausmacht, sich in jedem Atemzug verändert, egal ob ich dagegen anzugehen versuchte oder nicht. Also tat ich das mir Mögliche und übergab den Rest in liebender Güte jenen Wesen, die es lange vor mir mit ihren Fittichen beschützt hatten und es noch lange nach mir tun würden. Ich fuhr getrost zum Kloster, im Wissen darum, dass Leben keinen Mangel kennt.
In diesem Jahr hatte ich die Leitung der Klausur inne. Das beinhaltete auch das Übersetzen der allabendlich stattfinden Lehrreden des Abts und des Meditationsmeisters sowie allfällige Übersetzungen von Interviews mit dem Meditationsmeister von Klausurteilnehmern, die nicht Englisch sprachen. Im Übersetzen hatte ich Übung, denn ich übersetzte jeweils auch die wöchentlichen Lehrreden des Abts, die er anlässlich der Meditationsklassen hielt. Ich liebte diese Arbeit. Sie lehrte mich viel. Der Abt hatte die Gewohnheit, haufenweise Sätze aneinander zu reihen, bevor er mich übersetzen liess, und mir dabei schmunzelnd in die Augen zu schauen. Sah er, dass bei mir der Sättigungspunkt erreicht war, fügte er noch einen oder zwei Sätze hinzu und liess mich erst dann zum Zuge kommen. Ich begriff rasch, dass diese Aufgabe vom Kopf her nicht zu lösen war. Deshalb schaute ich ihm ebenfalls in die Augen und saugte von dort her das vom Abt Gesagte wie durch einen Trichter in mich hinein. War die Reihe zu sprechen an mir, liess ich das Ganze aus dem Herzen in die Runde fliessen, ohne Angst davor, ich könnte die Hälfte davon vergessen haben. Das funktionierte. Es war, als erhielte ich Privatunterricht: direkte Übertragung fand statt.
Zwar wusste ich, dass es mit dieser Art des Übersetzens etwas Eigenartiges auf sich hatte. Was genau, fand ich aber erst während dieser Klausur heraus. Mir war es äusserst wichtig, dass die Zuhörer nicht nur eine wörtlich genaue Übersetzung des vom Abt Gesagten erhielten, sondern dass ich versuchte, die Qualität des Inhalts den Zuhörern nahezubringen, indem ich meine Stimmlage der Stimmlage des Abts anpasste, indem ich auf die Betonung, die Schwerpunkte des Gesagten achtete, nach Wendungen suchte, die exakt den Inhalt der Rede klar machten, indem ich von Herz zu Herz das, was der Abt uns vermitteln wollte, transferierte. Ich tat das nicht willentlich. Ich wusste lange Zeit nicht einmal, dass ich es tat. Es wurde mir erst bewusst, als mich sogar Leute, die kein Deutsch verstanden, für meine Übersetzung lobten. Zu Beginn erschien mir das wie Magie, wie Zauberei.
Auch während dieser Klausur liess der Abt nicht von seinem Vorgehen ab – selbst wenn ich, da seine Rede erst um neun Uhr abends stattfand, bereits fünfzehn Stunden ununterbrochener Meditation hinter mir hatte. Denn meistens hielt der Abt die Lehrreden. Der Meditationsmeister zog es vor, in Stille dabeizusitzen und zuzuhören. Bis ihn unsere Klausurgruppe darum bat, doch seinerseits ebenfalls eine Lehrrede zu halten, was bedeutete, dass ich, zusätzlich zur ganztägigen Meditation, insgesamt noch etwa drei Stunden Übersetzungsarbeit leistete. Das vermittelte der Klausur eine ungeahnte Intensität und Dimension, für die ich äusserst dankbar war. Der Energiepegel der ganzen Meditationsklausur war sehr hoch, sehr konzentriert. Und noch in keinem Jahr davor verhielten sich die Teilnehmer so still, so schweigsam und achtsam, ohne dass dafür irgendjemand überwacht oder zurechtgewiesen werden musste.
Ich bewohnte mit einer meiner Freundinnen, die meine Yogastunden besuchte, einen kleinen Raum ausserhalb des Mönchshauses, in dessen Kellergeschoss wir normalerweise einquartiert waren. Es war das erste Mal, dass ich ausserhalb des Mönchshauses logierte. Ich hatte mir den Raum selbst ausgesucht, was deshalb möglich wurde, weil ich auch bei der Zimmereinteilung ein Wort mitreden durfte. Meine Freundin und ich bereiteten den Raum auch eigenhändig vor. Er diente normalerweise als Klassenzimmer für die Sprachschüler. Aus dem Fundus des Klosters holten wir uns Matten, Kissen und Matratzen. Wir erbauten auf einem der Pulte einen Buddha-Altar, brachten von zuhause einen Teekocher mit, sowie Säfte, Früchte und Knäckebrot. Wir machten es uns so gemütlich, dass die Freude über die gelungene Unterbringung für uns zu Beginn der Klausur fast zu einem Hindernis gedieh. Das Zimmer zu verlassen und frühmorgens in den kalten Meditationsraum hinunterzusteigen, brauchte Überwindung. Zum Glück erkannten wir die Gefahr rechtzeitig und stellten uns darauf ein.
Die ersten drei Meditationstage empfand ich als sehr hart. Ich kämpfte stundenlang gegen das Einschlafen. Schmerzen stellten meine Konzentration auf eine Zerreissprobe. Erneut standen mir abgrundtiefe Ängste und Panikattacken im Weg. Der Meditationsmeister fragte sich, ob ich nicht mehr Schlaf, als die von ihm vorgeschlagenen viereinhalb Stunden bräuchte.
Erst der vierte Tag brachte Erleichterung. Von da an gewöhnte ich mich auch rasch an die beschränkte Ruhezeit.
Nach der ersten Woche verliess uns die eine Hälfte der Gruppe wieder. Von da an wuchsen Druck, Konzentration und Intensität der Klausur mit jedem Tag. Zu Beginn hatte ich mich noch an sowas wie «ein Ziel» geklammert, etwas das ich hinterher würde mit nach Hause nehmen können, ohne genau zu wissen, was das sein könnte. Bald kam mir auch diese Absicherung abhanden. Jeder weitere Tag brachte veränderte Verhältnisse, in jeder nur denkbaren Hinsicht. Jede Vorstellung davon, was und wie «der innere Weg» beschaffen sein könnte, zerschlug sich. Über Nacht wurde ich mit Erkenntnissen konfrontiert, die alles in den Schatten stellten, was ich von Existenz gewusst zu haben glaubte. Das Tempo der Klausur nahm rasant zu. Doch das Tempo meines Lebens nahm von Stunde zu Stunde ab. Es fühlte sich an, als laufe mein Leben wie eine Sanduhr aus.
Am einen Tag wurde mir gezeigt, die vollkommene Form von Handlung sei pures Sein, ungetrenntes Sein, in allem uneingeschränkt und unpersönlich anwesend, ohne Beimischung von Qualitätsbezeichnung, ohne bestimmte Zuordnung. Und ich sah das so klar, als habe ich es immer schon gewusst. Daraufhin eröffnete sich mir die Welt von Mara, die Welt der sogenannten „teuflischen Geister“, wie sie im Buddhismus heissen, die Schattenwelt des kollektiven Unbewussten – die Ebene allen unerlösten Leidens sämtlicher sichtbarer und unsichtbarer Wesen. Das bedeutete einen Schmerz, den ich zu Beginn kaum aushielt. Vor allem das Ausmass von Hoffnung und Angst darin, das unselige Bedrängtwerden durch diese beiden Qualitäten, war äusserst schwierig zu ertragen. Hoffnung und Angst, dunkle, ambivalente Gestalten, die ihre Konturen ständig wechselten, versuchten nach mir zu grapschen, sich an mir festzuhaken, mich in sich aufzusaugen. Nur das Ausatmen liebender Güte brachte sie dazu, von mir abzulassen. Von da an durchquerte ich unbehelligt und aufrecht das Meer gepeinigter Wesen, behutsam wie durch ein reifes Kornfeld, um unter keinen Umständen noch mehr Leiden aufzustören. Die Wesen liessen es zu. Ich erschien übernatürlich gross und lichtvoll im Vergleich zu ihnen, die mich mit flehenden Gesten und von Höllenqualen verzerrten Antlitzen umdrängten. Als ich dem Meditationsmeister diese Erfahrung schilderte, sagte er nur: -
„Du wirst Zeit deines Lebens in liebender Güte für die Welt von Mara sorgen müssen. Nun, da du die tatsächliche Bedeutung der drei Grundwahrheiten - der Substanzlosigkeit, der unaufhörlichen Wandelbarkeit und der Tatsache, dass Leben Leiden bedeutet erfährst, ist das deine eigentliche Aufgabe.“
Dadurch eröffnete sich mir auch die Bedeutung von Mitgefühl, das unauslotbare Ausmass dieses Zustands. Tiefe, bedingungslose Liebe versengte mein Herz.
Zu unserem Zimmer gehörten eigene Toiletten und ein Waschbecken. Duschen mussten wir uns drüben im Mehrzweckraum unter dem Ubosoth, dem Haupttempel. Der Mehrzweckraum diente uns während der Klausur als Meditationsraum. Als ich am darauffolgenden Morgen die glatt polierten Betonstufen zum Mehrzweckraum hinunter stieg, regnete es in Strömen. Ich versuchte absichtlich, noch sorgfältiger und langsamer als sonst zu gehen. Der letzte Schritt, bevor ich den Fuss ins Trockene hätte setzen können, gedieh etwas zu lang. Ich rutschte auf dem Wasser aus, stürzte aufs Steissbein, schlug mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf und verletzte mich am linken Ellbogen. Ich schaute mir beim Hinfallen zu. Dennoch entrang sich ein Aufschrei meiner Kehle. Da mein Energiepegel sehr hoch war, fühlte sich das Fallen wie abgebremst an, als sei ich in Watte gehüllt. Ich stand rasch auf und humpelte zurück ins Zimmer, wo mir meine entsetzte Freundin aus den nassen Kleidern half. Nachdem ich nochmals in mein Nachthemd geschlüpft war, legte ich mich ins Bett. Was ich an Medizin dabei hatte, schluckte ich. Im Übrigen ging es mir nicht schlecht. Dass ich unter Schock stand, merkte ich erst Stunden später. Zum Frühstück erhob ich mich und meditierte konzentriert den ganzen Tag. Der Abt und der Meditationsmeister nahmen meinen Sturz nicht weiter tragisch. Ein schmunzelndes „sehr gut, sehr gut“, war alles, was sie darauf erwiderten. Vergünstigungen oder Schonung wurden mir keine angeboten. Auch die Übersetzungsarbeit lief wie gehabt. Und mir ging es erstaunlich gut dabei.
Spät nachmittags eröffnete sich mir, ohne Vorbereitung, das Wesen des gegenwärtigen Augenblicks. Mir wurde schockartig die Tragweite dieses Seinszustands bewusst. Der Schock trieb mir vor Schmerz die Tränen in die Augen. Ich suchte den Meditationsmeister auf und versuchte, ihm meine Entdeckung zu schildern. Doch fand ich die richtigen Worte nicht. Erst gegen Abend formierten sich Sätze in mir, die ich während des Lehrvortrags dem Abt vorlegen konnte. Sie lauteten in etwa so: -
„Wenn ich tief in mich hinein tauche und genau hinschaue, erkenne ich, dass mein ganzes bisheriges Leben aus nichts als aus Schmerz bestanden hat. Wenn ich nun diese Tatsache nach dem Buddhistischen Grundsatz: „sei mit dem zufrieden, was dir gegeben worden ist“, bedingungslos akzeptiere, steht Zeit still. Die Konsequenz davon ist, dass, soll Zeit nicht wieder anfangen zu rennen, ich auch die ganze restliche Welt von Mara akzeptiere: also Hoffnung, Freude, Gier, Hass, Neid, Verblendung und so weiter - sie akzeptiere und sein lasse. - Doch wovon soll ich dann noch leben?“
Dass es darauf keine Antwort gab, war klar. Der Abt antwortete nur: „Ich verstehe“ und schaute mir dabei in die Augen mit seinem Blick voller Mitgefühl, ohne Gedanken.
Am Morgen danach, dem letzten Morgen der Klausur, spürte ich eine wesentliche Veränderung im ganzen Körper. Der Sturz hatte etwas darin bewirkt. Ich sass tiefer denn je in ihm drin, nahtlos tief, auf gleicher Ebene mit mir selbst. Und dieser Zustand hielt an. Auch nach dem Unterbruch durch die Gehmeditation konnte ich ihn problemlos wieder erkennen. Es ging mir, trotz Schmerzen, gut und ich wollte diese letzten Stunden nutzen. Ich geriet in tiefe Meditation. Die Schmerzen fielen von mir ab. Auch alles andere fiel von mir ab. Wunsch, Hoffnung, Ungeduld, Erwartung verflüchtigten sich. Das Feuer der Leidenschaft erstarb.
Ich war da und doch nicht da.
Stille breitete sich aus. Jede Qualität erlosch. Etwas geschah: ich hielt den Schlüssel in der Hand.
Das letzte Interview mit dem Meditationsmeister dauerte nur kurz. Als ich ihm meine Erfahrung rapportierte, sagte er: -
„Nun weißt und siehst du die Wahrheit und deshalb darfst du während deines ganzen Lebens nicht mehr aufhören zu meditieren. Erinnere dich ständig an die Grundregeln der Meditation, an das „Heben – Senken – Heben – Senken“ der Bauchdecke im Atmen und an „linker Fuss – rechter Fuss – linker Fuss – rechter Fuss“ beim Gehen“
Nach dem Interview packte ich meine Sachen. Nichts hielt mich zurück. Meine Arbeit würde ausserhalb der Klostermauern weiterlaufen. Dort war mein Platz: unter Menschen, die aus freien Stücken nie ein Kloster aufsuchen würden: um zu lernen, an sich zu arbeiten.
Meine Freundin und ich liessen ein sauberes und aufgeräumtes Zimmer zurück. Zum ersten Mal nach zwei Woche verliess ich das Klostergelände, als ich mein Gepäck im Auto verstaute.
Nach dem Mittagessen reinigte unsere Gruppe auch all jene Orte, an denen wir uns während der Klausur aufgehalten hatten. Um drei Uhr nachmittags wurden wir vom Abt und vom Meditationsmeister mit einer letzten Lehrrede verabschiedet. Noch einmal erinnerten uns die Lehrer ans. „Heben – Senken“ an den linken und an den rechten Fuss, so wie sie es Hunderte von Malen während der Klausur und während den Jahren ihrer Tätigkeit als Meditationsmeister in der Schweiz getan hatten.
Wie nur hatte ich überlebt, zehn, zwanzig oder mehr Jahre zurück? Zwar sah ich es, doch die Empfindung davon war ausgelöscht.
Frohen Herzens fuhr ich nach Hause. Das Heimkommen gestaltete sich leicht.
Erst als ich die Garten- und die Hausarbeiten wieder aufnahm, merkte ich, wie stark verletzt mein Steissbein war. Ich begab mich sofort bei meinem Mann in Therapie. Es war vorauszusehen, dass Heilung und Neubeginn Zeit in Anspruch nehmen würden.
Seither verlangsamt sich das Leben unaufhörlich, nicht nur wegen der langwierigen Schmerzen im Steissbein - an die ich keine Gefühle verschwende - sondern weil es nichts mehr gibt, dem nachzujagen sich lohnte, nichts, dem auszuweichen Sinn machte, nichts, vor dem davonzulaufen Profit einbrächte.
Leben IST – ohne Qualität.
Leben ist so neutral! Der Kopf kann es sich nicht ausdenken. Meinem ganzen Leben eignet diese Neutralität. Die Welt von Mara schlägt mich nur so lange in Bann, als ich sie persönlich nehme. Tue ich das und glaube ich, dass die kreisenden Gedanken, die widerstreitenden Gefühle, die mich verfolgen, mir gehören und unverkennbar nur in mir vorkommen, bin ich ihr Sklave, und die Töchter und Söhne von Mara bereiten mir Höllenqualen. Die teuflischen Geister arbeiten somit weiterhin für mich, entfachen Wut, Hoffnung, Gier und Neid ständig neu – bis ich Gegenwehr aufgebe. Erst dann lassen sie von mir ab und wandeln sich von teuflischen zu hilfreichen Geistern. Das Leiden bleibt ihnen treu. Doch sie leben es nicht länger durch mich aus.
