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Von Brigit&Walter König Erikas Geheimnis - Ein Frauenleben im zwanzigsten Jahrhundert
Es werden nur Texte von über 10 Internet-Seiten publiziert.
Zurzeit sind 527 Biographien in Arbeit und davon 293 Biographien veröffentlicht.
Vollendete Autobiographien: 177
 
Brigit&Walter König
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Unterschütterliche Gewissheit / 30.10.2019 um 21.33 Uhr
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Endlich schwanger / 14.11.2019 um 8.51 Uhr
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Vorwort
1.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
2.
Kondukteur sollte man sein
3.
Emma und Christian, ein glückliches Paar
4.
Hätte ich ein Kind, wüsste ich, wofür ich lebe
5.
Ein Tag bei Marti in Zürich-Seebach
6.
Die Pfarrleute von Utzenstorf
7.
Samichlaus in der Kinderstube
8.
Familientreffen
9.
Beim Frauenarzt; Werner macht Pläne
10.
Werners Reisetagebuch
11.
Erika und Marti
12.
Eine schwierige Bitte
13.
Werners Konsultation beim Arzt
14.
Eine schlimme Nachricht
15.
Renée Piguet
16.
Geständnis und ein Telegramm
17.
Erikas Roman Erotique
18.
Heftiger Streit
19.
Ruhe nach dem Sturm
20.
Werner beim Seelenarzt
21.
Erika beim Psychiater
22.
Verheissungsvolle Annonce
23.
Drei Freundinnen
24.
Dr. Alexander M. Fraenkel
25.
Margrit Sachs erzählt
26.
Über Literatur und Fahrräder
27.
Der Brief und Erikas Vorsatz
28.
Gespräch mit Sascha
29.
Werners Projekt und Erikas Traum
30.
Eine Traumdeutung
31.
Denkwürdige Zusammenkunft
32.
Feierliches Versprechen
33.
Viktors Brautschau - Erika zieht Marti ins Vertrauen
34.
Ferien mit Hindernissen - Erika redet mit ihrem Vater
35.
Sascha in Zürich, Werner in Leiden, Erika in Genf
36.
Freundinnen
37.
Saschas Herkunft
38.
Aufregende Zeit
39.
Verwirrung mit Ärzten, Hoffnung auf die Freiwirtschaft
40.
Saschas Überraschungsbesuch und ein mechanisches Baby
41.
Mamas Geburtstag
42.
Unterschütterliche Gewissheit
43.
Endlich schwanger
44.
Erikas Rückschau
45.
Grossmutters Fotoalbum
46.
Die Geschichten bleiben
47.
Das Geheimnis kommt ans Licht
48.
Nachwort von Walter König
Erika, Werner und Sascha gewidmet
Widmung und Vorwort
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  Vorwort

Widmung und Vorwort

Mit dem Tod sterben alle nicht erzählten Geschichten. Lasst uns immer wieder die Geschichten unserer Vorfahren erzählen! Die Geschichten bleiben. Ohne sie wären wir nicht da, wo wir sind, und wir wären nicht die, die wir sind.

Erika, Werner und Sascha gewidmet
 

Vorwort

Vor kurzem feierte ich, Brigit König, meinen 80. Geburtstag. Es war ein fröhliches Fest. Nachdem sich alle Gäste verabschiedet hatten, sass ich zuhause eine Weile in meinem Lieblingsstuhl und erinnerte mich auf einmal lebhaft an den Ausflug mit meiner Mutter anlässlich ihres 80. Geburtstags vor fast drei Jahrzehnten. Die Jubilarin wünschte sich eine Fahrt im Bernina-Express auf der spektakulären Bahnlinie nach St. Moritz. Das Geburtstagsessen wurde im nostalgischen Speisewagen serviert. In St. Moritz führte die Achtzigjährige ihre Freundinnen ins Grandhotel, wo sich die laut schnatternde und aufgeräumte Schar zu Kaffee und Kuchen niederliess. Wir jüngeren Generationen machten unterdessen eine Wanderung am See, holten danach die gut gelaunten Damen im Hotel wieder ab und die ganze Gesellschaft reiste im reservierten Bahnwagen wieder nach Hause.
Reisen, immer gut vorbereitet und mit Reiseliteratur im Koffer, Leute kennenlernen, sich mit allen austauschen, Fremdes auf sich wirken lassen, das war damals die Lieblingsbeschäftigung unserer Eltern. Auch als Witwe reiste unsere Mutter weiter in verschiedene Ecken der Welt. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde neu eine Schiffsreise von Moskau nach St. Petersburg angeboten. Kurz nach ihrem 80. Geburtstag meldete sich meine Mutter mit ihrer gleichaltrigen Freundin zu dieser Reise an. Reiselustige, Abenteuer liebende alte Damen – das war lange nicht immer so.
Ihr Lebensgeheimnis konnten wir ihr erst drei Jahre vor ihrem Tod entlocken – und erfuhren die spannende Geschichte…


Brigit König, Herbst 2019

Zur falschen Zeit am falschen Ort
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1.  Zur falschen Zeit am falschen Ort

Am Bundesplatz in Luzern schloss der Metzger nach getaner Arbeit die Türe seines Ladens zu. Zur gleichen Zeit riss seine Nachbarin, die Gemüsehändlerin, ein Blatt vom Wandkalender ab. Gott sei Dank, wieder ist ein Tag dieses trüben, nassen Novembers vorbei! Sie verliess ihren Laden. Draussen war es schon dunkel, die Tage kurz, Regen und Nässe drangen in Mäntel, Schuhe und Hauseingänge. Nicht verwunderlich also, dass an diesem Novemberabend im Jahr 1934 nur wenige Leute auf den Strassen unterwegs waren. Die zielgerichteten und doch irgendwie schleppenden Schritte einer schlanken Gestalt fielen auf. Die Person trug einen kunstvoll geformten Filzhut mit einem Samtband auf dem Kopf und einen die Taille betonenden, dunklen Mantel. Die Hände steckte die junge Frau in die wärmenden Manteltaschen.
Im Quartier Neustadt gab es einige ältere und auch etliche moderne Häuser mit grossen Fenstern. Die Fassaden zierten kleinere Balkone und hie und da ein Erker. Die Auslagen in den Schaufenstern sah man nur tagsüber. Jetzt war alles dunkel. Neben den Läden gab es im Erdgeschoss der Häuser auch Büros. Die Gestalt blieb vor einem hell erleuchteten Bürofenster stehen und schaute gebannt hinein. Sie beobachtete die Angestellten sehr genau. Menschen arbeiteten an Pulten mit Bundesordnern, mit Papier und Bleistiften. Auffallend war, dass in den Büros fast ausschliesslich Männer an der Arbeit waren.
Nach einer Minute oder zwei ging die Frau weiter, erneut ein Ziel anstrebend und doch zögerlich. Bei einer kleinen Grünanlage bog sie rechts ab und ging auf einer etwas breiteren Strasse weiter. Auch hier waren auf der linken und auf der rechten Strassenseite helle Bürofenster zu sehen. Wieder blieb die Gestalt im dunklen Mantel vor einem Fenster stehen und schaute aufmerksam in die Büroräumlichkeiten hinein. Drinnen gingen Büroangestellte hin und her, einen Bleistift hinters Ohr geklemmt, Stulpen zum Schutz der weissen Hemdsärmel über dem Unterarm. Plötzlich machte die Frau eine Kehrtwende und überquerte die Strasse. Zügigen Schrittes kamen ihr einige Männer mit Mappen unter dem Arm und mit Hüten auf dem Kopf entgegen, die Mantelkragen in der Novemberkälte hochgestellt. Die Frau passte sich dem Tempo der nach Hause eilenden Leute an und ging mit ihnen weiter, so dass der modische Hut auf ihrem Kopf bei jedem Schritt im Takt wippte. Sie hielt den Kopf gesenkt, schaute weder nach rechts noch links. Nach ein paar Minuten kam sie vor ihrem Wohnhaus am Bundesplatz an und öffnete die Haustüre.

Seit 1929 spürte man in der ganzen Schweiz die Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression, welche die goldenen Zwanzigerjahre jäh beendet hatten. Das ist der Grund, weshalb Erika, die gerade hinter der Haustüre verschwand, als verheiratete Frau keiner bezahlten Arbeit nachgehen durfte. Erika fühlte sich unausgefüllt, niedergeschlagen. Es war ihr langweilig. Wenn ich nur auch in einem Büro arbeiten dürfte! Wenn ich nur dazugehören könnte! Es ist so ungerecht! Wenn sie sich besonders traurig fühlte und sich hundert Mal fragte, wozu und wofür sie denn eigentlich lebe, dann zog es sie beim Eindunkeln durch die Strassen und den ‚Glücklichen‘ bei der Arbeit zuzuschauen. Sie stellte sich vor, sie sei auch eine von ihnen. Sie sah sich, wie sie zusammen mit geschäftigen Leuten hinter den hellen Fenstern eine anregende und wertvolle Arbeit verrichtete. Ich lebe zur falschen Zeit am falschen Ort. Dabei kam sie sich macht- und hilflos vor. Dann spürte sie wieder diese Wut in ihr aufsteigen. Halt, ich darf nicht wütend werden, ich habe doch alles, was ich brauche. 

In ihrer Wohnung angekommen, zog Erika Mantel, Hut und Schuhe aus. Im Badezimmer schaute sie kurz in den Spiegel, wischte die Feuchtigkeit mit dem Handrücken aus dem Gesicht und fuhr mit den Fingern durch ihr naturgelocktes, modisch kurz geschnittenes braunes Haar. Im Wohnzimmer trat sie in den Erker und schaute auf den grossen Bundesplatz mit der kleinen Grünanlage vor ihrem Haus. Nur selten fuhr ein Auto vorüber. Weiter hinten waren die Bahngeleise sichtbar. Ein Zug mit hell erleuchteten Fenstern kroch von rechts wie eine Raupe heran und verschwand wieder aus Erikas Blickwinkel.
Das Nachtessen, Brot, Butter, Konfitüre und einen Milchkaffee, hatte Erika schon vorbereitet und den Tisch für zwei Personen gedeckt. Das war eine jeden Abend wiederkehrende Hausfrauenarbeit. Sie hörte das Drehen des Schlüssels an der Wohnungstüre. Werner war nach Hause gekommen. Das Paar begrüsste sich mit einem flüchtigen Kuss. Erikas Gatte zog die Schuhe aus und hängte seinen Mantel und den Hut an die Garderobe. Er ging ins Badezimmer und wusch sich die Hände. Das Ehepaar setzte sich an den Esstisch zum Nachtessen.
"Was gab es heute zum Mittagessen, Werner?"
"So eine Art Fleisch und Beilagen."
Wie immer antwortete Werner auf die Frage nach dem Mittagessen in der Kantine auf dieselbe brummige Art und Weise. "Was hast du heute gemacht? Mit Kollegen zusammen gearbeitet? Hast du Bücher in der technischen Bibliothek geholt? Ist die neue Bibliothekarin hübsch? Kennt sie dich schon mit Namen?"
"Ach, Eri, lass diese Fragerei, du weisst doch, dass ich intensiv wie immer an der Entwicklung der hochfrequenten Fernsteuerung arbeite. Davon verstehst du nichts!" Werner und Erika assen stumm fertig, Erika in Gedanken an die technische Bibliothek, in der sie vor der Heirat eine Zeit lang gearbeitet hatte, Werner bei einem technischen Problem, das so viel wichtiger war als Essen. Nachdenklich half er Erika, das Geschirr in die Küche zu tragen, dann verzog er sich an den abgeräumten Esstisch und bereitete seine technischen Pläne und seine Notizen dazu aus. Ein Bulletin der SIA, der Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereinigung, wurde aufgeschlagen – und Werner vertiefte sich in seine private, ambitionierte Entwicklungsarbeit: eine automatisierte, elektrisch betriebene Transportbahn. Diese sollte in Zukunft auf Schienen durch die Lagerhalle der Eisenwarenhandlung seines Bruders in Zofingen fahren und Waren bringen und holen. Werner war als Elektroingenieur der geborene Tüftler und Forscher, seit seiner Rückkehr aus den USA beim international tätigen Unternehmen Landis & Gyr in Zug angestellt. Aber an den Sonntagen und abends beschäftigte er sich zu Hause mit seinem Lieblingsprojekt. Werner arbeitete sehr genau, stellte höchste Ansprüche an sich selbst. Es war schon recht spät, als er zu Bette ging. Er schlief neben Erika sofort ein.

Die regelmässigen Atemzüge ihres Mannes verrieten Erika, dass ihr Gatte schlief. Sie fröstelte ein wenig und öffnete die Augen wieder. Weshalb lebe ich nur in dieser gutbürgerlichen Dreizimmerwohnung? In diesem Bett? Neben diesem Mann? In meinen Romanen besuchen die Eheleute gemeinsam Bekannte, fahren zusammen irgendwo hin und reden miteinander über das Erlebte oder über Gott und die Welt, sie streiten sich und liebkosen einander nachher wieder; und schlafen endlich eng umschlungen in ihrem Ehebett ein. Die Menschen in den Romanen haben Kinder, Familie, eine Aufgabe. Ach, ich habe doch alles, was ich brauche! Ich sollte zufrieden sein! Nochmals tauchten die hell erleuchteten Bürofenster vor Erikas innerem Auge auf. Sie spürte eine schmerzende Sehnsucht und dachte: Ich darf nicht mehr traurig sein. Viele Leute haben zu wenig zum Leben und müssen hungern. Mir geht es gut. Mir sollte es doch gut gehen. Endlich schlief auch Erika ein.

Kondukteur sollte man sein
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2.  Kondukteur sollte man sein

(1) Erika am Fenster im 2. Stock, Bundesstrasse 25
Erika am Fenster im 2. Stock, Bundesstrasse 25

Die Novembertage kamen und gingen. Draussen war es feucht, neblig und kalt. Drinnen musste Erika manchmal fast den ganzen Tag lang die Lampen brennen lassen. Auch an diesem Dienstagmorgen machte Werner wie immer zuerst im Korridor draussen seine Turnübungen, ass rasch ein Butterbrot am kleinen Küchentisch und trank eine Tasse warme Milch. Wie jeden Tag rief er Auf Wiedersehen! und verliess vor sieben Uhr die Wohnung in seinen dunklen Mantel gehüllt, den grauen Hut auf dem Kopf und seine Mappe aus dunkelbraunem Rindsleder in der Hand schwingend, um zu Fuss zum Bahnhof zu eilen.
Heute schaute Erika zum Fenster hinaus und sah ihrem Gatten nach. Seine Gedanken werden schon im Büro bei seinen Ideen und Plänen sein, dachte sie. Sie beobachtete, wie er rasch den Bundesplatz überquerte, bei den Bahngeleisen links abbog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Erika stellte sich ihren Mann vor, wie er kurz darauf zügigen Schrittes durch den Torbogen in die weite Bahnhof-Halle mit den Fahrkartenschaltern und dem riesigen, farbigen Wandbild hineinging und in den Schnellzug einstieg. Zwanzig Minuten später kam er in der Stadt Zug an, nicht weit weg vom grossen, modernen Bürogebäude der Firma Landis & Gyr. Bevor Erika zwanzig Jahre alt war, arbeitete sie dort ein Jahr lang in der technischen Bibliothek dieses Unternehmens. Dort hatte sie den etwas schüchternen Elektroingenieur Werner König kennengelernt.

Erika liess den Vorhang, den sie mit der rechten Hand ein wenig hochgehalten hatte, wieder fallen. Sie beneidete Werner, der jeden Tag nach Zug und zurück reisen konnte und bei der Arbeit interessante Leute traf, neue Ideen entwickeln konnte. Sie stellte sich vor, wie Werner und die anderen Leute in der Bahn durchs Fenster hinaus den Rotsee und die Wasservögel beobachteten und die jetzt kahlen Bäume, die nassen Wiesen und Hügel mit Nebelschwaden vorbeiflitzen sahen. Sogar im trüben Novemberwetter müsste das aufregend sein! Bald käme der Kondukteur, kontrollierte die Fahrkarten und machte mit seiner Zange ein Loch in die Fahrkarten aus Karton. Ob er wohl den Fahrgästen ein freundliches Wort sagte oder sogar einen kleinen Spass machte? Kondukteur sollte man sein! Man könnte jeden Tag reisen, unterwegs sein. Man könnte im Zug mit den Reisenden ein paar Worte wechseln und Neues erfahren. Auf der Durchfahrt würden sich einem die Landschaft in immer wieder anderem Licht im Wechsel der Jahreszeiten zeigen. Erika seufzte und wendete sich ihren Hausarbeiten zu. Ein langer Tag lag vor ihr.
Die Arbeiten im Haushalt waren bald erledigt. Mit dem Staubwedel aus flauschigen Baumwollfäden, dem Flaumer, wischte Erika den Staub vom Boden auf. Mit einem Baumwolltuch fuhr sie über die Möbel. Sie setzte sich an den Küchentisch und ass etwas Brot mit Butter und ein wenig von der Konfitüre, welche ihre Schwägerin im Emmental aus ihren Gartenbeeren eingekocht hatte. Erika nahm die hölzerne Kaffeemühle aus dem Küchenkasten hervor. Es waren noch Kaffeebohnen darin. Sie setzte sich auf das Küchentaburett, klemmte die Mühle zwischen ihre Knie und drehte energisch den Messinghebel ein paar Mal um. Sie stellte die Kaffeemühle zurück auf den Küchentisch, zog die kleine Schublade am metallenen Knopf aus der Mühle, schüttete das fein duftende Kaffeepulver in eine Aluminiumpfanne, gab einen Löffel voll Frank-Aroma dazu und kochte das Ganze auf. Sie schlürfte den heissen Kaffee in kleinen Schlückchen. Die Wärme tat gut. Dann räumte sie die Küche auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Es war erst neun Uhr.
Emma und Christian, ein glückliches Paar
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3.  Emma und Christian, ein glückliches Paar


(1) Emma und Christian Wickart-Steiger mit Erika, 1927
Emma und Christian Wickart-Steiger mit Erika, 1927

Christian Wickart, Erikas jetzt sechzigjähriger Vater, war ein besinnlicher und ruhiger Mensch. 1874 in Zug geboren, wuchs er in Einsiedeln auf bis die Familie später wieder nach Zug umsiedelte, wo Christian die Handelsabteilung der Kantonsschule besuchte. Seine dreijährige kaufmännische Lehrzeit absolvierte er in einem grösseren Tuchwarengeschäft in Fribourg im Welschland. Er blieb noch weitere eineinhalb Jahre in diesem Geschäft und lernte während dieser Zeit perfekt Französisch. Seine nächste Anstellung, in einem Tuchgeschäft in Bern, ermöglichte ihm neben den Büroarbeiten auch geschäftliche Reisen. 1897 trat Christian in die Firma der von Moos'schen Eisenwerke in Emmenbrücke ein und besorgte anfänglich die Fabrikbuchhaltung. Mit der Entwicklung des Unternehmens rückte er zum Bürochef und später zum Prokuristen auf. Zwanzig Jahre später beauftragte der Verwaltungsrat Christian Wickart mit der Reorganisation der Verwaltung. Seine Position war eine Vertrauensstellung und umfasste Kalkulationen und Bilanzen.

Erikas Mutter, Emma Wickart-Steiger, vier Jahre jünger als der Vater, war eine lebhafte Natur voller Initiative, den Blick stets voraus gerichtet. Emma war das zweitälteste von acht Kindern, die Tochter eines Luzerner Polizeiwachtmeisters. Emma war schon 33 Jahre alt, als das Töchterchen Erika am 27. Juni im Sommer 1911 in Luzern zur Welt kam. Das naturgewellte, braune Haar hatte die Tochter von ihrer Mutter geerbt. Wie Erika trug auch Emma ihr Haar der neuen Mode gemäss kurz mit einer in die Stirn fallenden Locke. Oft zierte eine fein ziselierte, goldene Kette Emmas Halsausschnitt, ein Geschenk ihres Gatten. Dazu trug Emma meistens eine grosse, dekorative Brosche an ihrer Bluse. Erikas Mutter war immer schön und modisch angezogen, kein Wunder, sie war gelernte Schneiderin und nähte alle Kleider auf ihrer Singer-Tretnähmaschine selber. Ihr grösster Wunsch war, Lehrerin zu werden. Aus finanziellen Gründen konnten ihr ihre Eltern diesen Wunsch nicht erfüllen. Nach Abschluss der Lehre als Damenschneiderin lernte sie während eines Jahres im Welschland Französisch. Wieder in ihrer Heimatstadt Luzern zurück, lernte sie fleissig Englisch, um sich auf einen späteren England-Aufenthalt vorzubereiten. Emmas Familie konnte sich von Anfang an nicht mit diesem Ansinnen anfreunden. Frauen heiraten sowieso und haben Kinder, hiess es. Dazu muss man sicher nicht Englisch können. Emma musste auf ihre eigenen Wünsche verzichten, ihren Englandaufenthalt aufgeben und mithelfen, für die Ausbildung der jüngeren Geschwister zu sorgen. 1905 heirateten Emma Steiger und Christian Wickart. Ist dieser aufgezwungene Verzicht vielleicht der Grund, weshalb Mama oft so fordernd und streng war? Hat es mit ihrer Herkunft zu tun, dass sie immer darauf bedacht war, niemanden vor den Kopf zu stossen? Ein immer wiederkehrender mütterlicher Ausruf war: Was werden bloss die Leute sagen!



(2) Emma und Christian in ihrem Wohnzimmer

Emma und Christian in ihrem Wohnzimmer

Erikas Eltern waren seit Jahrzehnten ein glückliches Gespann und ihr Vorbild. Als Kind durfte Erika das blaue Buch des schweizerischen Alpenklubs mit den Schwarz-Weiss-Fotografien aller Klubhütten anschauen. Zu den meisten Hütten waren Emma und Christian aufgestiegen, sie machten viele Alp- und Passwanderungen. Der Aufenthalt in der Natur gebe ihnen Kraft, sagten sie. Emmas rührige Natur und die besinnliche Art Christians ergänzten sich in schöner Weise. Papa Christian setzte sich seit Jahren als Präsident der Schweizerischen Vereinigung für den Völkerbund in der Sektion Luzern ein, später auch im Zentralvorstand der Vereinigung Für den Fortschritt und die Höherentwicklung der Menschheit. Der Weltkrieg war für ihn eine gewaltige Enttäuschung, desto mehr wollte er aktiv bei der Umgestaltung des Machtstaates in einen Kulturstaat mitwirken. Nach der Barbarei des Krieges müssen Weltbürgertum und Weltverbrüderung kommen, forderte er immer wieder. Die geistigen Neigungen Christians waren auf kulturelle Fragen ausgerichtet. Er setzte seine Kraft für das Ideal eines Völkerfriedens ein.

Durch die Lektüre, durch die Interessen und den Bekanntenkreis ihres Gatten erweitere Emma ihren Lebenskreis. Sie wendete sich sozialen Fragen und den neuen Frauenbestrebungen zu. Ihr aktiver Geist drängte sie zu praktischer und organisatorischer Tätigkeit in der Liga zur Bekämpfung der Tuberkulose. Im Jahr 1920 wurde die damals 42-jährige Emma Wickart von der Präsidentin des Gemeinnützigen Frauenvereins mit der Errichtung einer Kinderstube betraut. Fünfzehn Jahre später lebten 32 Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen konnten, in der Kinderstube Hubelmatt in Luzern. Erika las die Anfangszeilen eines Gedichts ihres Vaters im Poesie-Album.

Glaube an das Schöne, das Wahre und Gute,
dann lebst du mit fröhlichem Mute.
Du überwindest dann leicht die düsteren Tage
und söhnest dich aus mit der dunklen Lage…

Wenn ich nur wüsste, wie ich das fertigbringen könnte! Sie klappte das Album zu und versteckte es wieder in der hinteren Reihe der Bücher im Bücherschrank, neben Flauberts Geschichte von Emma, mit der sie eine Seelenverwandtschaft spürte.





(3) Christians Gedicht in Erikas Poesie-Album

Christians Gedicht in Erikas Poesie-Album
Hätte ich ein Kind, wüsste ich, wofür ich lebe
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4.  Hätte ich ein Kind, wüsste ich, wofür ich lebe

Erika sass im Wohnzimmer und liess ihre Stricknadeln tanzen. Mama ist nicht nur eine gute Schneiderin, sie strickte auch gerne Kinderkleider für mich. Stricken lernte ich von ihr. Ruth, meine Schulfreundin, und ich waren damals kleine Mädchen. Beide trugen wir schwarze Wollstrümpfe, und unsere kleinen Füsse steckten in hohen, dunkelbraunen Schnürschuhen. Wie schauderhaft war doch das ständige Jucken der Strümpfe auf der Haut! Und die schmerzenden Schuhe waren noch schlimmer! Den feinen Duft des Schuhleders aber, den habe ich immer noch in der Nase.

Unterdessen waren Erika und Ruth 24-jährige Frauen. Die verheirate Ruth lebte in Belgien. Erika hoffte, bald wieder einen Brief aus Mons zu erhalten. Schade, ist Ruth so weit weg! In ihrem letzten Brief hatte Erika ihrer fernen Freundin einmal mehr ihre missliche Lage geschildert: Ich langweile mich den lieben-langen Tag und schlage die Zeit mit Lesen und Stricken tot. In vollem Vertrauen zur Freundin verheimlichte Erika nicht, dass zwischen ihr und Werner körperlich und seelisch nach wie vor grosse Distanz herrschte. Werner ist liebenswürdig, aber irgendwie distanziert. Erika freute sich, aber es schmerzte sie auch, dass Ruth ein drei Monate altes Töchterchen hatte. Ruth ist Mutter geworden, und ich immer noch nicht! Erika spürte den Schmerz in der Brust und bemitleidete sich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich habe keine Geschwister, umso mehr möchte ich jetzt Mutter sein! Hätte ich ein Kind, hätte ich eine Aufgabe und wüsste, wofür ich lebe! Nie mehr müsste ich voller Sehnsucht den hell erleuchteten Bürofenstern entlang schleichen, wenn ich Kinder hätte. Diese seltsame Angewohnheit hatte sie selbst Ruth verheimlicht. Wie immer, wenn sie daran dachte, schämte sie sich und dachte: Ich habe alles, was ich brauche, eine schöne Wohnung, moderne, neue Möbel, eine praktische Küche und sogar eine Badewanne, was nicht selbstverständlich ist. Und ich bin mit Werner verheiratet. Er ist lieb und seriös. Ich habe in Luzern, Zürich und in Genf gute Freundinnen, sogar in Belgien; und einen Vater, der mich versteht. Ich sollte wirklich zufrieden sein. Aber ich bin es nicht.

Die Wintersonne schien am Nachmittag zwischen dunklen Wolken hervor. Erika entschloss sich, als Ablenkung von ihren traurigen Gedanken, einen Spaziergang im Gigeliwald zu machen. Sie ging rasch, um nicht zu frieren. Auf dem Naturweg am Waldrand blieb sie stehen und schaute auf die Stadt Luzern hinunter. Hinter dem lichten Eichwäldchen breitete sich die Luzerner Allmend aus. Immer noch waren die Spuren des grossen Bauplatzes für die Kaserne zu sehen. Anfang Jahr war die neue Kaserne auf der Luzerner Allmend von den Truppen bezogen worden. In der Nähe stand eine kleine Holztribüne am Rand des Fussballfeldes. Luzern modernisierte sich. Das Jahr 1934 brachte nicht nur die neue Sportanlage, sondern auch den automatisierten Telefonbetrieb in Luzern. Bald können alle Einwohner einen eigenen Telefonapparat in ihrer Wohnung haben und über alle Hausdächer hinweg miteinander sprechen! So etwas hätte man sich nie vorstellen können!

Erikas Blick schweifte über die Stadt hinaus über Wälder und Felder zum verschneiten Pilatus und den weissen Gipfeln der Alpen. Der Vierwaldstättersee glitzerte im fahlen Novemberlicht. Rund herum konnte man vereinzelte Bauernhöfe ausmachen. Es ist alles so friedlich hier. Wie lange wird das so bleiben? Niemand weiss, wie sich die politische Situation in den Nachbarländern entwickeln wird. Dank ihres politisch interessierten Vaters kannte sich Erika mit dem Geschehen in der Schweiz und der Welt aus. Erikas Papa bezeichnete sich als Freund der Humanität und war Pazifist. Seit je interessierte er sich auch für wirtschaftliche und soziale Fragen. Dass ein grosser Teil Europas vom Faschismus beherrscht wurde, liess ihm keine Ruhe. Oft sprach er von der Notwendigkeit einer Geistigen Landesverteidigung der Schweiz. Gegenüber dem ausgeprägten Nationalismus der Faschisten, deren erklärtes Ziel die Machtergreifung in Grossdeutschland und Italien sei, müsse die Eigenständigkeit der Schweiz mit ihren einmaligen Werten und ihrer kulturellen Vielfalt erhalten bleiben, als Europa im Kleinen.

Mit solch düsteren Gedanken im Kopf kam Erika nach Hause zurück. Sie zog ihre Schuhe aus und nahm sich vor, wenn immer möglich Spaziergänge in der Natur zu machen, so wie heute. Inmitten von Wiesen und Wäldern fühlte sie sich in jeder Jahreszeit befreit, wieder voller Energie und ein wenig wie neu geboren.