Gut und Böse existieren nur, wenn ich in Kategorien von Gut und Böse denke. Eröffnet sich mir Leben jenseits der Kategorisierung, bin ich frei.
Bilde ich mir diesen Zustand nur ein und erkläre mich als frei, sitze ich in der Welt von Mara fest.
Gefühle sind Fallen. Gedanken sind Fallen. Alles, was Erwartung entspringt und auf Profit aus ist, wird zur Falle. Es gibt keinen inneren Weg. Es gibt keine Arbeit, die verrichtet werden könnte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es gibt nichts zu gewinnen. Es gibt nur: alles aufzugeben. Die Distanz zwischen „mir“ und dem, wovon ich denke, ich sei es, ist gegenstandslos. Ich bilde sie mir ein.
Und dennoch führt „der Weg zurück“, wie er auch genannt wird, nirgendwo anders entlang als durch sämtliche Höllen von Mara.
Das ist das Paradox, das erfahren, durchlitten und ausgebrütet werden muss. Anderes ist nicht. Ich bleibe immer Mensch – wenn auch vielleicht ein dem Tod entronnener.
Was bleibt? Der Alltag des „Heben – Senken, Heben - Senken“ der Bauchdecke im Atmen sowie das achtsame Gehen mit dem linken, dem rechten, dem linken und dem rechten Fuss in jedem Augenblick, in liebender Güte für mich selbst sowie für alle fühlenden sichtbaren und unsichtbaren Wesen.
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Womit hast du in deinem Leben deine Freizeit vorwiegend oder am liebsten verbracht?

Seinlassen und mitgehen
Dreissig Speichen treffen die Nabe.
Die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefässen.
Die Leere darinnen macht das Gefäss.
Fenster und Türen bricht man in Mauern.
Die Leere damitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.
Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.
Lao Tse: «Tao Te King »
500 Jahre vor Christus
Jahre vergingen. Klausur folgte auf Klausur. Und ich hatte noch nie Thailand besucht. Brachte es nicht fertig, dem Land die Ehre zu erweisen, in dem der Abt geboren worden war, in eine Familie von Bauern.
Als Kuhhirte verbrachte er die ersten Lebensjahre. Nun bekleidete er den zweithöchsten Rang in der Hierarchie des Theravada-Buddhismus in Thailand, hatte studiert, promoviert, war ins Ausland entsandt worden, um für seine Landsleute - deren Anzahl in der «westlichen Welt» laufend zunimmt - Spenden zu sammeln, damit Thais ein spirituelles Heim bekämen, ein Kloster im traditionellen Stil erbaut – das später im Fremdenführer als Sehenswürdigkeit angepriesen und sofort unter Schweizer Heimatschutz gestellt wurde.
Auch wenn mir das Reisen keinen Nervenkitzel mehr bescherte: ich musste mich aufraffen - nach Bangkok fliegen, das Königskloster besuchen. Und ebenso Schweizer Freunde, die die Wintermonate dort verbrachten, in der Obhut ihres Sohnes, der, mit einer Thailänderin verheiratet, das «Ban Sabai», ein kleines «Resort» in Chiang Mai führte.
Eine Yoga-Freundin aus Zürich, reisegeübt und von dem Projekt begeistert, übernahm die Organisation. Eine meiner Yogaschülerinnen schloss sich uns an. Und auf ging es: - endlich!
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Wir flogen über Bangkok nach Chiang Mai und bezogen im erwähnten Resort ein Häuschen mitten im Grünen, nicht einsehbar von etwaigen Nachbarn. Die Dusche, umgeben von einer Backsteinmauer unter freiem Himmel, löste Gelächter aus. Die Koffer die steile Holztreppe hinaufzubugsieren kostete Nerven, der offene Liegeraum unter dem Häuschen sowie die Kammer des Dampfbads, auf dem das Häuschen ruhte, machte klar: thailändisches Leben findet im Freien statt - eine gewöhnungsbedürftige Perspektive, die die Hitze, die tagsüber herrschte, rechtfertigte.
Wir wurden vom ersten Augenblick an liebevoll umsorgt, von unseren Schweizer Freunden und natürlich von den Thais, die kochten, putzten und den Garten pflegten.
Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht machten mir zu schaffen. Immer die Schuhe vor Türen abzustreifen, galt für Klöster wie für Privaträume. Auch in den Speisesaal im Ban stieg man eine Treppe hoch, barfuss – trotz der Kühle der Nächte. Ich fror oft, auch im Bett, das ich mit meiner Freundin teilte, die im Schlaf automatisch die Decke zu sich hinüberzog.
Wir erlebten Thailand, den Teil, den wir erkundeten, weniger als Touristen, denn als Familienmitglieder. Auf dem Mekong tuckerten wir, auf einem Familienboot köstlich bekocht und verwöhnt, nach Luang Prabang: Mönche, Strassenschluchten voller Gelächter, Geschrei, Motorradgeheul und Gassenküchen, die köstliche Nudelsuppe anboten - und Klöster über Klöster: atemberaubend kostbar - Besuche in abgelegenen Dörfern füllten unsere Tage bis obenauf - Frauen mit Hälsen steif vor Metallreifen, auf denen Köpfe pendelten, buchstäblich wie «abgehoben». Auf Elefantenrücken zu reiten, produzierte reinste Glückseligkeit. Der Blick der Elefanten: unvergesslich - zweirädrige Ochsenkarren auf Holperpisten…. und später - ohne Angst: die Augen des ausgewachsenen Tigers - auf dessen Rücken zu liegen - sein Fell behutsam, in langen Strichen zu liebkosen, im Rhythmus des Atems - Stille über Stille - - bis es genug war, der Tiger aufstand und, ein paar Schritte entfernt in die Kühle des Schattens glitt.
In Bangkok überraschte uns die vornehme Schlichtheit des Königsklosters: darin der Abt, der uns im ersten Stock seines Häuschens zum Essen empfing, das von zwei Gymnasiasten in der Küche darunter gekocht worden war. Ich vergass die «Niederwerfungen» zur Begrüssung. Wie ein Schwamm, vollgesogen von Eindrücken fühlte ich mich: Gold über Gold, gleissend im Licht der sinkenden Sonne – leise schmatzend die Wellen ums Boot in den Klongs – massig die Krokodile unter den Balkonen, dösend in der Hitze – funkelnde Pracht der Farben auf dem Markt – wuselnde, summende Rastlosigkeit – ausufernde Lebendigkeit - im Takt des Herzschlags….
und schon war ich wieder halb krank, wie in den Jahren zuvor, während oder nach einer Reise - niemand wusste, weshalb.
Die Rekonvaleszenz dauerte Wochen.
Eine Meditationsklausur in einem Meditationscamp stand noch an: rund zwei Jahre später fand sie statt, in einem neu errichteten Camp, «in den Bergen», laut Beschreibung der Thais, die, wie stets, als Teilnehmer in der Überzahl waren. Der Meditationsmeister, der jedes Jahr aus Thailand anreiste zur Klausur im Kloster in der Schweiz, empfing uns, gemeinsam mit dem Stifter und Leiter des Camps. Das Meditationsgebäude stand schon, sowie etwa zwei Dutzend der Häuschen zur Unterbringung der Meditierenden. In jedem Häuschen integriert waren Dusche, Toilette und Lavabo. Wasser floss spärlich und kalt. Die Installationen entsprachen asiatischen Vorstellungen vollauf.
Während den zwei Wochen unsere Aufenthalts stellten wir tagsüber Flaschen ins Freie, um warmes Wasser fürs Haarewaschen und die Körperpflege zu erhalten. Ein Trick, der gut funktionierte, denn tagsüber brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Noch bevor sie wieder unter den Horizont sank, staffierten wir uns mit wollenen Kappen, Winterpullovern, Jacken und Socken aus. Auch die Thais froren des Nachts und klaubten Pelzmützen und Daunenjacken aus ihrem Gepäck.
Das Frühstück wurde im Freien aufgetragen, sehr früh. Und es bestand aus, für Schweizer ungewohnten Gerichten: es gab Reis, Gemüse, Bohnen…. einfach zubereitete Mahlzeiten. Die Schweizer-Thais hatten sich vor der Abreise klugerweise mit Brot, Kartoffeln und Käse eingedeckt….
Der lange Flug, die Wartezeit bis zum nächsten, setzten mir zu. Die ersten zwei Tage hielt ich noch durch, dann holte mich das stets gleiche, rätselhafte Kranksein ein. Ich konnte nicht schlucken, vertrug die Art der Ernährung nicht. Zum Glück bewohnte ich mein Häuschen allein, und es lagen fünf geflochtene Matten als Unterlage in einer Ecke sowie mehrere Wolldecken. Neben dem Lager erbaute ich auf einer Schachtel einen kleinen Altar mit winzigen Statuen und batteriebetriebenen Kerzchen, die zwar nach einigen Nächten den Geist aufgaben, aber Stille und Ruhe in den kahlen Raum zauberten. Tagsüber und sogar in der Nacht liessen sich mutige, kleine Geckos von den Wänden plumpsen und verschwanden eilig in Ritzen und Spalten.
Ich lag tagelang im Bett, dick zugedeckt, auch tagsüber im Pullover mit Kappe und Handschuhen und fror dennoch. Der Abt kam zu Besuch, der Meditationsmeister, meine Yogafreundin, die, ebenfalls allein, im Häuschen nebenan hauste. Besucher setzten sich auf den Boden neben mein Lager, versuchten zu helfen, zu raten: es nützte nicht viel. Ging es mir besser, legte ich mich hinter dem Meditationshaus, versteckt durch Bambusstauden auf breite Teakholzbänke, die auch als Massageliegen dienten.
Gegen Abend fühlte ich mich meistens wacher und weniger schwach. Das Abendessen fiel aus, der Mönchstradition entsprechend. Tee stand bereit und manchmal auch Kaffee. Fürs Übersetzen sass ich auf einem Stuhl. Zuerst sprach der Abt des Camps für die Thais. Unser Abt übersetzte die Lehrrede ins Englische, und zu guter Letzt ich ins Deutsche. Wären die Lehrreden weniger spannend, bemerkenswert und aufschlussreich ausgefallen, hätte ich die langen Wartezeiten vielleicht nicht überstanden. Doch die oft beeindruckenden Inhalte schürten meinen Ehrgeiz: ich wollte verstehen und weitergeben. Der Ajahn, der Meditationsmeister, hatte einige seiner Schüler zur Klausur eingeladen, die zum Teil «viel weiter» waren als wir Schweizer. Das rechtfertigte das beachtliche Niveau der Reden. Sie zu übersetzen, fiel mir dennoch rätselhaft leicht. Es ging um Erfahrungen, die seit Langem in mir ruhten, für deren Manifestation mir nur noch die Sprache fehlte. Je anspruchsvoller die Texte, desto pfiffiger gedieh die Übersetzung.
Buddhismus scheint für Suchende oft den Geruch von «Ankommen und Geborgenheit» an sich zu haben. Besonders für Menschen, die der «Kirchen» überdrüssig sind, des Gegängeltwerdens durch Gebote und Verbote, die, wie es scheint, viele geistliche Führer selbst nicht befolgen. Dass Buddhismus weder kuschelig noch «umarmend» ist, war mir nicht fremd!
Ich trug schon als Kind den Stempel: «schuldig» - diente als Spielball, hin und her gekickt von verfeindeten Parteien, die sich um mich stritten. Ich war gezwungen, mich um Verstehen zu bemühen. Auch deshalb fiel mir das Übersetzen leichter. Die Inhalte der Reden, ob buddhistisch oder anderen Quellen entspringend, förderten Erkenntnisse, die, im Keim, seit meiner Geburt in mir bereitlagen. Die Wortfindung brauchte Zeit. Die Stichworte gaben die Lehrer. Der Rest fand sich nach und nach von selbst. Es eilte nicht.
Das Wunder, dass nichts eilte, Ungeduld und Schuldzuweisung Einbildung waren - von Menschen auf Menschen projiziert, trug zum Verstehen bei.
Wenige Tage vor dem Ende der Klausur setzte ich mich zum Interview mit dem Abt auf eine Bank in den Garten. Plötzlicher Schmerz liess mich zusammenzucken. Wenige Minuten später schwoll das eine Knie an, wurde dick und hart. Ich kannte den Vorgang aus Erfahrung, litt seit geraumer Zeit an diesem Phänomen, ahnte, dass ich auch dieses Mal nicht um eine Operation herumkommen würde. Depression überfiel mich. Warum musste das hier geschehen?! Warum?
Ich hinkte zur Bank im Bambushain. Am liebsten hätte ich losgeheult. Doch was hätte das gebracht?
Ein Neurologe aus der Gruppe riet zur Operation. Als Abschluss der Klausur stand der Besuch der Klinik an, die einst König Rama V. gestiftete hatte. Er melde mich dort gleich an – lächelte er und fügte hinzu: «Du hast keine Wahl - nicht wahr?»
Ich ergab mich, dachte an nichts, atmete, schlief kurz ein. Die Abendkühle weckte mich. Auf einen Bambusstab gestützt humpelte ich zu meinem Bett. Wie weit entfernt sich das anfühlte! Ich war erschöpft. Die Decken wärmten. Und wieder tauchte ich ab. Als jemand an die Tür klopfte, schrak ich auf. Man brachte Tee, süsse, kleine Bananen und ein paar Kekse, kühlende Salbe - und sogar eine elastische Binde hatte sich finden lassen. Später brachte mir der Neurologe ein paar Schmerztabletten. Niemand spendete Trost oder sprach von Mitleid. Es war, wie es war.
Vom Parkplatz zur Klinik wurde ich im Rollstuhl gefahren. Eine altertümliche Halle, in der reihenweise Stühle jeder Art und Herkunft standen, sicher an die hundert Stück, empfing die Patienten: Familien mit Kindern, Alte, Menschen, die an Krücken gingen oder, so wie ich, hineingefahren wurden. Es ging weder leise noch laut zu und her: unbeschwert, war das richtige Wort.
Im Behandlungsraum wartete ein freundlicher Arzt, legte beschwichtigend die Hand auf mein Knie: es war heiss und hart. Er füllte eine Spritze mit Anästhetikum, streichelte darüber hin und stach zu. Er fragte mich behutsam aus, wollte wissen, ob mir sowas öfter passiere, mass den Blutdruck, der viel zu hoch ausfiel. Ich wusste es. Doch blutdrucksenkende Tabletten vertrug ich nicht.
Der Arzt liess es dabei bewenden, setzte das bewusste Röhrchen ans Knie – und eidottergelber Saft floss träge ins bereitgehaltene Gefäss - viel zu viel davon. «Wie oft schon», fragte der Arzt liebevoll. Meine Antwort bohrte ein Vakuum in meinen Bauch. Sekundenlang fühlte ich, wie Freude, Mut und Energie mich im Stich liessen.
Ganz zurück ging die Geschwulst nicht. Eine straff ums Knie gewickelte elastische Binde sollte die Heilung unterstützen. Und den Rollstuhl müsse ich mindesten fünf Tage lang benützen - herumlaufen gehe nicht. Am Schalter in der Halle erhalte ich Schmerzmittel, die ich nehmen solle. Zu leiden bringe nichts. Mit Segens- und Genesungswünschen wurde ich verabschiedet. Meine Freundin schob mich zum Schalter, wo die Medikamente schon bereitlagen. Sie kosteten wenige Rappen. Dafür wurde ich zum Gespräch in einen Raum winzigen gebeten, in dem sechs jüngere Ärztinnen und Ärzte mich erwarteten. Sehr behutsam und lächelnd wurde mir gedankt für die Bereitschaft, mich in ihre Hände zu geben. Erstaunen und Bewunderung stand in den Gesichtern: darüber, dass wir Schweizer die weite Reise auf uns genommen hätten, um in ihrem Land zu meditieren und dass ich ihre Hilfe angenommen habe. Die Verblüffung war nicht gespielt. Von Bezahlung wollte niemand etwas wissen. Nein, nein: sie fühlten sich reich genug beschenkt!
Ich wurde gefragt, ob ich mich dazu verstehen könne, einen Blutdrucksenker zu akzeptieren. Und die Ärzte legten mir ans Herz, mich, zurück in der Schweiz, an den Hausarzt zu wenden: um sicher zu gehen.
So viel subtile Einfühlsamkeit hatte ich selten erfahren. Mein Wesen war davon durchtränkt. Ich dankte einmal ums andere – auch auf Thai mit einem Segen, von dem ich wusste, er reiche tief, und gelte für spezielle Situationen. Tränen glitzerten auf Wangen.
Ich fuhr als Letzte aus der Gruppe am Treffpunkt vor der Apotheke vor. Es waren Spezereien, Salben, Seifen eingekauft worden. Auch ich bekam welche in den Schoss gelegt. Als ich erzählte, ich habe für nichts bezahlen dürfen, hörte ich dasselbe von allen. Jede und jeder aus der Gruppe war gefragt worden, auf welche Art sein oder ihr Aufenthalt versüsst werden könne: durch eine Massage, einen Rundgang durch die Labore und die verschiedenen Abteilungen der Klinik oder ein Stöbern im Schlösschen, das sich König Rama V. im Park hatte errichten lassen, für Auszeiten, während denen er sich in «seine» Klinik in Pflege begab – gönnte er sich doch gerne Gutes.
Thais mögen Gruppenspenden lieber als Spenden Einzelner. Und sie haben das dafür Notwendige immer dabei. Ein Umschlag war sofort zur Hand. Und er schwoll, zum Erstaunen aller, im Handumdrehen massiv an, durch Scheine, die einen mehr als ansehnlichen Betrag ergaben, der, wie es die Tradition mochte, auf dem Umschlag vermerkt wurde. Die Leiter der Klinik liessen es sich nicht nehmen, uns persönlich zu verabschieden und uns einmal ums andere Segen und Glück, Gesundheit und frohe Reise zu wünschen. Das ungläubige Erstaunen darüber, dass Menschen aus dem Wunderland Schweiz, «das keine Wünsche offenlasse», die Strapazen einer Meditationsklausur in Thailand auf sich nahmen, freiwillig, war auch hier allgegenwärtig.
Zurück im Camp schob mich meine Freundin im Rollstuhl über Holperpisten und Wiesen zu meinem Häuschen: ein hartes Stück Arbeit….
Die Klausur ging zu Ende. Wir fuhren nach Bangkok in eines der grossen Hotels am Chao Phraya, dem Hauptfluss des Landes. Vom Camp zum Fluss: ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Die Gassen und Gässchen der Stadt, die von Planen überdachten, kleinen Geschäfte links und rechts, Rufe, Gelächter, Roller mit krächzenden Hupen und stinkenden Auspuffen, Katzen und Hunde: der thailändische Alltag befand sich gleich um die Ecke. Pralle Lebendigkeit. Dazwischen Tempel und Tempelchen, Mönche in orangefarbenen Umhängen, Fetzen von Chanting von überall- und nirgendwoher, wabernder Geruch von Räucherstäbchen, Eile und Lässigkeit – eine Welt, fremd und gleichzeitig vertraut, die mich sofort porentief durchdrang.
Ausflüge folgten, zu diesem und jenem Kloster. Zu einigen wurde ich mitgenommen, andere schenkte ich mir. Mit dem Rollstuhl ging es aufs Boot, den Fluss hoch zum Einkaufen, zum Essen. Einige Thais begleiteten uns, führten uns zu Geschäften mit Seidenwaren, Stickereien, Antiquitäten: die Augen gingen uns über!.
Wir waren zu viert als Schweizer. Der Rollstuhl störte. Überall gab es Schwellen, Stufen, Löcher im Asphalt. Gelegentlich hinkte ich ein paar Schritte zu Fuss. Mich wieder zu setzen, bedeutete Erlösung.
Ich war froh darüber, eine der kleinen Hotelsuiten für mich allein zu haben. Rund ums Bett hingen Vorhänge, die – aufgezogen - in der Nacht Milliarden von Lichtern über meine Bettdecke geistern liessen.
Kurz vor der Heimreise besuchten wir das Königskloster, in dem der Abt wohnte – nun in einem Gebäude, das er auf eigene Kosten, aus Spendengeldern hatte herrichten lassen, als Residenz für sich und für mehrheitlich junge Mönche, mit denen er arbeitete, sie unterrichtete und, falls geeignet, sie aufs Universitätsstudium vorbereitete – ohne Entgelt, versteht sich.
Der Abt deutete an, es sei für mich an der Zeit, den Rollstuhl abzugeben. Doch das Klostergelände erwies sich als so weitläufig, dass ich es nicht schaffte, den Rundgang zu Fuss durchzustehen. Die Blutdrucktabletten zeitigten Nebenwirkungen.
Am darauffolgenden Tag stellte ich den Rollstuhl dennoch in die Lobby des Hotels. Er fiel auf - altersschwach und schäbig, wie er war. Ein «Boy» der Klinik fuhr mit einem Lieferwagen vor. Und einmal mehr erstaunte mich die Sorgfalt und Behutsamkeit, mit der ihm das klapprige Gefährt übergeben und vom «Boy» im Auto verstaut wurde – beinahe, als sei es aus Gold. Der Stress, die Hetzerei, die Lieblosigkeit des Umgangs mit Dingen, Tieren und Menschen im sogenannten «Westen», wirkte daneben krass, zerstörerisch und nahezu teuflisch.
In Zürich gelandet, ging ich einigermassen aufrecht und forsch durch den Zoll. Einige Tage lang hielt ich mich gut. Dann holte mich das Kranksein, die Erschöpfung einmal mehr ein.
Ich bekam die Adresse eines Kardiologen, ging hin – und kriegte, nach dem gängigen Test den Bescheid, es fehle mir nichts. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe.
Zeit verstrich.
Auf einen weiteren Besuch beim Kardiologen folgte diesmal eine Herzkatheteruntersuchung in einer Klinik. Die Diagnose lautete, eine der Herzklappen halte nicht dicht.
Seit geraumer Zeit schluckte ich Medikamente, nicht nur blutdrucksenkende, die den Alltag, wenn nicht zur Qual, so doch mühsam gestalteten: ich fühlte mich elend.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell, so als falle eine Spule auf den Boden und rolle das letzte Stück Faden auf einmal ab.
Die nächste Katheteruntersuchung förderte Ergiebiges zutage. Sie dauerte lange. Die Ärzte besprachen sich, schoben die Sonde vorwärts und zurück, schienen perplex. Zu Beginn der Untersuchung, die stationär stattfand, lachte der Arzt mich noch an und meinte: «Vielleicht finden wir ja gar nichts. Es geht Ihnen doch so gut».
Als die Untersuchung endlich beendet war, gesellte sich der Kardiologe zu mir und meldete kopfschüttelnd: «6 Bypässe – und dann erneuern wir auch gleichzeitig die Herzklappe. Es geht nicht anders: es eilt».
Der Arzt fühlte sich sichtlich mies. Ich nicht. Viel weniger als der Umstand des nicht zu unterschätzenden Eingriffs, wie er sagte – berührte mich anderes: einerseits äusserte es sich als Lampenfieber – andererseits als stilles Glück: denn nun konnte in mir die Verachtung gegenüber der Schulmedizin, den Spitälern, der Ärzteschaft erlöst werden! Das fühlte sich weich, liebevoll und in Ordnung an. Angst empfand ich keine. Angst hatte ich nur davor, diese unerledigte Last in ein nächstes Leben mit hinübernehmen zu müssen. Nun glitt die erdrückende Sorge von mir ab.
Die Diagnose und mein Einverständnis bedeuteten Erlösung.
Immer mal wieder war ich nachts aufgewacht, schweissgebadet, zitternd. Fieber zu entwickeln war nicht mein Ding. Also beobachtete ich das Geschehen und hielt ihm stand. Auf dem Weg begegnen Schülern manche unerklärliche Phänomene.
Später, während des Spaziergangs mit dem Hund, wurde, von den Füssen her die Beine hochsteigend, der Körper taub. Wieder beobachtete ich das Geschehen und fragte mich, was zu tun wäre, für den Fall, ich fiele hin und bliebe liegen. Ich entschied mich fürs Ruhigbleiben und den Hund um Hilfe schicken. Und, falls es «soweit» wäre, «es» zuzulassen.
Noch konnte ich laufen, wenn auch langsam.
Am nächsten Tag das gleiche Phänomen, verstärkt. Diesmal sprach ich es an.
Danach ging alles schnell. Am Tag vor dem Klinikeintritt, einem Sonntag, unternahmen mein Mann und ich eine Motorradfahrt in den Jura, an Orte, die ich liebte. Auf einer Anhöhe hielten wir an. Mein Mann fotografierte mich, auf der Gold Wing posierend, so als fahre ich gleich los – mit unserem Motorrad, das 450 kg wog, und dessen Handgriffe ich nur knapp erreichen konnte! Das beste Bild liess er auf Pappe aufziehen und brachte es mir ins Spital – als Trost oder zum Rumzeigen.
Nachts stand der zauberhaft erleuchtete Münsterturm im Fensterrahmen des Klinikzimmers.
Ich folgte den Geschehnissen, von Augenblick zu Augenblick, schaute ihnen zu, schaute mir zu. Am dritten Tag nach der Operation besuchten mich der Abt, sein Stellvertreter und Mitglieder der Meditationsklasse, beladen mit Blumen, Geschenklein und Schokolade, die zu schlecken ich erst Wochen später wieder Lust verspürte. Ich lag da wie geplättet, lächelte die Besucher dankbar an. Der Abt schenkte mir eine kleine Buddha-Statue in einem Glasgehäuse mit Kette, die er von einem bedeutenden Lehrer geschenkt bekommen habe. Ich hielt sie in der Hand oder wickelte die Kette ums Handgelenk. Um den Hals legen konnte ich sie nicht: Brust, Fussgelenke und Beine waren überklebt mit Pflastern. Schmerzen empfand ich keine. Nur tiefe Erschöpfung – und Dankbarkeit.
Essen mochte ich nichts, ausser ein paar Löffeln Suppe. Pampers anziehen – das hatte ich mir geschworen – würde ich nie. Nun war ich froh, dass es sie gab. Was für eine Erfindung! Sie hielten absolut dicht! Das war auch notwendig. Die ersten beiden Tage konnte ich, mit viel Hilfe, ein bisschen auf der Bettkante sitzen und wenige Schritte gehen. Gewaschen wurde ich von Pflegerinnen. Ich trug einen Katheter fürs Flüssige. Doch fürs Grobe brauchte ich die Toilette, Führung und Unterstützung. Der Körper fühlte sich an wie Brei – und ich durfte es zulassen.
Die Reha im Angesicht der Berge begann normal. Doch zünftig auf die Beine bringen wollte sie mich nicht. Das Treppensteigen, die Gruppen-Spaziergänge, vor allem das Bergaufgehen, raubten mir meistens «den Schnauf». Ich schlief schlecht, fror oft.
Wieder zuhause schien der Körper allmählich zu Kräften zu kommen, auch dank der täglichen Spaziergänge. Doch fühlte ich mich tief im Innern überflüssig, unwillkommen und heimatlos. Ich arbeitete zwar, ging einkaufen. Es wurde Sommer. Der Garten blühte. Doch etwas fehlte: das Ankommen im FA der Oktave! Als ich es begriff, schlug es zu!
Wenig später – es war Zeit zum Yoga zu fahren, konnte ich nicht aufstehen. Der Körper wurde eiskalt. Schweiss rann unter den Kleidern. Schüttelfrost und Taubheit lähmten die Glieder.
Mein Mann fuhr mich umgehend in die Klinik.
Ich landete in der Notfallstation, mit hohem Fieber. Was mir fehlte? Ratlosigkeit herrschte. Nach Stunden des Wartens, als der Zustand sich durch Spritzen und Infusionen allmählich stabilisierte, wurde entschieden, ich müsse zur Untersuchung in die Intensivstation nach Bern gefahren werden. Mein Mann blieb erschöpft zurück. Gegen Mitternacht fuhr man mich mit Blaulicht in «die Insel», das Inselspital . In Ambulanzen kutschiert zu werden, fühlt sich ziemlich holprig an. Doch der Pfleger, der mich begleitete, entpuppte sich als recht gesellig, und die Zeit verging im Nu. Ausgeladen wurde ich überraschend im dritten Stock der «Insel» – in einer Art von Rundturm, den Ambulanzen hochfahren konnten. Die zweite Überraschung folgte, als, hinter geschlossenen Vorhängen ein Schild an meinem Abteil aufgehängt wurde mit dem Vermerk: «Vorsicht: Grippe». Ich war demnach nicht allein im Überwachungsraum. Schräg gegenüber jammerte ein Patient, aus schierer Angst vor einer etwaigen Operation und entnervt wegen des pausenlosen Piepsens der Apparate. Ich lag auf Kabeln, und Kabel lagen auf mir. Drei Tage lang. Hie und da trank ich einen Schluck Wasser. Zu essen bekam ich nichts. Und das war mir recht. Nach drei Tagen und mehreren Untersuchungen lautete die Diagnose: Blutvergiftung im ganzen Körper.
Zurück in der Klinik an meinem Wohnort und der meisten Schläuche ledig, begann die Therapie: jeden Tag Antibiotika-Infusionen, für wie lange, wusste niemand. Eine zweite «Reha» war unabdingbar. Es brauchte Überwachung und tägliche Tests, um festzustellen, ob die Medikamente anschlugen, ob zusätzliche oder andere notwendig waren, denn das Virus, das mein Blut besetzt hielt, gehörte zu den seltenen. Experten anderer Kliniken wurden eingeschaltet und Blutproben hin- und hergeschickt..
Der Häuserkomplex, in dem die «Reha» logierte, gehörte einer Hotelkette. Die Zweierzimmer mit Balkonen, hoch über dem See wirkten gemütlich. An der Wand gegenüber jedem Bett hing ein Fernseher. Es gab Kopfhörer. Die Betten aus Holz erinnerten an Ferien in einem Bauernhaus in den Bergen.
Das Essen sei vorzüglich schwärmte meine Mitbewohnerin, und erst die Desserts: köstlich! Allerdings nicht für mich. Morgens auf dem Zimmer bekam ich Flocken, Joghurt und eine Banane, nebst Kaffee. Mittags ein Schälchen Suppe, angereichert mit Vitaminen und Eiweiss. Abends nicht viel mehr. Wie nach Indien, wie im Camp in Thailand, wie nach der Herzoperation schlotterten die Kleider an meinem Leib. Das machte mir nichts aus. Da die Medikamente laufend angepasst werden mussten, gebärdeten sich die Nebenwirkungen entsprechend unsanft. Und das rund neun Wochen lang, wobei die letzten zwei auf Tablettenbasis zuhause ausliefen. Immer noch fror ich unsäglich, Tag und Nacht. Danach vergingen Wochen, bis ich wieder Appetit auf eine Mahlzeit verspürte.
Der Blutdruck verhielt sich, wie es ihm passte. Auch der Wechsel auf «Natürliches», auf Homöopathie änderte nichts daran.
Die Welt ging ihren Gang. Und die Oktave?!
Langsam rappelte sich der Körper auf. Ich unterrichtete wieder. Führte den Haushalt, den Hund aus, an Stöcken. Der Körper litt.
Eine wahrscheinlich ererbte Erkrankung der Wirbelsäule, führte mit der Zeit zu einem Beckenschiefstand. Die Diagnose damals war niederschmetternd. Auch deshalb betrieb ich eine Yogaschule, führte alle Übungen zusammen mit den Schülern aus. Bewegung war für mich überlebenswichtig.
Eines Abends – ich war eben vom Laufen nach Hause gekommen und entsprechend müde – wollte nur noch kurz den Müll zum Container tragen, obwohl ich spürte, es könnte zu viel des Guten sein – stolperte ich beim Öffnen der Verbindungstüre zwischen dem Wohnteil und der Praxis über die Kante eines Pflastersteins. Ich hatte es kommen sehen….
Einen Augenblick lang hing ich buchstäblich in der Luft. Dann schmiss es mich auf den Boden, dass es krachte. Es war Winter. Ich trug Stiefel, gefütterte Hosen, Mantel und Kappe. Doch ich spürte und sah: das war’s! Die ohnehin schmerzende Hüfte war «hinüber». Bedauern empfand ich nicht.