Ein Tag bei Marti in Zürich-Seebach
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5.  Ein Tag bei Marti in Zürich-Seebach
Erika bekam einen Brief von ihrer Freundin Marti. Marti war in Luzern aufgewachsen und hatte mit Erika zusammen dieselben Klassen in der Primarschule besucht. Als verheiratete Frau wohnte Marti mit ihrem Mann in einem verwinkelten, zweistöckigen Haus neben der alten Kirche in Zürich-Seebach. Vom Frühling bis im Spätherbst verbrachte Marti viele Stunden in ihrem Garten. Sie zog knackige Salate, Radieschen, Karotten, Bohnen und anderes Gemüse in liebevoll gepflegten Beeten. Sie erntete sogar Kartoffeln auf einem kleinen Gartenacker.
Martis Mann war ein ehrgeiziger Eiskunstläufer. Jeden Abend trainierte er auf dem Eisfeld beim Hotel Dolder in Zürich und kam gar nicht erst von der Arbeit nach Hause. Ob Erika nach Zürich-Seebach auf Besuch komme, wollte Marti in ihrem Brief wissen. Weisst du, wir könnten wieder einmal nach Herzenslust von früher plaudern, schrieb sie mit ihrer schönen regelmässigen Handschrift. Nur zu gerne wollte Erika ihre Freundin besuchen. Am Abend erzählte sie Werner von Martis Einladung. Er ermunterte sie zur Reise.
Am nächsten Morgen öffnete Erika den Sekretär, nahm ihr Schreibpapier hervor und schrieb:
An meine liebe Freundin Marti! Ich komme am Dienstag gerne zu dir. Bin froh, aus Luzern heraus zu kommen. Ich freu mich schon, wenn die Männer bei der Arbeit sind, können wir ungestört reden. Es grüsst dich herzlich, deine Erika.
Erika brachte den Brief aufs Postamt beim Bahnhof.
Am darauf folgenden kühlen und regnerischen Dienstag fuhr Erika mit dem brandneuen Roten Pfeil nach Zürich. Seit einiger Zeit schon stand Marti an der Tram-Haltestelle in Seebach und wartete auf ihre Freundin. Bald quietschte die blaue Trambahn beim Bremsen und Erika stieg aus. Die Freundinnen hängten einander unter und waren augenblicklich in ein unbeschwertes Gespräch verwickelt.
Marti kicherte: "Weisst du, was mir eben wieder in den Sinn gekommen ist? Wir stellten uns in der Primarschule vor, dass es ein Kind gäbe, wenn eine Frau und ein Mann einander küssten!" Marti lachte aus voller Kehle. Aber irgendwie schien es ihr, als ob plötzlich ein Schatten auf Erikas Gesicht erscheinen würde. Bilde ich mir das nur ein? "Wenn ich einmal Kinder habe, werde ich sie nicht derart im Ungewissen lassen, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich ein so heikles Thema ansprechen könnte."
Erika sagte ernst: "Ich möchte so gerne Kinder haben! So wüsste ich, wofür ich lebe; aber mit Werner und mir funktioniert es im Bett einfach nicht, nicht einmal das Küssen."
Marti wurde klar, dass sie sich wegen des Schattens auf Erikas Gesicht nicht getäuscht hatte. Sie bereute es, dieses Thema angesprochen zu haben, versuchte es zu wechseln und fragte, wie es damals gewesen sei, als Erika als Achtzehnjährige in Lausanne zur Schule ging und Französisch lernte. "Dort hattest du doch einen Freund. Habt ihr euch geküsst?"
"Ach ja, das war Alex", bestätigte Erika und schilderte ihren Aufenthalt in einer Westschweizer Familie, als sie dort die Abschlussklasse der Handelsschule besuchte. „Die Familie hatte zwei Söhne, einer war verlobt, der andere war eben dieser Alex. In der Familie wohnte noch eine Engländerin. Alex und ich schmusten zusammen, aber nichts weiter“, erzählte Erika kichernd wie ein junges Mädchen. „Die Söhne hatten einen Radioapparat gebastelt. Das war schon etwas ganz Aussergewöhnliches. Radioapparate waren damals noch Luxus. Wir hörten Stimmen und Musikfetzen aus dem Apparat. Alex erklärte mir, dass man nur in der Nacht Radiowellen empfangen könne.“  Erika erzählte weiter, wie sich die beiden jungen Männer eines Nachts mit ihr und der Engländerin unter dem Vorwand, Radio zu hören, im Radiozimmer einschlossen. Statt Radio hören, wollten die Brüder mit den jungen Frauen schmusen – und noch mehr. Erika erschrak und drohte, sie würde laut kreischen. „So störte ich die Spiele der anderen und floh aus dem Zimmer. Nachher küsste mich Alex nicht mehr und würdigte mich auch keines Blickes.“
Wieder zuhause bei meinen Eltern entdeckte ich versteckt hinter den Büchern ein Buch vom Schweizer Sozialreformer August Forel: Die sexuelle Frage. Heimlich und mit schlechtem Gewissen las ich das Buch. Forel trat für die Enttabuisierung des Sexuallebens und für die Gleichberechtigung der Frau ein. Er war überzeugt, dass das Wohlergehen und das Glück der Menschheit zum grossen Teil von der Lösung der 'sexuellen Frage' abhing.
Die Freundinnen kamen in der Küche von Martis Haus an. Marti öffnete die Gusseisen-Türe ihres Holz-Feuerofens, blies in die Glut und legte ein Holzscheit nach. Bald stieg der feine Duft von Kaffee aus der Pfanne auf. Das Austauschen der Erinnerungen und der Neuigkeiten konnte weitergehen. Marti beschrieb ihr Hausfrauenleben in Zürich-Seebach, redete von ihrem Garten, von ihrem sportlich-ehrgeizigen Hans und seinem Schlittschuhtraining. “Ich bin froh, dass ich mit einem Mann verheiratet bin, der bei der Gemeinde arbeitet. Jeden Samstag bringt er 67 Franken in seiner Lohntüte heim. Der Melker, welcher auf dem Hof unseres Nachbarn arbeitet, hat mir verraten, dass sein Wochenlohn nur 25 Franken betrage.“ Die Freundinnen waren sich bewusst, dass man um jeden Franken in der Lohntüte froh sein musste. Dass man überhaupt Arbeit hatte, war nicht in dieser Zeit selbstverständlich.
Marti schrieb ihre Haushaltausgaben auf. "Willst du die Zusammenstellung vom letzten Monat sehen?"
"Ja gerne, das interessiert mich. Werner bekommt als Elektroingenieur einen Monatslohn von 525 Franken. Er verdient gut, aber auch wir wissen nicht, ob es plötzlich eine Änderung gibt. Darum spare ich, wo und wann immer ich kann. Werner ist in Geldsachen immer sehr grosszügig, das ist ein feiner Zug an ihm."
Marti holte ein schwarz eingebundenes Notizbuch aus dem Küchenschaft. Fein säuberlich hatte sie jede Haushaltausgabe notiert und zusammengezählt. Auch sie musste sparen. "Im Keller, auf den Hurden, haben wir einen Vorrat an Kartoffeln, Karotten, Kabis und Sellerie aus dem Garten, du darfst gern ein paar Kartoffeln und einen Kabiskopf mit nach Luzern nehmen."
Die Freundinnen gingen in Martis Garten und plauderten weiter bis fünf Glockenschläge von der nahen Kirche zu hören waren. "Es ist Zeit, dass ich wieder zum Bahnhof gehe, sonst verpasse ich noch den Abendzug nach Luzern!", rief Erika, erschrocken, wie schnell die Zeit vergangen war. Marti packte die Kartoffeln und den Kabis ein und begleitete Erika bis zur Trambahn-Haltestelle. Es gab einen raschen Abschied.
Die Pfarrleute von Utzenstorf
Seite 6
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6.  Die Pfarrleute von Utzenstorf
Das war ein guter Tag mit Marti gewesen! Erika sass wieder im Zug zurück nach Luzern. Sie genoss die Geschwindigkeit und erinnerte sich an die schier endlos dauernde Bahnfahrt in den alten Wagen dritter Klasse der Schweizerischen Zentralbahn nach Utzenstorf, zum Wohnort der Schwiegereltern. Jetzt tauchte das Bild von Erikas Schwiegereltern vor ihr auf: die imposante, grosse und schlanke Erscheinung von Werners Vater, Fritz König, und neben ihm die kleinere, eher rundliche Mutter, Anna König-Frikart.
Anna wuchs in einem vornehmen Herrschaftshaus in einem parkähnlichen Garten in Zofingen auf. Erika war erst einmal mit Werner bei Annas Schwestern in der vornehmen Villa gewesen. Die farbigen Perserteppiche, das kostbare, handbemalte Geschirr, das reich verzierte Silberbesteck, die schneeweissen, gestärkten Stoffservietten und die funkelnden Kristallgläser auf dem Familientisch beeindruckten sie sehr. Sie fühlte sich auch ein wenig unsicher in dieser vornehmen Welt.
Beide Schwestern von Erikas Schwiegermutter, Frieda und Mina, blieben unverheiratet. Vor allem zu Mina pflegten Erika und Werner eine herzliche Beziehung. Wenn Mina sich zu einem Besuch in Luzern anmeldete, stapelte Erika jeweils drei dicke Kissen auf dem Klavierstuhl, denn Mina war sehr klein und spielte trotz ihrer Kurzsichtigkeit virtuos Klavier. Sie trug eine Brille mit ganz dicken Gläsern. Erika gefielen Minas vornehme Kleider: diese schwarze Bluse mit weiten Ärmeln bis zu den Ellenbogen, dann eng anliegend bis zum Handgelenk. Dazu trug die alte Dame einen schwarzen, wadenlangen Rock und schwarze Strümpfe. Ihr zuzuschauen, wie sie energisch und doch mit Feingefühl in die Tasten griff, war ein Vergnügen. Erika beeindruckte das glänzende schwarze Samtband um Minas Hals. Vorne wurde dieses mit von einem handbemalten Medaillon zusammengehalten, welches einen Frauenkopf im Profil zeigte. Mina ist unverheiratet geblieben, sie ist trotzdem zufrieden, dachte Erika, vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht geheiratet hätte. Es ist nun aber einmal so, dass man heiratet, wenn man zwischen 20 und 25 Jahre alt ist. Es ist also richtig, dass ich Werner geheiratet habe. Und doch fühlt es sich für mich einfach nicht richtig an.
Werners Mutter Anna, kleidete sich einfacher als ihre Schwestern. Fast immer trug sie eine einfarbige Hemdbluse und einen weiten, schwarzen Rock. Ihre Strümpfe waren hellbraun und die Schuhe mit der kleinen silbernen Schnalle schwarz. Anna steckte ihr dunkelbraunes, schon leicht angegrautes Haar hoch und trug eine Brille mit runden Gläsern in einer Nickelfassung. An ihrem Blusenkragen steckte meistens ein Familienerbstück, eine Sonne-Mond-Brosche mit Steinen aus Granat. Erika fühlte sich bei ihrer Schwiegermutter wohl. Anna strahlte Freundlichkeit und Mitgefühl aus, ein feines Lächeln spielte meistens um ihren Mund. Erika wunderte sich, wie das Leben für ihre Schwiegermutter im kleinen ländlichen Utzenstorf im Unterschied zum grösseren, kleinstädtischen Zofingen wohl war. Es geziemte sich jedoch nicht, die Schwiegermutter etwas so Persönliches zu fragen.
Anna und Fritz König wohnten im geschichtsträchtigen Pfarrhaus von Utzenstorf, welches 1727 gebaut worden war. Der Schriftsteller Jeremias Gotthelf kam 1805 als sieben-jähriger Knabe in dieses Pfarrhaus, wo sein Vater als Pfarrer amtete. Er verbrachte seine Jugendzeit dort und übernahm 1820 das Pfarrvikariat. Ein Jahr später setzte er sein Studium in Deutschland fort und wirkte danach bis zum Tode seines Vaters als Gemeindepfarrer in Utzenstorf.
In der ganzen Gegend wurde Werners Vater, der gegenwärtige Pfarrer von Utzenstorf, als beeindruckender Prediger geschätzt. Er war ein grossartiger Prediger, der den Leuten direkt ins Herz und Gemüt sprach. Dem einen oder anderen Kirchgänger lief manchmal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn Pfarrer König von der Kanzel herab rief: "Bedenket, an jedem Tag im Leben seid ihr vom Tod umgeben!" Wohl darum erhielt er vor einiger Zeit eine Berufung ans Berner Münster. Aber er schlug diese Ehre aus. „Ich liebe es, in meiner stillen Studierstube in Utzenstorf, inmitten meiner grossen Bibliothek, meine Predigten zu verfassen und lateinische Schriften ins Deutsche zu übersetzen. Es ist sinnvoller, die Frohe Botschaft den Bauern und Arbeitern, den Knechten, Mägden, Müttern und Kindern im Dorf nahezubringen als in der Stadt zu repräsentieren.“ Seine Frau Anna dagegen wäre gerne in die Stadt gezogen. Zuerst war sie ein wenig enttäuscht. Jetzt aber sorgte sie mit ihrer mütterlichen Art für alle Leute im Dorf. Zur Weihnachtszeit waren Werner und Erika bei den Eltern im Pfarrhaus in Utzentorf eingeladen. Auch Werners beide Brüder mit ihren Frauen und ihren Kindern kamen zum Familientreffen: Max und seine Frau Claire aus Zofingen mit den beiden Töchterchen, Inge und Lotti. Eugen, der als Pfarrer in Schangnau wirkte, kam mit seiner Gattin Anni und den Kindern, Mädi und Peter. Nur ich habe keine Kinder, dachte Erika traurig.
Mit einem Ruck hielt die Eisenbahn an. Erika war zurück in Luzern.
Samichlaus in der Kinderstube
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7.  Samichlaus in der Kinderstube


(1) Emma Wickart bei der Treppe, Kinderstube Hubelmatt, Luzern
Emma Wickart bei der Treppe, Kinderstube Hubelmatt, Luzern

 1929 war die Kinderstube des Gemeinnützigen Frauenvereins des Kantons Luzern vom alten Spital in Luzern an den Stadtrand auf die Hubelmatt umgesiedelt worden. Die Stadt hatte ein geschindeltes zweistöckiges Haus mit grünen Fensterläden zur Verfügung gestellt. Das Haus stand in einem Garten mit einem hohen, ausladenden Nussbaum. Als Präsidentin des Frauenvereins engagierte sich Emma Wickart mit Leib und Seele für die Hubelmatt. Sie lud ihre Tochter Erika ein, sie anlässlich des Samichlaus-Besuchs in die Kinderstube zu begleiten. "Du möchtest dich sicher langsam an kleine Kinder gewöhnen", sagte die Mama vielsagend.
Allein wegen dieser Bemerkung wäre Erika lieber nicht mit ihrer Mutter in die Kinderstube gegangen, getraute sich aber nicht, die Einladung auszuschlagen. So wurden Mutter und Tochter am Abend des 6. Dezembers von der Heimleiterin, Fräulein Ineichen, ehrerbietig begrüsst und in die grosse Stube geführt. Hier wartete die grosse Kinderschar zappelig mit den fünf Angestellten in ihren frisch gebügelten weissen Schürzen auf den Samichlaus. Das Klaus-Lied wurde nochmals geübt, die Kinder wurden immer unruhiger. Zwei, drei begannen zu weinen. Gerne hätte Erika die Kleinen getröstet, sie vielleicht in die Arme genommen, aber sie getraute sich nicht. Sie fürchtete Mamas Vorwurf: Was würden wohl die Leute denken! Draussen polterte es an die Türe. Der Samichlaus und sein Gefolge traten ein. Mit seiner tiefen Stimme grüsste er die Erwachsenen und die Kinder. Auf dem Kopf trug er die Mitra, die zweispitzige rote Kopfbedeckung. Die imposante Gestalt trug einem feuerroten Umhang mit weissen Borden aus Pelz. In der behandschuhten Hand hielt der Samichlaus den Bischofsstab. Die Augen der Kinder richteten sich aber auf eine andere, Furcht einflössende Gestalt: den Schmutzli. Vom Schmutzli im langen, pechschwarzen Mantel und der Kapuze sah man nur das schwarz angemalte Gesicht mit den feuerroten Lippen und den leuchtend weissen Augäpfeln. Gefährlich war der Jutesack auf seinen Schultern. Die Kleinen wussten, dass der Schmutzli die unartigen Kinder in den Sack steckt und mitnimmt.  
Während der Samichlaus in der Hubelmatt ein Kind nach dem anderen zu sich rief und die Sünden der Kleinen aus dem grossen, dunkelroten Buch laut vorlas, studierte Erika die Gesichter und die Kleider der reich mit Schmuck behangenen Damen des Frauenverein-Vorstandes. Alle waren mindestens vierzig Jahre alt oder älter. Zum Schluss ermahnte der Samichlaus die Kinder, stets gehorsam zu sein, ihre Arbeiten gewissenhaft und ohne Widerrede zu verrichten und das tägliche Gebet zum Lieben Gott nicht zu vergessen. Der Schmutzli öffnete den Sack: Nüsse und Äpfel kollerten heraus, Willisauerringli und Gutzli. Die Kinder sprangen auf und sammelten die Gaben ein.
Eine langjährige Angestellte führte die Damen in ein Zimmer. Beim Tee und Luzerner Lebkuchen besprach man die laufenden Geschäfte, auch dass man Hilfe im Vorstand brauche. "Frau König, es wäre uns eine grosse Freude, wenn Sie als Tochter von unserer überaus geschätzten Frau Wickart im Vorstand mitmachen würden."
Erika war völlig überrumpelt. Blitzschnell überlegte sie, dass das vielleicht etwas gegen ihre Langeweile zu Hause wäre. Sie fühlte sich zudem ihrer Mutter gegenüber verpflichtet, diese Aufgabe anzunehmen und hörte sich sagen: "Ja, ich arbeite gerne im Vorstand mit." So richtig wohl war ihr aber dabei überhaupt nicht.
Auf dem Heimweg meinte die Mama: "Ich freue mich, dass du deine Fähigkeiten, die du dir als Sekretärin an verschiedenen Stellen angeeignet hast, der 'Kinderstube' Hubelmatt zur Verfügung stellst."
Aber Erika bereute bereits ihre Zusage, es grauste sie, im Kreis dieser  gesetzten, wohltätigen Damen mitzuwirken. Aber es war undenkbar, die Zusage zurückzunehmen, Mama würde sagen: Was würden die Leute denken!
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Mit einem Buch in der Hand setzte sich Erika im Wohnzimmer in den Polstersessel. Sie wollte lesen, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder kam dieses ungute Gefühl wegen ihrer Zusage hoch. Der Klumpen in der Magengegend wurde immer grösser. Wellenweise stiegen Schuldgefühle und Zorn, Trauer und Wut in Erika auf. Wenn ich nur auf- und davonfliegen könnte! Erika stand auf und tigerte unruhig umher.  Wie immer ich mich entscheide, es stimmt einfach nie! Erika schluchzte und hoffte, Werner würde im Esszimmer nebenan nichts hören. Rasch ging sie ins Bett und löschte das Licht aus. Man kann einfach nichts machen. Mit dieser traurigen Botschaft schlief Erika ein.

Familientreffen
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8.  Familientreffen
Willkommen und ein gutes neues Jahr! Die Pfarrfrau Anna König begrüsste alle Mitglieder der Familie in Utzenstorf. Wie jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr trafen sich Werners Eltern, seine beiden Brüder mit ihren Familien, Erika und Werner in der grossen Stube, in welcher der feine Duft von Pfeifenrauch schwebte. Die ganze Sippe diskutierte geistreich und aufgeschlossen über Politik und Wirtschaft. Die Frauen besprachen die Krabbel- und Gehversuche der Kinder und die Vorteile der neuen Schleudermaschinen für die nasse Wäsche.
Nach dem feinen Mittagessen führte der Hausherr seinen Nachkommen den neuen Radioapparat vor. Werner, der Ingenieur, erklärte allen auf anschaulicher Weise wie ein Radioempfänger funktioniert.
"Diese moderne Technik ermögliche auch die Beeinflussung der Massen, mit ungeahnten politischen Folgen."
"Hilft aber auch den Demokratien und dem Gewerbe", fügte Max, der Unternehmer aus Zofingen bei.
Erika interessierte mehr das geheimnisvolle Sendersuchfeld und las fasziniert die fremdländischen Namen:  Beromünster, Sottens und Monte Ceneri, Hilversum, Prag… . Sie malte sich aus, wohin sie am liebsten reisen würde. Der Schwiegervater stellte Radio Beromünster ein. Andächtig hörten alle der etwas krächzende Stimme zu: Es ist wohl allen Bürgern des Schweizerlandes mittlerweile klar geworden, dass während des zu Ende gehenden Jahres 1935 mit den rassistischen Nürnberger Gesetzen der totalitäre Charakter des Dritten Reiches, das Minderheiten brutal verfolgt, offenbar geworden ist.
Jetzt hörte man ein Knistern und eine Frauenstimme kündigte den Ländler I Hemmlisärmel mit der Stimmungskapelle Lott & Schmidig an. Nachdem man die ersten paar Takte der lüpfigen Musik gehört und festgestellt hatte, dass die Übermittlungs-Qualität nicht gerade gut war, stellte Pfarrer König den Radioapparat ab.
"Im Januar wollen wir auch einen Radioapparat kaufen", verriet Werner und schaute Erika vielsagend an.
Erika war begeistert. "Wunderbar, wie ich mich darauf freue!"
Erikas Schwägerinnen zogen sich mit ihren Kleinkindern in den oberen Stock zum Mittagsschlaf zurück. Erika half ihrer Schwiegermutter das Geschirr in die Küche zu tragen. Eugen und sein Vater zündeten ihre Tabakspfeifen an.
"Was meint ihr zur Gleichschaltung der deutschen und österreichischen Presse?", wollte Werner wissen.
Man war sich einig, dass die Zeitungen und das Schweizer Radio die einzigen deutschsprachigen Plattformen für öffentliche Kritik am Nationalsozialismus seien, und dass die wichtigsten Schweizer Zeitungen für eine deutliche Abgrenzung gegen das Nazi-Regime eintraten.
"Auch in der Schweiz gibt es eine Zensur", meinte Eugen.
Max, der Geniesser und Lebenskünstler, fügte an: "Trotz Zensur dürfen das Cabaret Cornichon und Die Pfeffermühle noch immer sagen, was sie wollen!"
Man stimmte aber darin überein, dass viele Schweizer Hitler bewundern, weil er in Deutschland Arbeitsplätze schuf, Ordnung schaffte und den Investoren Zuversicht gab. Auch sehen viele das NS-Regime als Bollwerk gegen den Bolschewismus.
Nach der Siesta und der politischen Diskussionen beschloss man, einen Spaziergang im Dorf zu machen. Nicht weit vom Pfarrhaus war die alte Kirche mit ihren kostbaren Glasgemälden und der kunstvoll geschnitzten Decke. Vor dem Westeingang stand das Beinhaus. Es war einiges älter als die Kirche. Bögen aus Tuffstein umsäumten die beiden Öffnungen. Max und Eugen erzählten Schauergeschichten rund ums Beinhaus, welche sie als Knaben hier erlebt hatten. Werner dagegen erinnerte sich mehr an seine Freude an technische Dinge, an die Basteleien mit seinen Freunden: Ein eigenes 'Kraftwerk' am gestauten Bächlein und ein stärkeres am Hochdruckbrunnen des Nachbars dienten zum Aufladen von Batterien für die Velo-Beleuchtung. Die Auslagen bestritt er aus dem Erlös von gesammelten Lindenblüten und von seiner Kaninchenzucht. Als Sechsjähriger war Werner an Tuberkulose erkrankt. Der Vater erzählte schmunzelnd, dass die Eltern ihn lieber an der frischen Luft gesehen hätten als in der Bastelwerkstatt. Der Spaziergang ging weiter am Schloss Landshut vorbei. Die Dorfleute kamen unter die Haustüren und grüssten die stattliche Pfarrfamilie mit Respekt. Andere schauten verstohlen hinter den Vorhängen hervor, um die Königs zu begutachten.
Zurück im Pfarrhaus bewunderten die Frauen und Kinder Annas Pflanzen im Winterzimmer und den frisch gebohnerten schimmernden Boden aus Sandstein in der Küche. Erika dachte: So ein schönes, stattliches Haus, nur das stinkende 'Plumpsklo' und der dort stets herrschende unangenehme Geruch passt nicht!
Auf der Heimfahrt in der Eisenbahn bat Erika Werner, ihr wieder einmal zu erzählen, wie es war, als er mit seinen Hochzeitsplänen zu seinen Eltern ging. Ein Lächeln erschien auf Werners Gesicht, als er mit Erzählen anfing.
"Ich war lange nicht sicher, wie ich meinem Vater, dem reformierten Pfarrer, beibringen sollte, dass meine zukünftige Frau katholisch ist. An einem Sonntag fuhr ich zu meinen Eltern. Ich war bald 34 Jahre alt. Ich erzählte, dass Erika Wickart in der technischen Bibliothek der Landis & Gyr in Zug arbeite, dass wir uns dort getroffen haben und dass sie sehr belesen, hübsch und 23 Jahre alt sei. Ich beschrieb die Eltern Wickart und sprach von der Position von Christian Wickart bei den Von Moos'schen Eisenwerken. Recht umständlich und nach Worten ringend stammelte ich endlich: Aber, aber …meine zukünftige Frau ist katholisch. Nach einer Pause, die mir wie eine Ewigkeit erschien, fragte der Pfarrer-Vater: Hat deine Zukünftig schwarzes oder blondes Haar? So war der Bann gebrochen und du wurdest von meinen Eltern herzlich aufgenommen."


(1) Werner und Erika und die Eltern, Anna und Pfr. Fritz König
Werner und Erika und die Eltern, Anna und Pfr. Fritz König

 Anfang Januar 1936 kaufte Werner einen Radioapparat. Mit grossem Interesse hörte Erika tagsüber regelmässig Nachrichten von Radio Beromünster. Werner sass abends vor dem Apparat und hörte das Echo der Zeit mit Heiner Gautschi aus New York.

Beim Frauenarzt; Werner macht Pläne
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9.  Beim Frauenarzt; Werner macht Pläne
Eines Morgens öffnete Erika ein Fenster und schaute hinaus. Bald wird es Frühling, dachte sie. Doch froh wurde sie darüber nicht. Ich weiss einfach keine Lösung für meinen immer drängender werdenden Wunsch nach einem Kind. Endlich nahm sie allen Mut zusammen und erkundigte sich bei ihrer Schulfreundin, Marili Jung, nach einem Frauenarzt. Marili hatte als einzige Frau unter vielen Männern in Zürich Zahnmedizin studiert.
Erika fiel es schwer, sich für eine Untersuchung anzumelden! Schon einige Nächte vor dem gefürchteten Arztbesuch hatte sie Albträume, schwitzte und fror. Und endlich machte sie sich schweren Herzens auf den Weg zum Frauenarzt. Weder Werner noch ihren Eltern waren eingeweiht, nur ihre Freundin Marili. Schon im Wartezimmer schämte sie sich vor der Praxisgehilfin. Was denkt die wohl, weshalb ich da bin? Bald wurde sie von der Assistentin ins Untersuchungszimmer geführt, wo sie auf Geheiss des Doktors im weissen Kittel, der sie kaum eines Blickes würdigte, ihre Unterwäsche ausziehen und sich auf einen harten Schragen legen musste. Während der Untersuchung stieg mehr und mehr Scham in ihr auf und sie verkrampfte sich, was die Situation noch verschlimmerte. Der Arzt hantierte grob mit einem Instrument an ihr herum. Endlich durfte Erika sich wieder ankleiden.
"Setzen Sie sich! Sie haben einen ganz rücksichtsvollen Mann."
Der Gynäkologe nahm Erika gegenüber vor einer Bücherwand mit vielen dicken Fachbüchern Platz. Er schaute sie lange herablassend und eindringlich an. Am liebsten wäre sie in den Boden versunken und nie mehr aufgetaucht. "Es fehlt Ihnen gar nichts, es ist alles in Ordnung. Grüssen Sie Ihren Mann von mir", sagte der Doktor nach einer Zeit, die Erika wie eine Ewigkeit vorkam.
Zitternd und wütend trat sie hinaus auf die Strasse und dachte: Warum bin ich so aufgebracht, es ist ja alles in Ordnung? Draussen an der Sonne tauchte ein Hoffnungsschimmer auf. Vielleicht werde ich bald ein Kind erwarten! Dann widme ich mich voll und ganz meinem Kleinen und muss nicht im Vorstand des Gemeinnützigen Frauenvereins mitmachen.
Zuhause schrieb sie als Erstes den Vorstandsfrauen einen kurzen Brief: Sie eigne sich nicht für die Vorstandsarbeit und ziehe ihre Zusage zurück. Den Brief zeigte sie ihrer Mutter. Emma reagierte ungehalten und rief erbost aus: "Kannst du nirgends einmal treu sein?"
Erika erklärte ihrer Mama, dass sie vorläufig lieber für ein eigenes Kind, welches vielleicht bald kommen könnte, da sein möchte als für die Zöglinge in der Hubelmatt.
Emma war beruhigt: "Ich bin froh, dass du so denkst, Papa und ich freuen uns schon lange auf ein Enkelkind!"
Auf dem kurzen Heimweg kam es Erika vor, als ob sie nur die Lichtseite mitgeteilt hätte. Einzig ihre Freundin Marti wusste, dass das Zusammenkommen als Mann und Frau von ihr und Werner irgendwie nicht richtig funktionierte. Sie tröstete sich damit, dass wenigstens bei ihr alles in Ordnung war, wie der Gynäkologe bestätigt hatte.
Endlich! Mitte Februar, nach zwei Jahren konzentrierter Freizeitarbeit, waren Werners Pläne für seinen Bruder Max fertig. Zur Feier der abgeschlossenen Arbeit beschlossen Werner und Erika, zwei oder drei Tage Skiferien zu machen. Im Keller standen die beiden 2.40 m langen Skier und je 2 Stöcke mit grossen Tellern aus dickem, mit Leder umwickeltem Draht. Im Wandkasten waren die weiten schwarzen Puffhosen zum Skifahren und die schweren, ledernen, knöchelhohen Schuhe. Die Socken für den Skisport hatte Erika aus grauer Wolle mit einer roten Bordüre selbst gestrickt. Erika und Werner erinnerten sich an die schönen, gemeinsamen Skiausflüge in ihrer Verlobungszeit.
Werner war begeistert vom ersten Bügelskilift der Welt, welcher am 26. Dezember 1934 am Bolgenhang in Davos gerade erst seinen Betrieb aufgenommen hatte. Werner schnitt den Zeitungsbericht darüber fein säuberlich aus und reihte ihn in einen Bundesordner zu anderen Beiträgen aus der Welt der Technik ein. Der Skilift in Davos würde Sie-und-Er-Lift genannt. Er sei 2070 Meter lang und habe einen elektrischen 24-PS-Motor. Unumstritten sei der Lift aber nicht, denn gute Skifahrer würden Bergbahnen bevorzugen, die hoch in die Berge führen; und Tourenfahrer sprächen ironisch vom 'Idiotenbagger'. Erika brach in schallendes Gelächter aus. Fast schämte sie sich ein wenig. Sie spürte, dass sie lachte, weil Werners Arbeit fertig war und er möglicherweise wieder mehr Zeit für sie hatte. Mit ihrem Gelächter steckte sie Werner an. Beide waren erleichtert, ohne genau zu wissen worüber.
"Wollen wir Marti und Hans fragen, ob sie mit uns in die Skiferien kommen möchten?", schlug Erika vor.
Nach der langen Planungszeit für seine automatisierte  Bahn war auch Werner wieder für Geselligkeit zu haben. "Das ist eine gute Idee. Ruf die Woelbers morgen an und sag einen Gruss von mir."  
Am nächsten Morgen machte sich Erika auf den Weg zu den öffentlichen Sprechstellen in der Hauptpost beim Bahnhof. Am Schalter gab sie die Telefonnummer dem Telefonfräulein und meldete das Gespräch nach Zürich-Seebach an. Nach einer Weile wurde sie in eine der Wand entlang aufgestellten hölzernen Kabinen gewiesen. Darin herrschte ein muffiger Geruch. Der schwarze Telefonhörer mit der Sprech- und Hörmuschel lag auf einer silbernen Gabel. Ein spralförmiges, mit schwarzem Gewebe umwickeltes Kabel verband den Hörer mit dem Apparat, und ein feineres Kabel verschwand in der Wand der Kabine. Erika war ganz aufgeregt. Sie hatte noch nicht oft telefoniert. Der Apparat klingelte hell und laut. Erika hob den Hörer ab und drückte ihn ans Ohr. Es knackte und sie hörte die Stimme von Hans.
"Hier spricht Erika", meldete sie sich und erzählte Hans von der Absicht, zu viert Skifahren zu gehen.
Hans überlegte es sich einen Moment lang und sagte dann erfreut: "O ja, Marti und ich würden gerne mit euch Ski fahren!" Aus dem Hintergrund hörte Erika Marti rufen: "Wundervoll, ein guter Plan!"
Hans und Erika vereinbarten, dass man sich nochmals über die Fahrpläne unterhalten und dann die Einzelheiten des Ausfluges besprechen wolle.
"Danke, Hans, einen lieben Gruss an Marti, adieu!" Erika legt den Hörer sorgfältig auf die Gabel zurück und fuhr zwei, drei Mal mit den Fingern behutsam über den schwarzen Apparat. Am Schalter bezahlte sie das Gespräch.
Zuhause las Erika in der Zeitung den Bericht zur Eröffnung der IV. Olympischen Winterspiele durch Reichskanzler Adolf Hitler am 2. Februar in Garmisch-Partenkirchen mit 755 Sportlern aus 28 Nationen. Bald stehen auch wir auf den Skiern. Wenn es nur schon Freitag nächste Woche wäre!
Werners Reisetagebuch
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10.  Werners Reisetagebuch
Es war ungewohnt, dass Werner am Abend nicht am Esstisch sass und arbeitete. Die Königs sassen im Wohnzimmer in den zwei grünen Sesseln unter der gemütlichen Stehlampe. Erika berichtete ihrem Gatten von ihrem Telefongespräch mit Hans.
"Ich habe einige Ferientage zu gut und kann gut zwei davon einziehen," sagte Werner. Zusammen überlegten sie sich, wo sie ihre Skitage verbringen könnten. Sie einigten sich auf die von Zürich-Seebach wie von Luzern aus ohne allzu langen Anfahrtsweg gut erreichbare Rigi.
Werner drehte den neuen Radioapparat an. Es war Zeit für die Abendnachrichten. Die Nachricht von der Ermordung Gustloffs am 4. Februar in Davos wurde wiederholt. Weitere beunruhigende Nachrichten folgten.
Die polnische Regierung stellte ihre Forderungen nach einer Massenausweisung der polnischen Juden vor. Prinz Radziwill brachte diese Forderung im polnischen Senat ein. Die britische Delegation von Lord Samuel, Lord Bearsted und Simon Marks reiste nach Amerika, um die Auswanderung der deutschen Juden zu besprechen diskutieren.
Werner sagte aufgebracht: "Zu welchem Teufelswerk sind die Menschen noch fähig? Tausende werden heimatlos! Das ist unhaltbar! Sind wir nicht vernunftbegabte Wesen? Wir könnten die Technik nutzen um das Los der Menschen zu erleichtern. Ohne Not und Elend gäbe es weniger Gründe, Krieg zu führen."
"Bist du Ingenieur geworden, weil du überzeugt bist, dass die moderne Technik die Rettung der Menschheit sei?" fragte Erika herausfordernd.
Auf diese Frage gab Werner keine Antwort. Stattdessen erzählte er, warum er sich für die Laufbahn eines Elektroingenieurs entschied. "Die Berufswahl verlief nicht so problemlos, wie es sich meine Eltern gewünscht hätten. Meine Neigung zur Technik war zwar eindeutig. Trotzdem regten sich schon in meiner Gymnasialzeit Zweifel. Technik kann sich auch in sinnlose Richtungen verlieren. Der Weltkrieg 1914 bis1918, dieser Schock meiner Jugendjahre, hat dies deutlich gezeigt. Ein Theologiestudium wie mein Vater und Bruder statt Technik, das war die Frage. Weiteres Abwägen führte mich zur Einsicht, dass ein technischer Beruf mir mehr Freiheit lässt. Letztendlich entschied ich mich für den Ingenieurberuf."
Werner besass ein Reisetagebuch von seinen Lehr- und Wanderjahren in Amerika und hatte schon öfters von seinen Abenteuern in der Neuen Welt erzählt. Etwa von seiner Bestürzung, als seine Schlummermutter alle seine kostbaren ETH-Mitschriften in den Müll geworfen hatte. Die Blätter seien ja alle vollgeschrieben und zum Beseitigen, hatte sie arglos gesagt.
"Du Werner, darf ich wieder einmal in deinen Reisetagebuch von Amerika lesen?"
"Ja, gewiss!" Werner holte seinen Reisebericht aus einem seiner dickleibigen Bundesordner und gab ihn Erika.
Ich war ziemlich schulmüde, verspürte aber eine grosse Reiselust. Zudem war mir bewusst, dass Stellensuchende meist vor verschlossenen Türen standen. Ich raffte kurzentschlossen meine Sparbatzen zusammen und dampfte Ende September 1923 mit meinem um acht Jahre älteren Freund Viktor Weber über Cherbourg Richtung New York dem Ungewissen entgegen, ohne starren Plan, ohne Stelle, aber mit Durchhaltewillen und Optimismus. Wir wohnten ein paar Tage nicht weit von New York entfernt bei Verwandten von Viktor und waren dann während zehn Tagen Gäste von grosszügigen, amerikanischen Reisebekannten in Pittsburgh. Erste tastende Stellensuche ohne viel Glück! Wir wollten ohnehin tiefer ins Land hinein, also westwärts, soweit das Geld noch reichte, bis St. Louis am Mississippi. Jetzt begann der Ernst des Lebens! Wir hatten in der Schule und während des Studiums Englisch gelernt. Unser Schulenglisch war nützlich, aber in amerikanischen Ohren klang es seltsam. Für Schulzeugnisse und Diplome interessierte sich kein Mensch. Wir änderten die Strategie: Statt zu zweit ging jeder einzeln auf die Suche nach einer Arbeit. Viktor fand zuerst Arbeit, jedoch nicht als Elektroingenieur, sondern im Transportanlagenbau, ein Gebiet, auf dem er schon praktische Erfahrungen hatte. Bald fand auch ich, was ich suchte. Nach zwei Jahren in St. Louis trennten wir uns, ich wollte auf Wanderschaft gehen! Die finanziellen Reserven schmolzen rasch dahin. Ich erlebte die Unberechenbarkeit der Konjunkturschwankungen hautnah. Ohne ersichtlichen Grund konnte das Stellenangebot von Plus auf Minus umschlagen. Ein Versuch mit bautechnischer Heimarbeit erlag denselben Tücken. Also wieder Stellensuche in der betriebsamen Einsamkeit der Grossstadt! Ich steuerte auf die Autoindustrie zu, nicht aus Neigung, sondern im Gegenteil aus einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber Henry Fords Wunschtraum 'Jedem sein Auto.' Welcher Hexensabbat steht uns bevor, wenn alle Motorisierten auf die Strasse losgelassen werden? Ob Spielzeug oder Götze, das Ding wollte ich mir aus der Nähe ansehen. Es scheint Schicksal des Menschen zu sein, dass er sich selber Probleme schafft, mit denen er dann fertig werden muss.
Nach den Irrwegen in den Nordstaaten suchte ich den Weg zurück zur Elektrotechnik. Mein Studienfreund Fredy Lang hatte sich bei der Sangamo Electric Company auf dem Gebiet der Elektrizitätszähler einen Namen gemacht und bahnte mir den Weg ins Laboratorium dieser Firma.