Die Röntgenbilder beim Hausarzt bestätigten meine Annahme. Er meldete mich umgehend zur Operation in der Klinik an. Zehn Tage lang geschah nichts. Erste «Grippefälle» hielten Ärzte und Pfleger auf Trab.
Mein Mann ertrug mein Hinken schwer. Eines Abends eröffnete er mir, ich solle das Nötigste packen, eine Ambulanz hole mich ab, warten könne ich auch wohlbehütet im Spital. Das geschah: ich verbrachte vierundzwanzig Stunden im «Notfall», bis ein Bett für mich frei wurde. – Und ich verstand ohne Groll, wie einfach und zügig jemand «abgeholt und versorgt» werden konnte.
********************

Dreissig Speichen treffen die Nabe.
Die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefässen.
Die Leere darinnen macht das Gefäss.
Fenster und Türen bricht man in Mauern.
Die Leere damitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes.
Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.
Lao Tse: «Tao Te King », 500 Jahre vor Christus
Jahre vergingen. Klausur folgte auf Klausur. Und ich hatte noch nie Thailand besucht. Brachte es nicht fertig, dem Land die Ehre zu erweisen, in dem der Abt geboren worden war, in eine Familie von Bauern.
Als Kuhhirte verbrachte er die ersten Lebensjahre. Nun bekleidete er den zweithöchsten Rang in der Hierarchie des Theravada-Buddhismus in Thailand, hatte studiert, promoviert, war ins Ausland entsandt worden, um für seine Landsleute - deren Anzahl in der «westlichen Welt» laufend zunimmt - Spenden zu sammeln, damit Thais ein spirituelles Heim bekämen, ein Kloster im traditionellen Stil erbaut – das später im Fremdenführer als Sehenswürdigkeit angepriesen und sofort unter Schweizer Heimatschutz gestellt wurde.
Auch wenn mir das Reisen keinen Nervenkitzel mehr bescherte: ich musste mich aufraffen, nach Bangkok fliegen, das Königskloster besuchen. Und ebenso Schweizer Freunde, die die Wintermonate dort verbrachten, in der Obhut ihres Sohnes, der, mit einer Thailänderin verheiratet, das «Ban Sabai», ein kleines «Resort» in Chiang Mai führte.
Eine Yoga-Freundin aus Zürich, reisegeübt und von dem Projekt begeistert, übernahm die Organisation. Eine meiner Yogaschülerinnen schloss sich uns an. Und auf ging es: - endlich!
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Wir flogen über Bangkok nach Chiang Mai und bezogen im erwähnten Resort ein Häuschen mitten im Grünen, nicht einsehbar von etwaigen Nachbarn. Die Dusche, umgeben von einer Backsteinmauer unter freiem Himmel, löste Gelächter aus. Die Koffer die steile Holztreppe hinauf zu bugsieren kostete Nerven, der offene Liegeraum unter dem Häuschen sowie die Kammer des Dampfbads, auf dem das Häuschen ruhte, machte klar: thailändisches Leben findet im Freien statt - eine gewöhnungsbedürftige Perspektive, die die Hitze, die tagsüber herrschte, rechtfertigte.
Wir wurden vom ersten Augenblick an liebevoll umsorgt, von unseren Schweizer Freunden und natürlich von den Thais, die kochten, putzten und den Garten pflegten.
Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht machten mir zu schaffen. Immer die Schuhe vor Türen abzustreifen, galt für Klöster wie für Privaträume. Auch in den Speisesaal im Ban stieg man eine Treppe hoch, barfuss – trotz der Kühle der Nächte. Ich fror oft, auch im Bett, das ich mit meiner Freundin teilte, die im Schlaf automatisch die Decke zu sich hinüberzog.
Wir erlebten Thailand, den Teil, den wir erkundeten, weniger als Touristen, denn als Familienmitglieder. Auf dem Mekong tuckerten wir, auf einem Familienboot köstlich bekocht und verwöhnt, nach Luang Prabang: Mönche, Strassenschluchten voller Gelächter, Geschrei, Motorradgeheul und Gassenküchen, die köstliche Nudelsuppe anboten - und Klöster über Klöster: atemberaubend kostbar - Besuche in abgelegenen Dörfern füllten unsere Tage bis obenauf - Frauen mit Hälsen steif vor Metallreifen, auf denen Köpfe pendelten, buchstäblich wie «abgehoben». Auf Elefantenrücken zu reiten, produzierte reinste Glückseligkeit. Der Blick der Elefanten: unvergesslich - zweirädrige Ochsenkarren auf Holperpisten…. und später - ohne Angst: die Augen des ausgewachsenen Tigers - auf dessen Rücken zu liegen - sein Fell behutsam, in langen Strichen zu liebkosen, im Rhythmus des Atems - Stille über Stille - - bis es genug war, der Tiger aufstand und, ein paar Schritte entfernt in die Kühle des Schattens glitt.
In Bangkok überraschte uns die vornehme Schlichtheit des Königsklosters: darin der Abt, der uns im ersten Stock seines Häuschens zum Essen empfing, das von zwei Gymnasiasten in der Küche darunter gekocht worden war. Ich vergass die «Niederwerfungen» zur Begrüssung. Wie ein Schwamm, vollgesogen von Eindrücken fühlte ich mich: Gold über Gold, gleissend im Licht der sinkenden Sonne – leise schmatzend die Wellen ums Boot in den Klongs – massig die Krokodile unter den Balkonen, dösend in der Hitze – funkelnde Pracht der Farben auf dem Markt – wuselnde, summende Rastlosigkeit – ausufernde Lebendigkeit - im Takt des Herzschlags….
und schon war ich wieder halb krank, wie in den Jahren zuvor, während oder nach einer Reise - niemand wusste, weshalb.
Die Rekonvaleszenz dauerte Wochen.
Eine Meditationsklausur in einem Meditationscamp stand noch an: rund zwei Jahre später fand sie statt, in einem neu errichteten Camp, «in den Bergen», laut Beschreibung der Thais, die, wie stets, als Teilnehmer in der Überzahl waren. Der Meditationsmeister, der jedes Jahr aus Thailand anreiste zur Klausur im Kloster in der Schweiz, empfing uns, gemeinsam mit dem Stifter und Leiter des Camps. Das Meditationsgebäude stand schon, sowie etwa zwei Dutzend der Häuschen zur Unterbringung der Meditierenden. In jedem Häuschen integriert waren Dusche, Toilette und Lavabo. Wasser floss spärlich und kalt. Die Installationen entsprachen asiatischen Vorstellungen.
Während den zwei Wochen unsere Aufenthalts stellten wir tagsüber Flaschen ins Freie, um warmes Wasser fürs Haarewaschen und die Körperpflege zu erhalten. Ein Trick, der gut funktionierte, denn tagsüber brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Noch bevor sie wieder unter den Horizont sank, staffierten wir uns mit wollenen Kappen, Winterpullovern, Jacken und Socken aus. Auch die Thais froren des Nachts und klaubten Pelzmützen und Daunenjacken aus ihrem Gepäck.
Das Frühstück wurde im Freien aufgetragen, sehr früh. Und es bestand aus, für Schweizer ungewohnten Gerichten: es gab Reis, Gemüse, Bohnen…. einfach zubereitete Mahlzeiten. Die Schweizer-Thais hatten sich vor der Abreise klugerweise mit Brot, Kartoffeln und Käse eingedeckt….
Der lange Flug, die Wartezeit bis zum nächsten, setzten mir zu. Die ersten zwei Tage hielt ich noch durch, dann holte mich das stets gleiche, rätselhafte Kranksein ein. Ich konnte nicht schlucken, vertrug die Art der Ernährung nicht. Zum Glück bewohnte ich mein Häuschen allein, und es lagen fünf geflochtene Matten als Unterlage in einer Ecke sowie mehrere Wolldecken. Neben dem Lager erbaute ich auf einer Schachtel einen kleinen Altar mit winzigen Statuen und batteriebetriebenen Kerzchen, die zwar nach einigen Nächten den Geist aufgaben, aber Stille und Ruhe in den kahlen Raum zauberten. Tagsüber und sogar in der Nacht liessen sich mutige, kleine Geckos von den Wänden plumpsen und verschwanden eilig in Ritzen und Spalten.
Ich lag tagelang im Bett, dick zugedeckt, auch tagsüber im Pullover mit Kappe und Handschuhen und fror dennoch. Der Abt kam zu Besuch, der Meditationsmeister, meine Yogafreundin, die, ebenfalls allein, im Häuschen nebenan hauste. Besucher setzten sich auf den Boden neben mein Lager, versuchten zu helfen, zu raten: es nützte nicht viel. Ging es mir besser, legte ich mich hinter dem Meditationshaus, versteckt durch Bambusstauden auf breite Teakholzbänke, die auch als Massageliegen dienten.
Gegen Abend fühlte ich mich meistens wacher und weniger schwach. Das Abendessen fiel aus, der Mönchstradition entsprechend. Tee stand bereit und manchmal auch Kaffee. Fürs Übersetzen sass ich auf einem Stuhl. Zuerst sprach der Abt des Camps für die Thais. Unser Abt übersetzte die Lehrrede ins Englische, und zu guter Letzt ich ins Deutsche. Wären die Lehrreden weniger spannend, bemerkenswert und aufschlussreich ausgefallen, hätte ich die langen Wartezeiten vielleicht nicht überstanden. Doch die oft beeindruckenden Inhalte schürten meinen Ehrgeiz: ich wollte verstehen und weitergeben. Der Ajahn, der Meditationsmeister, hatte einige seiner Schüler zur Klausur eingeladen, die zum Teil «viel weiter» waren als wir Schweizer. Das rechtfertigte das beachtliche Niveau der Reden. Sie zu übersetzen, fiel mir dennoch rätselhaft leicht. Es ging um Erfahrungen, die seit Langem in mir ruhten, für deren Manifestation mir nur noch die Sprache gefehlt hatte. Je anspruchsvoller die Texte, desto pfiffiger gedieh die Übersetzung.
Buddhismus scheint für Suchende oft den Geruch von «Ankommen und Geborgenheit» an sich zu haben. Besonders für Menschen, die der «Kirchen» überdrüssig sind, des Gegängeltwerdens durch Gebote und Verbote, die, wie es scheint, viele geistliche Führer selbst nicht befolgen. Dass Buddhismus weder kuschelig noch «umarmend» ist, war mir nicht fremd!
Ich trug schon als Kind den Stempel: «schuldig» - diente als Spielball, hin und her gekickt von verfeindeten Parteien, die sich um mich stritten. Ich war gezwungen, mich um Verstehen zu bemühen. Auch deshalb fiel mir das Übersetzen leichter. Die Inhalte der Reden, ob buddhistisch oder anderen Quellen entspringend, förderten Erkenntnisse, die, im Keim, seit meiner Geburt in mir bereitlagen. Die Wortfindung brauchte Zeit. Die Stichworte gaben die Lehrer. Der Rest fand sich nach und nach von selbst. Es eilte nicht.
Das Wunder, dass nichts eilte, Ungeduld und Schuldzuweisung Einbildung waren - von Menschen auf Menschen projiziert, trug zum Verstehen bei.
Wenige Tage vor dem Ende der Klausur setzte ich mich zum Interview mit dem Abt auf eine Bank in den Garten. Plötzlicher Schmerz liess mich zusammenzucken. Wenige Minuten später schwoll das eine Knie an, wurde dick und hart. Ich kannte den Vorgang aus Erfahrung, litt seit geraumer Zeit an diesem Phänomen, ahnte, dass ich auch dieses Mal nicht um eine Operation herumkommen würde. Depression überfiel mich. Warum musste das hier geschehen?! Warum?
Ich hinkte zur Bank im Bambushain. Am liebsten hätte ich losgeheult. Doch was hätte das gebracht?
Ein Neurologe aus der Gruppe riet zur Operation. Als Abschluss der Klausur stand der Besuch der Klinik an, die einst König Rama V. gestiftete hatte. Er melde mich dort gleich an – lächelte er und fügte hinzu: «Du hast keine Wahl - nicht wahr?»
Ich ergab mich, dachte an nichts, atmete, schlief kurz ein. Die Abendkühle weckte mich. Auf einen Bambusstab gestützt humpelte ich zu meinem Bett. Wie weit entfernt sich das anfühlte! Ich war erschöpft. Die Decken wärmten. Und wieder tauchte ich ab. Als jemand an die Tür klopfte, schrak ich auf. Man brachte Tee, süsse, kleine Bananen und ein paar Kekse, kühlende Salbe - und sogar eine elastische Binde hatte sich finden lassen. Später brachte mir der Neurologe ein paar Schmerztabletten. Niemand spendete Trost oder sprach von Mitleid. Es war, wie es war.
Vom Parkplatz zur Klinik wurde ich im Rollstuhl gefahren. Eine altertümliche Halle, in der reihenweise Stühle jeder Art und Herkunft standen, sicher an die hundert Stück, empfing die Patienten: Familien mit Kindern, Alte, Menschen, die an Krücken gingen oder, so wie ich, hineingefahren wurden. Es ging weder leise noch laut zu und her: unbeschwert, war das richtige Wort.
Im Behandlungsraum wartete ein freundlicher Arzt, legte beschwichtigend die Hand auf mein Knie: es war heiss und hart. Er füllte eine Spritze mit Anästhetikum, streichelte darüber hin und stach zu. Er fragte mich behutsam aus, wollte wissen, ob mir sowas öfter passiere, mass den Blutdruck, der viel zu hoch ausfiel. Ich wusste es. Doch blutdrucksenkende Tabletten vertrug ich nicht.
Der Arzt liess es dabei bewenden, setzte das bewusste Röhrchen ans Knie – und eidottergelber Saft floss träge ins bereitgehaltene Gefäss - viel zu viel davon. «Wie oft schon», fragte der Arzt liebevoll. Meine Antwort bohrte ein Vakuum in meinen Bauch. Sekundenlang fühlte ich, wie Freude, Mut und Energie mich im Stich liessen.
Ganz zurück ging die Geschwulst nicht. Eine straff ums Knie gewickelte elastische Binde sollte die Heilung unterstützen. Und den Rollstuhl müsse ich mindesten fünf Tage lang benützen - herumlaufen gehe nicht. Am Schalter in der Halle erhalte ich Schmerzmittel, die ich nehmen solle. Zu leiden bringe nichts. Mit Segens- und Genesungswünschen wurde ich verabschiedet. Meine Freundin schob mich zum Schalter, wo die Medikamente schon bereitlagen. Sie kosteten wenige Rappen. Dafür wurde ich zum Gespräch in einen winzigen Raum gebeten, in dem sechs jüngere Ärztinnen und Ärzte mich erwarteten. Sehr behutsam und lächelnd wurde mir gedankt für die Bereitschaft, mich in ihre Hände zu geben. Erstaunen und Bewunderung stand in den Gesichtern: darüber, dass wir Schweizer die weite Reise auf uns genommen hätten, um in ihrem Land zu meditieren und dass ich ihre Hilfe angenommen habe. Die Verblüffung war nicht gespielt. Von Bezahlung wollte niemand etwas wissen. Nein, nein: sie fühlten sich reich genug beschenkt!
Ich wurde gefragt, ob ich mich dazu verstehen könne, einen Blutdrucksenker zu akzeptieren. Und die Ärzte legten mir ans Herz, mich, zurück in der Schweiz, an den Hausarzt zu wenden: um sicher zu gehen.
So viel subtile Einfühlsamkeit hatte ich selten erfahren. Mein Wesen war davon durchtränkt. Ich dankte einmal ums andere – auch auf Thai mit einem Segen, von dem ich wusste, er reiche tief, und gelte für spezielle Situationen. Tränen glitzerten auf Wangen.
Ich fuhr als Letzte aus der Gruppe am Treffpunkt vor der Apotheke vor. Es waren Spezereien, Salben, Seifen eingekauft worden. Auch ich bekam welche in den Schoss gelegt. Als ich erzählte, ich habe für nichts bezahlen dürfen, hörte ich dasselbe von allen. Jede und jeder aus der Gruppe war gefragt worden, auf welche Art sein oder ihr Aufenthalt versüsst werden könne: durch eine Massage, einen Rundgang durch die Labore und die verschiedenen Abteilungen der Klinik oder ein Stöbern im Schlösschen, das sich König Rama V. im Park hatte errichten lassen, für Auszeiten, während denen er sich in «seine» Klinik in Pflege begab – gönnte er sich doch gerne Gutes.