Frühjahr 1926. Ich zog von Toledo am Eriesee nach Springfield, Illinois. Kaum hatte ich meine neue Stelle angetreten, brachte mich eine ernste Nierenerkrankung ins Spital. Dort erreichte mich die Nachricht vom Freitod meines jüngeren Bruders Gustav. Mein Gemüt verdüsterte sich. Ich brauchte lange, um mich von diesem Schock zu erholen. Von den wechselnden Eindrücken in den USA sind diejenigen in den zweieinhalb Jahren in Springfield trotz allem die freundlichsten. Beruflich hatte ich dort eine Aufgabe, die mir vollen Einsatz, Ansporn und Erfüllung bedeutete.


Frühjahr 1928. Nach fünf Jahren in Amerika musste ich mich entscheiden, ob ich das amerikanische Bürgerrecht erwerben und folglich in Amerika Militärdienst leisten wollte. Viktor und Fredy waren schon Amerikaner geworden. Ich fühlte mich in Springfield wohl wie nirgends zuvor in Amerika. Dennoch wollte ich in die Schweiz zurückkehren. Ich war es nach dem Tod von Gustav meinen Eltern schuldig.

Sommer 1928. Mein Bruder Max kam für eine Studienreise nach Amerika. Max und ich reisten zusammen von New York über Rotterdam zurück. Eine Woche lang blieben wir in den Niederlanden. Zum Abschluss unserer Reise erwartete uns ein ganz grosses Abenteuer! Wir flogen von Amsterdam nach Brüssel und von Brüssel nach Basel mit der Basler Luftverkehrs-Aktiengesellschaft Balair. Herrlich ist das Fliegen!


(1) Pfr. Fritz König mit seinen Söhnen. Max links, Eugen rechts.
Pfr. Fritz König mit seinen Söhnen. Max links, Eugen rechts.
Erika und Marti
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11.  Erika und Marti
An einem kühlen Morgen im März schien die Sonne fahl zwischen den Wolken hervor. Werner und Erika holten die Woelbers am Bahnhof  ab. Zu viert fuhren sie weiter nach Arth-Goldau.
"Mir gefällt dein farbiger Sportpullover", meinte Marti anerkennend.
"Ja, ihn habe ich selber gestrickt", sagte Erika stolz. Und schon waren die Freundinnen in ein anregendes Gespräch über die neuste Skimode verwickelt.
Hans und Werner sprachen über die berühmten Rigi-Bahnen. Werner war begeistert von der Lok 7 aus dem Jahr 1873. „Sie ist mit ihrem stehenden Dampfkessel die älteste fahrtüchtige Zahnradlokomotive der Welt.  Im vergangenen Sommer reisten wir mit meinen Schwiegereltern  mit diesem Nostalgie-Zug auf die Rigi. Einige Engländer waren auch dabei. Ich konnte wieder einmal Englisch sprechen. Ein Gentleman hatte eine Leica dabei und machte viele Fotos. Ich hatte ihm das Bergpanorama erklärt, und er zeigte mir wie eine Leica funktioniert. Ein technisches Wunderwerk! So eine ‚Box‘, wie der Engländer seine Leica liebevoll nannte, möchte ich auch gerne haben! Der Verschluss erlaubt Aufnahmen von einem Tausendstel einer Sekunde, es gibt auch zusätzliche Objektive zum Auswechseln, einfach fantastisch."
"Fährt eigentlich die Arth-Rigi-Bahn auch im Winter? Wenn es richtig viel Schnee hat?" Hans fragte halb aus Interesse, halb aus Lust, Werners Technikbegeisterung anzustacheln.
"Dafür gibt es die Loks mit Schneeschleuder, auch eine geniale Erfindung. Wir sitzen jetzt im Zahnradtriebwagen, der mit Strom angetrieben wird. Sie fährt seit 1907 mit Strom. Damals war ich sieben Jahre alt - wie die Zeit vergeht!"
Auf  Rigi-Kulm kam es Erika vor, als sei sie dem Himmel näher. So ein schönes Wintermärchen, diese Aussicht! Und dieser Palast hier! Vor dem 1875 eröffneten luxuriösen Grand-Hotel Schreiber stand eine Tafel: Wir heissen unsere erlauchten Gäste willkommen! Wir bieten den hochverehrten Herren mit ihren Damen zwei Restaurants, dazu Billard-, Réunion-, Damen-, Lese- und Musiksäle an. Berühmte Küchenchefs wie Escoffier und beste Maîtres d’Hôtel erfüllen alle Ihre Wünsche. Den Nachmittagstee servieren wir mit dem Teeservice, welches uns der Bayernkönig Ludwig II. als Geschenk mitbrachte. Die löblichen Herren Mark Twain, Johannes Brahms und andere Künstler und Intellektuelle liessen sich bei uns inspirieren. Scheuen Sie sich nicht, einzutreten! Ein Tagesaufenthalt kostet 20 Franken.
Zwanzig Franken pro Person im Tag hätte das Budgets der Freunde bei weitem gesprengt. Sie wohnten bescheiden in einer kleinen Pension, einem Holzbau mit Sprossenfenstern und grünen Fensterläden. Unter dem ausladenden Satteldach gab es eine Holzterrasse für Sonnenhungrige. Marti zeigte auf die verschneite Alpenkette. "Der Ausblick auf die Berge und den schimmernden Vierwaldstättersee ist einfach grandios! Die Dampfschiffe sehen aus wie Kinder-Spielzeuge!" Erschrocken dachte Erika, nur jetzt bitte nicht das Thema Kinder!
Die Freunde verbrachte drei wunderbare Tage auf der Rigi, beim Skifahren und gemütlichen Zusammensein. Werner freilich musste schon am Montag zurück, zu einer wichtigen Sitzung. Als Hans das hörte, entschloss er sich, am Sonntag mit Werner hinunter zu fahren, um am freien Montag auf dem Dolder-Eisfeld in Zürich noch zu trainieren zu können. Der Montag zu zweit sagte den beiden Frauen sehr zu.
Am Sonntagabend machten es sich Erika und Marti im kleinen, heimeligen Aufenthaltsraum der Pension gemütlich. Das Servierfräulein brachte ihnen Tee in einem silbernen kleinen Krug, dazu Milch und Zucker in hübschen Porzellangefässen. Erst plauderten die Freundinnen über ihre Männer, aber Erika spürte schon wieder den beklemmenden Druck in der Magengegend. Der Schrecken ihres Besuchs beim Arzt überfiel sie erneut.
"Marti, ich muss dir etwas beichten, du darfst aber keinem Menschen ein Sterbenswörtchen verraten!“
"Habe ich je etwas ausgeplaudert, was wir zusammen gesprochen haben?", fragte Marti, fast ein wenig beleidigt.
"Nein, das hast du nicht. Dir kann ich vertrauen!"
Erika erzählte Marti rasch und immer aufgeregter, dass sie nie schwanger werde und doch so gerne ein Kind hätte. Sie schilderte den Besuch beim Arzt in allen Einzelheiten, zitternd vor Wut und Enttäuschung, Angst und Scham. Marti zeigte viel Mitgefühl und unterbrach Erikas Rede nur selten, um dieses oder jenes Detail nachzufragen.
Marti sagte mitfühlend: "Ich wusste nicht, dass die Situation für dich derart schlimm ist. Du musst unbedingt etwas dagegen tun! Ich bin der Meinung, du solltest Werner von deinem Arztbesuch erzählen und ihn bitten, selber auch einen Arzt aufzusuchen."
Erika zuckte bei der Vorstellung zusammen, Werner aufzufordern, einen Arzt aufzusuchen, weil sie nicht schwanger wurde.
Marti beobachtete ihre Freundin mit Anteilnahme: "Es ist der einzige Ausweg, den ich sehe. Du musst das tun, sonst wird es immer schlimmer! Ich selber erlebe Werner als umgänglich und zuvorkommend. Ich bin beeindruckt von seiner Neigung zu Religion und Philosophie, obwohl ich selber nichts davon verstehe. Du hast mir erzählt, dass Werner regelmässig in der Bibel lese und im Alten und Neuen Testament Randnotizen mache. Ich bin sicher, dass du gut mit  Werner über dieses Problem reden kannst. Jetzt hast du mich eingeweiht, und wir können jederzeit miteinander darüber sprechen. Ich helfe dir gerne. Du kannst mir ja auch telefonieren!"
Bis spät in die Nacht hinein tauschten sich die beiden Freundinnen weiter aus. Erika schlief unruhig. Mitten in der Nacht wurde sie wieder hellwach. Nein, so geht es wirklich nicht mehr weiter. Ich muss mit Werner sprechen und ihn dazu bringen, auch einen Arzt aufzusuchen. Wahrscheinlich ist bei Werner auch alles in Ordnung und dann - was dann? Endlich schlief sie wieder ein.
Am frühen Morgen erwachte Erika aus einem Traum: Ich stosse einen Kinderwagen durch dunkle, menschenleere Strassen. Es kommt mir in den Sinn, dass ich schon längst in meiner Klasse in der Schule sein müsste. Ich komme zum hohen Schulhaus mit den kleinen Fenstern. Vor dem Eingangsportal stelle ich den Kinderwagen hin und stelle fest, dass kein Kind darin ist. Ich erschrecke. Es ist mir peinlich, zu spät zum Unterricht zu kommen. Ihn zu schwänzen getraue ich mich aber auch nicht. Ich gehe ins dämmerige Schulhaus hinein und steige eine Sandsteintreppe hoch. Hier treffe ich auf den Schulhauswart. Was suchst du hier? Ich suche meine Klasse, finde aber die Türe nicht. Komm mit, ich zeige dir den Verbindungsweg, sagt der Hauswart und führe sie vor die Türe ihres Klassenzimmers. Er klopft an, eine unbekannte Lehrerin öffnet die Türe, zeigt auf mich und sagt: Auf dich habe ich gewartet!
Am Morgen redeten Marti und Erika von Tausend aufregenden Dingen und planten eine kleine Skitour. Sie verbrachten einen anregenden Tag zusammen. Die Zeit verging im Nu. Schon waren sie wieder in der Bergbahn und fuhren nach Arth-Goldau hinunter und weiter nach Luzern. Beim Abschied im Luzerner Bahnhof musste Erika Marti nochmals versprechen, bald mit Werner zu sprechen.
Eine schwierige Bitte
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12.  Eine schwierige Bitte
Zuhause fand Erika ihren Mann gut gelaunt, geradezu  begeistert vor: "Die Leitung der Zählerfabrik überträgt mir ein neues Projekt. Es handelt sich um die Signalübertragung über das Starkstromnetz mittels tonfrequenter Ströme zur Steuerung von Tarifapparaten. Dieses Projekt soll ich entwickeln! Ich habe in einer Fachzeitschrift schon von der französischen Realisation dieses Problems gelesen und in Amerika bei der Sangamo einiges davon mitbekommen. Jetzt sind die Weichen meiner beruflichen Zukunft gestellt - und das in diesen unsicheren Zeiten!"
Erika freute sich, Werner so begeistert zu sehen: "Jetzt kann es ja nur noch besser werden."
Werner stimmte ihr zu und bezog es auf seine neuen beruflichen Aussichten. Erika nickte und bezog es auf ihren Kinderwunsch. Sie nahm sich fest vor, am nächsten Tag mit Werner zu sprechen und ihn zu bitten, seinerseits einen Arzt aufzusuchen.
Den ganzen darauf folgenden Tag war Erika unruhig und konnte sich auf nichts konzentrieren, weder auf die Hausarbeit, noch auf das Lesen der Zeitung. So faltete sie eine alte, braune, schon etwas fadenscheinige Wolldecke einmal zusammen und deckte den Küchentisch damit ab. Darüber legte sie ein zweimal zusammengefaltetes Leinentuch. Sie verband das elektrische Maxim-Bügeleisen mit dem Strom aus der Dose an der Wand. Sie fasste das Bügeleisen am Holzgriff und stellte es auf der schmalen Seite auf. Das mit Baumwollbändern umwickelte Kabel schob sie weg, damit es vom heissen Eisen nicht beschädigt wird. Bis das Eisen zum Bügeln heiss genug war, ging Erika in der schmalen, aber modernen Küche vom Bono-Gasherd zum Steingut-Abwaschbecken neben dem grob gerillten Abtropfbrett hin und her. Soll ich Werner zuerst sagen, dass ich beim Arzt gewesen bin? Oder soll ich mit dem Wunsch nach einem Kind beginnen? Dabei blickte auf den Boden,  setzte ihre Fussspitzen einmal links auf eine schwarze, dann rechts auf eine weisse Keramikplatte des schachbrettartig ausgelegten Küchenbodens. Soll ich Schwarz oder Weiss wählen? In halblautem Selbstgespräch probierte sie verschiedene Sätze aus und verwarf sie wieder.
Nach einigen Minuten war das Bügeleisen heiss. Erika bügelte zwei Blusen und ihre hellblaue Küchenschürze. Die Schürze hatte Erika im Handarbeitsunterricht in der Schule von Hand genäht. Dann waren zwei weisse Labor-Mäntel aus grobem Baumwollstoff von Werner an der Reihe. Sie hatten einen Hemdkragen und lange Ärmel. Vorne wurden sie durchgehend mit grossen, vom vielen Waschen gelblich gewordenen Knöpfen geschlossen. Die rechteckigen kleinen Brusttaschen waren am oberen Rand etwas ausgefranst, weil Werner die Gewohnheit hatte, seine Bleistifte in einer Metallhülse an die Taschen zu stecken. Erschrocken stellte Erika fest, dass Werners Labor-Mäntel, die er täglich bei seiner Arbeit trug, fast gleich aussahen wie der weisse Kittel, welchen der Arzt bei ihrem Besuch in dessen Praxis getragen hatte. Sie bekam einen heissen Kopf, einen Moment lang wurde es ihr schwarz vor den Augen. Mit dem Bügeleisen in der Hand befürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Zum Glück ging die Benommenheit rasch vorüber. Erika bügelte Werners Labor-Mäntel fertig, faltete sie sorgfältig zusammen, nahm das Bügeleisen vom Strom und liess es auf dem Küchentisch zum Auskühlen stehen. Als sie es später im Wandkasten im Korridor versorgte, nahm sie sich nochmals felsenfest vor, Werner zu bitten, zu einer Abklärung zum Arzt zu gehen. Energisch schloss sie die Kastentüre zu.
Nach dem Nachtessen wollte Werner wie üblich das Geschirr abräumen.
"Warte bitte einen Moment, ich möchte dir etwas mitteilen", sagte Erika mit zusammengezogenen Augenbrauen, eine Spur zu laut und zu hastig.
Werner schaute Erika verdutzt an und setzte sich wieder. Er war es sich nicht gewohnt, dass seine Frau in diesem Ton und mit solcher Mine sprach. "Was ist los, was hast du, was willst du mir sagen?"
"Ich muss dir etwas beichten", fing Erika zögerlich an.
Werner unterbrach sie fast ein wenig belustigt: "Du bist ja schon seit einer ganzen Weile aus der katholischen Kirche ausgetreten, und du willst beichten!"
"Werner, es ist etwas Ernstes", erwiderte Erika und brach unversehens in Tränen aus.
Jetzt wurde es Werner unheimlich. "Was hast du bloss? Was ist denn los?" fragte er und hoffte diese unangenehme Situation so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Erika schämte sich wegen ihrer Tränen. Schluchzend gestand sie, dass sie beim Arzt war, um herauszufinden, weshalb sie nicht schwanger wurde; und fügte rasch an, dass aber der Arzt ihr versichert habe, dass bei ihr alles in Ordnung sei.
"Es ist doch gut, dass alles in Ordnung ist, warum regst du dich denn solchermassen auf?" fragte Werner und spürte, dass er selber auch anfing, sich aufzuregen. Sie steckt mich mit ihrer Hysterie noch an! Diesen Zustand empfand Werner als äusserst unangenehm und suchte nach einem Ausweg, um ihn so schnell als möglich zu beenden.
Aber Erika stammelte immer noch unter Tränen mit erstickter Stimme und bat Werner, sich selber auch bei einem Facharzt untersuchen zu lassen, damit man wisse, weshalb sich kein Kind anmelde.
Werner, immer noch darauf bedacht, die unbequeme Situation so schnell als möglich hinter sich zu lassen und jede weitere Diskussionen über das Thema Kind zu vermeiden, sagte zuvorkommend: "Ja, wenn du das meinst, mache ich das. Gib mir die Adresse deines Arztes! Ich melde mich dort an."
Werner stand auf, stellte die beiden Teller ineinander, gab das Besteck hinein und trug alles in die Küche. Erika blieb völlig überrascht am Tisch sitzen. Nie hätte sie mit diesem Ausgang gerechnet. Am liebsten wäre sie Werner in die Küche gefolgt und ihm aus lauter Dankbarkeit um den Hals gefallen. Sie fand jedoch, dass sich das nicht gezieme und räumte den Tisch langsam fertig ab. Sie war froh, den Abwasch besorgen zu können, während Werner sich ebenfalls erleichtert im Wohnzimmer in den Sessel fallen liess und die Zeitung auseinander faltete.
Nachdem sich Erika in der Küche ein wenig von der Aufregung erholt hatte, schrieb sie den Namen und die Adresse des Arztes auf das oberste karierte Blatt eines kleinen Papierblocks, den sie in der Küchenschublade aufbewahrte, um ihre geplanten Haushalteinkäufe aufzuschreiben. Rasch eilte sie mit dem Zettel ins Wohnzimmer und gab ihn Werner.
"Ich werde mich darum kümmern", versprach er und nahm sich vor, die Sache gleich am nächsten Tag zu erledigen, damit ihn seine Frau nachher mit ihrem Kinderwunsch in Ruhe lasse. Was ihn selber betraf, konnte er sich ganz gut vorstellen, keine Kinder zu haben. Kleine Schreihälse würden meine Ruhe und Konzentration stören, die ich bei meiner Arbeit brauche. Überhaupt wäre es vernünftiger, in diesen unsicheren Zeiten keine Kinder in die Welt zu setzen. Aber vor allem will ich keine solchen Ausbrüche mehr und gehe in Gottes Namen um des häuslichen Friedens Willen zu diesem Arzt. Und jetzt lese ich die Zeitung. Die Buchstaben in der Zeitung schienen auf und ab zu hüpfen. Werner lehnte sich zurück. Man soll immer an das Gute im Menschen glauben! Mit dieser Glaubensbestätigung beruhigte er sich einigermassen.
Werners Konsultation beim Arzt
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13.  Werners Konsultation beim Arzt
Im Neustadtquartier kam Werner aus dem Gebäude heraus, in dem sich die Praxis des Frauenarztes befand. Die Sonne wärmte Ende April schon kräftig.
"Unternehmen Sie etwas mit Ihrer Frau, eine Bergwanderung oder eine Bahnfahrt! Kommen Sie in einer Woche wieder, wenn der Laborbefund feststeht. Wahrscheinlich ist ja alles in Ordnung," sagte der Doktor lächelnd und reichte ihm die Hand.
Werner durchquerte die kleine Parkanlage, welche im Volksmund Vögeligärtli hiess. Er blieb stehen, um dem Pfeifen und Zwitschern der Vögel zuzuhören. Als Junge hatte er ein Vogelkundebuch besessen und sich die Namen und das Aussehen der einheimischen Vögel  beigebracht. So frei wie ein Vogel sollte man sein, jederzeit davonfliegen können, sich immer höher hinauf schwingen, die Stadt, den See und die Berge von oben betrachten! Die Freiheit ist das grösste Gut des Menschen, zitierte Werner für sich und die Vögel halblaut und fügte aus dem Fundus seiner Lieblingssätze an, man soll immer an das Gute im Menschen glauben!
Werner ging weiter. Er nahm sich vor, mit Erika am Sonntag wieder einmal auf die Krienseregg zu steigen. Der Schnee war weg und die leuchtend gelben Bergprimeln und vielleicht noch einige violette Soldanellen blühten vielleicht schon. Er erinnerte sich an die Blumenpracht im frühlingshaften Pfarrhausgarten seines Vaterhauses. Kurz hatte er den Duft der Frühlingsblumen wieder in der Nase und das Summen der Insekten in den Ohren. Vom Estrichfenster aus hatte er als Knabe Drähte zur grossen Tanne im Garten gespannt und eine kleine Luftseilbahn daran hin- und herfahren lassen. Er selber drehte die Kurbel am Fenster, und seine Brüder mussten jeweils auf die Tanne klettern, um die Bahn von dort aus wieder in Fahrt zu bringen, wenn sie sich in den Ästen verheddert hatte. Werner spürte eine starke innere Verbundenheit mit dem elterlichen Garten, ein gutes Gefühl! Erika und ich sind gerne draussen in der Natur unterwegs. Wir sollten öfter einen Ausflug in die Berge machen. Jetzt kam ihm aber in den Sinn, dass er am Sonntag seine Sammlung mit den technischen Beiträgen durchsehen wollte, um darin den Artikel zu einem speziell kniffligen Problem im Zusammenhang mit der Hochfrequenz-Übertragung zu studieren. So warten wir eben bis zum übernächsten Sonntag, hoffentlich ist das Wetter dann gut! Werner warf einen letzten Blick auf die Vögel und verliess das Vögeligärtli Richtung Bahnhof, um nach Zug zu fahren. Seine Gedanken waren schon in seinem Büro bei seiner neuen Herausforderung angekommen.
Am Abend berichtete Werner seiner Frau: "Der Doktor hat nichts Ausserordentliches herausgefunden. Er lässt noch eine Laboranalyse machen. Der Bescheid kommt in einer Woche."
Erika wurde ganz kribbelig beim Gedanken, noch eine Woche lang auf den Befund warten zu müssen. Gleichzeitig war sie erleichtert, weil Werner beim Arzt gewesen war und die Ungewissheit bald ein Ende nehmen würde.
Da Werners Arbeit und damit sein regelmässiges Einkommen mit dem Auftrag für das neue Projekt jetzt gesichert waren, hatte Werner aus dem gesparten Geld für Luxus-Zwecke - wie er die Sparbatzen in der kleinen Dose im Schreibtisch nannte - eine Leica-Fotokamera erstanden, auch den Telefonapparat bestellt, der im Korridor an die Wand angeschraubt wurde. Erika freute sich jeden Tag über den eleganten Apparat. Dass die eigene und die Stimme von Menschen in einer fernen Stadt durch das spiralförmige Kabel durchkommen konnte, das kam Erika wie ein Märchen vor.
Am Abend telefonierte Erika Marti und gab ihr ihre Telefonnummer. Gleich nachher telefonierte sie mit ihrer langjährigen Freundin Renée in Genf, deren Telefonnummer sie sorgfältig in ihrem Schmuckkästchen aufbewahrte. Werner hörte Erika zu wie sie mit Renée fliessend Französisch parlierte. Sein Schulfranzösisch reichte lediglich aus, um zwei, drei Worte aufzuschnappen. Mit roten Backen berichtete ihm Erika nachher, dass Renée sie im Mai für ein paar Tage nach Genf in ihre neue Zweizimmerwohnung am Parc des Eaux-Vives eingeladen habe. Werner war froh, dass Erika nach Genf fuhr. In aller Ruhe konnte er sich so  in sein neues Projekt einarbeiten, ohne auf Erika Rücksicht nehmen zu müssen. Der Ausflug in die Berge hat ja noch den ganzen Sommer lang Zeit, dachte er zufrieden.
Aus dem Tagblatt: Den Maifeiertag begehen viele deutsche Städte mit propagandistischen Massenkundgebungen. Alle Brautpaare erhalten ab sofort eine Ausgabe von Hitlers 'Mein Kampf'. - Aus den französischen Parlamentswahlen geht die Volksfront von Kommunisten, Sozialisten und Liberalen als Wahlsieger hervor. Léon Blum wird neuer Regierungschef. Mit der Eroberung der Hauptstadt Addis Abeba erklärt Benito Mussolini den Krieg in Abessinien für beendet. Er ruft das 'Neue Italienische Imperium' aus... In 'Mein Kampf’ stellt Hitler die Ziele des Nationalsozialismus dar. Insbesonders dass die 'Jüdische Frage' gelöst werden soll. Er beruft sich auf die 'Protokolle der Weisen von Zion', worin  eine jüdische Weltverschwörung behauptet wird.


(1) Erika im Wohnzimmer an der Bundesstrasse
Erika im Wohnzimmer an der Bundesstrasse

Erikas Telefon klingelte. Aus lauter Angst, zu spät zu kommen, rannte sie zum Apparat und hob den Hörer ab. Es war Renée aus Genf. Sie sagte, dass sie nächste Woche von Montag bis Mittwoch drei Ferientage einziehen könne; und fragte Erika, ob sie nicht schon am Samstagabend vor dem Wochenende zu ihr nach Genf kommen möchte.
Erika freute sich riesig: "Oui, oui, ich komme ganz, ganz gerne nach Genf."
Renée meinte, sie könne fast nicht mehr warten, bis sie Erika sehe und ihr ihre neue Wohnung zeigen könne. Der Gesprächsstoff werde sicher nicht ausgehen! Renée gab Erika die Abfahrts- und Ankunftszeit der Bahn durch und versprach, sie am Gare Cornavin abzuholen.
"Auf Wiedersehen Renée, bis bald!" Sie hörte ein Klicken in der Leitung und das Telefon schwieg. "Juhui!", rief Erika noch in den Telefonhörer hinein und freute sich sehr auf das Wiedersehen mit ihrer welschen Freundin.
Kaum war Erika wieder im Wohnzimmer, klingelte das Telefon erneut. Diesmal war es die Praxishilfe des Frauenarztes. Sie wollte Werner sprechen. Erika sagte, ihr Mann sei noch in seinem Büro. Die Frau bat Erika, Werner auszurichten, er möge am nächsten Tag um 17 Uhr in die Arztpraxis kommen. Auf einen Schlag war Erikas Vorfreude auf ihre Reise nach Genf verflogen. Eben hatte sie sich noch sorglos und leicht gefühlt, und schon lastete das Kinderproblem wieder auf ihrem Gemüt.
Am Abend schimpfte Werner hinter der Zeitung über die Zumutung, dass deutsche Brautpaare Hitlers Buch Mein Kampf, empfangen mussten.
"Es wäre gescheiter, wenn die Leute in dieser garstigen Zeit gar nicht heiraten würden", rief er in die Küche, wo Erika das Geschirr vom Nachtessen versorgte.
"Die Arztgehilfin des Frauenarztes hat angerufen. Sie bestellt dich für morgen auf 17 Uhr in die Praxis", rief Erika zurück und hoffte, Werner würde sich nach ihrem Einwurf sofort wieder der Zeitung zuwenden.
"Ja, ja, ich werde hingehen", bestätigte Werner und schimpfte sofort weiter über den gefährlichen Hitler und den verrückten Mussolini und deren Grössenwahn.
Eine schlimme Nachricht
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14.  Eine schlimme Nachricht
Am nächsten Tag schien für Erika die Zeit stehen zu bleiben. Sie zählte die Stunden bis es Abend wird und Werner die Labortests mitbringt. Sie tigerte von der Küche ins Wohnzimmer, wo sie ein paar Töne auf dem Klavier anschlugt, wechselte hinüber ins Esszimmer, rückte die geschliffene Glasschale für Früchte zurecht, fuhr mit dem Zeigefinger über die rötliche marmorierte Abdeckplatte der Anrichte, der Kredenz, wie man in der Zentralschweiz sagte. Sie steckte den Finger in den Schlüsselring der Kastentüre und öffnete die Türe mit einem Ruck. In der Kredenz befand sich das Porzellanservice, verziert mit einem schmalen schwarzen Band und einem feinen goldenen Rand. Erika zog die Besteck-Schubladen halb heraus. Darin lag das achtteilige Silberbesteck in den passenden, mit dunkelrotem Samt überzogen Vertiefungen, das Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern. Sie verschloss die Anrichte und wanderte wieder ziellos durch die Wohnung.

Am 29. September 1934 habe ich Werner geheiratet. Oder hat er mich geheiratet? Wollte ich Werner überhaupt heiraten? War es richtig, diesen Mann zu heiraten? Erika legte sich aufs Bett, schloss die Augen und liess die Zeit vor ihrer Hochzeit vorüberziehen: Ich war 20 Jahre alt, als ich von England zurück kam. Ich hatte eine Stelle in einer Autofirma als Sekretärin des Chefs, Herrn Roth, in Zürich bekommen. Ich freute mich, endlich erwachsen zu sein, die Verantwortung für meine Arbeit zu übernehmen und eigenes Geld zu verdienen. An meinem ersten Arbeitstag war ich wie vereinbart um neun Uhr an Ort und Stelle, stand aber vor einer verschlossenen Bürotüre. Herr Roth traf erst nach zehn Uhr ein. Damals hätte ich schon ahnen können, dass einiges nicht stimmte. Sobald ich einigermassen in meine neue Arbeit eingeführt war, verliess mein Chef das Büro meist schon um 16 Uhr, und ich musste die ganze Arbeit selber machen. Die Kolleginnen und Kollegen in dieser Firma deuteten hinter vorgehaltener Hand an, dass unser Vorgesetzter Alkoholiker sei und sich immer wieder mit anderen Geliebten herumtreibe. Auf Geheiss von Herrn Roth musste ich die Klienten anlügen und sagen, er sei verreist. Er war aber am Trinken oder vergnügte sich mit Frauen. Einmal schaute seine Frau im Büro vorbei. Offenbar wollte sie mich begutachten, weil sie wohl glaubte, auch ich sei eine seiner Geliebten. Frau Roth und ich redeten zusammen, und ich schilderte ihr, wie ich ihren Mann erlebte. Wir hatten ein gutes Gespräch. Einmal musste ich mit Herrn Roth geschäftlich nach Bern reisen. Deshalb glaubten alle anderen Angestellten, ich sei die neue Geliebte des Chefs. Dies war mir peinlich. In Bern wohnte ich bei den Eltern von Herrn Roth. Der Vater war der Generaldirektor der Schweizer Bundesbahnen. In diesem Berner Herrschaftshaus war alles vornehm und reich. Am Morgen war ich schon früh wach, wusste aber nicht, wann diese Leute sich zum Morgenessen treffen. Ich ging um halb neun nach unten. Die Hausfrau, Frau Roth, war dort und meinte, dass man sich in ihrem Hause keinesfalls vor neun Uhr fürs Morgenessen zu Tische setze.
Zu jener Zeit fand ein berühmter Mordprozess in Bern statt. Ein Kindesmörder. Der Verteidiger wurde ins Haus der Familie Roth eingeladen. Aus Vornehmheit sprachen die Leute untereinander französisch. Es dauerte nicht mehr lange, bis mein Chef in finanzielle Schwierigkeiten geriet und seine Firma Konkurs machte. So verlor ich meine Stelle wieder.
Ich fand eine neue Arbeit als Sekretärin bei der Tuch AG in Luzern. Und noch später die Anstellung in der technischen Bibliothek der Landis & Gyr in Zug. Dort lernte ich Werner König kennen. Werner und ich trafen uns oft in Zug oder in Luzern, wir schätzen uns gegenseitig, aber irgendetwas stimmte einfach nicht zwischen uns. Versprach er, am Sonntag nach Luzern zu kommen, so freute ich mich. Sobald er aber im Bahnhof aus dem Zug stieg, spürte ich ihm gegenüber eine starke Abneigung.
Als ich in England war, besuchte mich Werner einmal in London. Er brachte ein Geschenk seines Freundes Hans Föllmi mit. Werner machte mit seinem altmodischen Fotoapparat Fotos von mir. Wieder zu Hause besuchte er meine Eltern und brachte ihnen die Bilder. Besonders meine Mutter war von Werner begeistert. Sie fand, er sei eine gute Partie für mich. Was meine Mutter nicht wusste - sie wäre entsetzt gewesen - ist die Geschichte seiner Besuche bei einer Prostituierten in Amerika, die mir Werner freimütig erzählt hatte. Er sagte, bis er 34 Jahre alt gewesen sei, habe er nie eine Frau gehabt. Bei der Prostituierten habe er herausfinden wollen, wie das Zusammensein von Mann und Frau überhaupt funktioniere, aber er habe mit dieser Frau keine Beziehung gepflegt. Dass ich das wusste, trug viel zu meiner Abneigung Werner gegenüber bei.
Einmal fuhren Werner und ich für ein paar Tage nach Adelboden in die Ferien. Im Hotel wohnten wir in getrennten Zimmern. Dennoch waren meine Eltern entsetzt. Auf Druck meiner Eltern verlobten wir uns. Eigentlich wollte ich Werner gar nicht heiraten. Aber ich mochte ihn gut, war auch schon 23 Jahre alt und dachte: Wenn ich das ungute Gefühl wegstecke, könnte ich ihn ja heiraten. So heirateten wir dann eben doch. Kurz vor der Hochzeit wurde ich krank. Ich lag vier Wochen im Bett mit einer Nierenbecken-Entzündung. Unsere Hochzeitsnacht in Mailand habe ich in keiner guten Erinnerung. Wir kamen nicht richtig zueinander. Und im Waschbecken hatte es Schwabenkäfer! Ich fürchtete mich vor ihnen und zündete immer wieder das Licht an. Wir reisten weiter nach Venedig. Dort wurde unser ganzes Geld gestohlen. Wir mussten telegrafisch um neues Geld bitten. In Venedig bekam ich meine Tage, so heftig wie nie zuvor. Zum Glück dauerten sie während der ganzen Reise an! Schlussendlich war die Hochzeitsreise dennoch einigermassen gut. Werner und ich erlebten viel Neues zusammen.

Erika erhob sich vom Bett und betrachtete sich im grossen Schlafzimmerspiegel. Und jetzt? Erika Wickart ist jetzt eben Frau König, daran kann man nichts mehr ändern!


(1) Hochzeit Werner und Erika König-Wickart, 29. September 1934 in Weggis. Erikas Familie, links, Werners Familie rechts.
Hochzeit Werner und Erika König-Wickart, 29. September 1934 in Weggis. Erikas Familie, links, Werners Familie rechts.

 Irgendwie wurde es doch noch Abend. Endlich 18 Uhr. Werner war vom Arztbesuch immer noch nicht nach Hause gekommen. Das Nachtessen stand bereits auf dem Tisch. Endlich hörte sie Werners Schlüssel im Schloss. Er hängte seinen Filzhut an die Garderobe, stellte seine Mappe darunter und rief in die Küche: "Guten Abend, Eri!"
Erika kam heraus und erwiderte den Gruss. "Das Nachtessen ist bereit, wir können essen." Sie setzten sich an den Tisch.
"Heute gab es in der Kantine Gemüse und eine Art Fleisch."
Ohne ausdrücklich gefragt zu sein, berichtete Werner bisher nie von sich aus vom Mittagessen. Die ‚einzige Frage‘, die nach dem Resultat der Laboranalyse, brannte ihr auf der Zunge. Sie getraute sich nicht, sie schon zu stellen. Also assen die beiden weiter und redeten vom Tagesgeschehen. Werner erzählte etwas von Gleich- und Wechselstrom.
Erika gelang es nicht, richtig zuzuhören. "Bald gehe ich nach Genf", sagte sie ohne jeden Zusammenhang.
"Ja, geh nur, das ist gut so", sagte Werner.
Die Stimmung war eigenartig, auf nette Art frostig. Beide waren froh, dass man mit dem Essen fertig war, dass das Geschirr abgeräumt, abgewaschen, getrocknet und eingeräumt werden konnte. Entgegen seiner Gewohnheit half Werner bei diesen Haushaltarbeiten mit. Danach setzten sich beide in die Sessel im Wohnzimmer – und schwiegen einander an.
Doch dann räusperte sich Werner ein paar Mal und eröffnete Erika lakonisch und mit heiserer Stimme: "Der Arzt hat mich über den Befund der Laboranalyse informiert. Offenbar sind bei mir keine Spermien vorhanden. Bevor ich dies als Tatsache nehme, will ich noch einen Spezialisten in Zürich konsultieren. Der Arzt hat mich für nächste Woche dort angemeldet."
"Keine Spermien?" Wilde Gedanken wirbelten in Erikas Kopf herum. Nächste Woche bin ich in Genf. Keine Spermien! Was heisst das? Was bedeutet das für uns? Auf einmal wurde es ihr klar, so klar wie durchsichtiges Glas: Wir können keine Kinder bekommen. Niemals! Nie!
Erika spürte den Impuls, zur Türe hinaus zu rennen und nie wieder zurückzukommen. Gleichzeitig sagte ihr Verstand, dass sie sich der Situation stellen müsse, dass sie nicht vor ihr weglaufen könne. Sie war sprachlos, wartete, bis Werner weiter sprechen würde. Aber Werner schwieg beharrlich. Nach zwei, drei Minuten nahm er die Zeitung vom Tisch und fing an zu blättern. Erika zog ein Buch aus dem Bücherschrank heraus und tat so, als würde sie darin lesen. Wie ein Wirbel drehte sich immer derselbe Satz in ihrem Kopf. Wir werden nie ein Kind haben.
"Ich bin müde, ich geh' schlafen."
"Gute Nacht, Erika, schlaf gut", antwortete Werner mechanisch.
Erika zog sich ins Schlafzimmer zurück. Vor Erschöpfung schlief sie bald ein. Am anderen Morgen erwachte sie, als Werner aufstand, um zur Arbeit zu gehen. Sie täuschte vor, noch zu schlafen. Erst als er aus dem Haus war, kleidete sie sich an. Sie hatte das Gefühl, in ihren Nachtträumen von einem Ort zum nächsten gehetzt worden zu sein, ständig auf der Flucht vor irgendetwas. Ihr Kopf brummte. Sie setzte sich an den Küchentisch. Plötzlich entschlüpfte ihr ohne Vorwarnung ein lauter Schluchzer, heisse Tränen folgten.
Erst Stunden später kam Erika wieder wieder ein wenig zu sich. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Renée! Renée ist meine Rettung! Übermorgen fahre ich nach Genf, und ich erzähle ihr alles! Die Aussicht, die Hiobsbotschaft mit Renée teilen zu können, erleichterte sie ein wenig.
Bis zu Erikas Abreise nach Genf redeten die Eheleute kaum miteinander. Beide vermieden es, sich anzusehen. Sie gingen sich aus dem Weg.

Renée Piguet
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15.  Renée Piguet


(1) Renée Piguet und Erika, 1938
Renée Piguet und Erika, 1938

 Am Samstag war Erika froh, mit ihrem kleinen Handkoffer endlich in der Bahn nach Bern zu sitzen. Die Bahnstrecke durchs Entlebuch war ihr von den Ausflügen zu den Schwiegereltern bekannt. Grüne Landschaften, unterbrochen von dunkelgrünen Wäldern und sanften Hügeln, hie und da eine Kuhweide unter dem blauen Himmel, dann wieder rasch ein Blick auf eine gedeckte Holzbrücke. Alle diese vorüber flitzenden Eindrücke liessen Erika ihren Kummer für eine Zeit vergessen. Sie beobachtete, wie sich der Baustil der Bauernhäuser änderte. Je weiter der Zug in Richtung Kanton Bern fuhr, desto ausladender wölbten sich die Dächer über die Wohnhäuser aus Holz mit ihren blumengeschmückten Fenstern. Neben den stattlichen Häusern gab es gepflegte Bauerngärten. Wie fühlen sich die Menschen, welche in diesem Landesteil wohnen? Leben sie glücklich im grossen Familienverband zusammen? Mit ihren Tieren im Stall und den Pflanzen im Garten? Bekommen die Leute als Selbstversorger auch etwas von der Weltwirtschaftskrise mit? Erika malte sich lebhaft aus, wie sie selbst im Entlebuch in einem solchen Bauernhaus im Schutze einer grossen Linde wohnen würde: In der dunkel getäferten Stube tickte eine Pendeluhr an der Wand. Die Wäsche hinge zum Trocknen über gespannten Schnüren neben dem grünen Kachelofen. Auf dem Tisch stände eine grosse rote Tasse mit weissen Punkten für einen feinen Milchkaffee. Gemütlich wäre es, aber es gäbe keinen Platz für einen Bücherschrank. Ein Leben ohne Bücher kann ich mir nicht vorstellen, ebensowenig einen grossen Haushalt mit drei Generationen unter einem Dach, einen arbeitsintensiven Garten und tägliche Mithilfe im Stall. Da bliebe für mich ja keine Zeit mehr zum Lesen!
Der Kondukteur rief: "Nächste Haltestelle Bern, alles aussteigen!" Der Zug hielt am Berner Bahnhof; und Erikas Gedankenflug wurde unterbrochen.
Erika stieg in die ehemalige Jura-Simplon-Bahn nach Genf um. Der Zug bestand aus je zwei Wagen der zweiten und der dritten Klasse und einem der ersten Klasse. Erika setzte sich in die zweite Klasse und zog am Messingriff des Fensters, um die Scheibe runter zu ziehen. Sie sah den Kondukteur dem Zug entlang gehen und alle offenen Türen mit einem lauten Knall zuschlagen. Im vordersten Wagen sprang er aufs Trittbrett und schloss die Türe von innen zu. Auf dem Bahnsteig draussen schwenkte der Stationsbeamte in dunkelblauer Uniform mit goldenen Knöpfen und der Beamtenmütze seine weiss-grüne Kelle hin und her und pfiff auf der Trillerpfeife. So bekam der Lokomotivführer das Zeichen zum Abfahren. Die Eisenbahn setzte sich rüttelnd und schüttelnd in Bewegung. Der Kondukteur öffnete die Schiebetüre von Erikas Abteil: "Tous les billets, s'il vous plaît! Alle Billette vorweisen, bitte!" Erika wurde es warm ums Herz, als sie die französische Sprache hörte. Als Sekundarschülerin war sie zweimal während der Sommerferien in einer Sprachschule in Lausanne. Ihr letztes Schuljahr machte sie an der Handelsschule in Lausanne und schloss es mit dem französischen Handels-Diplom ab. Sie wohnte bei einem Lausanner Ehepaar. Im Sommer ging sie nach der Schule oft mit Kolleginnen und Kollegen schwimmen. Und dort, im Strandbad von Lausanne hatte sie Renée getroffen. Die Westschweizerin und die Deutschschweizerin waren sich auf Anhieb sympathisch. Das war der Beginn ihrer Freundschaft. Nicht zuletzt hatte Erika auch Dank Renée so perfekt Französisch gelernt.
Renées Eltern wohnten in Lausanne. Renée wuchs mit einem jüngeren Bruder in einer eleganten Stadtwohnung in der Nähe des Bahnhofs auf. In der Familie Piguet wurde gern und viel gesungen: beim Geschirrwaschen, beim Spazieren oder am Abend um den runden Stubentisch. Schon als Schulmädchen kannte Renée unzählige Lieder. An jenem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatte, stieg Renée eben aus dem Wasser und sang mit ihrer glockenreinen Stimme fröhlich und beschwingt aus voller Kehle. Erika stand bis zu den Knien im Wasser und wollte eben eintauchen. Sie blieb aber stehen und schaute das seltsame, unbekümmert singende Wesen fasziniert an. Renée guckte zurück und hörte auf mit Singen. Beide Frauen lachten einander an und kamen im knietiefen Wasser ins Gespräch. Erst als beide aus dem Wasser heraus ans Ufer wateten, fiel Erika auf, wie klein Renée mit ihren ebenmässigen Gesichtszügen, den dunklen Augen und dem schwarzen, kurz geschnittenen Haar neben ihr war. Beide Frauen trugen einen modischen einteiligen Badeanzug. Später einmal erzählte ihr Renée, dass sie von anderen Jugendlichen wegen ihrer Körpergrösse von nur 140 Zentimeter oft gehänselt worden sei. Meine Eltern unterstützten mich sehr. Sie forderten mich auf, daran zu denken, dass ein kleiner Körper nichts mit Talenten, Intelligenz und einem freundlichen Charakter zu tun habe. Damals steckte ich mitten in der Gesangsausbildung. Ich hatte den Wunsch und die Absicht, das Singen zum Beruf zu machen.
Erika hatte Renée immer wieder in Lausanne besucht, und Renée kam gerne nach Luzern zu Erika. Auch seit Erikas Heirat war Renée schon zwei Mal in Luzern gewesen. Sie schlief unter Wolldecken auf dem Sofa im Wohnzimmer. Renée verstand sich auf Anhieb gut mit Werner. Es gab immer wieder freundliche Lacher, wenn Werner mit seinem ziemlich berndeutsch klingenden Französisch mit Renée parlierte. Bei ihrem zweiten Besuch in Luzern war Renée übermütig zu allerlei Spass aufgelegt. Wie immer, war es ihr ein Vergnügen, Wortspiele zu kreieren und damit ihre Freunde zu unterhalten. Am zweiten Tag von Renées Besuch machten die Freundinnen einen Ausflug. Mit der Tram fuhren sie bis zur Station Halde. Von dort aus ging es mit der etwas über einen Kilometer langen Standseilbahn hinauf auf den Dietschiberg, Kleine Rigi genannt. Es war Anfang Oktober und die Blätter an den Bäumen waren schon herbstlich gefärbt. Erika erinnerte sich an den blauen Himmel und dass nur ein paar weisse Wolken über den Bergen standen, als sich die Freundinnen auf eine rot gestrichene Bank am Spazierweg setzten.
Renée erzählte, dass sie kurz vor Abschluss ihres Gesangsstudiums von ihrer Gesangslehrerin ermuntert worden sei, an einem Wettbewerb teilzunehmen. Ich durfte ein vorgegebenes und ein selbstgewähltes Kunstlied mit professioneller Klavierbegleitung am Radio singen. "Eine Jury, welche uns nicht sah, gab auf Grund der von Radio Sottens gesendeten Lieder ihre Stimme ab. Ich gewann den ersten Preis!"
Erika sprang auf. "Nein, so was, und das erzählst du erst jetzt! Das ist einfach wunderbar, ich gratuliere dir!" Sie fasste Renée an beiden Händen, zog sie hoch, umarmte sie und drückte sie fest an sich.
"Nur nicht so stürmisch!" bremste sie Renée ab und zog sie wieder auf die Bank zurück: "Die Geschichte ist noch nicht fertig." Renée berichtete weiter, dass der erste Preis eine Rolle in Rossinis Guillaume Tell an der Oper im Grand Théâtre de Genève gewesen wäre.
"Warum gewesen wäre, das ist doch fantastisch!"
"Höre mir weiter zu, Erika! Ich bin noch nicht fertig. Die Geschichte ist Drama und Komödie zugleich."
Erika wurde nicht klug.
"Das bedeutet", erklärte Renée, "dass ich jetzt und auch in Zukunft nie auf einer Bühne singen werde. Als ich mich im Theater vorstellte und vorsang, gab mir der Direktor anschliessend den Bescheid, dass ich eine schöne und gut gebildete Stimme und den ersten Preis wohl verdient hätte, dass man mir aber die Bühnenrolle trotz des gewonnenen Preises wegen meiner Minderwüchsigkeit nicht geben könne."
Erika schaute erschrocken drein und sagte lange nichts. Dann rief sie empört: "Nein, so eine Enttäuschung. Das ist völlig ungerecht. Eine riesengrosse Ungerechtigkeit ist das!"
Renée verriet Erika, dass die Ermunterung ihrer Eltern, dass ein kleiner Körper keinen Einfluss auf Talente, Intelligenz oder Charakter habe, ihr sehr geholfen habe. "Was war, ist vorbei. Ich habe meine Aufmerksamkeit auf meine Zukunft gerichtet und mich entschlossen, nur noch in meiner Freizeit und zu singen, für mich allein. Es gibt aber eine Neuigkeit. Ich habe eine Ausbildung an der École d'Etudes Sociales zur Fürsorgerin angefangen. Diese Schule ist eine Ausbildungsstätte für Fürsorgerinnen und für gemeinnützige Tätigkeiten im Allgemeinen."
Erika wollte etwas sagen, aber sie wusste nicht, was. Staunend stellte sie fest, wie aufgeräumt und zufrieden Renée trotz allem war, wie ihre Augen schalkhaft funkelten. Fast beneidete sie die Freundin um diese Energie. "Könnte ich doch auch alles so leicht nehmen wie du", seufzte sie.
Und schon stand Renée gut gelaunt auf und zog Erika an der Hand zurück auf den Fussweg durch die grünen Wiesen. "Erika, welche Körpergrösse hast du?"
"Hundereinundsiebzig Zentimeter", antwortete Erika etwas verwirrt.
Renée lachte. "Man sollte meinen, du seist eine griesgrämige Riesin! Komm schon, mach kein so trauriges Gesicht! Mir gefällt die neue Ausbildung. Ich kann Menschen helfen und von ihnen lernen. Das Leben geht weiter. Es ist nichts Schlimmes passiert!"
Erika erinnerte sich genau an die damalige Szene auf dem Dietschiberg. Noch immer beeindruckt Renées Leichtigkeit und Lebensfreude, ihrer positiven Einstellung zu allen Schicksalswendungen im Leben.

Geständnis und ein Telegramm
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16.  Geständnis und ein Telegramm
In der Bahn zwischen Lausanne und Genf fasste Erika einen Entschluss. Sie nahm sich fest vor, Renée von allen ihren Schwierigkeiten zu Hause zu erzählen und diesmal nichts auszulassen. Bis die Eisenbahn in Genf anhielt, betete sie sich wie ein Mantra vor, über ihren Schatten zu springen und Renée alles zu gestehen.
Am Bahnhof in Genf wurde Erika von einer wie immer gut aufgelegten, charmanten Renée stürmisch umarmt und zur Trambahn geschoben. Renée war von Lausanne nach Genf umgezogen und arbeitete während ihrer Ausbildung als Praktikantin als angehende Sozialarbeiterin bei der reformierten Kirchgemeinde. Sie erzählte Erika, dass sie diese Arbeit voll und ganz befriedige. Beim 'Parc des Eaux-Vives' stiegen die Frauen aus. Renée führte Erika in den fünften Stock ihres Hauses hinauf. Die beiden gleichaltrigen jungen Frauen sassen oben auf dem Balkon. Erika bestaunte die wunderschöne Aussicht auf den Park hinunter, auf die Stadt und das Seebecken mit dem 'Jet d’Eau', der 140 m hohen Wasserfontäne, dem Wahrzeichen von Genf. Wie immer, wenn sich Renée und Erika trafen, gab es unendlich viel zu erzählen.
Am späteren Nachmittag klingelte es an Renée’s Wohnungstüre. Draussen stand ein Postbote und brachte eine telegraphische Depesche. Auf dem Umschlag stand: Für Erika Wickart c/o Renée Piguet, Avenue de Favre 22, Genève. Absender: Werner König in Luzern.
"Dein Geburtstag ist doch erst am 27. Juni", rief Renée lachend noch im Korridor draussen, "die Gratulation kommt ein paar Wochen zu früh!"
Auf dem Balkon händigte Renée Erika die Depesche aus und drängte: "Öffne den Briefumschlag! Ich bin gespannt darauf, was darin steht!"
Erika riss das Kuvert der schweizerischen Post auf und zog einen Zettel heraus. Darauf stand mit der Schreibmaschine geschrieben: Spezialist in Zürich bestätigt Sachverhalt. Gruss, Werner.
Renée entging es nicht, dass Erika ganz bleich geworden war, dass das Licht in ihren Augen wie erloschen schien. Renée sagte nichts. Sie wollte warten, bis die Freundin bereit war, über die soeben erhaltene Nachricht zu sprechen. Die beiden redeten ein wenig weiter, aber das Gespräch kam ins Stocken. Erika war unkonzentriert und mit ihren Gedanken ganz woanders.
Renée, immer darauf bedacht, aus jeder Situation das Beste möglich zu machen, sagte: "Lass uns zusammen eine einfache Mahlzeit zubereiten. Ich habe Hunger!"
Schweigend und lustlos folgte ihr Erika in die kleine Küche. Renée liess Erika sein und drängte sie nicht zum Sprechen. Sie überlegte sich aber, ob alles mit Erikas Eltern in Ordnung sei, oder was Schlimmes wohl passiert sei.
Salat und ein paar gebratene Kartoffeln wurden angerichtet. Dazu servierte Renée auf dem Balkon draussen ein Glas Waadtländer Wein. War es der Wein, der Erikas Zunge löste oder die französische Sprache, die Erika ein wenig Distanz verschaffte. Der Moment war für sie gekommen, um Renée alles zu erzählen, was sie seit langem mehr und mehr bedrückte. Wie vergilbte Fotografien zogen die Bilder vor Erika auf dem Hintergrund des dunkler werdenden Genfer Himmels vorüber: Die Hochzeitsfeier ohne Begeisterung und Freude, die Schwierigkeiten zwischen dem jungen Paar auf körperlicher und auch auf seelischer Ebene schon auf der Hochzeitsreise, die zunehmende Kühle und Distanz, die gemeinsamen Interessen wie die Freude an der Natur, Wandern, Bergsteigen, Ski fahren, auch gemeinsame geistige Interessen, Erikas Enttäuschung, dass sie nicht ausser Haus arbeiten durfte, der drängende Wunsch nach einem Kind, die Resultate der ärztlichen Untersuchungen, Werners Besuch bei einem Spezialisten in Zürich - alles vor dem Hintergrund der sich mehr und mehr zusammenbrauenden politischen Schwierigkeiten in Deutschland, Polen und Italien, der Weltwirtschaftskrise.
"In der Depesche steht, dass die Laboranalyse von Luzern vom Zürcher Spezialisten bestätigt worden sei. Jetzt muss ich meinen Kinderwunsch begraben."
Renée hatte mit einem offenen Herzen zugehört. Sie ging jedoch nicht darauf ein. Statt Erika in ihrem Unglück zu bestätigen oder zu bemitleiden, fragte Renée jetzt, ob Erika eigentlich schon einmal so richtig verliebt gewesen sei. Mit dieser Frage hatte Renée ihre Freundin von ihren sich ständig drehenden Problemen ohne Lösung abgelenkt.
"Einmal nur war ich richtig verliebt. Es war eine dumme, aber schöne Geschichte. Ich wusste weder ein noch aus. Was immer ich dachte, sagte und tat, irgendwie ging es nicht weiter."
"Wie war das denn? Bitte erzähle mir doch alles, einfach so!", bettelte Renée und wollte es genau wissen.
"Ich sage dir alles, versprich mir aber, dass du niemanden nur ein Sterbenswörtchen davon ausplauderst!"
"Ich werde keiner Menschenseele etwas verraten", beteuerte Renée.
Auf Renée’s Balkon wurde es kühler. Die Freundinnen gingen in das gemütliche Wohnzimmer hinein und machten es sich auf dem dunkelroten Louis-Philippe-Sofa bequem. Renée schob ein weiches Kissen hinter Erikas Rücken. "Je t'écoute. Ich bin bereit, dir zuzuhören."
"Alors", begann Erika, "ich erzähle dir die Geschichte von Hans und Erika."
„Oui, oui, commence, je t'écoute! Fang endlich an!", drängte Renée ungeduldig.
Erikas Roman Erotique
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17.  Erikas Roman Erotique
"Messieurs, Mesdames!", deklamierte Erika theatralisch und erzählte in fliessendem Französisch. Fast täglich kam ein nicht mehr ganz junger Mann, ein Elektroingenieur in die technischen Bibliothek der Firma Landis & Gyr in Zug vorbei und holte bei mir Fachliteratur. Ich fragte mich, ob der Berndeutsch sprechende Ingenieur eigentlich ganze Nächte lang Fachliteratur studiere, da er fast täglich neuen Lesestoff aussuchte. Auf dem Bücherzettel, den er ausfüllen musste, las ich seinen Namen, Werner König. Eines Tages jedoch kam dieser König mit einem ebenfalls in der Firma arbeitenden Kollegen, einem Kaufmann, in die Bibliothek. Der Kollege stellte sich als Hans Föllmi vor. Hans und ich gaben einander die Hand und schauten uns in die Augen. In diesem Moment spürte ich einen Schauer den Rücken hinunter schiessen und ein angenehmes Kitzeln im Bauch. Ich verstand zuerst überhaupt nicht, was geschah. Von weit weg hörte ich die Stimme des Herrn, der meine Hand hielt und nicht mehr losliess. Es war der Beginn einer Liebe auf den ersten Blick. Bereits am nächsten Tag kam der charmante Hans ohne Werner König wieder in die Bibliothek. Er lud mich nach der Arbeit zu einem Abendspaziergang ein. Kaum hatten wir uns an diesem lauen Frühlingsabend am Zuger See getroffen, schwebten wir im siebten Himmel. Schon ein paar Mal zuvor war ich ein wenig verliebt gewesen, aber noch nie derart heftig. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben mit Hans und somit mit allem, was ist, verbunden und glücklich. Werner König kam nicht mehr oft in die Bibliothek.
Renée klatschte in die Hände und stupste Erika an: "Mach es nicht so spannend, mach vorwärts! Wie geht’s denn weiter? Warum seid ihr nicht längst verheiratet?"
"Damals wohnte ich als 19-Jährige bei meinen Eltern in Luzern. Ich fuhr täglich mit der Bahn nach Zug zur Arbeit. Aus Lust und Abenteuer hatte ich mir vorgenommen, nach England zu gehen, um Englisch zu lernen und ein fremdes Stück Welt zu sehen. Das war einige Zeit bevor ich Hans kennenlernte. Als Vorbereitung zum Englandaufenthalt besuchte ich in Zug nach der Arbeit abends einen Englischkurs. Aber die englische Grammatik interessierte mich immer weniger, Hans desto mehr! Unter dem Vorwand, im Englischkurs zu sein, blieb ich mehrmals in der Woche in Zug und traf mich am Abend mit Hans. Meinen Eltern gegenüber hatte ich zunehmend Schuldgefühle.


(1) Erika und Hans Föllmi, 1931
Erika und Hans Föllmi, 1931

 Einmal hängte ich Hans unter. Wir standen verliebt am Bahnsteig in Zug und warteten auf die Eisenbahn, die mich nach Luzern zurück bringen sollte. Hans war grösser als ich, schlank, gut gebaut und hatte einen modischen Strohhut auf dem Kopf. Er trug ein schneeweisses Hemd und eine weinrote Krawatte, eine dunkle Hose mit makellosen Bügelfalten, glänzende schwarze Schuhe und hatte ein kleines, dunkelbraunes Ledermäppchen unter den Arm geklemmt. Eine elegante Erscheinung! Ich erinnere mich genau, dass ich meinen dunklen, wadenlangen Wollmantel mit dem breiten Pelzkragen trug. Meine Pelzkappe setzte ich so auf, dass eine braune Locke spitzbübisch darunter hervorschaute. Ich hatte meine feinen Lederstiefel angezogen, denn ich wollte Hans in Eleganz und Würde nicht nachstehen. Ein schönes Paar waren wir! Aber ausgerechnet an jenem Abend besuchte meine Mutter Papas Mama in Zug und wartete zur selben Zeit wie Hans und ich am Bahnhof auf den Zug nach Luzern. Den vernichtenden, strafenden Blick von Mama vergesse ich nie mehr. Der Schrecken fuhr mir durch alle Glieder. Ich war entdeckt, verraten und verurteilt!
Wütend las mir Mama zu Hause die Leviten: Mit einem Burschen Arm in Arm am Zuger Bahnhof stehen, ohne ihn zu Hause vorgestellt zu haben, das macht man nicht! Sowas gehört sich einfach nicht! Was sagen nur die Leute, was sagen nur die Leute!
Ich musste auf Geheiss meiner Mutter Hans Föllmi in mein Elternhaus nach Luzern einladen. Meine Eltern und ich holten Hans am Bahnhof ab. Zuerst stiegen viele Leute aus der dritten Klasse aus, Familien mit Kindern, auch Arbeiter und Arbeiterinnen, die müde von der Fliessbandarbeit nach Hause kamen. Aus dem Wagen der zweiten Klasse kamen die Geschäftsleute und Sekretärinnen und aus der ersten Klasse stiegen nur wenige, vornehme Leute aus. Hans Föllmi war einer unter ihnen. Ich konnte in den Gesichtern meiner Eltern lesen, dass ihnen das extravagante Auftreten meines Freundes ganz und gar nicht behagte. In dem Moment, als ich die Ablehnung meiner Eltern sah, wusste ich, dass ich gegen alle Widerstände immer und ewig zu Hans stehen würde. Der Besuch verlief förmlich. Hans erzählte, dass sein Vater Strohfabrikant in Aarau war und eine zweite Fabrik in Montreux besitze. In Aarau lieferte ein nahes Flusskraftwerk an der Aare elektrische Energie. Wasser zu Kühlzwecken stand praktisch unbeschränkt zur Verfügung. An dieser verkehrsgünstigen Lage entwickelte sich die Fabrik in Aarau erfreulich. Sie stand an der Strasse gleich neben der Bahn. Mein Vater zog bald darauf Erkundigungen über Hans ein und hörte etwas vom drohenden Konkurs der Firma Föllmi. Und - noch viel schlimmer - man munkelte, dass Hans in Montreux mit verschiedenen Freundinnen am Lido gesehen worden sei. Je mehr meine Eltern gegen meine Wahl sprachen, desto mehr stand ich trotzig und bockig zu Hans.
Bald nach der Vorstellung in Luzern überschattete Vater Föllmis Tod unsere Beziehung. Hans musste die maroden Fabriken seines Vaters übernehmen, obwohl er dafür zu jung war und sich beruflich noch nicht festlegen wollte. Bald geriet die Strohindustrie in eine grosse Krise, der beliebte Strohhut war aus der Mode gekommen. Die eleganten Herren trugen jetzt Filzhüte, und die jungen Leute verzichteten meist ganz auf eine Kopfbedeckung. Doch trotz des Ungemachs, waren Hans und ich uns einig: Wir sind verliebt, alles andere wird sich ergeben.
Die Beziehung zwischen mir und meinen Eltern hatte wegen dieser Geschichte mit Hans. Alle fühlten sich nicht mehr richtig wohl zusammen. Mama verweigerte jedes Gespräch zu diesem leidigen Thema. Sie verlangte, dass ich endlich von Hans lasse, dass man die ganze Angelegenheit so rasch wie möglich wegstecken und vergessen sollte, bevor irgendwer aus dem Bekanntenkreis von meiner Liaison zu diesem extravaganten Herrn erfahren konnte. Mein Vater stand immer dafür ein, dass Menschen und Völker die gegenseitige Verständigung und Verbindung suchen sollten aber mit Mama wollte er sich deswegen nicht streiten. Ich entfernte mich innerlich immer mehr von meinen Eltern. Mit Trotz, Abweisung und Überheblichkeit reagierte ich auf alles, was von ihnen kam. Ich wollte nur eines, weg von Mama und Papa. So waren wir alle froh, dass ich meine Stelle in Zug aufgeben wollte, um nach England zu gehen.
Schon bevor ich Hans kennenlernte, hatte ich mich in einem eleganten Reisekleid, mit Koffer und Tasche im Zug und auf dem Schiff nach England fahren gesehen. Voller Vorfreude auf die schönen Abenteuer, die ich mutig durchstehen und durchleben würde. Ich war von der grossen Insel angetan und neugierig auf die Menschen dort. Ich sah England in leuchtenden, hellen Farben. Und doch war ich bedrückt, wenn ich an meine Abreise dachte. Der Abschied von Hans rückte immer näher. Ich hatte zugesagt, nach England zu gehen. Diesen Entscheid konnte ich nicht rückgängig machen ohne mich der Lächerlichkeit preis zu geben. Es ist immer dasselbe: Ich kann machen, was ich will, es stimmt einfach nie. Alles wendet sich immer gegen mich!"
Renée lachte: "Das Leben ist ein Drama, nicht wahr! Und wenn wir uns so ernst nehmen, wie du dich, dann wird eine Komödie daraus. Hoffentlich hast du dich in England wieder verliebt. Ohne Liebe lohnt doch das Leben nicht."
"Ach du hast gut reden. Du hast ein sonniges Gemüt und bist mit dir und der Welt zufrieden. Und du hast nicht meine Eltern."
"Nein, hab ich nicht; wie war es nun in England?"
"Mama und Papa begleiteten mich zum Bahnhof. Sie gaben mir die letzten Ratschläge und Ermahnungen. Mir ging das alles ganz und gar auf die Nerven. Je heftiger ich mich von den Eltern distanzierte, umso trauriger wurde ich aber. Endlich sass ich im Zug, niedergeschlagen und gespannt auf den Halt am Zuger Bahnhof, wo, wie vereinbart, Hans einsteigen würde, um mich ein Stück weit auf der Reise zu begleiten. Mein Herz klopfte heftig, als ich die elegante Gestalt von Hans auf dem Bahnsteig sah. Er stieg ein. Ich spürte den Impuls, Hans um den Hals zu fallen und nie mehr loszulassen. Aber so etwas tut man nicht in der Öffentlichkeit! Wir sassen uns gegenüber. Hans plauderte aufgeräumt von seinen Tennismatches. Dass er sich im Winter ein paar Skier und die passende Kleidung anschaffen wolle und ins Wallis oder ins Berner Oberland zum Ski fahren gehen werde. Endlich stoppte sein Redefluss für einen Moment. Ich erzählte von Gustave Flauberts Roman, welchen ich kürzlich wieder gelesen hatte. Dass dieser Roman eines der grossen Werke der Weltliteratur sei. Dass mich diese Geschichte einer verbotenen Liebe ganz und gar aufwühlt habe. Ich sei eine Bibliothekarin, das merke man, sagte Hans und fügte an, dass er selber in seinem ganzen Leben noch nie ein Buch gelesen habe. Dieses Geständnis erschütterte mich. Das Gespräch kam ins Stocken. Schon wieder habe ich unabsichtlich etwas Dummes gesagt. Es ist besser, wenn ich schweige.
Eine bleierne Schwere legte sich beim Abschied von Hans im Zürcher Bahnhof über mich. Ich fuhr allein weiter. Jetzt erinnerte ich mich, dass Hans einmal gesagt hatte, er würde nie mit einer Frau Liebe machen, wenn sie nicht vorher gebadet hätte. Mit einem solch frivolen Lebemann, mit einem Menschen, der kein Buch liest und nur Tennis, Skifahren und oberflächliche Vergnügungen im Kopf hat, kann ich doch nicht mein Leben verbringen! Ja, ich weiss nicht einmal, ob Hans überhaupt mit mir zusammen leben möchte, vielleicht bin ich ja nur eines seiner vielen Abenteuer. Vor lauter Enttäuschung und Erschöpfung schlief ich in der Bahn ein."
"Da hast du wohl wirklich nichts verpasst", tröstete Renée - und wie war es dann in England?"
"In London wohnte ich bei einer englischen Familie und besuchte die Pitman's Handelsschule. Von England aus schrieb ich Hans einen Abschiedsbrief. Voilà mon roman érotique", lachte Erika mit roten Backen.
"Merci! Ja, das ist ein richtiger Liebesroman", rief Renée gut gelaunt: "Du solltest Schriftstellerin werden, so gut wie du erzählen kannst!"
Humorvoll, die mütterliche Stimme nachahmend, kommentierte Erika Renées Vorschlag: "Mon Dieu, mon Dieu! Was würden nur die Leute sagen!"