Thais mögen Gruppenspenden lieber als Spenden Einzelner. Und sie haben das dafür Notwendige immer dabei. Ein Umschlag war sofort zur Hand. Und er schwoll, zum Erstaunen aller, im Handumdrehen massiv an, durch Scheine, die einen mehr als ansehnlichen Betrag ergaben, der, wie es die Tradition mochte, auf dem Umschlag vermerkt wurde. Die Leiter der Klinik liessen es sich nicht nehmen, uns persönlich zu verabschieden und uns einmal ums andere Segen und Glück, Gesundheit und frohe Reise zu wünschen. Das ungläubige Erstaunen darüber, dass Menschen aus dem Wunderland Schweiz, «das keine Wünsche offenlasse», die Strapazen einer Meditationsklausur in Thailand auf sich nahmen, freiwillig, war auch hier allgegenwärtig.
Zurück im Camp schob mich meine Freundin im Rollstuhl über Holperpisten und Wiesen zu meinem Häuschen: ein hartes Stück Arbeit….
Die Klausur ging zu Ende. Wir fuhren nach Bangkok in eines der grossen Hotels am Chao Phraya, dem Hauptfluss des Landes. Vom Camp zum Fluss: ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Die Gassen und Gässchen der Stadt, die von Planen überdachten, kleinen Geschäfte links und rechts, Rufe, Gelächter, Roller mit krächzenden Hupen und stinkenden Auspuffen, Katzen und Hunde: der thailändische Alltag befand sich gleich um die Ecke. Pralle Lebendigkeit. Dazwischen Tempel und Tempelchen, Mönche in orangefarbenen Umhängen, Fetzen von Chanting von überall- und nirgendwoher, wabernder Geruch von Räucherstäbchen, Eile und Lässigkeit – eine Welt, fremd und gleichzeitig vertraut, die mich sofort porentief durchdrang.
Ausflüge folgten, zu diesem und jenem Kloster. Zu einigen wurde ich mitgenommen, andere schenkte ich mir. Mit dem Rollstuhl ging es aufs Boot, den Fluss hoch zum Einkaufen, zum Essen. Einige Thais begleiteten uns, führten uns zu Geschäften mit Seidenwaren, Stickereien, Antiquitäten: die Augen gingen uns über!.
Wir waren zu viert als Schweizer. Der Rollstuhl störte. Überall gab es Schwellen, Stufen, Löcher im Asphalt. Gelegentlich hinkte ich ein paar Schritte zu Fuss. Mich wieder zu setzen, bedeutete Erlösung.
Ich war froh darüber, eine der kleinen Hotelsuiten für mich allein zu haben. Rund ums Bett hingen Vorhänge, die – aufgezogen - in der Nacht Milliarden von Lichtern über meine Bettdecke geistern liessen.
Kurz vor der Heimreise besuchten wir das Königskloster, in dem der Abt wohnte – nun in einem Gebäude, das er auf eigene Kosten, aus Spendengeldern hatte herrichten lassen, als Residenz für sich und für mehrheitlich junge Mönche, mit denen er arbeitete, sie unterrichtete und, falls geeignet, sie aufs Universitätsstudium vorbereitete – ohne Entgelt, versteht sich.
Der Abt deutete an, es sei für mich an der Zeit, den Rollstuhl abzugeben. Doch das Klostergelände erwies sich als so weitläufig, dass ich es nicht schaffte, den Rundgang zu Fuss durchzustehen. Die Blutdrucktabletten zeitigten Nebenwirkungen.
Am darauffolgenden Tag stellte ich den Rollstuhl dennoch in die Lobby des Hotels. Er fiel auf - altersschwach und schäbig, wie er war. Ein «Boy» der Klinik fuhr mit einem Lieferwagen vor. Und einmal mehr erstaunte mich die Sorgfalt und Behutsamkeit, mit der ihm das klapprige Gefährt übergeben und vom «Boy» im Auto verstaut wurde – beinahe, als sei es aus Gold. Der Stress, die Hetzerei, die Lieblosigkeit des Umgangs mit Dingen, Tieren und Menschen im sogenannten «Westen», wirkte daneben krass, zerstörerisch und nahezu teuflisch.
In Zürich gelandet, ging ich einigermassen aufrecht und forsch durch den Zoll. Einige Tage lang hielt ich mich gut. Dann holte mich das Kranksein, die Erschöpfung einmal mehr ein.
Ich bekam die Adresse eines Kardiologen, ging hin – und kriegte, nach dem gängigen Test den Bescheid, es fehle mir nichts. Ich brauche nur ein bisschen Ruhe.
Zeit verstrich.
Auf einen weiteren Besuch beim Kardiologen folgte diesmal eine Herzkatheteruntersuchung in einer Klinik. Die Diagnose lautete, eine der Herzklappen halte nicht dicht.
Seit geraumer Zeit schluckte ich Medikamente, nicht nur blutdrucksenkende, die den Alltag, wenn nicht zur Qual, so doch mühsam gestalteten: ich fühlte mich elend.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell, so als falle eine Spule auf den Boden und rolle das letzte Stück Faden auf einmal ab.
Die nächste Katheteruntersuchung förderte Ergiebiges zutage. Sie dauerte lange. Die Ärzte besprachen sich, schoben die Sonde vorwärts und zurück, schienen perplex. Zu Beginn der Untersuchung, die stationär stattfand, lachte der Arzt mich noch an und meinte: «Vielleicht finden wir ja gar nichts. Es geht Ihnen doch so gut».
Als die Untersuchung endlich beendet war, gesellte sich der Kardiologe zu mir und meldete kopfschüttelnd: «6 Bypässe – und dann erneuern wir auch gleichzeitig die Herzklappe. Es geht nicht anders: es eilt».
Der Arzt fühlte sich sichtlich mies. Ich nicht. Viel weniger als der Umstand des nicht zu unterschätzenden Eingriffs, wie er sagte – berührte mich anderes: einerseits äusserte es sich als Lampenfieber – andererseits als stilles Glück: denn nun konnte in mir die Verachtung gegenüber der Schulmedizin, den Spitälern, der Ärzteschaft erlöst werden! Das fühlte sich weich, liebevoll und in Ordnung an. Angst empfand ich keine. Angst hatte ich nur davor, diese unerledigte Last in ein nächstes Leben mit hinübernehmen zu müssen. Nun glitt diese erdrückende Sorge von mir ab.
Die Diagnose und mein Einverständnis bedeuteten Erlösung.
Immer mal wieder war ich nachts aufgewacht, schweissgebadet, zitternd. Fieber zu entwickeln war nicht mein Ding. Also beobachtete ich das Geschehen und hielt ihm stand. Auf dem Weg begegnen Schülern manche unerklärliche Phänomene.
Später, während des Spaziergangs mit dem Hund, wurde, von den Füssen her die Beine hochsteigend, der Körper taub. Wieder beobachtete ich das Geschehen und fragte mich, was zu tun wäre, für den Fall, ich fiele hin und bliebe liegen. Ich entschied mich fürs Ruhigbleiben und den Hund um Hilfe schicken. Und, falls es «soweit» wäre, «es» zuzulassen.
Noch konnte ich laufen, wenn auch langsam.
Am nächsten Tag das gleiche Phänomen, verstärkt. Diesmal sprach ich es an.
Danach ging alles schnell. Am Tag vor dem Klinikeintritt, einem Sonntag, unternahmen mein Mann und ich eine Motorradfahrt in den Jura, an Orte, die ich liebte. Auf einer Anhöhe hielten wir an. Mein Mann fotografierte mich, auf der Gold Wing posierend, so als fahre ich gleich los – mit unserem Motorrad, das 450 kg wog, und dessen Handgriffe ich nur knapp erreichen konnte! Das beste Bild liess er auf Pappe aufziehen und brachte es mir ins Spital – als Trost, zum Rumzeigen.
Nachts stand der zauberhaft erleuchtete Münsterturm im Fensterrahmen des Klinikzimmers.
Ich folgte den Geschehnissen, von Augenblick zu Augenblick, schaute ihnen zu, schaute mir zu. Am dritten Tag nach der Operation besuchten mich der Abt, sein Stellvertreter und Mitglieder der Meditationsklasse, beladen mit Blumen, Geschenklein und Schokolade, die zu schlecken ich erst Wochen später wieder Lust verspürte. Ich lag da wie geplättet, lächelte die Besucher dankbar an. Der Abt schenkte mir eine kleine Buddha-Statue in einem Glasgehäuse mit Kette, die er von einem bedeutenden Lehrer geschenkt bekommen habe. Ich hielt sie in der Hand oder wickelte die Kette ums Handgelenk. Um den Hals legen konnte ich sie nicht: Brust, Fussgelenke und Beine waren überklebt mit Pflastern. Schmerzen empfand ich keine. Nur tiefe Erschöpfung – und Dankbarkeit.
Essen mochte ich nichts, ausser ein paar Löffeln Suppe. Pampers anziehen – das hatte ich mir geschworen – würde ich nie. Nun war ich froh, dass es sie gab. Was für eine Erfindung! Sie hielten absolut dicht! Das war auch notwendig. Die ersten beiden Tage konnte ich, mit viel Hilfe, ein bisschen auf der Bettkante sitzen und wenige Schritte gehen. Gewaschen wurde ich von Pflegerinnen. Ich trug einen Katheter fürs Flüssige. Doch fürs Grobe brauchte ich die Toilette, Führung und Unterstützung. Der Körper fühlte sich an wie Brei – und ich durfte es zulassen.
Die Reha im Angesicht der Berge begann normal. Doch "zünftig auf die Beine bringen" wollte sie mich nicht. Das Treppensteigen, die Gruppen-Spaziergänge, vor allem das Bergaufgehen, raubten mir meistens «den Schnauf». Ich schlief schlecht, fror oft.
Wieder zuhause schien der Körper allmählich zu Kräften zu kommen, auch dank der täglichen Spaziergänge. Doch fühlte ich mich tief im Innern überflüssig, unwillkommen und heimatlos. Ich arbeitete zwar, ging einkaufen. Es wurde Sommer. Der Garten blühte. Doch etwas fehlte: das Ankommen im FA der Oktave! Als ich es begriff, schlug es zu!
Wenig später – es war Zeit zum Yoga zu fahren, konnte ich nicht aufstehen. Der Körper wurde eiskalt. Schweiss rann unter den Kleidern. Schüttelfrost und Taubheit lähmten die Glieder.
Mein Mann fuhr mich umgehend in die Klinik.
Ich landete in der Notfallstation, mit hohem Fieber. Was mir fehlte? Ratlosigkeit herrschte. Nach Stunden des Wartens, als der Zustand sich durch Spritzen und Infusionen allmählich stabilisierte, wurde entschieden, ich müsse zur Untersuchung in die Intensivstation nach Bern gefahren werden. Mein Mann blieb erschöpft zurück. Gegen Mitternacht fuhr man mich mit Blaulicht in «die Insel», das Inselspital . In Ambulanzen kutschiert zu werden, fühlt sich ziemlich holprig an. Doch der Pfleger, der mich begleitete, entpuppte sich als recht gesellig, und die Zeit verging im Nu. Ausgeladen wurde ich überraschend im dritten Stock der «Insel» – in einer Art von Rundturm, den Ambulanzen hochfahren konnten. Die zweite Überraschung folgte, als, hinter geschlossenen Vorhängen ein Schild an meinem Abteil aufgehängt wurde mit dem Vermerk: «Vorsicht: Grippe». Ich war demnach nicht allein im Überwachungsraum. Schräg gegenüber jammerte ein Patient, aus schierer Angst vor einer etwaigen Operation und entnervt wegen des pausenlosen Piepsens der Apparate. Ich lag auf Kabeln, und Kabel lagen auf mir. Drei Tage lang. Hie und da trank ich einen Schluck Wasser. Zu essen bekam ich nichts. Und das war mir recht. Nach drei Tagen und mehreren Untersuchungen lautete die Diagnose: Blutvergiftung im ganzen Körper.
Zurück in der Klinik an meinem Wohnort und der meisten Schläuche ledig, begann die Therapie: jeden Tag Antibiotika-Infusionen, für wie lange, wusste niemand. Eine zweite «Reha» war unabdingbar. Es brauchte Überwachung und tägliche Tests, um festzustellen, ob die Medikamente anschlugen, ob zusätzliche oder andere notwendig waren, denn das Virus, das mein Blut besetzt hielt, gehörte zu den seltenen. Experten anderer Kliniken wurden eingeschaltet und Blutproben hin- und hergeschickt..
Der Häuserkomplex, in dem die «Reha» logierte, gehörte einer Hotelkette. Die Zweierzimmer mit Balkonen, hoch über dem See wirkten gemütlich. An der Wand gegenüber jedem Bett hing ein Fernseher. Es gab Kopfhörer. Die Betten aus Holz erinnerten an Ferien in einem Bauernhaus in den Bergen.
Das Essen sei vorzüglich schwärmte meine Mitbewohnerin, und erst die Desserts: köstlich! Allerdings nicht für mich. Morgens auf dem Zimmer bekam ich Flocken, Joghurt und eine Banane, nebst Kaffee. Mittags ein Schälchen Suppe, angereichert mit Vitaminen und Eiweiss. Abends nicht viel mehr. Wie nach Indien, wie im Camp in Thailand, wie nach der Herzoperation schlotterten die Kleider an meinem Leib. Das machte mir nichts aus. Da die Medikamente laufend angepasst werden mussten, gebärdeten sich die Nebenwirkungen entsprechend unsanft. Und das rund neun Wochen lang, wobei die letzten zwei auf Tablettenbasis zuhause ausliefen. Immer noch fror ich unsäglich, Tag und Nacht. Danach vergingen Wochen, bis ich wieder Appetit auf eine Mahlzeit verspürte.
Der Blutdruck verhielt sich, wie es ihm passte. Auch der Wechsel auf «Natürliches», auf Homöopathie änderte nichts daran.
Die Welt ging ihren Gang. Und die Oktave?!
Langsam rappelte sich der Körper auf. Ich unterrichtete wieder. Führte den Haushalt, den Hund aus, an Stöcken. Der Körper litt.
Eine wahrscheinlich ererbte Erkrankung der Wirbelsäule, führte mit der Zeit zu einem Beckenschiefstand. Die Diagnose damals war niederschmetternd. Auch deshalb betrieb ich eine Yogaschule, führte alle Übungen zusammen mit den Schülern aus. Bewegung war für mich überlebenswichtig.
Eines Abends – ich war eben vom Laufen nach Hause gekommen und entsprechend müde – wollte nur noch kurz den Müll zum Container tragen, obwohl ich spürte, es könnte zu viel des Guten sein – stolperte ich beim Öffnen der Verbindungstüre zwischen dem Wohnteil und der Praxis über die Kante eines Pflastersteins. Ich hatte es kommen sehen….
Einen Augenblick lang hing ich buchstäblich in der Luft. Dann schmiss es mich auf den Boden, dass es krachte. Es war Winter. Ich trug Stiefel, gefütterte Hosen, Mantel und Kappe. Doch ich spürte und sah: das war’s! Die ohnehin schmerzende Hüfte war «hinüber». Bedauern empfand ich nicht.
Die Röntgenbilder beim Hausarzt bestätigten meine Annahme. Er meldete mich umgehend zur Operation in der Klinik an. Zehn Tage lang geschah nichts. Erste «Grippefälle» hielten Ärzte und Pfleger auf Trab.
Mein Mann ertrug mein Hinken schwer. Eines Abends eröffnete er mir, ich solle das Nötigste packen, eine Ambulanz hole mich ab, warten könne ich auch wohlbehütet im Spital. Das geschah: ich verbrachte vierundzwanzig Stunden im «Notfall», bis ein Bett für mich frei wurde. – Und ich verstand ohne Groll, wie einfach und zügig jemand «abgeholt und versorgt» werden konnte.
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Was sollte man mit mir anfangen? Das stand von Anfang an als Fragezeichen über meinem Klinikeintritt. Weshalb? Weil ich mir ausbedungen hatte: «Keine Medikamente mehr, bitte, um keinen Preis.»
Ein paar Tage lang lag ich in diesem Zimmer, in jenem Zimmer, oder als Dritte in ein Zweibettzimmer hineingeschoben, das Gepäck unter dem Bett verstaut. Am liebsten wäre man mich losgeworden: man mochte die klare Ansage nicht.
Ab sofort galt es als verboten, Mitpatienten mit kleinen Handreichungen Erleichterung zu verschaffen. Etwas fühlte sich seit meiner Herzoperation, die rund zwei Jahre zurücklag, grundsätzlich anders an. Als ich nachfragte, warum das so sei, blieb man die Antwort schuldig. Später hiess es, das Risiko sei zu gross, dass bei einem eventuellen Sturz des Helfers - oder falls beim Helfen dem Geholfenen aus Zufall oder Unachtsamkeit etwas geschehe, die Klinik dafür hafte, es sogar zu Gerichtsverhandlungen führen könne, falls die Familie des Patienten das verlange. Und deshalb sei jede Annäherung an eine Mitpatientin untersagt.
Falle ein Buch zu Boden, oder stehe die Teetasse ungünstig, dürften sich Mitpatienten nicht nach dem Buch bücken oder die Tasse zurechtrücken. Ausschliesslich Familienmitglieder, die bei der Pflege von Angehörigen halfen, seien dazu berechtigt. Am besten, man bemühe als Patient eine Pflegekraft.
Diese Vorschrift machte die Tage lang und öde. Sie vergrösserte die Distanz zu Mitpatienten – und auch den zwischenmenschlichen Austausch. Die Abstände von Bett zu Bett erlaubten kaum Vertrautheit. Trotz des Zusammenseins schlich sich leise Wehmut, ein Hauch von Einsamkeit in die Zimmer – denn niemand schrie freiwillig Persönliches, Anteilnahme oder einen Scherz quer durchs Zimmer.
Da ich Medikamente strikte ablehnte – «in dieser Hinsicht habe ich meine Schuldigkeit getan», erklärte ich - brauche es eine Blutuntersuchung, um herauszufinden, ob der Körper während einer allfälligen Operation der Hüfte ohne Medikamente klarkomme – genau gesagt: eine Knochenmarkpunktion.
Der Chef der Onkologie opferte seine Mittagspause, um den Eingriff vorzunehmen. Das Haus war voll, wie erwähnt. Auch das Zimmer, in dem ich lag.
Der Onkologe rauschte zur Tür herein, schmiss seinen Kittel auf einen Stuhl, stellte eine Trennwand längs des Bettes auf und schickte seine Assistentin in den Flur, um Pflegerinnen zu Hilfe zu holen. Ich bekam noch mit, dass das Bett so hoch und flach gestellt wurde als möglich. Ich lag auf dem Bauch. Den Nadelstich spürte ich kaum. Das «Opium» - das sich als Methadon entpuppte - tat seinen Dienst sofort. Als ich hörte, anstatt des Üblichen betäube man mich mit «einem Bollen Opium», zischte der Gedanke durch mein Gehirn: «Au fein: vielleicht erlebe ich dabei meinen ersten Trip»! Aber nein. Zwar bewegte ich mich durch Räume über Räume, ruhig, klar und leicht – doch blieb alles still und leer. Erst da erinnerte ich mich, dass Opium wohl entspannt, doch weder Farbphänomene noch sonstige Halluzinationen hervorruft.
Ich wachte auf dem Rücken liegend auf, allein, und war sofort voll da. Keine Schläfrigkeit, keine Nebenwirkungen: nichts. Das Mark wurde tagelang untersucht. An verschiedene Laboratorien verschickt. Der Bescheid lautete:
"Viel zu wenige Blutplättchen – Operation unmöglich – Patientin könnte verbluten - das Risiko ist zu gross. - Was dann? Nach Hause schicken? Das darf nicht sein!"
Den Onkologen reizte die Gelegenheit: er wollte sie beim Schopf packen. Der Chef der Chirurgie schloss sich ihm an. Eine Transfusion brachte eine kleine Verbesserung des Blutbildes. Der Eingriff wurde vorbereitet.
Plasma- und Blutkonserven lagen griffbereit. Ein nächster, grösserer «Bollen Opium» - wie der wohl aussah? – rollte durch meine Adern - und als ich erwachte, schickte eine junge Pflegerin gerade den Inhalt einer zweiten Ampulle eines Entzündungshemmers durch den Infusionsschlauch. Sie war allein und wusste von nichts. Mir war speiübel, schwindlig – doch ich hielt mich still.
Im Haus herrschte Alarmstimmung. Ärzte und Pfleger hatten alle Hände voll zu tun.
Gegen Abend wurde ich abgeholt, mein Bett ruppig in einen Lift bugsiert. Er hielt im Erdgeschoss. Ich landete in einem engen ebenerdigen Raum, der ein doppelbreites Bett enthielt, sowie einen ebensolchen Rollstuhl und einen Tisch. Das Mobiliar blockierte die ganze Fensterfront. Ein Motor wiegte das Bett der Patientin, die darin lag. Er raunte die ganze Nacht, es klang wie rieselnder Kies. Die Patientin schnarchte.
Ohne ein Wort des Grusses oder den Wunsch für eine gute Nacht, schloss die Pflegerin die Türe hinter sich.
Der Onkologe hatte mich gewarnt. «Nach der Operation werden Sie völlig sich selbst überlassen sein. Denken Sie daran: das ist der Tarif für Ihren ausgefallenen Wunsch.»
So sah das also aus.
Ich klingelte. Und es dauerte lange, bis jemand kam: «Was ist!?» «Könnte mich jemand vielleicht ein bisschen waschen, bitte? Könnte ich die Zähne putzen?» «Ich bin hier ganz allein. Gewaschen wird nur am Morgen. Das Zahnputzzeug kann ich Ihnen meinetwegen bringen». Kurz darauf reichte die Aushilfspflegerin mir einen Pappbecher mit Wasser, meine Zahnbürste, mit etwas Paste beschmiert. Sie hatte sie in eine Schale geworfen. Die ich zum Ausspucken benützen könne.
Die Nachttischlampe spendete mattes Licht. Die Nachbarin erwachte. Ich grüsste. Ein Grunzen folgte als Antwort – darauf erneutes Schnarchen.
Mein Mann rief an, fragte wie es mir gehe, und ich erzählte ein bisschen. Scheinbar versuchte er noch in der Nacht, meine Umplatzierung zu bewirken. Doch das Haus war voll, und niemand hatte Zeit. Am Morgen konnte ich mich etwas waschen, im Bad die Zähne putzen. Frühstücken mochte ich nicht, nur trinken.
Gegen Abend schaute mein Mann nach mir. Und er bewirkte, dass wir beide, meine Zimmergenossin und ich, am darauffolgenden Morgen erstklassige, freundliche und liebevolle Pflege erhielten. Zwei Pflegerinnen wuschen zuerst die Nachbarin am Fenster, auch ihr Haar, frisierten es und rieben ihren umfangreichen Körper mit Öl ein, massierten die Frau, nachdem sie Pflaster und Verbände an Füssen und Beinen erneuert hatten. Das dauerte mehr als eine Stunde.
Dann war die Reihe an mir. Wir schwatzten und lachten und genossen den Geruch nach Sauberkeit. Auch tagsüber wurden wir betreut und abends nochmals kurz gewaschen, ins Bad gebracht – und ich kurz in den Flur, ein paar Schritte hin, ein paar Schritte her: danach fiel ich todmüde und zufrieden ins Bett.
Aufstehen konnte meine Mitbewohnerin nicht mehr. Sie war sehr schwer, und ihr fehlten Kraft und Mut. Ihr Sohn besuchte sie gegen Abend, setzte sich auf den Fenstersims und fragte die Mutter, wie sie sich fühle. Die beiden wirkten wie zwei Menschen ohne innere Verbindung, so, als seien sie weit voneinander entfernt und hörten die Klage, die Frage, die Not und die Einsamkeit des jeweils anderen nur wie etwas, das keine Brücke zwischen ihnen baute. Sie hatten zusammengewohnt, im Haus der Mutter, das der Sohn nun ausbauen wolle, wie er vage erzählte, damit es die Mutter leichter habe, wenn – oder falls? – sie gesund wieder nach Hause käme.
Die Mutter war die Treppe im Garten hinuntergestürzt. Und manches in ihr und an ihr schien dabei kaputtgegangen zu sein. Glaubte sie wirklich, sie könne nach Hause zurückkehren und den Sohn, der tagsüber bei der Arbeit weilte, abends bekochen und den Haushalt schmeissen?
Trauer, Ratlosigkeit und die unausgesprochene Aussichtslosigkeit: das Endgültige, für das sie keine Wörter kannten, hing zwischen den beiden wie zäher Schleim. Fühlten sie es? Sprachen sie darüber? Redeten sie je, und teilten sie Persönliches? Den «Abschied» Betreffendes vielleicht?
Ich hatte keine Ahnung.
Da war so viel Elend, so viel Lieblosigkeit – oder eher: Liebesunfähigkeit – aus Mangel an Zeit, aus Mangel an geeigneten Mitteln, an Bildung, an Ausbildung. Der Sohn arbeitete auf dem Bau. Das Haus schien renovierungsbedürftig. Gab es Geschwister, die helfen, die Mutter pflegen konnten? Nichts dergleichen wurde erwähnt.
Eines Abends während der Arztvisite, trat der Leiter der Klinik ans Bett und ordnete an, forsch und jovial, er wolle die Patientin in seiner Abteilung sehen: "Da müsse doch noch was zu machen sein!" Es klang herzlos. Niemand antwortete, niemand schien Notiz zu nehmen: der Anspruch schien roh und gnadenlos. Verpuffte er?
Am darauffolgenden Morgen lud man die Verunfallte auf den Rollstuhl. Gegen Mittag brachte man sie zurück. Sie schlief sofort ein. Kein Wort fiel. Ich versuchte, sie zu einem belanglosen Gespräch zu bewegen – damit unsere Tage weniger trist und langweilig seien. Es tat sich nichts. Zu viel Sprachlosigkeit und Einsamkeit verstellte den Zugang zu ihrem Gemüt. Ich konnte sie nur seinlassen und schweigen.
Nach zwei Tagen war die Aushilfspflegerin zurück.
Sie stellte sich vor mein Bett, hob den Zeigefinger vor mein Gesicht, wedelte damit hin und her und drohte: «Sie bleiben hier, haben Sie verstanden!» Die Pflegerin machte sich hinter meinem Bett zu schaffen.
Als mein Mann mich nicht erreichen konnte, weil die Verbindung tot war, rief er die Zentrale an. Spät in der Nacht kam die Pflegerin angerannt, fuchtelte hinter dem Bett mit Steckern herum, weil der eine offenbar aus der Steckdose gerutscht sei. «Sie gehen nirgendwo anders hin», drohte sie erneut. «Ich sorge dafür.»
Ich wartete nur noch auf einen freien Reha-Platz. Und auch wenn ich keine Pflege erhielt und Ärzte mich zwar begrüssten und fragten, wie es mir gehe, erwarteten sie doch keine Antwort.
Selbstbestimmung galt hier nichts. Pflege und Freundlichkeit hingen scheinbar von der Menge an Medikamenten ab, die zu schlucken Patienten gewillt waren. Persönliche Bedürfnisse zählten nicht. Ansichten zu äussern, die Fragen aufwarfen, war verpönt. Patienten hatten zu parieren.
Ich schaute zu. Ich hörte zu. Und schwieg. Es kostete mich nichts. Ich brauchte keine Abwehr, keine Rechtfertigung. Ich entspannte mich – und fühlte stilles Glück.
Am Morgen der Abreise – ich sass auf der Toilette, konnte nicht aufstehen, weil sich die Welt um mich drehte wie verrückt. Scheinbar keuchte ich und rang nach Atem. Meine Mitbewohnerin nahm wahr, dass etwas nicht stimmte und versuchte verzweifelt, sich aus dem Bett zu wuchten. Ich rief: «Nicht aufstehen, bitte, nicht aufstehen, bitte nicht», denn das hätte Furchtbares zur Folge haben können. Ich bediente die Klingel einmal ums andere, weil es so lange dauerte, bis die Pflegerin sich dazu verstand, zu reagieren. Sie stellte sich steif, mit einem Blick voller Verachtung in den Türrahmen: «Was ist», schnauzte sie. Ich zeterte: «»Sie will aufstehen und mir helfen!» «Wer», hiess es eiskalt. Ich deutete aufgeregt mit der Hand nach draussen, zur Fensterfront, stammelte, gegen Bauchkrämpfe anrennend: «Bitte, rasch, sonst fällt sie hin.»
Und endlich kam die Reaktion: gerade noch rechtzeitig. Die Füsse schon auf dem Boden, die Finger am Bettgestell festgekrallt, schneeweiss im Gesicht, einer Ohnmacht nahe, versuchte die Frau sich hochzustemmen. «Oi, oi, oi, was geschieht denn hier, was soll das werden», schnurrte die Aushilfe, süss und sanft wie ein Kätzchen, klingelte nach Hilfe, voller Sorge und Sorgfalt, demonstrativ, und rettete die Situation, bevor sie, ohne einen Blick auf mich, an der Toilette vorbeilief und aus dem Zimmer.
Eine Stunde später erschien mein Mann, um mich in die Reha zu fahren. Er drängte mich zur Eile, wollte nur weg. Ich auch – doch nicht ohne Abschied von meiner Zimmerkollegin. Daran lag mir viel. Ich dankte für die überraschende Anteilnahme und wünschte ihr Glück und Gesundheit. Sie schaute mich an. Ihr Blick kam aus weiter Ferne. Realisierte sie, was mit ihr geschah – oder nahm sie es einfach hin?
Die Fahrt in die Berge verlief stumm. Mir war übel. Ich rang nach Luft. Tränen der Erschöpfung tropften auf meinen Mantelkragen. Erst im Laufe des Tages konnte ich ohne Groll «Danke» sagen. Auch dafür, dass mich niemand verabschiedet hatte und man offensichtlich froh war, mich los zu sein.
Die Fahrt führte aufwärts durch ein enges Tal, fast bis an sein Ende. Die Reha klebte an der einen Bergflanke, gross, mit mächtiger Kuppel, schwerfällig wie ein Tier im Winterschlaf. Es war kalt. Eisiger Wind fegte ums Haus. Drinnen empfing mich wohlige und angenehme Helligkeit. Ich bekam ein Einzelzimmer mit Bad und Balkon, das einladend und freundlich wirkte. Die Erlebnisse aus der Klinik waren weggefegt. Chagall-Drucke in leuchtenden Farben schmückten die Wände, nebst einem überraschend ausladenden Fernseher, den ich allerdings nur ein einziges Mal benutzte, und zwar am Abend vor meiner Heimreise.
Weder war mir nach Nachrichten zumute noch nach Shows oder Krimis. Ich war nur erschöpft und sterbensmüde.
Mein Mann fuhr heim. Und ich blieb allein.
Am Nachmittag holte mich eine Pflegerin zur Arztvisite. Das Warten auf den Fahrstuhl wurde ab da zur täglichen Routine.
Erst beim letzten Untersuch, vor meiner Heimreise, der im Büro des Arztes stattfand, kam es zu einem persönlichen Gespräch. Die umfangreichen Unterlagen mit Diagnosen über Diagnosen der verschiedenen Kliniken, in denen ich während den vergangenen drei Jahren operiert und gepflegt worden war, lagen aufgeschlagen auf seinem Pult. Der Arzt blätterte darin, klappte das Bündel schliesslich kopfschüttelnd zu, schaute mir in die Augen und sagte: «Als ich Ihr Dossier erhielt und las, traute ich meinen Augen nicht. Warum in aller Welt schicken sie diese Frau noch zu mir: die ist doch längst tot! -
Und dann standen Sie vor mir und lachten mich an – wie ein Mädchen! Ich verstehe das nicht. Wie machen Sie das nur?» - «Was denn», fragte ich. – «Dass es Ihnen so gut geht! Dass Sie so jung, lebendig und stark wirken! – Ich verstehe absolut nichts, habe so etwas noch nie erlebt. Ich bin einfach froh, Sie kennen gelernt zu haben, sehr froh. Und ich danke Ihnen von Herzen dafür.»