(2) Erika Wickart, 1931

Erika Wickart, 1931
Heftiger Streit
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18.  Heftiger Streit
Einige Tage nach ihrem Besuch bei Renée berichtete Erika Werner von ihrem Genfer Besuch bei Renée. Sie zählte sogar auf, was die Freundinnen zusammen gekocht und gegessen hatten und was sie in der Stadt unternommen hatten. Nur worüber sie und Renée vor allem gesprochen hatten, verriet sie nichts. Sie spürte, dass Werner ungehalten reagieren würde, wenn sie wieder mit ihren unlösbaren Problemen herausrücken würde. Sie beschrieb Renées neue Wohnung, die Aussicht vom Balkon auf den See mit dem Springbrunnen, den weissen Raddampfern, welche auch Stationen auf der französischen Seeseite ansteuerten.
"Moment Mal", unterbrach sie Werner, ging zu seinem Kasten im Korridor und holte seinen mit Verkehr angeschriebenen Bundesordner heraus. Er kam damit zurück ins Wohnzimmer und fand schnell das Gesuchte:
Mit der von einem amerikanischen Ingenieur konstruierten 'Guillaume Tell' begann 1823 auf dem Genfersee das Zeitalter der Dampfschifffahrt. Drei Jahre später fuhr auf dem Lago Maggiore im Tessin das Dampfschiff 'Verbano', und 1835 zogen die Zürcher mit dem ersten eisernen Dampfschiff Europas, der 'Minerva', nach. Statt sechs Stunden dauerte eine Dampferfahrt von Zürich nach Rapperswil nur noch zwei Stunden.
"Was glaubst du, wie viele Dampfschiffe damals schon auf dem Genfersee verkehrten? Rate mal!"
Erika erinnerte sich daran, dass Renée, als Sozialarbeiterin im Umgang mit Menschen in brenzligen Situationen geübt, ihr nahe gelegt hatte, alles mit Ruhe und Geduld anzugehen und Werner mit offenem Ohr und Herzen anzuhören. Wie ein Stossgebet tönte es in Erikas Kopf: Renée, wie soll ich jetzt Ruhe und Geduld bewahren? Erika rutschte auf dem Stuhl hin und her, schlugt die Beine übereinander, dann wieder auseinander, strich sich mit der rechten Hand durchs Haar und spickte mit der linken einen imaginären Brosamen auf dem Tisch weg. Endlich antwortete sie wie eine artige Schülerin auf Werners Frage: "Wahrscheinlich gab es zwei Dampfer auf dem Genfersee." Sie schaute Werner dabei nicht an.
"Fast richtig!", sagte Werner schmunzelnd und las vor:
Auf dem Genfersee verkehrten bereits drei, auf dem Neuenburgersee zwei Dampfschiffe. Im Jahr 1837 wurden die Nauen, die flachen, sowohl für Segel- als auch für den Ruderbetrieb geeigneten Boote auf der Strecke Luzern - Flüelen durch das Dampfschiff 'Stadt Luzern' abgelöst. 1901 wurde die 'Uri', ein Jahr später die 'Unterwalden', 1906 die 'Schiller' und 1913 die 'Gallia' in Betrieb genommen. 1928 wurde die 'Stadt Luzern' erneuert.
"Die 'Uri' ist ein Jahr jünger als ich, und die 'Gallia' zählt zwei Jahre weniger als du!
"Warum eigentlich sagt man die, wenn man von den Dampfschiffen spricht und nicht das? Es heisst doch das Dampfschiff", fragte Erika, einerseits aus Interesse an der Sprache und andererseits um Werners Schiffsvortrag zu beenden.
Werner überlegte einen Moment lang und lächelte: "Wahrscheinlich sind die Dampfschiffe Frauen, weil sie einen so grossen Schossraum für die Dampfmaschine haben. Die Schiffsingenieure sind die Männer und die Maschinen ihre Kinder."
Beim Stichwort Kinder ging bei Erika augenblicklich der Dampf hoch. Die von Renée empfohlene Besonnenheit war auf einen Schlag verflogen. Ausser sich fragte Erika mit gepresster Stimme: "Und was sagte der Spezialist in Zürich genau?"
Die Frage riss Werner aus seiner Begeisterung. Er ärgerte ich und wurde hilflos.
Eine Spur eindringlicher wiederholte Erika ihre Frage: "Was hat dir dieser Spezialist in Zürich genau gesagt?"
"Der Sachverhalt hat sich bestätigt, das weisst du doch. Ich habe dir eine Depesche geschickt."
Erika brauste auf: "Dass du mir ein Telegramm geschickt hast, weiss ich natürlich." An Erikas Hals erschienen rote Flecken: "Sachverhalt, Sachverhalt! Wenn es sich mit dem Sachverhalt so verhält, dass wir keine Kinder bekommen können, dann ist das doch eine Katastrophe! Und wir müssen doch herausfinden, was wir machen! Mit diesem Sachverhalt!"
"Ruhig, Eri, immer mit der Ruhe, und nicht so laut! Die Nachbarn könnten uns hören!"
Erika konnte nicht auf Befehl ruhig sein. Sie regte sich immer mehr auf, stand auf und ging im Wohnzimmer rasch hin und her. Laut schrie sie:
"Für dich ist das ein blosser Sachverhalt. Aber ich halte es nicht mehr aus!"
Erikas Entrüstung wurde immer heftiger und lauter:
"Was immer ich sage oder tue, so ist es zu laut, zu leise, unpassend und verkehrt. Kürzlich hast du über die weibliche Irrationalität gespottet. Am liebsten möchte ich mich scheiden lassen, dann könnten wir beide unseren Frieden wieder finden!"
Werner erschrak:
"Eri, sei sofort still! Hör auf zu schreien. Ich will nicht, dass uns alle Nachbarn im Haus hören! Sei endlich vernünftig!"
Erika ging zur Türe, riss sie auf. Die Türfalle löste sich und fiel auf den Boden. Werner sprang herbei, hob die Falle auf und schleuderte sie voller Zorn Erika vor die Füsse, ergriff seinen Hut von der Garderobe und verliess zornig die Wohnung. Werner blieb gut zwei Stunden weg.
Unterdessen lag Erika auf ihrem Bett. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Warum heiratete mich Werner eigentlich? Warum war ich mit dieser Heirat einverstanden? Und was Unglaubliches habe ich gesagt: ich will mich scheiden lassen? Es stimmt aber, ich habe ausgedrückt, was ich schon lange fühlte. Jetzt habe ich nur noch einen Wunsch, fort und weg zu gehen. Aber wohin? Erika begann zu weinen. Sie wusste nur zu gut, dass sie sich ohne Geld und ohne Arbeit nicht scheiden lassen konnte. Nach einer Weile stiegen neben der Wut auch noch Schuldgefühle auf. Ohne Rücksicht auf die Nachbarn schrie sie laut:
"Wieder habe ich etwas Verkehrtes zum falschen Zeitpunkt gesagt. Jetzt ist alles verloren und verdorben und vorbei! Es ist zum Verzweifeln!"
Erika kam nicht mehr zur Ruhe. Schon ein paar Tage später eröffnete sie Werner klipp und klar, dass sie ein Kind wünschte, dass sich das Problem lösen liesse, wenn sie Mutter würde. Vielleicht könnten sie ja ein Kind adoptieren. Sie ahnte, dass sie wieder einen Streit heraufbeschwor. Empört sagte sie: "Ich darf ausser Haus keiner Arbeit nachgehen. Mein Leben kann doch nicht aus Lesen und Stricken, Wandern und Skifahren bestehen! Ist das denn alles? Sag, Werner, soll das denn alles sein?"
Werner wurde ungeduldig, dann wütend. "Du willst dich scheiden lassen", sagtest du, "davon will ich gar nichts wissen! Ich habe mehr als genug vom Thema Kinderwunsch. Und du weisst genau, dass eine Adoption fast ein Ding der Unmöglichkeit ist! Und sowieso hat man nicht ein Kind, um eine kaputte Ehe zu retten!" – nahm den Hut und verschwand wieder.
Auf einem Spaziergang an der frischen Luft konnte Werner sich am besten von diesen Aufregungen erholen. Würde er einfach nicht auf Erikas Ausbrüche reagieren, stellte er sich vor, ginge alles in Kürze vorüber. Er blieb stehen. Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind. Man kann sie sich nicht nach eigenen Wünschen zurecht biegen. Wenn Erika das nur endlich auch begreifen würde! Werner ging weiter, gab sich aber mit seinen scheinbar vernünftigen Gedanken doch nicht zufrieden. Irgendetwas muss geschehen. Aber was? Soll ich mit jemandem darüber sprechen? Vinzenz und Fredy sind weit weg in Amerika. Mit meinem Bruder Eugen? Der ist schliesslich Pfarrer und Seelsorger! Unsre Eltern können wir mit dieser Geschichte nicht belasten. Werner sah keine Lösung und schritt weiter. Wer kann sich vorstellen, was in Erika vorgeht? Ich jedenfalls nicht. Vielleicht gibt die Bibel eine Antwort.
Werner machte sich niedergeschlagen und aufgewühlt auf den Heimweg. Er nahm sich vor, zu Hause in seiner Zwingli-Bibel zu lesen. Aber Werner ahnte, dass nicht einmal die Bibel einen Hinweis zum unsäglichen Problem geben kann. Man soll immer an das Gute im Menschen glauben! Aber auch das bot Werner keinen Trost. Er hoffte, dass Erika zu Hause schon zu Bette gegangen und eingeschlafen sei.
Ruhe nach dem Sturm
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19.  Ruhe nach dem Sturm
Auch Erika hielt es allein in der Wohnung nicht mehr aus. Sie ging zu ihren Eltern. Emma und Christian waren erstaunt, dass Erika spät am Abend vor ihrer Türe stand. Ihr Erstaunen war noch grösser, als Erika sie bat, für ein paar Tage bei ihnen wohnen zu dürfen. Erika erzählte, dass sie und Werner in letzter Zeit immer wieder und immer heftiger stritten. Sie verriet aber nicht, weshalb und sagte auch nichts von den Besuchen beim Arzt. Sie erwähnte ebenso wenig, dass sie mit Werner keine Kinder bekommen konnte.
Emma und Christian waren schockiert, als sie hörten, wie es um Erika und Werner stand. Erst waren sie sprachlos, aber dann stimmten beide darin überein, dass diese Angelegenheit etwas sei, das das junge Paar selber lösen müsse. Sie schickten Erika zurück in die eheliche Wohnung. "Stell dir vor, was wohl die Leute sagen würden, wenn du… ", hob Emma mit zitternder Stimme an. Sie wurde aber von Christian daran gehindert, weiter zu sprechen.
Enttäuscht, erbost und wütend auf ihre Eltern und die ganze Welt verliess Erika die elterliche Wohnung. Im Treppenhaus rief sie den erschrockenen und ratlosen Eltern zu: "Niemand will mich, nirgends will man mich haben, es stimmt überhaupt nichts mehr. Werner hätte mich nie heiraten sollen!" Voller Selbstmitleid ging sie zurück. Vor ihrem Haus stiess sie fast mit Werner zusammen, der eben von seiner Zornwanderung zurückkam.
"Ich war bei meinen Eltern", sagte Erika verlegen.
"Ich habe etwas frische Luft geschnappt, wie geht es deinen Eltern?"
"Gut, danke", antwortete Erika mechanisch, wusste aber gleichzeitig, dass 
es nicht stimmte. Nichts stimmte mehr. Ich schockierte Mama und Papa, verheimlichte ihnen das Wichtigste. Was zwingt mich, zu lügen, nur die halbe Wahrheit zu sagen? Auch mir scheint es wichtig, was andere denken. Was würden die Leute denken… wenn sie wüssten!
Sonntagmorgen Ende Juni 1936. Der Schock des zweiten grossen Krachs sass bei Erika und Werner tief. Das Paar spürte, dass es jetzt einen sorgsamen Umgang miteinander brauchte, wenn es irgendwie weitergehen sollte. Die beiden diskutierten über die politischen Geschehnisse in Deutschland, über die Nachricht, dass der Reichsführer der Schutzstaffel, der sogenannten SS, Heinrich Himmler, am 17. Juni zum Chef der Polizei ernannt worden war. Anfang Monat hatte der französische Ministerpräsident Blum kollektive Arbeitsverträge angekündigt, um die landesweiten Streiks für Lohnforderungen zu beenden. Werner sagte: "Man kann doch die Menschen nicht auf eine solche Art und Weise unterdrücken! Das nimmt kein gutes Ende!"
Wenn sich Erika und Werner über den Lauf der Dinge in der Welt austauschten, fanden sie sich auf der gleichen Ebene, sie brauchten nicht viele Worte, um sich gegenseitig zu verstehen. So sollte es immer sein, wünschte sich Erika und fragte sich, was es zwischen ihr und ihrem Gatten noch Verbindendes gab, welche gemeinsamen Interessen noch bestanden. Es ist die Liebe zur Natur, Wandern und Bergsteigen.
"Werner, Ich möchte gerne wieder einmal eine Bergtour machen!“
"An eine längere Wanderung in der Natur, vielleicht sogar mit einer Übernachtung in einer SAC-Hütte, hatte ich auch schon gedacht."
Sie beschlossen, schon in der nächsten Woche ein paar Tage Ferien zu machen. Werner hatte einen Kollegen, der auf dem Brünig-Hasliberg gewesen war und begeistert von einer kleinen Pension mit einer grossen Sonnenterrasse erzählte. „Ich frag ihn morgen.“
Es war ein sonniger Tag, als Erika und Werner mit der Brünigbahn auf den Brünigpass hinauf fuhren. Um eventuellen unangenehmen Gefühl zuvorzukommen, erklärte Werner, die Brünigbahn sei eine Meterspurbahn der Schweizer Bahnen und dass die Zahnstangenabschnitte es ermöglichten, Steigungen bis zu 12% zu überwinden. Zwölf Prozent, dachte Erika, das muss wohl viel sein. Sie machte Werner auf den blauen Sarnersee zwischen den sattgrünen Hügeln aufmerksam, dann: „Schau, der Lungernsee! Was ragt da für ein Turm heraus?“
"Weil es ein Stausee ist, ein Kontrollhäuschen."
"Was kontrollieren die denn? Die Touristen? Dass keiner reinfällt?"
"Du hast Fantasie, natürlich den Wasserstand." Technik ist einfach etwas für Männer, dachte Werner. Dann die Brünigpasshöhe. Hier hielt der Zug an. Leute in Wanderausrüstung, mit Rucksack und einem Wanderstock aus Haselholz, auch elegant gekleidete Frauen und Männer stiegen aus. Die einen gingen zu Fuss weiter, die anderen wurden mit der Kutsche von einem der noblen Hasliberger Hotels abgeholt.
In Gedanken fuhr Erika mit dem Finger den Konturen der Berge nach. Auf dem obersten Gipfel hielt sie inne und stellte sich vor, wie es wäre, als Adler vom Gletscher abzuheben und in den Himmel zu fliegen. Bei dieser Vorstellung wurde es ihr wohl ums Herz und sie lächelte in sich hinein.
"Woran denkst du gerade?", weckte Werner Erika aus ihren Gedankenflügen auf.
"Ich bin als Adler von der höchsten Bergspitze abgestossen und mit kräftigen Flügelschlägen in den Himmel hinauf gekurvt, dann habe ich meinen Rucksack fallen lassen und er ist in den See geplumpst!"
Diese Fantasie! Etwas zügellos. Werner staunte kopfschüttelnd und leicht irritiert! Das passt doch eher zu einem Kind! Wo hat sie bloss diese märchenhaften Ideen her! Vom vielen Lesen…? Meine Fantasie sucht Lösungen, die Fantasie der Frauen sucht…? Das Leben vielleicht?
Werner und Erika stiegen ins gelbe Postauto mit dem aufgemalten Posthorn ein. Es war ein ganz neuer Saurer mit einem weissen Schiebedach, dem Ciel ouvert, das bei schönem Wetter mit einer Kurbel geöffnet werden konnte. Dieses Postauto fuhr nur im Sommer. Es hatte eine auswechselbare Karosserie. Im Winter wurde die Fahrgastkabine durch eine Ladebrücke ersetzt. Dann diente das Fahrzeug als Laster und konnte Güter, vor allem Kohle, zu den Hotels transportieren. Das Postauto mit dem offenen Himmel füllte sich, bald waren fast alle zwanzig Plätze besetzt. Die abenteuerliche Fahrt konnte losgehen! Das Gefährt schraubte sich die Kurven hoch, vor jeder Kurve ertönte das feierliche Hornsignal. Jemand dozierte stolz und laut genug, damit es alle hören konnten, das Klangmotiv bestehe aus den Tönen cis-e-a, in A-Dur. Aus dem Andante der Ouverture zu Rossinis Willhelm Tell. Erika zupfte Werner aufgeregt am Ärmel: "Willhelm Tell von Rossini, das ist die Oper, für welche Renée die Rolle im Grand Théâtre de Genève nicht bekam! Jetzt mag ich das Posthorn nicht mehr hören!"
"Hör auf dich zu grämen, das ist vorbei und vergangen. Wie du berichtet hast, ist Renée ganz gut darüber hinweg gekommen! Das hat jetzt wirklich nichts mit dem Horn dieses Postautos zu tun!" Eigentlich hat Werner Recht, überlegte sich Erika und nahm sich vor, von der Pension aus Renée und auch Marti eine Ansichtskarte zu schicken: Cis-e.a!
Erika und Werner verbrachten unbeschwerte Ferientage, mit Wandern auf Bergwegen und mit Lesen auf der Sonnenterrasse des Gasthofs. Am letzten Abend teilte Werner Erika beim Nachtessen mit, dass ihm der Arzt in Zürich nahe gelegt habe, sich für ein paar Sitzungen bei einem Psychiater in Luzern anzumelden.
"Ich habe seinen Vorschlag angenommen, ich werde mich beim Seelenarzt melden."
Erika schien diese Idee etwas befremdlich. Während der entspannten Ferientage war sie Werner aber wieder ein wenig näher gekommen, deshalb verhielt sie sich nicht schon zum Vornherein abwehrend:
"Ja, tu das, hoffentlich findest du zusammen mit dem Psychiater einen Ausweg aus unseren Problemen. Es wird doch so viel geforscht in der Medizin. Vielleicht gibt es neue Methoden, welche bei Kinderlosigkeit zum Zug kommen."
Werner beim Seelenarzt
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20.  Werner beim Seelenarzt
Frühmorgens riss Erika den Kalenderzettel vom Block des Jahres 1936: Montag, 27. Juli. Der Tag von Werners erster Konsultation beim Psychiater. Man hatte ihn auf den Abend nach der Arbeit dorthin bestellt. Was erzählt Werner dem Psychiater wohl, überlegte sich Erika, als das Telefon klingelte. Wer ruft denn so früh schon an? Erika nahm ab.
"Guten Tag, Erika, hier spricht Marili Jung. Gut, dass du bei diesem schönen Wetter zu Hause bist und wir zusammen sprechen können!"
"O, guten Morgen, Marili", sagte Erika überrascht: "Es ist lustig, deine Stimme durch den Apparat zu hören! Seit du in Zürich studierst, haben wir uns kaum mehr gesehen!"
"Ja, das stimmt. Erika, meine alte, liebe Schulfreundin, wie geht es dir, was machst du immer? Weisst du, ich habe jetzt Ferien, aber ich muss zu Hause lernen, da ich im Herbst wieder zu Prüfungen antreten muss."
"Wie die Zeit vergeht!", stellte Erika fest, "wohnst du noch immer bei deinen Eltern an der Mariahilfgasse? Habt ihr jetzt auch einen Telefonapparat? Gefällt es dir immer noch als einzige Frau unter Männern im Hörsaal an der Uni Zürich?" Erika wollte alles aufs Mal wissen.
"Ja, es gefällt mir gut, und ich telefoniere tatsächlich mit dem neuen Apparat meiner Eltern", antwortete Marili aufgeräumt, "wollen wir zusammen ins Lido schwimmen gehen? Wir könnten uns gegenseitig alle Neuigkeiten erzählen."
"Eine prima Idee!“
„Morgen um Zehn beim Eingang des Lido?“
„Ja, abgemacht.“
Erika stellte sich vor, wie wäre es, als 25-jährige Tochter, so wie Marili, immer noch bei den Eltern zu wohnen. Wegen der Krise waren die jungen Menschen gezwungen, bei den Eltern zu wohnen. Das Geld einer reichte nicht aus für eine eigene Wohnung. Die Krise war auch der Grund, dass viele Familien in kleinere Wohnungen umziehen mussten. Erika dachte an ihre Eltern in ihrer Dreizimmerwohnung an der Sälistrasse. Im Esszimmer war eine Couch zum Schlafen, aber sonst gab es keinen Platz für eine weitere Person.  
Erika beschloss, wieder einmal ihre Eltern zu besuchen. Seitdem sie in Panik zu ihnen geflüchtet war, ist viel Zeit vergangen. Erika schrieb auf einen Zettel: Bin an der Sälistrasse, komme um 19 Uhr zurück! Das Nachtessen ist vorbereitet. Die Notiz legte sie auf die Ablage der Garderobe.  
Am späten Nachmittag klingelte Erika bei ihren Eltern. Emma öffnete. Sie war überrascht und erstaunt, als ihre Tochter vor der Türe stand. Nach kurzem Zögern begrüsste sie Erika herzlich: "Schön, dich zu sehen, komm herein! Möchtest du etwas kühlen Lindenblütentee? Ich habe heute Morgen einen Krug voll davon gemacht. Komm ins Wohnzimmer! Papa ist schon heimgekommen. Wir lesen eben die neue Sie und Er, welche heute eingetroffen ist."
"Ah, welche Überraschung, guten Tag, Erika", rief Christian, "setze dich, mach es dir gemütlich!"
Erika war heilfroh, dass ihre Eltern sie so herzlich aufnahmen und dass sie nicht auf ihren letzten Besuch zurückkamen. Sie setzte sich auf den bequemen Armlehnstuhl mit der geflochtenen Rückenlehne. Emma brachte ein Glas Lindenblütentee und stellte es vor Erika auf das runde Tischchen mit der geklöppelten Tischdecke.  
"Ich habe eben angefangen, Mama den Leitartikel der _Sie und Er_ vorzulesen", sagte Papa und zeigte auf die aufgeschlagene Seite des Magazins auf dem Tisch. "Es geht um die neue Arbeitslosenfürsorge und um andere notwendig gewordenen Massnahmen unserer Regierung."
"Lies nur weiter vor, Papa, das interessiert mich auch."
"Noch besser ist es, wenn Papa nochmals von vorne anfängt, bei Die Welt neu aufgeteilt."
Grösste Arbeitslosigkeit. Eine kurze Wirtschaftsblüte führte in den goldenen 20er-Jahren zu übertriebenen Erwartungen, die 1929 im New Yorker Börsenkrach zusammenbrachen. Geldentwertung und unsichere Währungskurse liessen die Nachfrage nach Konsum und Investitionsgütern weltweit einbrechen. Die Banken gewährten immer weniger Exportkredite. Die schweizerischen Exporte sanken von 1929 bis 1932 um 62%. Besonders betroffen ist die Maschinenindustrie. Sie reagierte mit Entlassungen, Lohnabbau und mit Arbeitszeitverkürzung. 1932 beschloss der Bundesrat Massnahmen für 'Produktive Arbeitslosenfürsorge', subventionierte Exportproduktion und Notstandsarbeiten, um den erneuten Einsatz von Arbeitslosen zu ermöglichen.
Nachdenklich legte Christian die Illustrierte wieder auf dem Tisch. "Wir sollten zur Lösung von sozialen Fragen unseren Blick mehr nach Westen, nach Amerika und England hin werfen, wo punkto Arbeiterschaft die grössten Fortschritte erzielt worden sind, speziell in den industriell hoch entwickelten Vereinigten Staaten von Nordamerika."
"Du hast Recht", bestätigte Emma, "ist der Artikel schon fertig?"
Christian nahm das Heft wieder auf. Die Aussage eines der erfolgreichsten Industriellen der Welt, Henri Ford, wird zitiert: Die Armut wird nur beseitigt, wenn anständige Löhne bezahlt werden. Allerdings muss eine bestimmte Arbeit täglich geleistet werden, bevor ein richtiger Lohn bezahlt werden kann. Wer richtig lebt, leistet auch richtige Arbeit. Die Erde ist im Stande, genug zu produzieren, um jedem Mensch einen anständigen Lebensunterhalt zu gewähren, nicht nur was Nahrung, sondern auch was alle übrigen Lebensnotwendigkeiten anbetrifft, denn die grösste Produzentin von allem ist die Erde. Es ist möglich, Arbeitskräfte, Produktion, Verteilung der Löhne so zu organisieren, dass alle Beteiligten ihren, durch ein exaktes Verfahren bestimmten, gerechten Anteil erhalten.
Mutter, Vater und Tochter diskutierten weiter über die zunehmende Arbeitslosigkeit. Sie waren sich einig, dass man den Massnahmen der Schweizer Regierung vertraue könne. Christian schloss die Diskussion ab. "Was die seelischen und geistigen Fortschritte anbelangt, können wir von den Völkern des Fernen Ostens noch sehr viel lernen. Wenn der Mensch nur seinem Instinkt zu folgen hätte wie eine Schar hungriger Wölfe, so würden die organisierten Räuberbanden schon längst die ganze Welt erobert haben. Der Mensch muss seine höhere Natur erkennen! Das sagte der indische Weise Rabindranath Tagore."
"Gott schuf den Menschen, dass er menschlich sei", fügte Emma feierlich an.
"Man kann tun, was man will, immer ist es falsch!" rief Erika heftig dazwischen.
"Nein, Erika, so ist es nicht!" erwiderte Papa entrüstet: "Du siehst alles schwarz-weiss, aber dazwischen gibt es noch viele Schattierungen! Wir alle sind dazu aufgefordert, uns auf unsere eigenen Stärken und Talente zu besinnen!"
"Und diese miteinander zu teilen!" rief die sozial eingestellte Mama.
"Das ist ein schönes Schlusswort", erklärte Christian und wendete sich mit einem Augenzwinkern an Emma: "Was gibt es heute zum Nachtessen
Erika hörte Nachtessen und schnellte auf: "Du meine Güte, ist es schon so spät? Ich muss nach Hause, Werner wird jeden Moment eintreffen!" Und bevor die Eltern auf die Idee kommen konnten, zu fragen, weshalb Werner heute so spät heimkomme, hatte sie sich schon verabschiedet.
Zuhause traf sie Werner an, der eben dabei war, den Tisch zu decken. Werner wollte wissen, wie es den Eltern gehe. Während Erika den vorbereiteten Griesspudding mit Kirschkompott anrichtete, erzählte sie vom Bericht zur Arbeitslosigkeit in der Sie und Er. Werner sagte, dass man in der Kantine ebenfalls über die Arbeitslosigkeit und über die stockenden Aufträge im Baugewerbe und den zunehmenden Leerwohnungsbestand diskutiert habe.
„Und, was hast du mit dem Psychiater besprochen?“
"Dr. Wullschleger und ich politisierten zuerst etwas. Nachher gingen wir auf die Schwierigkeiten wegen deines Kinderwunsches und auf deine Scheidungsabsichten ein."
"Das klingt so, als ob das allein meine Probleme wären!" Erika war beleidigt.
"Ja, eben darum lädt Herr Dr. Wullschleger auch dich ein, am Donnerstag nächste Woche zu einer Konsultation bei ihm zu erscheinen. Ich finde das eine gute Idee. So kennt er uns beide."
Erika war sich wohl bewusst, dass es nicht an ihr lag, dass sie keine Kinder bekamen, erinnerte sich aber an Renée’s Empfehlung, geduldig und offen zu bleiben. Also sagte sie eine Weile nichts. Erst als das Schweigen unangenehm zu werden drohte, antwortete sie: "Also gut, wenn dieser Seelenarzt es als für notwendig erachtet, gehe ich nächste Woche auch einmal hin."
Erika beim Psychiater
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21.  Erika beim Psychiater
Es kam der Tag im August 1936, an dem Erika ihren Termin beim Psychiater hatte. Am sonnigen Nachmittag ging sie vom Bundesplatz über den geschäftigen Bahnhofplatz und überquerte die Seebrücke. Vom Schwanenplatz aus spazierte Erika unter den Schatten spendenden Rosskastanien dem Quai entlang. Von der gegenüberliegenden Seite der Luzerner Bucht dröhnte das tiefe, röhrende Hornsignal eines Dampfers. Das Wasser des Sees glitzerte in der Sonne, am Horizont die Alpen. Der mit einem Gletscher bedeckte Titlis hob sich leuchtend von den anderen Bergspitzen ab. Vor dem Hotel Schweizerhof hinter den Palmen mit den gezackten, sich in der Sommerbrise hin und her wogenden Wedeln, fuhr die blaue Mathilde mit den gelben Rädern vor. Der elektrische Omnibus fuhr die Gäste und ihr immenses Gepäck zum Bahnhof, holte dort neue Gäste ab.
Die Schiller hatte gewendet und fuhr majestätisch langsam nah am Quai vorbei. Viele Feriengäste hatten sich auf dem Deck der 1. Klasse auf den rosaroten Holzbänken eingerichtet. Touristen machten ihre Rollfilm-Fotoapparate bereit. Die Damen knüpften ein Baumwolltuch um den Kopf. Vom unteren Deck der 2. Klasse aus winkten einige junge Leute.
Von der nahen Hofkirche hörte Erika zwei Glockenschläge. Die junge Frau hatte noch eine halbe Stunde Zeit bis sie sich bei Dr. Wullschleger einfinden musste. Sie schlenderte weiter am Hotel Palace vorbei. Hier stiegen elegant gekleidete, gut betuchte Gäste aus aller Herren Länder ab. Vor dem Eingangsportal warteten Hotelboys auf die Gäste, um ihnen das Gepäck abzunehmen und sie auf ihr Zimmer zu führen. Die Boys trugen rote Jacken mit zwei Reihen goldener Knöpfe, eine schwarze Hose, glänzende Schuhe und weisse Handschuhe. Ihre rote, dem türkischen Fez nachempfundene Kopfbedeckung, belustigte Erika.
Fast alle Sitzbänke am Quai waren mit gut gelaunten Einheimischen und Gästen besetzt. Erika schnappte französische, englische und schweizerdeutsche Gesprächsfetzen auf. Aus der hölzernen Seebadi tönte lautes Geschrei und helles Lachen. Badende schwammen von den Schwimmbecken im Inneren der Badeanstalt in den See hinaus. Ein Becken war für Männer und Knaben, das andere für Frauen und Mädchen. 20 Rappen kostete das Schwimmvergnügen, darum hiess die Seebadi bei den Einheimischen die 20er-Badi. Auf der schwarzen Schiefertafel neben dem Eingang stand: Wassertemperatur heute 21°.
Erika wendete sich vom Quai ab und ging weiter in die Haldenstrasse. Zwei Minuten später klingelte sie an der Türe von Dr. Wullschleger Praxis. Eine elegant gekleidete junge Frau mit Bubikopf-Frisur führte sie ins Sprechzimmer. Erika wartete nervös. Endlich trat Dr. Wullschleger ein, in dunkler Kleidung, einer dunkelblaue Krawatte mit dunkelroten, stilisierten Rosen. Ein weisses Pochettli zierte seine Brusttasche. Erika dachte eine Sekunde lang, du meine Güte, dieser Mensch hat ein Gesicht wie ein Frosch.
Sie hielt dem Psychiater die Hand hin und sagte: "Guten Tag, Herr Wullschleger."
„Nennen Sie mich Doktor Wullschleger! Setzen Sie sich!"
Der Psychiater liess sich Erika gegenüber hinter seinem protzigen Pult voller Schreibutensilien und Büchern in seinen Chefsessel fallen. Erika fing an, sich wegen des weggelassenen Doktortitels zu entschuldigen, doch Doktor Wullschleger bedeutete ihr mit einem unmissverständlichen Handzeichen zu schweigen. Sie sass im Klientenstuhl und wartete auf irgendein Wort des Psychiaters. Der Mann machte es sich in seinem Sessel bequem, schwieg eisern, strich einige fettig glänzende Haarsträhnen aus seinem bleichen Gesicht und schaute Erika unverwandt mit seinen Froschaugen an. Erika empörte sich mehr und mehr, wurde zunehmend wütend. Sie dachte: Du musst nicht meinen, ich würde etwas sagen. Ich schweige ebenfalls, das kann ich genau so gut wie du. Und sie hielt sich trotzig daran. Plötzlich ergriff der Wullschleger ein Buch von seinem Pult und warf es nach Erika. Jetzt platzte Erika vor Wut: "Dazu bin ich nicht hierher gekommen. Ich kann gerade so gut wieder gehen!"
Der Psychiater öffnete endlich seinen Mund: " Sie wollen sich also scheiden lassen!“
Erika schwieg eisern.
„Wenn sie sich scheiden lassen, wird sich ihr Mann umbringen! Es wird ihre Schuld sein. Die Polizei wird sie abführen. Sie werden vor Gericht erscheinen müssen. Dort werde ich  gegen sie aussagen.“
Erika schwieg trotzig.
Dr. Wullschleger erhob sich, den Blick zum Fenster hinaus gerichtet: "Überlegen Sie es sich also gut. Adieu, Frau König!"
"Adieu!", sagte Erika, glühend vor Wut.
Sie ging hinaus und schlug mit einem lauten Knall die Türe zu. Draussen an der Sonne hob sie die drohend Faust zum Fenster der psychiatrischen Praxis hoch: Nie mehr wirst du mich sehen, du elender, blöder, abscheulicher Frosch, du!
Auf dem Heimweg fühlte sich Erika äusserst ungerecht behandelt. Sie fühlte sich der Situation ohnmächtig ausgeliefert. Sie war wahnsinnig wütend. Später schlug die Wut in verzweifelte Traurigkeit um.
Zuhause telefonierte sie umgehend Marti und erzählte ihr atemlos von ihrem schrecklichen Erlebnis. Marti war ebenso aufgebracht und empört;  versuchte trotzdem, Erika zu besänftigen: "Weisst du, wenn man sieht, dass man nichts ändern kann, ist es am besten, man schweigt und vergisst die Sache möglichst rasch. Als Frau hat man bei solchen Männern sowieso nichts zu sagen. Und bei einem Psychiater wie diesem hat man schon gar keine Chance. Die Männer verschwören sich gegen die Frauen. Das ist völlig ungerecht, darin stimme ich mit dir ganz und gar überein. Dieses Ekel spielt auf übelste Weise seine Macht aus."
Erika fühlte sich etwas ruhiger, seit sie mit Marti gesprochen hatte. Das Teilen dieses schrecklichen Erlebnisses hatte gut getan. Wie dankbar war sie für diese Freundschaft mit Marti und und wie froh, dass sie mit ihr offen über alles sprechen konnte. Sie nahm sich vor, auch mit Renée zu reden. Werner erzählte sie nichts. Er hatte sie auch nicht danach gefragt. Er ging weiterhin drei Mal pro Woche zu den Sitzungen bei Dr. Wullschleger. Erika fragte nicht, worüber sie sprachen. Aber die Rechnungen für den Psychiater brachten das Budget des Paares durcheinander. Immer wieder gerieten sie sich wegen der Kosten in die Haare. Erika beschwor Werner, die Sitzungen bei diesem Wullschleger aufzugeben, jedoch ohne Erfolg.
Dr. Wullschleger gab in seinem Hause gelegentlich Einladungen für seine Patienten und ihre Angehörigen. Auch Werner und Erika waren einmal auf der Liste der Geladenen.
"Auf gar keinen Fall werde ich dorthin gehen!" beschied Erika bestimmt.
"Es kommt nicht infrage, dass du dich zierst. Das schickt sich nicht."
Erika, darauf bedacht, jetzt keinen Streit vom Zaun zu reissen, ging höchst widerwillig mit. Der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft wurde Orangensalat serviert. Erika entwickelte einen derartigen Widerwillen gegen Orangen, dass sie diese Früchte ihr ganzes Leben lang nie mehr essen konnte.
Einige Wochen später versprach Werner, die Sitzungen beim Psychiater zu beenden. Er ging ein letztes Mal hin. Seither gab es kaum mehr Streit zuhause. Die Lage hatte sich vorläufig etwas beruhigt.
Verheissungsvolle Annonce
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22.  Verheissungsvolle Annonce
Montag, 28. September 1936. Erika holte das Luzerner Tagblatt aus ihrem Briefkasten. In der Wohnung oben öffnete sie die Zeitung. Auch heute drehte sich alles um das aktuelle Thema Abwertung und Arbeitslosigkeit.
Seit Anfang der 30er-Jahre bewirkte die Weltwirtschaftskrise einen ausserordentlich starken Zufluss von ausländischem Kapital in die Schweiz. Der Schweizer Franken wurde zur Fluchtwährung. 1933 änderte sich die Lage völlig. Die schweizerische Nationalbank verteidigte den Franken mehrmals gegen spekulative Attacken, so im Frühsommer 1933 und in den Frühjahren 1934 und 1935. Im Gegensatz zu Grossbritannien und den USA, welche abwerteten und die Goldwährung aufgaben, schloss sich die Schweiz im Juli 1933 dem sogenannten Goldblock an, dem auch Frankreich, die Niederlande, Belgien, Italien und Polen angehören. Die Vorsteher unseres Finanzdepartements, Jean-Marie Musy und sein Nachfolger Albert Meyer, sind entschiedene Verfechter der Goldwährung und einer deflationären Politik.
Werner diskutierte mit Erika über den Goldblock, die möglichen Vor- und Nachteile der fixen Golddeckung. Er vertrat leidenschaftlich eine andere Lösung: "Es braucht eine vernünftige und gerechtere Wirtschaftsordnung! Die weltweite Arbeitslosigkeit hängt mit den Schwankungen des Geldwerts zusammen. Diese Auf und Ab verschuldet die schon vier Jahre andauernde Wirtschaftskrise und ermöglichte den Aufstieg dieses Hitlers in Deutschland. In der Schule lernen wir viele schöne und nützliche Dinge, aber nichts über die Geldwirtschaft als Grundlage der materiellen Existenz der Menschen! Welcher Lehrer weiss schon, dass der Güterstrom nur so lange fliesst, als auch das Geld ohne Störung zirkuliert? Ein guter Geldumlauf ist wie eine gesunde Blutzirkulation im Menschen."
Erika las einen weiteren Artikel mit dem Titel 124'000 Arbeitslose in der Schweiz. Es wurde ihr immer mulmiger beim Lesen. Erika wusste nicht, was sie davon halten sollte. Die Welt draussen und meine eigene sind irgendwie völlig aus den Fugen geraten.
Es war bald Mittag. Sie legte die Zeitung auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer und stellte das Radio an. Die Stimme des Nachrichtensprechers ertönte leicht krächzend.
124'000 Arbeitslose in der Schweiz. Erika wurde es beim Lesen immer mulmiger. Die Welt draussen und meine eigene Welt scheinen völlig aus den Fugen geraten. Es war bald Mittag. Sie legte die Zeitung auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer und stellte das Radio an: Der Bundesrat hat gegen den Widerstand der Bundesräte Baumann und Meyer entschieden, den Schweizer Franken um 30% abzuwerten und die Goldparität entsprechend zu senken. Die Börsen bleiben bis 29. September geschlossen, um eine Spekulation gegen den Franken zu verhindern. Der Bundesrat informiert alle Schweizer Bürger, dass diese flankierenden Massnahmen der Regierung die Preise stabilisieren werden. Auch die Auswirkungen auf den Tourismus werden positiv sei. Dank des billigeren Frankens werden die Exporte steigen und somit die Zahl der Arbeitslosen fallen. Der Zeitpunkt nach der französischen Abwertung ist für die Schweiz günstig.
Erika fühlte sich unsicher und ängstlich, setzte sich wieder, schloss die Augen und malte sich allerlei schreckliche Dinge aus, die passieren könnten. Sie verstand diese Währungsfragen, die Werner für so entscheidend hielt, nicht. Das Radio sendete Country-Musik 'Can the Circle Be Unbroken'. Erika nahm das Luzerner Tagblatt wieder auf. Ihr Blick fiel auf eine Annonce. Dr. Alexander M. Fraenkel, Psychologe und Lebensberater, hält Vorlesungen zum Thema 'Macht und Gerechtigkeit', jeweils am Freitagabend um 19.30 Uhr im Volkshaus, Luzern. Jedermann ist eingeladen. Beginn am Freitag, den 9. Oktober 1936.
Erika war wie vom Blitz getroffen. Macht und Gerechtigkeit, dieses Thema, diese Vorlesungen interessierten sie brennend. Seit sie mit Marti über die Macht der Männerwelt, über Ungerechtigkeit im Allgemeinen und speziell in Bezug auf Frauen gesprochen hatte, verfolgte sie dieses Thema geradezu. Bis jetzt war sie überzeugt gewesen, dass man sowieso nichts dagegen tun könne, weder gegen die politische Situation in anderen Ländern, noch gegen die Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Auch gegen die unbefriedigende Situation zu Hause und gegen die Kinderlosigkeit konnte man nichts machen. Vielleicht kennt dieser Dr. Fraenkel Lösungen und Antworten. Er hat einen jüdischen Namen. Zum Glück werden die Juden in der Schweiz nicht verfolgt. Wer mag dieser Dr. Fraenkel wohl sein und woher kommt er? Psychologe und Lebensberater, hoffentlich nicht einer von der Sorte wie Werners Psychiater! Immer noch tönte die fröhliche Country-Musik aus dem Radioapparat. Erika war sicher, dass sich auch Werner für das Thema Macht und Gerechtigkeit interessierte. Ob er sich wohl Zeit nimmt, mit mir die Vorlesungen zu besuchen? Heute Abend will ich ihn fragen.
Seit Erika die Annonce gelesen hatte, schien der Tag irgendwie heller geworden zu sein. Eine mögliche Lösung für ihre schier unüberwindlichen Schwierigkeiten nahm verschwommen Gestalt an. Erika stellte das Radio ab und überlegte, wem Macht eigentlich zustehe, gibt es überhaupt irgendwo Gerechtigkeit auf dieser Welt? Wenn es mehr Menschen gäbe wie ihr Vater Christian, dann könnte es vielleicht besser werden.
Am Abend kam Werner aufgeräumt nach Hause. Beim Nachtessen erzählte er, dass an diesem denkwürdigen Tag nicht so viel wie sonst gearbeitet worden sei. Alle hätten von der Abwertung des Schweizer Frankens gesprochen, von den erhofften positiven Auswirkungen auf die Exportindustrie. "Die Meinungen meiner Kollegen in der Forschungsabteilung der gehen weit auseinander. Aber die meisten erhoffen sich eine Verbesserung für die Schweizer Wirtschaft, dass die Arbeitsplätze sicherer werden."
Für Erika war das ein gutes Stichwort: "Glaubst du, dass es mit der Abwertung wieder mehr Gerechtigkeit geben wird, obwohl dieselben Leute an der Macht bleiben?" Sie gratulierte sich innerlich zu ihrer gelungenen Überleitung zu ihrem Thema.
Werner meinte, man müsse abwarten und sehen, was die anderen Länder tun werden. Gerechtigkeit könne nicht einfach herbeigezaubert werden, das sei ein langer Prozess. Es brauche einen Machtwechsel, vor allem in Deutschland und in Italien.
Erika sprang auf und holte die Zeitung im Wohnzimmer. Sie suchte die Annonce und legte sie vor Werner hin. "Schau, es gibt Vorlesungen zu genau diesem Thema, Macht und Gerechtigkeit. Können wir zusammen diese Vorlesungen besuchen?"
"Moment Mal, Moment, lass mich zuerst lesen!" Er studierte sie eingehend. Nach einer Weile meinte er: "Man weiss nicht, wer dieser Fraenkel ist und wer hinter der Vorlesungsreihe steht. Aus dem Namen könnte man auf einen Juden schliessen." Und nach einigem Nachdenken: "Es würde mich interessieren, was gerade ein Jude zu Macht und Gerechtigkeit meint, jetzt, da die Juden in Deutschland und Polen und auch in anderen Ländern derart ungerecht behandelt werden. Ja, gehen wir zu diesen Vorlesungen!"
Erikas bekam Herzklopfen vor Freude. Ich sollte mich nicht so freuen, ermahnte sie sich selbst, je mehr ich mich freue, desto grösser ist nachher die Enttäuschung, wenn die Vorträge nicht halten, was der Titel verspricht.
Auf das Nachtessen mit ihren Schulfreundinnen Marili und Lilly konnte sich Erika aber unbeschwert freuen. Sie erzählte Werner, dass Marili heute telefoniert und sie und Lilly für übermorgen Mittwoch zum Nachtessen in der Pension 'Schwyzerhüsli' am Sonnenberg eingeladen habe.
Werner und Erika räumten den Tisch ab und die Küche auf. Nachher lasen beide unter der gemütlichen Stehlampe, Werner den Wirtschaftsteil der Zeitung, Erika einen historischen Roman. Die Neuenburger Pendüle an der Wand schlug jede Viertelstunde fein und die volle Stunde etwas lauter. Elf Uhr, Zeit, schlafen zu gehen.
Drei Freundinnen
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23.  Drei Freundinnen