Mir allerdings war der Reha-Aufenthalt nicht sonderlich leicht gefallen. Die ersten Tage verbrachte ich auf dem Zimmer, zu müde, um essen zu gehen, mich um Therapie zu kümmern, oder auch nur den Balkon zu betreten. Ich bat um Bouillon, Bananen, ein bisschen Brot und verschlief die Tage. Schmerzen hatte ich keine. Zum Essen humpelte ich erst am vierten Tag. Der Saal war voll. Der Geräuschpegel hoch. Ich erhielt einen Platz am Fenster an einem Vierertisch. Die Küche war ausgezeichnet, die Auswahl gross. Doch genügte für mich eine Drittelportion. Zu essen kostete mich Überwindung. Ich hatte, wie bei jedem Klinikaufenthalt, viel Gewicht verloren.
In der Nacht vor meiner Heimkehr, ging ich sehr früh zu Bett, musste jedoch einmal ums andere die Toilette aufsuchen. Es schien, als entleere sich der Körper komplett. Wie froh war ich nun, dass es Erwachsenen-Pampers gab! Ich brauchte davon ein gutes halbes Dutzend in jener Nacht.
Im Hintergrund dieses vordergründigen Geschehens, lief, in vier nahtlos aufeinanderfolgenden Sequenzen, zwischen den Toilettengängen, ein Art von Wachtraum in mir ab. In der Klinik durfte ich die Bodenlosigkeit menschlichen Elends hautnah erfahren, ohne es selbst zu erleiden. Nun erhielt ich die Antwort auf eine «letzte» Frage, die mich zwar nicht umtrieb, doch auf die mir eine entscheidende Antwort noch fehlte. Die Frage lautete: «Kann es sein, dass die Essenz aller Inneren Traditionen stets dieselbe ist?»
Mir war es zeitlebens wichtig gewesen, die mystische Ebene wenigstens der sogenannt «grossen Traditionen» kennen zu lernen, angefangen vom Christentum zur Anthroposophie, zum Yoga, zum Hinduismus, zur Astrologie, zur Inneren Tradition der Zigeuner, dem Sufismus, der zoroastrischen Lebenshaltung, dem Islam und dem Buddhismus, und zwar nicht nur als Gast, so nebenher, durch das Lesen von Büchern, sondern über Jahre hinweg, indem ich in den Traditionen mitarbeitete, oder zumindest auf meinen Reisen mit Freunden, die ihnen nahestanden, darüber sprach. Dabei war mir aufgefallen, dass «die Arbeit» - ungeachtet der jeweiligen Sprache, der Übungen, der Rezitationen, der spirituellen Inhalte und Riten - sich stets glich.
In ausgedehnter Folge – Sequenz nach Sequenz – erhielt ich während dieser Nacht die Antwort – und das über meinen Sufi-Meister, der vor Jahren schon diese Welt «verlassen» hatte:
Der Film zeigte mir den Meister – der, jedes Mal, wenn in meinem Leben Gefahr drohte, mit ausgebreiteten Armen hinter mir herging, während mindestens dreier Tage – genauso wie er mit mir durch die Staaten reiste, als ich an seiner Biografie arbeitete, und, als ich in Hollywood ankam, spät nachts, über alle Grenzen hinweg anrief – da ich am damaligen Ort nicht richtig empfangen worden sei. Die Situation, in der ich mich befand, war tatsächlich etwas ungemütlich, denn nach einem Erdbeben lagen immer noch überall im Haus Trümmer herum, die die Versicherung sichten musste, bevor sie weggeräumt werden durften. Der Meister sah es und hatte schon einen seiner alten Studenten beauftragt, mich am darauffolgenden Morgen abzuholen und an einem bequemeren Ort unterzubringen, in einem Hotel mit Pool, in dem ich die Morgenstunden genüsslich auskostete.
Der Meister fragte mich, wie ich die «gewonnenen» drei Tage verbringen wolle. Willkommeneres hätte mir nicht passieren können, denn dadurch traf ich Menschen – sowie eine Art «der Arbeit» , die ich sonst nie kennengelernt hätte. Ich tauchte ein in eine Welt, von der ich «noch» keine Ahnung hatte – und die mein Leben und Sein in der Folge unglaublich verwandelte und aufschloss. Mein Meister hatte gezögert, mir die entsprechende Telefonnummer zu geben. Und – ja – meine Freunde in der Schweiz hätten sich in der «Universalität» des Arbeitens dort vielleicht nicht sehr wohlgefühlt!
Alle vier Episoden des "Wachtraums" drehten sich um die Jahre meines Studiums mit meinem Sufi-Meister.
Der vierte und letzte Abschnitt führte mich nach Konya, zur Tekke der Mevlevi-Bruderschaft, derjenigen Derwische, die das Drehen üben – so wie es uns mein Sufi-Meister gelehrt hatte, der extra zu diesem Zweck von seinem Sheykh in den Westen entsandt worden war.
In einem «unterirdischen, lichtvollen, wändelosen Raum» sah ich «mich» beim Drehen. «Ich» drehte mich seit Tagen und Nächten, ohne Unterlass, ohne Pause, ohne müde zu werden. Der Körper verwandelte sich laufend: er mutierte zum hageren, dunkelhaarigen, alterslosen Derwisch, gekleidet in ein weiss-graues Gewand, das schmal bis hinunter zu den Knöcheln fiel, Ärmel hatte und einen runden Ausschnitt, schmucklos war und den Körper «nackt» erscheinen liess, so als sei jeder Knochen sichtbar. Dieser Mensch drehte sich leicht, mit Füssen tief in der Erde verankert, als habe er nie anderes getan.
Als es genug war, stand mein Meister vor «mir», ohne Gruss, alltäglich gekleidet in braune Wolle, nahm meine beiden Hände in die seinen und führte mich wortlos, emotionslos, in tiefster Sille in die grosse Halle der Tekke – in der das Grabmal des Mystikers, Dichters, Gelehrten und Derwischs Jalaluddin Rumi steht, der als grosser Heiliger verehrt wird.
Mein Meister, selbst ein Sheykh, schaute «mir» «blicklos» in die Augen. Der Raum öffnete sich, wurde zur Ley-Line, zur «Heiligen Linie», bevölkert von Menschen über Menschen, die sich drehten, der Buddhistische Abt des Zentrums, in dem ich Meditation übte, die Sheykhs, denen ich auf Reisen begegnet war, Mönche, die ich kannte, Meister verschiedener Richtungen, von denen ich so viel gelernt hatte – Yogis, Indianer – sie alle drehten sich, einer am anderen, wie ineinander verwoben, rund um die Welt, entlang uralter Routen, die Heiligtümer über Heiligtümer miteinander verbinden. Mein Meister schob mich behutsam in Richtung der «Drehenden» - oder derer, die um das Drehen wussten, tief in sich drin. Aus «meinem Körper» entwand sich sachte smaragdenes Licht, das Kopf und Brust umspielte, und schliesslich das ganze Wesen umflorte. Ich befand mich nun mittendrin, in der endlosen Schar, Bekannter und «Unbekannter», die alle miteinander zu tun hatten – aus vergangener Zeit oder aus diesem Leben. Das smaragdene Licht um «meinen» Körper verschwand im Drehen, im «mich» inmitten der Sehenden Weiterbewegen….., "ich" drehte mit und schaute "mir" dabei zu.
Das war das letzte Mal, dass ich meinen Lehrer sah.....
Als ich die Augen aufschlug, stand die Szenerie so lebendig vor meinem Blick wie als sie sich abspielte. In mir herrschte Stille. Es verbot sich von selbst, nachzudenken oder das Erfahrene zu bewerten. Auch heute noch verbiete ich mir, Erfahrungen, die mir geschenkt werden zu bewerten. Ich bewahre sie so lauter, wie sie sich gezeigt haben, und deshalb verliere ich sie nicht. Sie reihen sich ein in die Zahl der „Meilensteine auf meinem Weg“.
Als ich in die Meditationsklasse zurückkehrte, noch an Krücken humpelnd, stellte jemand eine Frage, die der Abt folgendermassen beantwortete - und mit dem Hinweis versah - alle Menschen und, unbewusst, alle Wesen – trügen dieselbe Essenz in sich und würden sich – früher oder später – aufmachen, nach dieser Essenz zu «suchen», egal welcher Tradition sie angehörten und welche Hautfarbe sie aufwiesen.
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Vor mehreren Jahren bekam ich von kompetenter Seite gesagt, mein Geburtsherrscher sei, gemäss der Signaturen-Lehre des Paracelsus, der «Mars», zu dem die Zahl «4» gehöre, eine Auskunft, die ich insofern banal fand, als ich die «4» nicht mochte. «Mars»: der erdgebundene Schläger – Krieger - - - oder vielleicht gar Samurai?! Samurai: der stoische Kämpfer, nicht wankend, bis in den Tod – den Heldentod, natürlich: das schien mir annehmbarer. Zen und Samurai: eisenhart zwar, doch irgendwie "passend".
Zu dieser Information gesellte sich unerwartet klar - woher, weiss ich nicht – die Idee der Zen-Meister, die entsprechend «reife» Schüler Schocks aussetzen, die tiefe Erkenntnisse zur Folge haben können.
Aus einem Film, den ich vor langer Zeit sah, stammte die Information, dass von Novizen, als Abschluss jahrelangen Meditierens verlangt werde, einen Wasserfall hinunterzuspringen, an Felsvorsprüngen und abgebrochenen Stämmen vorbei, mit dem «Ziel» plötzlicher Erleuchtung oder schmählichen Zerschellens. Die «Person» spielte in diesem Stadium keine Rolle mehr. Es ging um alles-oder-nichts, jenseits des Terrors der Psyche. Auf diesen einzigartigen Moment bereitete sich der Anwärter vor. Der Moment war da. Der Meister sah es - der Novize wollte es.
Auch in mir dämmerte diese Einsicht, selbst wenn ich sie nicht in Worte fassen konnte - noch wollte.
Zählte ich rückwärts, erkannte ich:
drei Jahre – drei kapitale Ereignisse, die Vorurteile, Abneigungen und Rebellion zu einem grossen Teil ausgelöscht hatten -
die unvorhergesehene Herzoperation, die darauffolgende Blutvergiftung, die zertrümmerte und ersetzte Hüfte und….:
ich überlegte hin und her, was dem Stellenwert der drei Ereignisse entsprechen könnte, doch zeigte sich nichts. Die «Mars-Zahl 4» ging mir nicht aus dem Kopf. Konya und der Sufi-Meister: genügte das als Ergebnis der Meditationsarbeit für dieses, vom Abt iniziierte Buch über «meine» Arbeit im Buddhistischen Zentrum?
Ich suchte nach einem Hinweis, denn Fragen fanden sich keine mehr in mir.
Als ich einmal während einer Klausur hundemüde am Fluss sass und sozusagen «aufgegeben» hatte, sah ich plötzlich:
Wasser fliesst nicht,
Vögel fliegen nicht,
Leben kennt keine Bewegung,
und sogar Geschehnisse, die mir bahnbrechend erscheinen,
haben keine Substanz,
«hängen im Nichts»,
wie gefroren,
ohne Zusammenhang.
Leben lebt,
Atem atmet,
Klang vibriert.
Nichts nimmt auf mich Rücksicht. Meine «Person» hat keine Existenz. – Wie wäre es demnach, wenn die «4, des Kämpfens bis zum Tod» ebenfalls erlöst werden könnte? Wenn die Wandlung zum «Spirituellen Krieger», wie mein Sufi-Meister ihn nannte, Wirklichkeit würde?!
Doch als die Gelegenheit dafür sich schliesslich anbahnte, war mir alles andere als spirituell zumute. Ich war das Alleinsein müde, das tägliche Laufen mit dem Hund, das Kochen, Haushalten – und sogar das Unterrichten, das Schreiben und die Fahrten zum Buddhistischen Zentrum: ich war es so müde – müde - müde. Etwas in mir sagte: «Ich kann nicht mehr». Und heimlich: «Ich mag nicht mehr. Wie lange soll das noch dauern, dieses Leben, vorwärtsgepeitscht ohne Pause, ohne auszuruhen?»
Als ich am selben Nachmittag mit Hund-Caro am Bach unterhalb unseres Hauses entlanglief, mich dazu zwang, nicht nur zu schleichen, überlegte ich verbissen, wie eine Wende herbeizuführen wäre, wie der Körper wieder Saft in die Knochen bekäme, wie ein friedvolles Ende aufzugleisen wäre. Und was es bräuchte, damit es keinem schmählichen «Verduften» gliche.
Ich war so tief in Erschöpfung, in Gedanken und Vorstellungen verstrickt, dass ich zwar bewusst auftrat, die Wiese, auf der ich ging, nach Mäuselöchern und Stolperfallen absuchte – "und doch wie nicht von dieser Welt". Die Vertiefung im Gras, die von einem Biber-Pfad herrührte, und um die ich eigentlich wusste – sah wie verwandelt aus - nicht wirklich anders als sonst - und doch völlig "un-alltäglich"! Ich setzte den linken Fuss in die Grube – die Schuhspitze verhedderte sich in etwas, das mich festhielt, der Körper wurde hochgeschleudert und landete mit voller Wucht auf der Erde.
Stille - innen und aussen. Augenblicke flossen weg.
Der linke Arm fühlte sich an wie abgetrennt, schwarz, leer - abwesend, bis auf die Hand. Die konnte ich sehen. Mit der rechten Hand versuchte ich die linke vorsichtig zu fassen. Es ging. Ich zog den Arm, der wie tot neben dem Körper lag, zu mir. Und auch das liess sich machen. Er war also nicht gebrochen. "Nur" ausgerenkt, ging es mir durch den Kopf.
Ich umarmte den Arm, hob ihn zur Brust, stemmte mich auf die Knie. Die Tatsache des widerwärtigen Schocks des Fallens schob ich beiseite - und stand behutsam auf. Innerlich sagte ich «danke», aussen war alles totenstill. Caro, der sich neben mich ins Gras gelegt hatte, beäugte mich fragend. Als ich zu gehen versuchte, schloss er sich mir an, sichtlich froh darüber, dass wir – fast wie gewohnt – weiterliefen. Als ich vom geraden Weg abbog und dem Abhang zustrebte, den verletzten Arm, der rasch schwerer wurde an die Brust geschmiegt, wedelte er mit dem Schwanz und folgte mir, zögernd aber willig
Zuhause angekommen, rief ich den Hausarzt an und erhielt den Bescheid, sofort die Notfallstation aufzusuchen. Mein Mann fuhr mich hin. Röntgenbilder offenbarten die Ernsthaftigkeit der Verletzung. Es war Freitag Abend: am Montag würde man weitersehen.
Abklärungen zeigten: eine Operation sei notwendig, sollte Heilung gelingen.
Die Operation dauerte drei Stunden. Die abgerissenen Muskeln und Bänder wurden mittels Schrauben fixiert. Die Innen- und Aussenseite des Ellbogens nach getaner Arbeit zugenäht. Der Arm bis zu den Fingerspitzen geschient.
Ich blieb mehrere Tage auf der Station, dankbar fürs Ausruhen und für die liebenswürdige Fürsorge, die mir dieses Mal zuteilwurde. Und nach der Operation konnte ich, oh Wunder, zum ersten Mal sogar essen, verspürte richtigen Appetit.
Dafür zeigten sich plötzlich Krämpfe in den Beinen, fiese Krämpfe, die heftiger und heftiger wurden und nicht mehr aufhörten. Ich behielt sie für mich. Medikamente vertrug ich je länger desto weniger. - Die Krämpfe stiegen hoch bis zu den Leisten. Ich setzte mich auf, liess die Beine über den Bettrand baumeln und beugte mich über den Beistelltisch, auf dem die Teekanne und die Wasserflasche mit den Gläsern standen. Den Kopf legte ich auf den rechten Arm, den geschienten linken daneben. Ein Hauch von Endgültigkeit füllte mich aus. Es gab nichts zu tun. Es gab weder Medizin noch machte es Sinn, die Klingel zu bedienen und um Hilfe zu rufen. Nie zuvor hatte ich solche Krämpfe gehabt. Pausenlos zogen sie die Beine hoch bis in den Beckenboden. Pulsierende Elektrizität, messerscharf. Ich hielt still und schaute dem Treiben zu. Stunden vergingen, zeitlos. Alleinheit übernahm. Und irgendwann gab «etwas» in mir drin auf, so vollständig wie nie zuvor. Es geschah von selbst, ohne Gedanken, gefühllos.
Um fünf Uhr morgens legte ich mich wieder hin. Ich brauchte keine Zeugen. Ich schlief kurz, wie tot. Und als um sechs Uhr eine Pflegerin zum Blutdruckmessen kam, waren die Krämpfe weg – und blieben weg.
Von da an schien nichts mehr wie vor dem Umfall zu sein. Als der Körper zu Boden donnerte, stand innen drin etwas still, in Lichthaftigkeit, im Offenen: Es wirkte wie ein leiser, feiner Schockzustand, angstfrei, wortlos – und es schloss sich nicht wieder. Es blieb. Einen Begriff dafür fand ich nicht. Doch der Abt erkannte «es», als er mich besuchte und lachte vor Freude. Ich auch. Und obwohl ich versuchte, Sprache dafür zu finden, gelang mir nur ein hilfloses Gefasel – das «den Punkt» nicht treffen konnte, weil es Wörter "dort" nicht gab.
Dieses «letzte» Ereignis erlöste die «4» des kämpferischen «Mars». Das erwies sich mit jedem Tag deutlicher. Ich brauchte keine Abwehr mehr. Denn:
Es gibt nichts, gegen das ich mich wehren könnte.
Es gibt nichts, das ich suchen müsste,
Und es ist müssig, etwas erfinden zu wollen.
Kämpfe sind Teil des Lebens,
Kriege ebenso,
auch Hunger und Elend gehören zum Alltag,
Rausch und Überschwang,
das Erschossen- und Vergiftetwerden,
Abtreibungen,
Terror,
das Schwimmen im Meer,
Tränen, die Trauer beim Sterben von Geliebten -
Nichts am Leben ist falsch, überflüssig, schlechter oder besser als der jeweilige Moment, in dem Erscheinungen den Alltag unlebbar, grauenhaft oder bilderbuchschön gestalten.
Ich bin es, die Leben verdammt, die Mitmenschen plagt, straft, einsperrt, liebt oder ablehnt. Immer nur ich.
«Innerhalb meiner Armspanne befindet sich der Raum, der meinem Leben zusteht», sagt der sich drehende Derwisch.
Andere Menschen, andere Sitten, Hautfarben, Sprachen und Rituale unterstehen nicht meinem Urteil, meiner Kritik, meinem Liebhaben oder Verdammen.
Ich bin - in Alleinheit - mit mir selbst allein!
Für niemanden kann ich mir anmassen, Verantwortung zu übernehmen.
Ist jemand «reif» zum «Sprung», kann ich ihn weder daran hindern, noch ihn auffangen.
Ich weiss nichts,
ich kann nichts,
es fehlt nichts,
Begriffe wie «mehr» oder »weniger sind Illusion, verletzen, erzeugen Gier, Seuchen, Krankheit und brutalen Tod.
Was bleibt ist:
Stillzustehen, seinzulassen, zu schauen, zu spüren, zu sehen, zu hören, zu kosten – in Dankbarkeit und im Erinnern.
Ich brauche keinen Feind – ich selbst bin der Feind, der mich umtreibt, und sich bei der geringsten Gelegenheit bedroht fühlt und dreinschlägt.
Und es braucht Mut, Kraft, Willigkeit und Geduld
Nebst einem Haufen vorausgegangener Qualen –
Um zur Einsicht zu gelangen:
Dass Leben Leiden ist,
Dass es dafür eine Ursache gibt,
Dass Leiden erlöst werden kann –
Und den Weg zur Erlösung des Leidens unter die Füsse zu nehmen.
Das sind die Vier edlen Wahrheiten, die der Buddha durch die Erleuchtung erkannte.
Nichts fehlt je: nur – wo bin «ich» in diesem Ganzen?
Am Gieren, am Wollen, am Suchen, am vermeintlichen Finden, am Strafen, am endlosen Rechten und Richten…..?!
Nur das ist die Frage.
Leben muss leben, egal wie, egal wo! Wozu diente es sonst?!
Mein langjähriger Sufi-Meister wies in seiner Arbeit mit den Menschen ständig auf die Oktave hin, auf das Gesetz der 7 1 – der Grundlage von Existenz: wies hin auf die Schritte des «Do – Re – Mi – Fa – So – La – Si» – sowie auf das nächste «Do», und immer weiter so. Auch Rilkes «wachsende Ringe» verkörpern das Samsara des Buddhismus, «das Rad der unaufhörlichen Wiederkehr.»
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein grosser Gesang.
(Rainer Maria Rilke)
Jeder Mensch ist für sich allein einzigartig. Nur er sieht sich so, wie er denkt, fühlt, sich definiert und sein Leben gestaltet, den Erfahrungen aus Kindertagen entsprechend. Die Wissenschaft – und die Mystik – nennt das Ergebnis den Charakter. Am Charakter, so scheint es, lässt sich nicht rütteln, ebenso wenig wie an den daraus folgenden, stereotypen Reaktionen auf Mitmenschen und «auf den Lauf der Welt». Eine Haltung, die Krankheiten, Kriege, Missgunst – oder einfach Vorlieben und Abneigungen – zur Folge hat. Böse ist, was am persönlichen Selbstverständnis nagt - gut, was dem Charakter flattiert.
So einfach? Nicht ganz – denn die Oktave hält Stolperfallen bereit, Halbtonschritte, die Anlass für schrille Dissonanzen sein wollen.
Die 3 Schritte des Do – Re – Mi bilden den «Ring der Normalität». Auf der Ebene des Mi, des ersten Halbtonschrittes, sind Menschen mit Katastrophen, Scheidungen, Todesfällen, Verlusten jeglicher Art bis hin zu Hungersnöten und Hinrichtungen – oder zum Beispiel einen sie total überfordernden Lottogewinn – konfrontiert. Jede Art von Störung des Gewohnten regt auf. Und jeder Charakter reagiert darauf individuell. Lockert sich die Störung, heisst es meist: «Gott sei Dank ist alles wieder gut!» Die Psyche ist zurück im Alltäglichen. Nichts ist geschehen: Glück gehabt!
Zünftige Störungen, die Menschen «aus dem Nichts» überfallen, führen erst dann zur Einsicht: «Ich selbst bin Ursache und Wirkung von dem, was mir geschieht. Meine Haltung, mein Charakter, die Psyche, mein mangelhafter Grad an Verständnis für Zusammenhänge ist schuld.»
Und erst ab hier – nachdem die Psyche durch zahllose Wiederholungen desselben Erlebens gebeutelt am Boden liegt und weder aus noch ein weiss, kann die geschärfte Wahrnehmung ein Innen erahnen. Und erst dann entsteht der Wunsch nach einem Meister, nach Schulung, und ist die Psyche bereit aufzugeben, sich auf das Risiko des Weges einzulassen. Wenn Verurteilungen, Ablehnung, Strafen, Schuldzuweisungen nicht mehr fruchten, da ihre Erbärmlichkeit offensichtlich wird, kann Zuhören möglich sein – und somit Demut, Öffnung für anderes, sogar Unbekanntes.
Der Halbtonschritt vom Mi zum Fa könnte der Schritt zu echter Menschlichkeit genannt werden, da von da an persönliche Eingebung, Urteile und Kritik, Zustimmung oder Ablehnung nicht mehr taugen.
Oft wirkt ein solches Umdenken eines vormals «angepassten Bürgers» in Menschen Misstrauen: Gefühle von Ausgrenzung, Machtverlust, bis hin zu Hass und physischer Gewalt können die Folge sein: scheinbar solide Freundschaften zerbrechen ohne Erklärung, man wird gekündigt oder verliert sein Zuhause, um nur einige zu nennen – denn man gilt als suspekt, tickt nicht mehr wie gewohnt.
Wandlung stünde nun an. Doch wie? Und wodurch?
Die Kenntnis des Weges - die Lehrer sich genauso erarbeiten müssen wie Herr-und-Frau-Jedermann, bevor sie zu Lehrern werden - ist unabdingbar. Denn der Wust an meist negativen Emotionen, die die Umwelt auf „Abtrünnige“ loslässt - nach dem Motto: „Die Schuldigen sind immer die Anderen, und die haben Strafe verdient“ - liesse Wandlung nicht zu. Dazu kommt, dass den Schritt vom Mi zum „erlösenden“ Fa niemand alleine bewältigen kann. In welche Richtung sollte er sich auch wenden? Er beträte überall unbekanntes Gelände und verirrte sich hoffnungslos!
Meditation ist vorab einfach eine Technik, so wie Yoga, ZEN, das Drehen der Derwische oder andere spirituelle Gebräuche. Doch durch jahrelanges Üben, das nie aufgibt, auf keinen Fall locker lässt, nicht stehen bleibt, nicht ausweicht oder gar zurückfällt in Früheres, kann es allmählich stiller werden im Inneren. Irgendwann verliert das Hirnen, Ängstigen, Wehren und Kämpfen seine Macht, wird weniger, dünnt sich aus, bis - als Frucht allen Leidens und sich Abmühens - Stille einzieht im Inneren, im „Herzen des Herzens“. Der Mensch – nicht Frau, nicht Mann – sieht nun aus eigener Kraft. Und er erkennt, wie „der Lehrer“ in seinem eigenen Inneren herangewachsen ist.
„Lass dich ans Kreuz von Bruderschaft schlagen“, wird gesagt - wie Jesus: die Arme weit offen, ohne Qual, als Wegweiser, in Regen und Sonnenschein, unbeirrt, auf den „Einen Punkt“ deutend, der längst nicht mehr schmerzt - über zahllose Oktaven hinweg, „in wachsenden Ringen“, ins Nirvana - zum letztendlichen Si ohne Wiederkehr.
Etwas rustikaler sagt’s der Koran, sozusagen auf den Stockzähnen lächelnd: „Hunde bellen – die Karawane zieht vorüber.“
Modernes Lebensverständnis fusst fast ausschliesslich auf der Psychologie und auf jeglicher Art von Therapien. Physischer und psychischer Schmerz gilt als Übel, das weggemacht werden muss und weggemacht werden kann, weil es den Alltag, das Wohlgefühl, die tägliche Arbeit stört. Die Idee: „ich gehe zum Therapeuten, der kriegt das wieder hin“, scheint gängig.
In der Arbeit mit einem spirituellen Lehrer ist es umgekehrt. Schmerz, ob physischer oder psychischer, sollte keinesfalls unterdrückt oder weggemacht werden – denn Schmerz gilt als kostbarstes Werkzeug. Ohne Schmerz bestünde keinerlei Anlass zu Arbeit. Schmerzfrei käme niemand auf die Idee, sich zu rühren, seine Vergangenheiten zu durchleuchten und sich und seine Reaktionen darauf zu hinterfragen. - Menschen sind Weltmeister im Verdrängen.
Krisen und Katastrophen sind die Werkzeuge, die Menschen zum Stoppen bringen, weil sie keinen Ausweg zeigen. Um Auswege geht es in der Arbeit auch nicht. Der Fokus liegt auf dem Hindurchgehen. Das zu akzeptieren, erscheint Menschen als verrückt. „Wie käme ich dazu!?“, wird geschimpft.
Nicht jeder ist reif für Schulung. Nicht jeder braucht sie: noch nicht….
Nicht weiter zu wissen, ist ein Privileg. Es bedeutet – siehe oben – dass Widerstand zwecklos, Kampf überflüssig geworden ist.
Erst dann findet ein potentieller Schüler einen, beziehungsweise seinen Lehrer.
Zufall ist das nicht. Nichts, was Menschen widerfährt, ist Zufall. Es gibt „Vorleben“. Wie sollten Menschen einander sonst „erkennen“, lieben, hassen, oder gleichgültig aneinander vorbeilaufen?
Leben ist unglaublich vielschichtig. Und wie sollte jemand eine Schule suchen – und finden – ohne Affinität – gewachsen über Existenzen hinweg? Das ist eine innere Haltung, die unumgänglich ist in der Arbeit mit einem Lehrer. Mitläufer, die hobbymässig „meditieren“, aus Freundschaft zu jemandem etwa, steigen irgendwann aus, frustriert und enttäuscht. Denn ohne tiefe Notwendigkeit, sich vollständig einzubringen, kriegt keiner etwas mit.
Zur Zeit ist vielfach von häuslicher Gewalt die Rede. Bedingt durch die Pandemie, ist die Bewegungsfreiheit von Menschen eingeschränkt. Man hockt zu nahe aufeinander, und das tagsüber und die ganze Nacht lang. Menschen drehen durch, Aggression flammt auf, man geht aufeinander los.
Ist das wirklich einfach pandemiebedingt? Ist das nicht schlicht „Mensch“? Charakterbedingt? Der Psycho, der ausflippt – weil er nicht weiter weiss? Weil er nicht weiter sieht? An der Enge erstickt? Und keinen Ausweg erkennt als Strafe, Mitmenschen hassen muss – obwohl er hat, was er sich wünscht, sogar weit mehr?
Als ich als Kind mit Papa in den Ferien weilte, zwang er mich dazu, allen Menschen, denen wir begegneten, laut „guten Tag“ zu sagen. Dafür war ich ihm später sehr dankbar. Denn dadurch lernte ich auch „danke“ zu sagen – für alles und jedes, ungeachtet ob mir gefiel oder nicht, wofür ich dankte. Und daraus folgend lernte ich um Vergebung zu bitten, wegen allem und jedem – ob mir gefiel oder nicht, wofür ich um Vergebung bat – und immer weiter bitte.
Menschen sind ehrgeizig, müssen sich ständig beweisen. Gut sein. Alles richtig machen. Und dafür gelobt werden?
Wozu? Am „Ausgang“ wartet der Sensenmann, und dann….?
Bevor ich auf die Reisen für meines Sufi-Meisters Biographie ging – bevor ich Initiationen erhielt – bevor ich den Abt im Kloster bat, mich in Meditation zu unterweisen – und nicht zuletzt als ich mit einem weiteren Meister in Kalifornien besprach, welche nächste Briefserie anstehe: immer bat ich bei unterdrückten Konflikten mit Mitmenschen oder offenen Fragen, in sorgfältig verfassten, handgeschriebenen Briefen um Vergebung - um den Weg für einen nächsten Schritt freizuschaufeln.
Auch an Verstorbene schrieb ich: an meine Mutter etwa, zu der ich nach Jahrzehnten übelsten Hasses, die tief im Herzen verborgene Liebe fand. Auf des Meisters Rat, trug ich den Brief tagelang am Herzen, bevor ich ihn abschickte, ohne bestimmte Adresse.
Es macht einen riesigen Unterschied. Und ich fahre fort damit. Wie sollte ich auch fürbass gehen können, auf einem Weg, auf dem psychischer Unrat sich haufenweise türmt?
Das ist eine Frage richtigen, lauteren Verständnisses von Zusammenhängen, gewachsen durch die Arbeit.
Es gibt so viele Menschen, denen es nicht in den Sinn kommt, je „danke“ zu sagen – und schon gar nicht, um Vergebung zu bitten. Das sollen gefälligst die anderen ihnen gegenüber tun, die, die sie kritisieren ,ihnen Böses nachsagen, Steine in den Weg werfen. Die Anschuldigungen sind Legion. Doch zurückzuführen auf einen einzigen, schäbigen Begriff: verletzter Stolz. Die Psyche schreit es hinaus: „Ich zahle es dir heim!“
Klingt vertraut: nicht wahr? In der Arbeit mit einem Lehrer hat das keinen Platz.
„Vergebung“ beim Aufstehen, „Vergebung“ beim sich Hinlegen – und den Rest des Tages: „danke, danke, danke“, für was auch immer! – In etwa so sieht das Tagwerk eines echten Schülers aus.
Von Herzen bitte ich auch euch, die ihr dieses Buch lest, um Vergebung für Forsches, Lautes, Hartes, Unerkanntes – und sage tausendmal allen, die „meinen“ Weg – DEN WEG - kreuzen oder gekreuzt haben: "DANKE".
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