(1) Erika, Marili und Lilly, 1949
Erika, Marili und Lilly, 1949

 Am schönen Nachmittag im Spätsommer stand Erika als erste der drei Freundinnen erwartungsvoll am steilen Zick-Zack-Weg, welcher zum Waldhotel Château Gütsch hinaufführte. Das Glöckchen der nahen Sentikirche läutet den Feierabend ein. Lilly kam mit dem Velo dazu. Sie stellte ihr Fahrzeug an einen Baum und begrüsste Erika herzlich: "Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen, du wirst immer hübscher!"
"Es ist allerhand im Tun bei mir. Ich habe meine Freundschaften in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt", gestand Erika und warf sich im Stillen sogleich vor, allzu voreilig zu sein, schon zu viel ausgeplaudert zu haben.
"Du musst uns dann alles erzählen! Ich habe mich schon lange auf unser Zusammensein heute Abend gefreut", sagte Lilly, als auch Marili zu den beiden Frauen stiess.
Alle drei begrüssten sich fröhlich. Bereits während des Aufstiegs wurde ausgiebig erzählt und gekichert. Die drei Freundinnen waren schon in der Primarschule in derselben Klasse. Alle Drei wechselten in die Mittelschule und fanden sich auch dort im selben Schulzimmer wieder. Lilly wollte sich eher praktischen Dingen zuwenden. Sie verliess die Mittelschule nach zwei Jahren, um sich als Damenschneiderin auszubilden. Erika hatte ursprünglich die Absicht, Lehrerin zu werden, verliess aber den Seminarkurs und damit auch ihre Luzerner Freundinnen nach drei Jahren. An der Handelsschule in Lausanne lernte sie gut Französisch. Marili schaffte es bis zur Matura und begann ein Zahnarztstudium an der Universität Zürich. Sie wäre gerne Ärztin geworden. Da aber ihr Bruder ein Arztstudium machen wollte, musste sie zurücktreten und das kürzere Studium wählen.
Nach der Wanderung kam das Trio im Schwyzerhüsli an. In der Gaststube mit den hohen Fenstern standen sechs rechteckige Tische auf gusseisernen Beinen, darum herum Bugholz-Beizenstühle von Thonet mit dem gelochten, runden Sitzteil. Fünf elektrische Deckenlampen mit einem Rüschenschirm aus Glas schafften eine gemütliche Atmosphäre. Einige gut gelaunte Gäste waren schon da. Eine feucht-fröhliche Männerrunde erhob die Bierhumpen und lud das Frauentrio ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Ein wenig verschämt schlugen die Freundinnen die Einladung aus und setzten sich an einen noch leeren Tisch. Sie bestellten eine Grünerbssuppe mit Speckwürfel und ein Gnagi, dazu Sauerkraut, Kartoffeln, Senf und ein Mutschli. Was ein Gnagi ist, wusste die belesene Erika genau: ein harter Brocken. Dieser gehört zur spätherbstlichen Schlachtung wie die Blut- und Leberwürste.
Marili staunte. "Was du nicht alles weisst! Guten Appetit!"
Lilly lachte Marili an: "Danke, Marili. Wir freuen uns über deine Einladung."
Erika wollte wissen, was es eigentlich zu feiern gebe.
Marilis Augen leuchteten. "Ich habe das Staatsexamen abgeschlossen und möchte mit euch mein Examen feiern. Ich immatrikulierte mich neu an der Universität Bern und hoffe, dass ich bis in einem Jahr den Doktortitel haben werde."
Lilly und Erika gratulierten Marili von Herzen und wünschten ihr viel Glück und Freude bei ihrer nächsten grossen Herausforderung in der Bundeshauptstadt.
"Lilly, macht dir dein Beruf als Damenschneiderin Freude? Hast du schon Stammkundinnen? Bitte erzähle uns, wie du zu deinem Beruf gekommen bist", bat Marili.
"Als Siebzehnjährige besuchte ich zusammen mit meiner älteren Schwester die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit, die SAFFA in Bern. Die Ausstellung zeigte die Bedeutung der Frauenarbeit für die schweizerische Volkswirtschaft und Gesellschaft auf und vermittelte einen Überblick über die beruflichen Ausbildungen und Erwerbsmöglichkeiten. An der SAFFA wurde auch der Beruf der Damenschneiderin vorgestellt. Sofort dachte ich, der Kontakt mit Menschen und der Umgang mit schönen Stoffen würden mir gefallen. So meldete ich mich für die einjährige Lehre an. Erst 1933, nachdem ich die Berufslehre schon fertig hatte, wurde das Bundesgesetz über die berufliche Ausbildung in Kraft gesetzt. Es regelt unter anderem die Mindestdauer der Lehre von einem Jahr, erklärt den beruflichen Unterricht für obligatorisch und verlangt eine Reglementierung der Lehrabschlussprüfungen. Bei mir war alles noch ziemlich willkürlich, und ich musste selber dafür schauen, dass ich so viel als möglich lernte. Zum Glück hatte ich eine gute und verständnisvolle Lehrmeisterin."
Lilly kam richtig in Fahrt, als sie von den beruflichen Möglichkeiten für Frauen sprach und erzählte, dass ihre Schwester die Berufsberatung für Mädchen der schweizerischen Zentralstelle für Frauenberufe in Anspruch genommen habe. Diese Stelle wurde einige Jahre vor der SAFFA vom Bund schweizerischer Frauenvereine gegründet. Meine Schwester war enttäuscht, als ihr empfohlen wurde, vor Antritt einer gewerblichen Berufslehre zuerst einmal eine hauswirtschaftliche Dienstlehre als Vorbereitung auf die Hausfrauenrolle zu absolvieren. Man sagte ihr, dass jede Frau ihren Beruf nach der Heirat ja ohnehin aufgeben werde. Jetzt ereiferte sich Lilly so richtig. Berufe im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitsbereich, für die sich meine Schwester interessiert, bleiben trotz intensiver Bemühungen der Frauenorganisationen vom Berufsbildungsgesetz ausgeschlossen. Sie werden immer noch individuell geregelt. Einzig die hauswirtschaftliche Ausbildung ist im Bundesgesetz verankert. Die Zentralstelle für Frauenberufe bemüht sich vergeblich, die Ausbildung zur Säuglings- und Kinderpflegerin verbindlich zu regeln. Die interessierten Kreise können sich nicht einigen, und die Landesregierung hat keine Kompetenz, um in diesem Bereich Ausbildungsrichtlinien festzulegen. Es ist Sache der Kantone.


(2) Gesangsunterricht im Seminar-Vorkurs, 1927. Erika mit Zöpfen und kariertem Rock links neben dem Fenster. Marili vorne auf der Bank rechts, neben ihr, Lilly.

Gesangsunterricht im Seminar-Vorkurs, 1927. Erika mit Zöpfen und kariertem Rock links neben dem Fenster. Marili vorne auf der Bank rechts, neben ihr, Lilly.

 Gesangsunterricht im Seminar-Vorkurs, 1927. Erika mit Zöpfen und kariertem Rock links neben dem Fenster. Marili vorne auf der Bank rechts, neben ihr, Lilly.
Nach dieser Entrüstung wegen der vernachlässigten Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen schmeckte die nach altem Luzerner Rezept gekochte Suppe den Freundinnen. Sie wärmte Herz und Gemüt.
"Erika, du konntest mit deinem Beruf als Sekretärin schon an verschiedenen Orten arbeiten und gleich nach dem Diplom eigenes Geld verdienen. Erzähle uns auch von dir!" Lilly und Marili schauten Erika neugierig an.
"Ich hätte auf keinen Fall die Geduld für ein so langes Studium mit der anschliessenden Assistenzzeit wie Marili aufgebracht. Ich wollte so bald als möglich selbständig sein, weg von meinen wohlmeinenden, aber behütenden Eltern. Sie wollten immer nur das Beste für mich, aber oft wurde mir diese Bevormundung zu viel, es gab immer wieder Meinungsverschiedenheiten. Hätte ich Geschwister gehabt, wäre vieles anders gewesen! Mein Vater war der Meinung, dass der Lehrerinnenberuf für Frauen aus den mittleren Schichten praktisch die einzige Möglichkeit für eine weitergehende Bildung und eine eigenständige, qualifizierte Berufstätigkeit sei. Meine Mutter pflichtete ihm bei. Damit hatten meine Eltern zwar Recht, aber niemand hatte damit gerechnet, dass es während der Krise schon bald keine Stellen für Lehrerinnen mehr geben würde.“
Marili wollte wissen, ob sie deshalb die Seminarausbildung abbrach und was sie dazu bewog, nach Lausanne zu gehen und dort die Handelsschule zu besuchen. Die unsicheren Berufsaussichten waren der Hauptgrund, ein weiterer Grund war, dass ich mit der Schulwahl in Lausanne aus dem Elternhaus ausziehen konnte. Meine Eltern fanden es natürlich gut, dass ich Französisch lernen wollte, und waren bereit, mir die Ausbildung zu bezahlen. So waren alle zufrieden. Erika liess die Freundinnen wissen, dass die von Moos'schen Eisenwerke in Emmenbrücke, wo ihr Vater als Prokurist arbeitete, auch Lehrlinge ausbildeten. Papa hatte Erkundigungen eingezogen und erfahren, dass dreissig Jahre nach Öffnung der kaufmännischen Ausbildung für Frauen ihr Anteil noch immer bei nur sechzehn Prozent lag. Also keine grossen Chancen für höhere Töchter! Mit meinem französischen Handelsdiplom würde die Möglichkeit, eine Stelle zu finden, recht viel besser. Nur der Lohn, verglichen mit dem der männlichen Kaufleute für dieselbe Arbeit, ist viel niedriger für Frauen."
"Es ist ungerecht, dass wir Frauen stets einen niedrigeren Lohn bekommen als die Männer", rief Lilly empört und klopfte mit der Faust auf den Tisch, "wenn es um Lohnforderungen geht, liegt es überhaupt nicht in unserer Macht, auch ein Wort mitzureden."
Erika hörte 'ungerecht' und 'Macht'. Sofort erinnerte sie sich an die in zwei Wochen beginnenden Vorlesungen zum Thema Macht und Gerechtigkeit. Sie überlegte kurz, ob sie ihren Freundinnen davon erzählen sollte, liess es aber bleiben. "Am besten gefiel mir meine Stelle in der technischen Bibliothek in Zug. Aber jetzt bin ich verheiratet und darf nicht mehr arbeiten. Ich beneide euch, dass ihr beide euren Beruf ausüben könnt!"
"Nein, sag’ das nicht", ereiferte sich Lilly, "das Beste für uns Frauen ist es, zu heiraten, dem eigenen Haushalt vorzustehen und Kinder zu haben!" Meint sie das ernst oder ist es Ironie? Und nur weg vom Thema Kinder, sagte sich Erika und fragte die Freundinnen, ob sie in der Sie und Er auch gelesen hätten, dass in Schwyz das Bundesbriefarchiv eröffnet worden sei.
"Natürlich, ich habe auch gelesen, dass das Kraftwerk Dixence-Chandolin im Wallis mit der höchsten Staumauer der Welt fertiggestellt worden ist. Eine Fotografie der beängstigend hohen Staumauer war auch dabei", sagte Marili, "technische Leistungen kommen in die Presse, aber die Werke der Frauen bleiben verborgen. Immerhin erobere ich jetzt einen Platz in der Männerdomäne Zahnheilkunde!"
Die Freundinnen redeten noch lange weiter. Unterdessen war es spät geworden. Die Männerrunde wurde immer lauter. Marili nahm ihr Portmonee hervor und bezahlte das Essen. Die Bier trinkenden und Stumpen rauchenden Männer beobachteten die Frauen unverfroren. Einer grölte laut genug, dass die Freundinnen es hören mussten: "Schaut mal, da drüben haben die Weiber die Hosen an! Die bezahlen das Essen aus dem eigenen Geldsack!" Der Ausruf wurde von den Kollegen mit lautem Gelächter quittiert.
Erika schnitt in ihre Richtung eine Grimasse.
Die Kellnerin rief erbost: "Haltet den Mund und kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten! In unserer Gaststube dulden wir keine Beleidigungen!"
Andere Gäste in der Nähe nickten. Die Zurechtweisung der Kellnerin, einer Frau, liess die verblüfften Männer sofort verstummen. Sie warfen ihr belustigte Blicke zu und widmeten sich wieder ihrem Bier und der Politik.
Draussen war es schon dunkel. Marili schlug vor, auf der schmalen Naturstrasse, die an der grossen Gärtnerei mit den vielen Kakteen vorbeiführt, auf der Südseite des Sonnenberges hinunter zu gehen und dann mit der Trambahn von Kriens zum Luzerner Bahnhof zu fahren. Erika und Lilly waren einverstanden. Wir begleiten dich bis zu deinem Velo. Und du, komm gut nach Hause. Lilly und Erika dankten Marili für die Einladung und alle versprachen, sich bald wieder zu treffen.

Dr. Alexander M. Fraenkel
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24.  Dr. Alexander M. Fraenkel
Es war Herbst geworden. Abends war es schon früher dunkel und am Morgen lag oft Nebel auf der Stadt. Für Erika begann der Tag voller Vorfreude. Es war der 9. Oktober 1936, der Tag, an dem die Vorlesungen im Hotel Volkshaus begannen.
Am Abend kam Werner fast übermütig und gut gelaunt nach Hause. "Am 18. Januar fahre ich nach Leiden! Ich freue mich auf diese Herausforderung!"
Am Esstisch deklamierte Werner holländische Wörter und kurze Sätze: "Hoe gaat het met u? Wie geht es Ihnen?"
Erika schlug Werner vor, jeden Abend zusammen ein wenig holländisch zu lernen. Werner fand den Vorschlag gut und sie beschlossen, am nächsten Tag damit anzufangen.
Immer wieder schaute Erika auf die Pendüle an der Wand. Endlich wurde es 19 Uhr, Zeit sich auf den Weg zu den Vorlesungen zu machen. Vor dem Volkshaus schlossen sich Werner und Erika etlichen anderen Vorlesungsbesucher an. Der Receptionist wies allen den Weg in einen gemütlichen, mit Holz ausgekleideten Raum in gedämpftem Licht. Die Stuhlreihen füllten sich rasch. Werner und Erika sassen in der drittvordersten Reihe. Erika stellte sich diesen Dr. Sascha Fraenkel vor: Sehr alt, sicher etwa 60 Jahre auf dem Buckel, weisses, schütteres Haar, dunkelbraune, ernste Augen unter buschigen Augenbrauen, einen schlohweissen, dünnen Bart, weisses Hemd, dunkle Kleidung. Erika kicherte vor sich hin.
"Was gibt's zu lachen?", wollte Werner wissen und runzelte die Stirne.
"Ich habe eben an den Samichlaus gedacht", flüsterte Erika.
Werner überlegte sich einmal mehr, wie er aus den Gedankensprüngen seiner Frau klug werden sollte, als vorne die Türe aufging und eine etwa 40-jährige, elegant gekleidete Frau eintrat, gefolgt von einem ungefähr gleichaltrigen Mann. Der Mann trug einen einreihigen, hellbeigen Sakko und eine Hose in derselben Farbe. Erikas erster Gedanke war: Schade, dieser Dr. Fraenkel ist heute wahrscheinlich unabkömmlich!
Die elegante Frau und der Mann mit lebhaften Augen, welche zu lächeln schienen, standen auf einer kleinen Bühne vor dem erwartungsvollen Publikum. Die Frau stellte sich als Margret Sachs, Luzernerin und Psychoanalytikerin, vor. "Meine Damen und Herren, ich freue mich, Ihnen unseren Referenten, Herrn Alexander Fraenkel, Doktor der Philosophie und Psychologie, vorzustellen", fuhr Frau Sachs weiter. "Herr Dr. Fraenkel studierte an der Universität in Zürich und in Freiburg im Breisgau Phil-I und weist zwei Studienabschlüsse mit dem Doktorat in Philosophie und Psychologie vor, zudem widmete er sich eingehend dem Studium der italienischen Sprache. 1929 erschienen seine Publikationen, Die Philosophie Benedetto Croce’s und das Problem der Naturerkenntnis in Tübingen und 1935, Die seelische Situation der Gegenwart im Rotapfel-Verlag, Erlenbach-Zürich und Leipzig. Ich lernte Herrn Dr. Fraenkel an einer Eranos-Tagung in Ascona kennen und schätzen. Es war mir ein Anliegen, ihn nach Luzern zu verpflichten. Ich heisse Herrn Dr. Fraenkel herzlich willkommen in unserer schönen Stadt im Herzen der Schweiz und übergebe ihm jetzt das Wort."
Erika konnte kaum glauben, dass dieser sympathische Mann in Werners Alter mit den hellen Augen und dem vollen, rötlichen Kraushaar der Referent war. Sie hatte ihn sich als ganz alten Mann vorgestellt.
Werner flüsterte: "Dieser Mann ist sehr sympathisch, findest du nicht auch?"
"Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich freue mich, über ihr grosses Interesse. Seltsamerweise glaubt jeder zu verstehen, was Macht und was Gerechtigkeit sind. Zugleich sind wir alle in der politisch so ernsten Zeit, in der wir leben, meist hilflos von missbrauchter Macht und fehlender Gerechtigkeit betroffen. Das ist der Augenblick für den Philosophen: den Begriffen Klarheit zu geben. Fangen wir an!"
Erika hörte die wohlklingende Stimme des Referenten und vernahm, dass sich Philosophen und Theologen seit Jahrhunderten mit dem Thema Macht und Gerechtigkeit beschäftigt haben. Dr. Fraenkel klärte zuerst die Begriffe: "Macht ist die Fähigkeit einzelner Menschen und Gruppen, im eigenen Interesse auf das Verhalten und Denken anderer Personen oder Gruppen einzuwirken. In allen Formen des menschlichen Zusammenlebens spielt Macht eine Rolle. Wenn wir von Gerechtigkeit sprechen, meinen wir ein Handeln nach hohen moralischen und ethischen Grundsätzen. Wenn jemand stets das Richtige und das Falsche abwägt und danach handelt, so bezeichnet man diese Person als gerechten Menschen."
Dr. Fraenkel sagte, dass es nicht nur gerechte Menschen, sondern auch eine gerechte Wirtschaft und eine gerechte Verteilung der Güter brauche. Und erklärte den Begriff Macht weiter.
Während einer Dreiviertelstunde führte Dr. Fraenkel seine aufmerksame Zuhörerschaft mehr und mehr in die beiden Begriffe, die zunehmend die Gestalt grosser geistiger Räume annahmen, ein. Zum Schluss fasste er den Gedankengang mit einem Ausblick zusammen: "Wir alle träumen von Gerechtigkeit. Wir möchten, dass es in unseren Familien, bei unserer Arbeit, in der Politik unseres Landes, eigentlich in allen Ländern mit rechten Dingen, also gerecht zu und her geht. Sicher stimmen Sie darin mit mir überein. Aber schon kommen die Einwände! Sind wir nicht abhängig von den Mächtigen, die in den Regierungen sitzen, von den Regenten, die sich selber als allmächtige Führer über alle anderen setzen; ebenso von den Leuten, welche mit Waren und Waffen handeln, von den Bankiers, die entscheiden, wem sie Kredite geben. Und wem nicht. Männer sind abhängig von ihren Arbeitgebern. Frauen vielleicht von ihren Männern, welche das Geld nach Hause bringen. Haben wir also keine Macht, wenn wir nicht zu den Mächtigen gehören? Oder suchen wir beides zu sehr im Aussen? Könnte es sein, dass beides, das Gerechtigkeitswissen und die Selbstermächtigung innen beginnen? Sie sehen, am Schluss unseres Gedankenweges stehen wir wieder bei den anfänglichen Fragen. Das ist die Art der Philosophen. Ich bedanke mich!"
Zwei, drei Leute applaudierten, erst etwas zögerlich, doch bald klatschen alle Beifall. Nachdem es wieder ruhig geworden war, sprach Dr. Fraenkel weiter: "Liebe Freunde, eine kleine Zugabe! Es gibt eine alte Geschichte, sie kennen sie alle, welche unsere Sicht auf das Thema überraschend erweitert. Sie steht im Alten Testament. Damit Sie nicht immer nur meiner Stimme zuhören müssen, bitte ich jemanden aus dem Publikum, die kurze Geschichte vorzulesen. Wer möchte das tun?"
Werner hob seine Hand, und Dr. Fraenkel lud ihn ein, Isaaks Opferung aus 1. Mose 22 vorzulesen. Jetzt klatschten die Leute Werner Beifall. Auf dem Podium gaben Dr. Fraenkel und Werner einander die Hand. Wie Erika Werner vorne neben dem Dozenten sah, wurde sie ganz stolz auf ihren Gatten. Werner las den Abschnitt aus dem Alten Testament vor:
Einige Zeit später stellte Gott Abraham auf die Probe. Abraham, rief er…
"Ich will mich kurz fassen", sagte Dr. Fraenkel: "Lesen Sie alle diese Geschichte im Alten Testament, ein zwiespältiger Traum der Menschheit! Ist Gerechtigkeit vernünftiges Menschenwerk? Oder ist sie ein unverständliches Geschenk des Himmels? Gnade?"
Dr. Fraenkel schloss seinen ersten Vortragsabend ab: "Wie würde es mit der Macht und der Gerechtigkeit in unserer Welt aussehen, wenn wir Menschen, wie Abraham, ihren Eigensinn opfern würden? Auf diese Frage werden wir heute in einer Woche eingehen. Und noch etwas: Wenn Sie gerne noch eine Weile zusammen sind und über das Gehörte diskutieren möchten, kommen Sie nach dem Vortrag mit uns in die Wirtschaft Zur Schmitte gleich über die Strasse! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auf Wiedersehen!" Etwa ein Dutzend Leute, unter ihnen auch Erika und Werner, folgten Frau Sachs und Herrn Dr. Fraenkel in die traditionsreiche Schmitte.
Margrit Sachs erzählt
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25.  Margrit Sachs erzählt
In der gemütlichen Schmitte waren neben den Stammgästen schon etliche Leute mit Dr. Fraenkel um einen Tisch versammelt. Es traf sich, dass Erika und Werner an einem runden Tisch neben Frau Sachs zu sitzen kamen. Bald waren alle in ein angeregtes Gespräch verwickelt. Frau Sachs erzählte, wie sie als junge Psychologin 1924 bei der Gründung der Stiftung Lucerna  dabei gewesen war. Auf Anregung des über die Landesgrenzen hinaus bekannten Schweizer Philosophen Paul Häberlin hatte der Luzerner Bankier, Emil Sidler-Brunner, die Stiftung mit dem Ziel gegründet, einer breiteren Öffentlichkeit an Tagungen und in Kursen philosophische und psychologische Grundlagen und Orientierungen zu vermitteln. Frau Sachs verriet, dass Paul Häberlin gut bekannt mit Carl Gustav Jung sei. "Beide Professoren sind ungefähr gleich alt und im selben Ort, in Kesswil im Kanton Thurgau, aufgewachsen."
Werner fragte Frau Sachs, ob sie dem berühmten Psychoanalytiker und Titularprofessor an der ETH in Zürich, C.G. Jung, schon persönlich begegnet sei.
"Wir kennen uns sehr gut", bestätigte Frau Sachs, "meine Ausbildung zur Psychoanalytikerin hatte ich bei ihm gemacht. Jetzt bin ich eine seiner engsten Mitarbeiterinnen. Nach Abschluss meines Studiums war ich zuerst eine Zeit lang Sekretärin und Vertrauensperson des Schweizer Schriftstellers Carl Spitteler."
Der ältere Herr, welcher Frau Sachs gegenüber am Tisch sass, rückte seine Brille zurecht und wollte wissen, ob es sich um Carl Spitteler, welcher Feuilleton-Redaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung war, handle.
"Genau der", bestätigte Frau Sachs. "Er wuchs in Liestal und in Bern auf, absolvierte ein Studium der Rechte und der Theologie und war Hauslehrer in Russland. Seit 1892 lebte er mit seiner Familie in Luzern. 1919 erhielt er den Nobelpreis für sein Hauptwerk Olympischer Frühling."
Frau Sachs verriet der Runde an ihrem Tisch, dass dem Schriftsteller das geistige Klima Luzerns um die Jahrhundertwende offensichtlich behagte. Einige seiner bedeutenden literarischen Werke entstanden in Luzern. Spittelers psychoanalytischer Roman Imago weckte Carl Gustav Jungs Interesse. Professor Jung fand darin wissenschaftliche Erkenntnisse dichterisch bestätigt oder vorweggenommen.
Die anregenden Gespräche und auch unbeschwertes Geplänkel gingen noch eine Zeit lang weiter, bis man den Leuten an den anderen Tischen winkte und sich verabschiedete und sich aufgeräumt und zufrieden auf den Heimweg machte.
Am Sonntag waren Werner und Erika bei Erikas Eltern an der Sälistrasse zum Mittagessen eingeladen. Werner berichtete von Dr. Fraenkels Vortrag und von den Gesprächen mit Frau Sachs in der Beiz. Die an philosophischen, religiösen und sozialen Themen interessierten Eltern hörten aufmerksam zu. Nur einmal rief Christian dazwischen: "Wo der Wille zur Macht ist, existiert ein Mangel an Liebe, das habe ich vom berühmten Psychoanalytiker C.G. Jung gelesen und es mir gemerkt!"
"Man muss nur in die Welt hinausschauen", pflichtete ihm Emma bei, "so sieht man Jungs Aussage bestätigt. Jetzt sagt uns, welchen Eindruck habt ihr von diesem Dr. Fraenkel?"
Werner bestätigte, dass ihm und auch Erika der Referent sofort sehr sympathisch gewesen sei. "Er schrieb Bücher und hält Vorträge an verschiedenen Orten in der Schweiz. Trotzdem tritt er ganz bescheiden auf."
Erika fügte bei, dass Frau Sachs in der Schmitte verriet, dass Dr. Fraenkel Kindern in Luzern Ethikunterricht erteile.
"Wir haben dich als Kind auch in den freiwilligen Ethikunterricht geschickt. Erinnerst du dich?", fragte Emma.
Erika sagte, dass sie diesen Unterricht immer gerne besuchte, und dass ihr davon in Erinnerung blieb, wie über Lügen und andere unmoralische Handlungen und deren mögliche Folgen gesprochen wurde. Ich erinnere mich auch noch ganz genau, dass uns der Religionslehrer in der Schule fragte, ob jemand aus der Klasse den Ethikunterricht besuche. Ich hielt die Hand auf. Der Katechet meinte schimpfend, meine Eltern würden sicher nie in den Himmel kommen. Gute Katholiken würden ihre Kinder nicht in den Ethikunterricht schicken.
"Ob wir im Himmel oder in der Hölle landen", sagte Christian an Emma gewandt, "das wird sich dann zeigen!" Alle lachten.
Erika erzählte ihrer Familie einmal mehr, dass sie immer noch wütend auf die katholische Kirche sei, weil kurz nach ihrer Heirat in der reformierten Kirche in Weggis der katholische Pfarrer bei ihr zu Hause vorsprach, um ihr mitzuteilen, dass sie exkommuniziert worden sei. "Die Herren schmissen mich einfach aus der Kirche hinaus, allein weil Werner und ich in der reformierten Kirche vom protestantischen Pfarrer, von Vater König selber, getrau wurden. Das ist ungerecht! Mit der katholischen Kirche will ich mein ganzes Leben lang nichts mehr zu tun haben!"
Christian sagte, genau das und andere Unstimmigkeiten hätten ihn dazu bewogen, zu den Freimaurern zu gehen. "Freimaurerei ist das Streben nach einer Menschheit, die in Frieden und gegenseitiger Achtung lebt. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt und setzt sich für Brüderlichkeit, Grundrechte und Würde aller Menschen ein. Die Mitglieder der Luzerner Freimaurerloge schufen eine Reihe humanitärer und karitativer Werke: Das Brockenhaus, das Blindenheim in Horw, das Städtische Altersasyl, die Suppenanstalt, den Verein für Krankenpflege, die Lese- und Wärmestube, das Luzerner Lungensanatorium und die Freie Vereinigung Gleichgesinnter. Letztere organisiert in Luzern den Ethikunterricht für Kinder. Ihr wisst ja, dass ich mich auch der schweizerischen Friedensgesellschaft, die jetzt Völkerbundsvereinigung heisst, angeschlossen habe. Sie fördert die internationalen Zusammenarbeit und vermittelt in Konfliktfällen. Der Präsident der Sektion Luzern, Herr Bucher-Heller, hat mich sogar schon gefragt, ob ich nach seinem Rücktritt sein Nachfolger werden wolle. Ich habe zugesagt, weil ich so Gelegenheit bekomme, mit hervorragenden Persönlichkeiten dieser Bewegung Fühlung aufzunehmen und meine Kenntnisse über die grossen humanitären Probleme zu vertiefen."
Emma lächelte Christian zustimmend zu. "Erika, komm mit in die Küche! Wir waschen das Geschirr und lassen die Männer allein weiter parlieren!"
Am nächsten Morgen rief Erika Marti an und beschrieb ihr den Abend im Volkshaus, die elegante Frau, welche sich als enge Mitarbeiterin von Professor Jung, dem berühmten Psychiater und Forscher entpuppte, der bescheidene, äusserst sympathische Referent, Dr. Fraenkel, seine interessanten Ausführungen zum Thema Macht und Gerechtigkeit, die neue Sichtweise von Isaaks Opfergeschichte im Alten Testament. Erika erzählte ihrer Freundin auch jedes Detail von der anregenden Runde nach dem Vortrag in der Schmitte.
Marti hörte interessiert zu und wollte wissen, ob die elegante Psychotherapeutin, diese Frau Sachs, vielleicht die Verlobte von Dr. Fraenkel sei.
Erika überlegte sich, ob es ein Anzeichen dafür gegeben habe, welches sie vielleicht übersehen hatte. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie bei der Vorstellung, dass Frau Sachs und Herr Dr. Fraenkel Verlobte sein könnten, eine leise Enttäuschung verspürte.
"Erika, bist du noch da, hörst du mich?", rief Marti ins Telefon.
"Ja, ja, ich überlege mir nur, ob die beiden einen Verlobungsring trugen. Ich hatte keinen gesehen."
"Das ist auch nicht wichtig, nur eine dumme Frage von mir! Nach dem Vortrag vom kommenden Freitag rufe ich dich an, damit du mir wieder alles erzählen kannst!"
Jeweils abends setzten sich Erika und Werner ins Wohnzimmer. Angeregt von Dr. Fraenkels Vorträgen ging das Gespräch zwischen ihnen hin und her. Jeden Tag lernten sie zusammen ein paar niederländische Wörter und kurze Sätze. Tagsüber schien die Zeit für Erika mit Haushalten, Stricken und Lesen schneller zu vergehen als auch schon.
Über Literatur und Fahrräder
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26.  Über Literatur und Fahrräder
Schon war es wieder Freitag. Die Königs sassen zum zweiten Mal erwartungsvoll im Vortragsraum im Volkshaus, als Dr. Fraenkel eintrat. Er begrüsste die Anwesenden mit wenigen Worten, aber herzlich und begann sofort mit einer kurzen Rückschau auf den Vortrag letzter Woche: Wenn die Menschen nicht allein danach trachten würden, ihren Eigensinn um jeden Preis durchzusetzen, so würde die zerstörerische Macht abnehmen und es gäbe mehr Gerechtigkeit. Aber so einfach ist es nicht. Jede Macht braucht die Anerkennung derer, über die sie ausgeübt wird. Dr. Fraenkel beendete seine Rückschau und lächelte seinen Zuhörern augenzwinkernd zu.
Anschliessend sprach er eingehend von Gerechtigkeit. Erika machte sich Notizen. Gerechtigkeit ist immer bezogen auf die Menschenwürde und das Gemeinwohl. Gerechtigkeit herrscht, wo die Würde der menschlichen Person und ihre unveräusserlichen Rechte geschützt sind. Gerechtigkeit setzt Freiheit voraus. Gerechtigkeit zügelt Macht und schliesst Willkür aus. Gerechtigkeit verteilt Risiken und Chancen, Belastungen und Belohnungen so, dass Menschen sich mit den Ergebnissen identifizieren können.
Dr. Fraenkel machte eine kurze Redepause, zog ein Buch aus seiner braunen Mappe heraus. Ich bat Sie, heute Papier und einen Bleistift mitzunehmen. Ich möchte Ihnen einen kurzen Text zu unserem Thema diktieren. Ein allgemeines Räuspern und Rascheln setzte ein bis alle bereit zum Mitschreiben waren. Dr. Fraenkel schaute ins Publikum, seine Augen ruhten auf Werner und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. "Wenn ich das darf, möchte ich wieder Herrn König nach vorne bitten, damit er uns den philosophischen Text diktiert. Darf ich Sie zu meinem Vorleser machen, Herr König?"
Als Werner nach vorne ging, klatschten die Leute wieder. Erika wurde es ganz heiss. Sie spürte, dass sie rot geworden war - warum eigentlich?
Dr. Fraenkel erklärte, dass die Worte, welche diktiert werden, vom Mathematiker, Physiker, Literaten und religiös inspirierten Philosophen Blaise Pascal stammten, welcher im 17. Jahrhundert in Frankreich lebte und wirkte. Werner sprach langsam vor und alle Leute schrieben mit.
Die Gerechtigkeit ist ohnmächtig ohne die Macht; die Macht ist tyrannisch ohne die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit erfährt viel Widerspruch, wenn sie keine Macht hat, weil es immer böse Menschen gibt; die Macht wird angeklagt, wenn sie nicht gerecht ist. Man muss also die Gerechtigkeit und die Macht vereinigen, und dazu muss man bewirken, dass das mächtig sei, was gerecht ist, oder dass gerecht sei, was mächtig ist.
Dr. Fraenkel fügte zum Schluss an, dass er allen Anwesenden die Hausaufgabe gebe, sich Pascals Worte zu Gemüte zu führen und darüber nachzudenken, wie sie sich in den eigenen vier Wänden, unter Freunden, in den Kirchen, draussen in der Politik und in den Fabriken auswirkten. Ich bin mir bewusst, dass es kein einfacher Text ist. Um ihn zu verstehen, ist Denkarbeit angesagt, warnte Dr. Fraenkel seine Zuhörer zum Schluss, Philosophie ist jedoch der Versuch des Menschen, mit dem Mittel des Denkens sein Dasein, die von ihm wahrgenommene äussere Welt und sein eigenes Inneres, zu erklären. "Ich wünsche Ihnen viel Freude und gutes Gelingen beim Philosophieren. Auf Wiedersehen!"
Werner stand immer noch vorne neben Dr. Fraenkel. Die beiden redeten miteinander, während die Leute ihr Schreibzeug einpackten und den Vortragssaal verliessen. Erika war etwas verlegen. Sie wusste nicht, ob sie auch hinausgehen und draussen auf Werner warten oder einfach sitzen bleiben sollte. Aber schon kamen beide Männer zusammen auf sie zu.
«Guten Abend, Frau König. Ich habe eben Ihren Mann für seine Vorleser-Dienste zu einem Bier in der Schmitte eingeladen. Ich würde mich freuen, wenn auch seine charmante Gattin mitkäme!»
Erika bedankte sich und folgte Werner und Dr. Fraenkel. Es regnete in Strömen. Wohl deshalb wartete draussen niemand mehr auf den Referenten. Dr. Fraenkel öffnete seinen Schirm und hielt ihn über Erika. Erika war peinlich berührt, freute sich aber gleichzeitig. Jetzt überquerten alle drei rasch die Obergrundstrasse und verschwanden in der Beiz. Dr. Fraenkel erhob sich nochmals, nahm seinen Schirm und sagte, er habe sein Fahrrad unter dem Vordach des Volkshauses vergessen und wolle es rasch holen. Bald war er zurück, entledigte sich seines Kittels und rief den Kellner.
Sascha fragte Erika freundlich: "Frau König, was dar ich für Sie bestellen?"
"Einen Tee, bitte." Dieser Mann hat gute Manieren, stellte Erika fest. 
Für Werner und sich selber bestellte Dr. Fraenkel ein Bier. Er erzählte, dass er während seiner Vortragstätigkeit in Luzern und für die Dauer des Ethikunterrichts bis im Frühling ein Zimmer bei einer Vermieterin in einem Haus an der Bruchmattstrasse gemietet habe. Der Kellner brachte die Getränke. Dr. Fraenkel nahm seinen Bierhumpen auf und fragte, ob man sich mit dem Vornamen ansprechen dürfe. Diese gemütliche Luzerner Beiz sei wahrlich kein Ort für Formalitäten. Werner und Erika nickten zustimmend.
"Man nennt mich Sascha", sagte der Referent und prostete Erika zu.
"Ich bin Erika." Erika spürte, dass sie wieder verlegen und rot wurde. 
Auch Werner nahm sein Bierglas auf. "Ich bin Werner." Die beiden Männer stiessen auf das allgemeine Wohl und auf die Philosophie an und prosteten auch Erika zu.
Im folgenden Gespräch ging es weder um Philosophie noch um Psychologie, sondern ganz profan um die neuen Fahrradmodelle der 30er Jahre, die 3-Gang-Nabenschaltung mit X-Nabe, dem Sturmei-Archer Oberrohrschalter, um englische Ledersättel und Felgenbremsen. Werner und Sascha kamen damit so richtig in Fahrt und bestellten ein zweites Bier.
Sascha wendete sich an Erika und fragte sie, ob sie gerne lese.
"O ja, ohne Bücher könnte ich nicht leben. Ich lese sicher drei Bücher jede Woche. Im Moment bin ich am Steppenwolf von Hermann Hesse."
Sascha fiel auf, wie ihre Augen leuchteten, als sie vom Lesen sprach.
Werner erklärte, dass seine Frau sehr belesen sei und dass er und Erika sich in einer Bibliothek kennenlernten.
Den Steppenwolf, Mensch mit zwei Seelen, habe er auch gelesen, sagte Sascha. Hesse litt unter den Auswirkungen der technisch-rationalisierten Welt und der neuen Zivilisation. Er sah Geist und Seele der Menschen in Gefahr. Das Gefühl der Bedrohung durch nahe Katastrophen und neue Kriege liessen ihn nicht mehr los. Um seine damaligen Lebenskonflikte besser bewältigen zu können, nahm Hesse an Therapeutischen Gesprächen mit J.B. Lang, dem Psychoanalytiker aus der Schule von C.G. Jung teil, noch bevor im Jahr 1927 der Steppenwolf herauskam. Im Club von Hesses Psychoanalytiker wurden vorab Teile des Steppenwolfs veröffentlicht.
"Das finde ich interessant", gestand Erika, "mit diesem Hintergrund werde ich den Steppenwolf sicher noch aus einem anderen Blickwinkel als bisher fertig lesen."
Erika merkte sich, dass Sascha auch literarische Werke las und sogar die Hintergründe dazu kannte. Ob er wohl Flauberts Madame Bovary auch gelesen hat? Als ob Sascha Erikas Frage gehört hätte, lachte er und gestand, dass er auch gerne leichte Sachen und Kriminalromane lese, wie kürzlich Das fehlende Glied in der Kette der englischen Autorin Agatha Christie. Er wolle möglichst vielseitigen Stoff lesen. Dazu zitierte er Goethe: In meinem Revier sind Gelehrte gewesen, ausser ihrem eigenen Brevier konnten sie keines lesen. Alle drei lachen herzhaft und Werner bekannte, dass sein Brevier die Zeitung sei und technische Fachbücher. Jetzt wollte Sascha wissen, welchen Beruf Werner ausübe. Werner beschrieb das neue Projekt für Fernsteuerungen, bei dem er als Elektroingenieur mitwirkte. Unterdessen war es schon recht spät geworden. Das Trio beschloss, nach dem nächsten Vortrag wieder zu Dritt zusammenzusitzen, da es offenbar gegenseitig noch viel Interessantes zu berichten gebe.
Auf dem Heimweg meinte Werner: "Sascha ist mir sehr sympathisch. Ich freue mich jetzt schon auf die Fortsetzung der Vorträge und auf die anschliessenden, anregenden Gespräche in der Schmitte." Erika fühlte ebenso.
Am Samstagmorgen läutete das Telefon schon recht früh. Es war Marti, die wissen wollte, wie der zweite Vorlesungsabend verlief. Erika berichtete ihrer Freundin alles. "Werner und ich reden jetzt Sascha mit dem vertrauteren 'Du' an und er uns auch."
"Du meine Güte, das ging aber rasch!" Marti schmunzelte und konnte kaum mehr aufhören, Erika mit Fragen zu überhäufen.
Zum Schluss gestand Erika: "Vor allem gefallen mir Saschas Humor, sein Hintergrundwissen zu literarischen Werken und seine Bescheidenheit."
Der Brief und Erikas Vorsatz
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27.  Der Brief und Erikas Vorsatz
Samstag Morgen, 24. Oktober 1936. Werner rief im Korridor draussen: "Auf Wiedersehen, Erika. Ich mache mich auf den Weg. Schau doch einmal zum Fenster hinaus!"
Schlaftrunken rief Erika zurück: "Auf Wiedersehen, Werner! O je, habe ich so lange geschlafen?"
Jetzt erinnerte sie sich, dass es am Abend zuvor nach dem dritten Vortragsabend im Volkshaus recht spät geworden war. In der Vorlesung ging es um Ethik und um das Gewissen. Erika und Werner waren nach der Vorlesung wieder mit Sascha in der gemütlichen Beiz, wo sich das Trio schon ganz heimisch fühlte. Sie sassen zu Dritt um einem kleinen, runden Tisch und redeten über den Skisport und tauschten gut gelaunt ihre Erfahrungen und Erlebnisse auf den Holzbrettern aus. Werner schlug vor, zu dritt eine Skitour zu machen, sobald es genug Schnee habe. Sascha war sofort einverstanden. Erika freute sich sehr.
Ganz wach geworden, kam es Erika in den Sinn, dass Werner sagte, sie solle aus dem Fenster hinausschauen. Sie schob die Vorhänge im Schlafzimmer auseinander und öffnete das Fenster. Dicke, weisse Schneeflocken wirbelten herunter. Die Strassen waren schon weiss. Sie freute sich genau so, wie sie sich als Kind jeweils über den ersten Schnee gefreut hatte. Nachdem sie eine Brotschnitte gegessen und eine Tasse warme Ovomaltine getrunken hatte, beschloss sie, Marti wieder anzurufen und ihr vom Vorlesungsabend zu berichten. Erika nahm ihre Notizen zu den Vorlesungen zur Hand und stellte mit der Drehscheibe am Telefonapparat die Verbindung zu Marti her.
"Guten Morgen, Erika! Marti erzählte, dass sie eben den Kachelofen zum ersten Mal diesen Winter eingeheizt habe, der Kamin feucht sei und der Rauch in die Küche herein drücke. "Ich muss ständig husten. Ich bin aber gespannt darauf, zu vernehmen, wie es gestern Abend war. Erzähle alles, ich höre dir so gerne zu!"
"Sascha weiss wahnsinnig viel und erklärt alles leicht verständlich. Denk dir, er liest sogar Kriminalromane und fährt immer mit dem Velo. Er sprach völlig ungezwungen mit uns."
Marti lachte. "Dieser Lebensberater scheint dich ja sehr zu beeindrucken!"
"Es geht nicht nur mir so, auch Werner findet ihn sehr sympathisch. Wir lernten viel gestern." Sascha erklärte uns, dass Ethik immer Antworten auf Fragen suche, wie Was ist der Mensch? Was sollen wir tun? Ethik lehre uns, die jeweilige Situation zu beurteilen, um so das sittlich richtige Handeln zu ermöglichen.
"Du meine Güte, das tönt kompliziert", meinte Marti, "das heisst wohl einfach, wir sollten nach bestem Wissen und Gewissen handeln, oder?"
"Ja, es um geht um unser Gewissen, davon sprach Sascha. Aber so einfach ist das leider ganz und gar nicht. Mein Gewissen weiss keine Antwort, wenn ich frage, was wir tun sollen, wenn ich gerne ein Kind hätte und keines bekommen kann."
"Erika, das ist doch ganz einfach! Frage den Sascha, der muss es wohl wissen!"
Erika war einen Moment lang sprachlos. Erst nach einer Weile sagte sie: "Marti, du bist ein Schatz, du hast immer ganz und gar praktische Ideen!"
Erika erzählte ihrer Freundin auch, dass Werner vorgeschlagen habe, zu dritt eine Skitour zu machen.
«Hans und ich sind jetzt Mitglied des schweizerischen Alpenclubs. Weisst du, wir möchten auch gerne einmal zum Skifahren mitkommen. Ich könnte diesen berühmten Sascha dann auch kennenlernen.» Erika fand das eine gute Idee. Jetzt bat Marti Erika mit Nachdruck, sie nach dem Gespräch mit Sascha über den Kinderwunsch und das Gewissen sofort zu benachrichtigen. Erika versprach es und hing den Telefonhörer auf.
Sie hatte immer noch ihr Notizbüchlein in der Hand, ging damit in die Küche und setzte sich an den Tisch. Dort las sie ihre neusten Notizen durch. Jeder Mensch besitzt eine innere Führung. Er muss aber still sein und nach innen lauschen. So hört er das richtige Wort heraus. Diese innere Führung, eine leise Stimme, ist die Intuition oder traditionell ausgedrückt, das Gewissen. Erika sass unbeweglich am Küchentisch und versuchte, ihr Gewissen zu hören, aber ihr Zwiegespräch mit sich selber war in ihrem Kopf in einer Endlosschleife gefangen. Ich möchte so sehr ein Kind haben, dann wüsste ich, wofür ich lebe. Die meisten Frauen werden Mütter. Warum ich nicht? Mein Ehemann kann keine Kinder zeugen. Darum muss ich darauf verzichten, Mutter zu werden. Es gibt einfach keine Lösung. Wenn ich Sascha frage, was wir tun sollten, antwortet er sicher, ich solle meinen Kinderwunsch aufgeben, die Situation sei ja klar. Oder könnte es vielleicht sein, dass er einen Ausweg kennt?
Erika ging zum Briefkasten hinunter, um die Zeitung zu holen. Im Kasten steckte auch ein Brief. An Herrn Werner König, Bundesstrasse 25 in Luzern, las sie auf dem Umschlag. Die 20er-Briefmarke war mit dem Poststempel von Utzenstorf entwertet worden. Erika legte den Brief auf den Küchenschrank. Sie setzte sich mit der Zeitung ins Wohnzimmer und las.
Eine neue Partei entsteht. Wie allgemein bekannt ist, stellte Gustav Duttweiler für die eidgenössischen Parlamentswahlen vom letzten Oktober eigene Listen auf, um die Interessen der Arbeiter, selbstständig Erwerbenden und Angestellten, aber vor allem die der Konsumenten zu vertreten und in der Bundesversammlung die Macht der Interessengruppen und Kartelle zu bekämpfen. Aus dieser Gruppierung soll eine Partei entstehen, die Fraktion 'Landesring der Unabhängigen'. Gustav Duttweiler trat 1925 als Revolutionär des Lebensmittelhandels an. Im Sommer desselben Jahres fuhren in Zürich die ersten fünf Verkaufswagen aus, betreut von den 16 Mitarbeitern der Migros AG und beladen mit sechs Artikeln des täglichen Bedarfs, Kaffee, Reis, Zucker, Teigwaren, Kokosfett und Seife. Seither sind Verkaufsläden entstanden, in denen auch günstige Produkte aus eigener Produktion über den Ladentisch gehen. Die Migros AG ist in die Migros-Genossenschaft umgewandelt worden.
Erika fand die Migros-Läden eine gute Sache. Man hörte, dass die Waren dort bis zu 40% günstiger seien als in anderen Läden. Die junge Hausfrau schüttelte nachdenklich den Kopf. Auch mein Haushaltgeld würde länger vorhalten, wenn ich in einem Migros-Landen einkaufen könnte. Den Kolonialwarenhändlern, Gewerbetreibenden, Gewerkschaftern und Politikern ist diese Migros aber ein Dorn im Auge. Sie lassen ihre Frauen nicht in einen Migros-Laden gehen. Schade, dass es sich für mich als Frau eines Elektroingenieurs auch nicht geziemt, bei der Migros einzukaufen!
Seit dem Landesstreik von 1918 galt die 48-Stunden-Woche. Von Montag bis Freitag arbeitete man täglich achteinhalb Stunden, eine längere Mittagspause inbegriffen, samstags nur sechs Stunden. Werner kam schon gegen 17 Uhr heim, stampfte vor der Haustüre den Schnee von den Schuhen, nahm den Hut vom Kopf und schüttelte ihn aus. Er öffnete oben die Wohnungstüre und rief: "Guten Abend, Erika, bald kann man Ski fahren!"
Erika kam mit dem Brief für Werner aus der Küche heraus. "Guten Abend, Werner. Das Nachtessen ist bereit. Hier ist ein Brief für dich!"
Werner nahm den Brief entgegen, stellte fest, dass er von seinem Vater war und meinte, dass man zuerst essen wolle, der Brief könne warten.
Beim Essen berichtete Erika, dass Gustav Duttweiler eine neue Partei gründen wolle. Werner meinte dazu, dass es nur gut sei, wenn sich in schwierigen Zeiten unabhängige Leute in einer Partei zusammenschlössen, auch wenn diese Migros selber umstritten sei. Und schon erzählte er Erika, dass die Migros-Verkaufswagen Ford-T-Lastwagen seien. Mit dem T-Modell startete Henry Ford 1908 die industrielle Autoproduktion. Seither gibt es mehr als 15 Millionen solcher Lastwagen. Henry Fords Ziel ist die Massenmotorisierung. Stell dir vor, wohin das führen würde, wenn jede Familie in einem eigenen Auto auf unseren Strassen herumführe! Fussgänger und Velofahrer müssten um ihr Leben bangen.
Während Erika in der Küche das Geschirr im Geschirrschrank einräumte, hörte sie Werner im Wohnzimmer ausrufen. "Ach, du liebe Zeit! Nein, so etwas! Du meine Güte!"
Sofort war Erika besorgt, mehr noch, als Werner zu fluchen anfing, was nur ganz selten vorkam. «Verdammt nochmal», rief er aufgebracht, «nein, das kann doch nicht sein!»
Erika erschrak und ging rasch zu Werner ins Wohnzimmer. «Was ist passiert?»
Werner hatte den Brief in den Händen und starrte auf die mit der regelmässigen Handschrift seines Vaters voll beschriebene Seite. Erst als Erika ihre Frage wiederholte, schien Werner wie aus einem bösen Traum zu erwachen. "Es geht um meinen Bruder Max und seine Eisenwaren-Grosshandlung". Werner las Erika den Brief vor und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf.
Utzenstorf, am 21. Wimmet im Jahr 1936. Lieber Sohn Werner! Unter den vergangenen Tagen waren nicht alle freundlich gewesen. Es gab unter ihnen auch solche, die uns das Herz schwer machten, an denen Sorgen uns drückten, Sorgen, die mit deinem Bruder Max und seinem Geschäft zusammenhängen. Es ist eine trübe Nachricht, die ich dir überbringe. Max ist mit seiner Eisenwaren-Grosshandlung Konkurs gegangen, was unabhängig von seinem Verhalten an ihn herantrat. Aus den Ereignissen hebt sich aber ein Vorkommnis deutlich ab, das sein Schuldkonto belastet. Dies ist im Besonderen die versäumte Pflicht, das Handelsbuch ohne Fehl und Tadel zu führen. Bruder Max wurde durch das Gericht geboten, eine Geldstrafe von 70 Schweizer Franken zu bezahlen oder eine Woche im Bezirksgefängnis einzusitzen. Dein Bruder hat letzteres gewählt. Als Max das Gefängnis wieder verlassen konnte, nahm er seine beiden Töchterchen, je eines an jede Hand und ging mit den Kindern in Zofingen die Vordere Hauptstrasse hinunter, durch die Bärengasse hinüber und die Hintere Hauptgasse wieder hinauf. Damit beabsichtigte er, seine Irrtümer und Verfehlungen nicht zu vertuschen und zu beschönigen, sondern zu zeigen, dass ihm dieses schlimme sich Erdenken einen Anstoss zu einer heilsamen Bewegung werden. Wir sollen ein einzelnes widerwärtiges Vorkommnis nicht herausnehmen, es ablösen aus dem Zusammenhang mit den Ursachen, die vorausgingen, und den Folgen, die sich nachher einstellen. Seit Einbruch der Börsen im Jahr 1929 sind etliche Gewerbetreibende und ganze Firmen bankrott gegangen. Schauen wir die Schickung im Zusammenhang, dann nimmt es sich anders aus. Wir werden still, das Reklamieren hört auf, wir legen die Hand auf den Mund und bekennen: Gott weiss, was er macht! Mama und ich grüssen dich und lassen auch deine liebe Frau Erika grüssen. Dein Vater, Fritz König.
Eine Weile bleibt es still bis Erika wissen wollte, ob die Schwägerin Claire allein mit den Kindern zu Hause bleiben musste, während Max im Gefängnis war. Ich gehe davon aus, dass Claire mit Inge und Lotti in der Zofinger Wohnung an der Pfistergasse geblieben ist, meinte Werner, denn als Deutsche hätte sie in diesen unsicheren Zeiten mit den beiden Mädchen sicher nicht zu ihren Eltern nach Frankfurt reisen wollen. Wieder schwiegen beide. Erst jetzt dachte Erika an die ferngesteuerte Transportbahn, für die Werner in monatelanger Arbeit die Pläne zeichnete. "Und deine Transportbahn, Werner, was geschieht jetzt mit ihr?"
"Sie kann unter diesen Umständen nicht realisiert werden" sagte Werner, "doch die Arbeit war nicht vergebens. Ich kann viel davon für mein neues Projekt für die ferngesteuerte Anlage in Leiden brauchen. Für Max tut es mir leid. Er freute sich, diese technische Neuheit in seiner Lagerhalle einzurichten."
Erika und Werner redeten noch eine Weile von Max und seiner Familie. Sie waren sich einig, dass es für Max viel Mut gebraucht hatte, als eben aus dem Gefängnis entlassener Familienvater mit Inge und Lotti durch die Zofinger Altstadt zu spazieren und sich allen Leuten zu zeigen. Werner sagte, dass er beabsichtige, Max bald zu schreiben oder zu telefonieren, um ihm seine Unterstützung anzubieten. Etwas später lasen Erika und Werner den Brief des Vaters nochmals. Der Stil des Pfarrers und Predigers liess sie trotz den schlechten Nachrichten wiederholt schmunzeln.
Erika konnte nicht einschlafen. Lange dachte sie an Max, Claire und ihre Kinder. Sie war enttäuscht, dass die Transportbahn, Werners monatelange Freizeitarbeit, nicht gebaut werden konnte. Das ist ungerecht, dachte sie. Mit diesem Stichwort kam ihr das Telefongespräch mit Marti am Morgen in den Sinn. Sie wälzte sich im Bett hin und her und überlegte sich: Soll ich wirklich Sascha fragen, was wir mit unserem Kinderwunsch tun sollen? Kann ich mit einem fremden Mann über diese intime Frage sprechen? Wir kennen uns allerdings mittlerweile schon recht gut. Sascha kann ich vertrauen. Es ist besser, wenn ich zuerst allein mit Sascha spreche, damit nicht nochmals so etwas Schreckliches passiert wie bei Werners Psychiater. Sascha ist doch ganz anders, er würde mich nicht nur anschweigen und mit dann ein Buch anwerfen. Am Freitag frage ich ihn, schliesslich ist er Lebensberater!
Mit diesem Vorsatz schlief Erika endlich ein.
Gespräch mit Sascha
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28.  Gespräch mit Sascha
Am letzten Freitag im Oktober konnte Erika am Vortragsabend im Volkshaus Saschas Ausführungen nicht konzentriert folgen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken weg, weil sie sich ausmalte, wie sie Sascha möglichst unauffällig fragen könnte, ob er mit ihr unter vier Augen sprechen könnte.
Mit dem Herrn, welcher fast alle Bücher von Carl Spitteler gelesen hatte, stand das Glück unerwartet auf ihrer Seite. Dieser Herr sprach nach der Vorlesung Werner auf sein geschätztes Vorlesen an. Er wollte wissen, ob Werner vielleicht selber auch Schriftsteller sei. Werner drehte sich um und sah nach Erika. Sie winkte ihm zu und rief, dass sie noch ihre Sachen einpacke und dann auch komme. Werner und der Herr gingen miteinander hinaus und blieben redend im Korridor draussen stehen. Sascha packte vorne Bücher und Schreibzeug in seine Mappe ein. Erika nahm allen Mut zusammen und ging rasch auf Sascha zu und sprach ihn ziemlich hastig und leise an: "Ich habe ein Problem, über das ich gerne mit dir sprechen würde."
Sascha schaute sie kurz ein wenig erstaunt an. "Ich bin dir gerne behilflich, soweit es in meiner Macht liegt."
Stets Werner und den Herrn vor der Türe im Auge behaltend, schlug Erika den kommenden Mittwoch Nachmittag vor. "Das passt gut", meinte Sascha, "soll ich zu euch kommen?"
"Gerne, am Mittwoch nach dem Mittag an der Bundesstrasse 25. Vielen Dank." Erst jetzt spürte Erika, wie heftig ihr Herz klopfte. Rasch ging sie hinaus und wartete, bis sich Werner vom Spitteler-Kenner verabschiedet hatte.
Wie gewohnt gingen Erika und Werner in die Beiz. Sie setzten sich mit Sascha und ein paar anderen Leuten um einen Tisch. Mit dabei war auch ein jüngeres Paar. Der Mann wandte sich an Sascha und erwähnte, dass er die Vorlesungen sehr schätze, dass er und seine Frau zu Hause über das Gehörte diskutierten. Trotzdem wisse er aber nicht, wie er als Lehrer seinen 12-jährigen Schülern erklären könnte, was Macht sei. Sascha zeigte sein breites Lächeln, nahm seine Mappe vom Boden auf und zog ein kleines Büchlein hervor. Erika sah den hellen Buchdeckel mit aufgeprägten, goldenen Lettern. Am Tisch wurde es still. Alle schauten gespannt auf Sascha. Er schlug das Büchlein auf, blätterte ein wenig vorwärts, dann zurück, bis er die gesuchte Seite gefunden hatte. Im fernen Osten geht man mit diesen Dingen praktischer um als bei uns. Auch Kinder können das verstehen, wenn man es für sie in eine einfache Sprache bringt. Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen den 33. Spruch aus dem Tao-Te-King von Laotse aus dem Buch Vom Sinn des Lebens vor. Laotse lebte gegen Ende des 7. Jahrhunderts vor Christus in China. "Soll ich vorlesen?" Alle Leute am Tisch nickten zustimmend und Sascha las vor.
Andere erkennen ist klug, sich selber erkennen ist weise; Andere lenken ist Erleuchtung; sich selber durchdringen ist Kraft, sich selber aufgeben ist Reichtum; nichts Zeitliches festhalten ist Ewigkeit, nicht vergehen mit dem Tode ist Unsterblichkeit.
Sascha fragte den Lehrer, ob er das Büchlein bis zum nächsten Freitag mitnehmen möchte. Der Schulmeister nahm es mit sichtlicher Freude entgegen, bedankte sich, und auch seine Frau dankte Sascha. Alle redeten noch eine Weile angeregt miteinander und verabschiedeten sich nach und nach. Nur Werner und Sascha waren immer noch in ein Gespräch über die östliche Philosophie vertieft und diskutierten auch auf der Strasse draussen weiter. Werner fragte Sascha, ob er und Erika ihn bis zur Franziskaner-Kirche begleiten dürften, so könnten wir noch ein wenig weiter reden. Wir könnten nachher genau so gut durch die Bahnhof- und Zentralstrasse nach Hause gehen. Sascha war gerne einverstanden. Alle drei machten einen kleinen Umweg bis zum Rande der Altstadt und verabschiedeten sich dort voneinander.
Werner machte Erika auf die alten, seit 1918 elektrifizierten Laternen aufmerksam. Früher habe man sie vom Gaswerk aus mit einer Fernzündung angezündet, belehrte er schwärmerisch. Zu einer vorher festgelegten Uhrzeit im Brennkalender musste ein Maschinist im Gaswerk einen Umgangsschieber beim Stadt-Druckregler öffnen, damit sich der Druck im Stadtnetz erhöhte. Dieser Druck musste einige Minuten anhalten, bis im ganzen Rohrnetz der erhöhte Druck vorhanden war, sonst würden nicht alle Lampen angehen. In der Lampe selbst war ein Regler eingebaut, der dann bei dem erhöhten Druck die Haupt-Gasleitung öffnete, die wiederum durch die dauernd brennende Zündflamme gezündet wurde. Um die Lampen wieder zu löschen, musste erneut eine Druckwelle erzeugt werden. Aus welchen Gründen auch immer gab es Lampen, die nicht anzündeten, darum war immer ein Nachzünder unterwegs. Unter jeder der nächsten drei ehemaligen Gaslaternen blieb Werner stehen und murmelte etwas von Zündflammen und Druckwellen.
Erika hörte nur halb zu. Ständig musste sie an den kommenden Mittwoch denken.
Seit Freitag freute sich Erika auf den Tag, an dem sie mit Sascha über den unerfüllbaren Kinderwunsch sprechen würde. Je näher aber die Wochenmitte rückte, umso aufgeregter, ängstlicher und bedrückter wurde sie. Sie stellte sich Sascha im Wohnzimmer sitzend vor und überlegte sich hin und her, wie sie mit ihrem Anliegen anfangen sollte. Wäre es gut, zuerst über das Wetter zu sprechen, über Hermann Hesse oder Sascha vielleicht eine Frage zur Ethik zu stellen? Sie war unsicher, ob sie einen Tee oder Kaffee bereitstellen sollte. Vielleicht könnte ich über Fahrräder sprechen, aber davon verstehe ich kaum etwas, dachte sie. Eine Zeit lang stellte sie sich vor, wie sie am Mittwoch Morgen mit Halsschmerzen und Fieber erwachen würde, von einer Grippe überfallen und dass sie deshalb Sascha absagen müsste. Kaum dachte sie sich diese Möglichkeit aus, spürte sie eine grosse Enttäuschung.
Während Erikas Grübeleien lief die Zeit weiter. Es wurde Mittwoch, die Pendeluhr an der Wand schlug 13 Uhr. Erika putzte im Badezimmer zum dritten Mal das Lavabo und in der Küche zum zweiten Mal den Schüttstein. Sie wischte mit einem feuchten Tuch den sauberen Küchentisch ab, fuhr mit dem Staublappen über das Klavier im Wohnzimmer, nahm die Zeitung auf, konnte vor Aufregung nicht lesen und schaute alle fünf Minuten auf die Uhr.
Um 13.30 Uhr läutete endlich die Glocke an der Wohnungstüre. Erika erschrak. Ihr Herz klopfte wie wild. Sascha ist da! Sie strich rasch eine Locke aus der Stirn, hielt den Atem an und öffnete die Türe. Draussen stand Sascha mit seinem Mantel in der Hand. "Grüezi Erika. Ich habe den Mantel gleich schon ausgezogen. Er ist feucht von den Schneeflocken. Achtung, vorsichtig, damit es keine Wasserlache gibt!" Sascha wischte auf dem Teppichvorleger seine Schuhe ab.
Bei der Vorstellung einer Wasserlache, verursacht von ein paar schmelzenden Schneeflocken, fing Erika an zu kichern. Wie peinlich war ihr das! Schnell gab sie Sascha die Hand und bat ihn herein.
Sascha trug keine Kleidung wie an den Vortragsabenden, sondern eine sportliche Knickerbocker-Hose, ein blaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte mit grauen Streifen und einen dunkelblauen Navy-Blazer mit den klassischen, goldfarbenen Knöpfen und einem Wappen auf der Brusttasche. Er nahm ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte damit seine feuchtes, blond-rotes Kraushaar ab. Offenbar hatte er keinen Hut getragen, fiel es Erika ein. Sie schaute ihren Gast ungläubig an.
Verschmitzt lächelnd fragte Sascha sie: "Bleiben wir hier, oder gibt es bei den Königs eine Stube oder eine gemütliche Küche? Ist die Hausfrau vielleicht sogar geneigt, eine Tasse heissen Tee hervorzuzaubern!"
Froh um eine Aufgabe, erklärte Erika: Hier geht es ins Wohnzimmer, bitte setze dich schon hin! Ich gehe unterdessen in die Küche und mache einen Tee.
Sascha betrat das Wohnzimmer der Königs. Ein zart grüner, eng geknüpfter Perserteppich, übersät mit rostroten Rhomben und einem dunkelblau-weiss gemusterten Rand füllte einen grossen Teil des Wohnzimmers aus. Auf dem Teppich standen zwei moderne Sessel, überzogen mit waldgrünem Wollstoff. Sascha gefielen die geschwungen, glänzenden Armlehnen aus einem exotischen Holz. An der Wand stand ein einladendes Kanapee im selben klaren, nüchternen Stil wie die Sessel. Erst jetzt hörte Sascha das leise Ticken einer Neuenburger Pendeluhr an der Wand. Er setzte sich in einen der Sessel. Vor ihm stand der runde Salontisch mit vier leicht nach aussen geschwungenen Beinen aus lackiertem Holz. Über der Tischplatte lag eine schützende Glasplatte. Die birnenförmige Kristallvase mit einer weiten Öffnung und ein paar Efeu-Zweigen darin machte sich gut auf dem Tisch, fand der Besucher. Daneben lag Hesses Siddharta. Sascha betrachtete die Stehlampe neben dem Salontisch. Der Pergamentschirm hing wie ein grosses, unten offenes Lampion am rechtwinklig gebogenen Lampenständer aus Messing. Sascha dachte: Die Königs haben einen guten Geschmack, davon zeugt auch die zeitgenössische Deckenlampe mit den drei schüsselförmigen Lampenschirmen aus Opal-Glas. Er erhob sich wieder, um den langen Bücherschrank an der gegenüber liegenden Wand näher anzuschauen. Hinter den verschiebbaren Glastüren standen viele Klassiker, dazu Romane der Weltliteratur. Sascha fiel auf, dass die Bücher den Autorennamen nach geordnet waren. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um herauszufinden, ob sich auf dem obersten Wandbrett auch Kriminal- oder Liebesromane befanden. Er sah keine Bücher dieser Gattung, dafür klassische englische und französische Ausgaben. Er wandte sich vom Bücherschrank ab und sah in einer Ecke ein schwarz lackiertes Klavier. Sascha wunderte sich: Wer spielt wohl Klavier, Erika oder Werner, oder sogar beide? Er liess seinen Blick rund herum schweifen und dachte: Kinder springen anscheinend noch keine herum. Er ging zurück zum Salontisch und setzte sich wieder. Alles ist fein säuberlich aufgeräumt hier, kein Stäubchen auf den Möbeln, meine neuen Freunde scheinen ihr Alltagsleben gut unter Kontrolle zu haben!


(1) Erikas Bücherschrank an der Bundesstrasse
Erikas Bücherschrank an der Bundesstrasse

 Erika erschien mit dem Teekrug und zwei Tassen, Untertellern und einer Zuckerdose auf einem hölzernen Tablett. Das Geschirr war aus eierschalenfarbenem Porzellan mit feinem goldenen Rand. Sascha erhob sich und dachte, Erika ist eine intelligente, sehr hübsche Frau, das dunkelblaue, moderne Wollkleid steht ihr gut.
Erika stellte das Tablett auf den Salontisch und Sascha setzte sich wieder. Erika goss Tee ein. Sie setzte sich in den zweiten Sessel, unsicher, wie sie sich jetzt verhalten und wie sie ihr Anliegen vorbringen sollte.
Sascha nahm einen Schluck Tee und sagte ohne Umschweife: "Du hast angedeutet, dass es ein Problem gibt, zu dem du meine Meinung hören möchtest. Worum geht es?"
Erika zögerte mit einer Antwort und rutschte im Sessel hin und her. Fieberhaft suchte sie sich zu erinnern, was sie sich ausgedacht hatte, wie sie ihre Schwierigkeiten beschreiben sollte. Vor Aufregung hatte sie alles vergessen.
Sascha fiel Erikas Verlegenheit auf. Er versicherte ihr, dass er sich an das Berufsgeheimnis halte, dass sie ihm ihr Problem ruhig darlegen könne. Zuerst ein wenig scheu, dann durch Saschas immer wieder aufmunterndes Lächeln mutiger geworden, erzählte sie von ihrem Kinderwunsch, von den Arztbesuchen, vom Psychiater und vom Resultat der Laboranalyse. Sascha hörte aufmerksam zu und zeigte ihr durch Nicken oder mit kurzen, Anteil nehmenden Zwischenrufen, dass er begriff, worum es ging. "Ja, das kann ich gut verstehen! O ja, ich kann mir lebhaft vorstellen, dass dich das bedrückt!"
Erika vergass mehr und mehr ihre Scheu. "Noch vor unserer Hochzeit beschlossen Werner und ich, dass wir Kinder haben möchten. Werner meinte, wir sollten während den ersten zwei Ehejahren warten damit, um uns zuerst gut an einander zu gewöhnen und im neuen Heim einzuleben."
Kaum hatte Erika Sascha ins Vertrauen gezogen, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Endlich jemand, der mir zuhört! Sascha kann ich vertrauen. Er versteht mich und unsere Situation.
Sie nahm einen neuen Anlauf und erzählte alles, so, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Die heftigen Streitereien und ihre Flucht zu den Eltern, welche sie sofort wieder schickten, die Langeweile zu Hause, die Skiferien mit Marti und Hans und die Sehnsucht nach einer sinnvollen Arbeit.
"Ich weiss nicht, warum ich so gerne ein Kind hätte", schloss Erika ihre Beichte ab, "ich habe alles, was ich brauche. Ich habe Werner, meine Eltern und Freundinnen. Wir haben eine schöne Wohnung. Wir bekommen genug Geld, sogar ein wenig mehr, als wir jeden Monat brauchen. Wir können in die Ferien gehen und Ski fahren. Ich sollte doch zufrieden sein."
"Offenbar bist du aber ganz und gar nicht zufrieden", korrigierte sie Sascha freundlich.
Fast ein wenig trotzig sagte Erika, dass sie sich jeden Tag neu anstrenge, um ihren Kinderwunsch aufzugeben.
"Das bedeutet 'Wasser ins Meer tragen', versicherte ihr Sascha, "das ist überflüssig und macht keinen Sinn, denn der Wunsch nach einem Kind wohnt fast jeder Frau inne. Es ist ganz normal, dass du gerne Mutter sein möchtest."
Erikas Augen wurden vor lauter Staunen ganz gross. "Normal?", fragte sie ungläubig.
Sascha erklärte: Es gibt Bereiche der Seele des Menschen, die dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich sind, die jedoch unser Handeln, Denken und Fühlen entscheidend beeinflussen. Man nennt es das Unbewusste, wenn es sich um einen einzelnen Menschen handelt, und das kollektive Unbewusste, wenn es die ganze Menschheit betrifft. Wir verdanken unsere Existenz nicht nur unserer persönlichen Erfahrung. Wir verdanken unser Dasein noch mehr der Vererbung. Unsere Vorfahren sind nicht einfach fort und weg, sie spielen in unserem Leben eine ganz grosse Rolle. Mein Lehrer, Carl Gustav Jung hat Wesentliches dazu herausgefunden, viel erforscht und die Quintessenz in wenigen Sätzen ausgedrückt.
Das kollektive Unbewusste ist die gewaltige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wieder geboren in jeder individuellen Struktur. Unabhängig von ihrer Geschichte und Kultur sind in der Seele aller Menschen Urbilder vorhanden. Dazu gehören Vorstellungen, Gegenstände und Lebewesen aus der Umwelt, wie zum Beispiel der König, der Löwe, das Kind, der Turm, der Narr, die Grosse Mutter oder die Göttin.
Die Mutter mit dem Kind ist ein solches Urbild. Denke nur an alle Gemälde, welche in Ausstellungen hängen oder in den Kunstbüchern abgebildet sind! Immer wieder trifft man auf das Bild der Madonna mit ihrem Kind! Auch in der Bildhauerei finden wir dieses Urbild künstlerisch umgesetzt. Am berühmtesten ist Michelangelos Pietá. Es kann vorkommen, dass die Sehnsucht nach einem Kind sogar unbezwingbar wird. Es ist also gut und richtig, dass die meisten Frauen Mütter werden wollen, sonst würde die Menschheit aussterben!
Erika war sprachlos. Erst nach einer Weile sagte sie: "Dass es das gibt und dass man es auch so sehen kann, das wusste ich überhaupt nicht."
Sascha nahm noch einen Schluck Tee, lehnte sich im Sessel zurück, schaute zum Fenster hinaus und fragte Erika, ob es Menschen gebe, welche von ihren Schwierigkeiten wüssten. Erika vertraute Sascha an, dass sie Renée in Genf und Marti in Zürich eingeweiht habe, und dass sie jederzeit mit den beiden ihr nahe stehenden Freundinnen darüber sprechen könne.
Sascha nickte zustimmend. Er erhob sich und sagte, er müsse jetzt leider gehen, damit er rechtzeitig zum Ethikunterricht mit den Kindern ins Pestalozzi- Schulhaus komme! "Ich überlege mir alles gut. Erst dann möchte ich mehr zu dem sagen, was du mir anvertraut hast. Es ist eine ziemlich verwickelte Geschichte. Wenn du willst, können wir noch ein zweites Mal darüber reden, aber nachher sollte Werner auch dabei sein! Übrigens hilft es manchmal schon, wenn wir uns auf das konzentrieren, was gerade ist: Wenn man Tee trinkt, trinkt man Tee, wenn man einen Apfel isst, isst man einen Apfel, wenn man den Hut aufsetzt, setzt man den Hut auf. Aber ich habe ja gar keinen mitgenommen!" Sascha lachte.
Erika begleitete ihren Gast hinaus, gab ihm seinen Mantel und bedankte sich. Schon war er fort!
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und liess sich in den Sessel fallen. Du meine Güte, dieser Sascha macht nichts so, wie man es macht. Er geht ohne Hut auf die Strasse, welch ein aussergewöhnlicher Mensch! Und was er alles weiss! Bin ich froh, dass ich ihm alles erzählt habe! Mich nimmt es wunder, woher sein Name kommt. Sascha Fraenkel tönt russisch und jüdisch, aber er spricht schweizerdeutsch, etwas zwischen dem Berner und Luzerner Dialekt. Vielleicht frage ich ihn nächstes Mal.

Werners Projekt und Erikas Traum
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29.  Werners Projekt und Erikas Traum
Im Dezember wurde bei Werners Arbeitgeber Landis & Gyr der Besuch einer Dreierdelegation aus den Niederlanden erwartet. Zuhause sass Werner fast jeden Abend nach der Arbeit hinter seinen Plänen für die Fernsteuerung in der Universitätsstadt Leiden. Werner arbeitete ziemlich langsam, dafür äusserst genau. Erikas Vorwurf, das gemeinsame Leben leide unter seiner Arbeitswut, parierte Werner mit der Bemerkung, es handle sich bei diesem ehrgeizigen Projekt um einen sehr grossen Auftrag für die Landis & Gyr; ja für die Schweizer Elektroindustrie überhaupt.
An diesem Sonntag im November war es bewölkt und nasskalt. Etwas Schnee lag auf den Strassen und Plätzen. Man hatte das Gefühl, es werde den ganzen Tag lang nicht richtig hell. Erika spielte Klavier im Esszimmer. Die Stehlampe im Wohnzimmer brannte den ganzen Morgen, Werner las die Zeitungen der vergangenen Woche.
In einer aussenpolitischen Rede in Mailand prägte der italienische Ministerpräsident und Duce, Benito Mussolini, den Begriff 'Achse Berlin- Rom' für das enge Verhältnis zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschen Reich. Die deutsche Reichsregierung legte eine weitere Anleihe über 500 Millionen Reichsmark für die Finanzierung der Rüstungsproduktion auf.
Werner seufzte: "Wir leben in einer hektischen, völlig unberechenbaren Zeit. Zum Glück verhalten sich die Niederlande neutral wie die Schweiz, sonst müssten wir noch um unser Projekt bangen." Erst jetzt hörte der unmusikalische Ingenieur von nebenan eine Klaviermelodie, die sogar ihm bekannt vorkam. Er wunderte sich, warum Erika seit ein paar Tagen immer guter Laune war und täglich Klavier spielte. Er ging hinüber ins Esszimmer. "Erika, was hast du soeben gespielt?"
"Oh, erschreck mich nicht so", rief sie zurück, "das Stück heisst Für Elise, von Beethoven."
"Schön, schön", stellte Werner fest.
Erika legte ihr Beethoven-Album aufs Klavier, klappte den Deckel zu und folgte ihrem Gatten zurück ins Wohnzimmer.
"Hoffentlich kommt es den Nationalsozialisten nicht in den Sinn, auch die Musik Beethovens zu verbieten. Die sind zu allem im Stande", ärgerte sich Werner.
Erika räusperte sich ein paar Mal. Werner fragte, ob sie sich erkältet habe. "Nein, ich bin ganz gesund", versicherte sie, "eh… weisst du, ich habe mit Sascha über meinen Kinderwunsch gesprochen."
Ach so, daher kommt ihre gute Laune. "Eine gute Idee, auf die wäre ich gar nicht gekommen. Und was meint er dazu?"
"Sascha will sich alles gut überlegen und dann mit uns darüber sprechen."
Das ist ja gut, so lässt sie mich damit in Ruhe, dachte Werner. "Ich hole den Ordner mit den Dokumenten zur Fernsteuerung, ich muss da noch was suchen."
Werners seltsame Reaktion auf eine so wichtige Nachricht verblüffte Erika sehr. Zugleich war sie erleichtert, dass er ihr Gespräch mit Sascha so gut aufgenommen hatte. Sie wunderte sich, warum Werner nicht mehr wissen wollten. Wahrscheinlich ist die Fernsteuerung für ihn das Allerwichtigste. Werner kam mit seinem Ordner unter dem Arm zurück, ergriff den gespitzten Bleistift und den weissen Rechenschieber, den er als Lineal zum Unterstreichen benutzte und vertiefte sich in seiner Arbeit. Erika las in ihrem Siddharta-Buch. Was hat es mit Träumen zu tun?
Auf einmal rief Werner leidenschaftlich: "Kannst du dir das vorstellen? Bald werden wir soweit sein, dass man beim Eindunkeln im Elektrizitätswerk auf einen Schaltknopf drückt und wie von Zauberhand geht in der ganzen Stadt die Strassenbeleuchtung an. Gestaffelt, damit das Netz nicht wegen einer Spitzenbelastung zusammenbricht. Das funktioniert noch nicht fehlerlos. Aber mit der Zeit werden alle grösseren Städte eine solche Fernsteuerung wollen. Ich freue mich, dass ich dafür zuständig bin. Im technischen Büro haben wir eine sehr schöne Zusammenarbeit. Nur der Verkauf, die versprechen immer mehr, als wir halten können. Das setzt uns alle unter einen enormen Druck. Diese Leute würde ich am liebsten – ach ja, ich hasse Unredlichkeit einfach wie die Pest!"
Erika dachte: So viel redet Werner selten aufs Mal. Sie spürte, wie wichtig diese Herausforderung für ihn ist. Sie war auch stolz auf Werner. Statt immer zu meckern, sollte ich ihn vielleicht auch mal unterstützen: "Das klingt ja fast wie ein Märchen! Jetzt verstehe, weshalb du so viel von deiner arbeitsfreien Zeit daran gibst. Ach ja, die Redlichkeit, bist ja nicht umsonst ein Pfarrerssohn!"
Auf dem Weg zu Saschas Vorlesung am darauf folgenden Freitag fragte Erika, ob er einverstanden sei, wenn sie sich nochmals von Sascha wegen dem Kinderwunsch beraten lasse. Werner beteuerte erneut, dass er das eine gute Idee finde, und lass mich wissen, was dabei herausgekommen ist.
Sascha war wieder einmal in seinem Element. Philosophie müsse die übergeordneten Sinnzusammenhänge finden, das Alltägliche und Vergängliche im Grösseren erblicken, dazu  gehöre Bescheidenheit und Ehrfurcht, das Eigensinnige draussen zu lassen, sei vielleicht das, was man Weisheit nenne. Erika notierte in ihr Notizbuch: Für das Wissen braucht man das Auge, für die Weisheit das Herz.
Nach dem Vortrag kam man wieder in der Schmitte zusammen. Als man sich verabschiedete, fragte Erika Sascha leise, ob er sich schon Gedanken zu ihrem Problem gemacht habe. Ob sie sich ein weiteres Mal treffen könnten. Sascha schaute Werner fragend an. Werner nickte zustimmend und sagte, er finde das eine gute Idee. Sascha versprach Erika, wieder am Mittwochnachmittag zu kommen. Dann wollte er wissen, wie es mit dem geplanten Skiausflug stehe, Schnee hätte es ja genug. Werner bedauerte, nicht mitkommen zu können. Die Zeit bis zum Abschluss der Planungsarbeiten werde langsam knapp. "Erika aber wird sicher gerne mit dir eine Skitour machen", sagte Werner, "meine Frau ist eine gute Skifahrerin."
Wie sie hörte, was Werner eben sagte, erschrak Erika. Sie begriff aber nicht, weshalb sie bei der Vorstellung, mit Sascha einen Skiausflug zu machen, rot wurde und ihr Herz heftig zu schlagen begann. Schnell gab sie Sascha die Hand zum Abschied, auch Werner verabschiedete sich.
Erika konnte lange nicht einschlafen. Die Vorstellung, mit Sascha allein auf den Skiern unterwegs zu sein, raubte ihr die Ruhe. Hin und her gerissen zwischen Vorfreude mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch und einer tief sitzenden, unerklärlichen Angst wälzte sie sich im Bett. Sie nahm sich vor, auf keinen Fall ohne Werner mit Sascha mitzugehen. Kaum gedacht, spürte sie schon Reue und Enttäuschung. Fühlte sich zugleich schuldig. Ich bin doch mit Werner verheiratet. Sie hörte die Mutterstimme: _Was würden bloss die Leute sagen._ Sie rechtfertigte sich: Sascha ist Psychologe und Lebensberater. Er hat nur beruflich etwas mit mir zu tun. Überhaupt weiss ich nichts über diesen Sascha. Und es ist ja nur ein harmloser Skiausflug! Warum harmlos? Mit diesen tröstlichen Gedanken schlief Erika doch noch ein.
In grosser Unruhe erwachte sie mehrmals, zählte die Schläge der Kirchenglocken, döste weiter, drehte und wälzte sich im Bett. Sie schreckte erneut auf, als sie eine Dompteuse im ärmellosen, eng anliegenden, feuerrot glitzernden Zirkuskleid im Schlafzimmer stehen sah. Erika schrie: "Werner, Werner, wach auf, es ist jemand da!" Werner antwortete nicht. Erika öffnete die Augen und stellte fest, dass Werner schon zur Arbeit gegangen war.
Du meine Güte, war das ein Traum! Nur ein Traum. Erika seufzte erleichtert und blieb noch ein wenig liegen. Jetzt kam ihr die ganze Traumgeschichte in den Sinn: Ich bin mit fremden Kindern in einer recht dunklen Strasse in der Neustadt in Luzern. Ein Elefant ist aus dem Zoo entwichen. Er kommt auf uns zu. Ich bin überzeugt, dass ich den Elefanten beim Rüssel packen und ihn wegführen kann. Ich erzähle den Kindern, wie man einen Elefanten führt. Als der Elefant aber in seiner ganzen Grösse vor uns steht, fürchte ich mich. Ich erinnere mich, dass es heisst, Elefanten würden den Menschen auf den Füssen herumtrampeln, dass man daher im Umgang mit Elefanten gute Schuhe brauche. Und wir alle tragen bloss Sandalen. Schnell betrete ich ein Geschäft an der Moosstrasse und fordere die Verkäuferin auf, dem Zoowärter zu telefonieren und ihn zu bitten, den Elefanten zurückzuholen. Die Verkäuferin tut das. Ich trete wieder auf die Strasse hinaus und rufe alle Kinder zusammen. Ich bringe die Kinder in einem Zimmer in Sicherheit. Dort sage ich ihnen, sie sollen die Schuhe ausziehen und sich verteilt auf die beiden vorhandenen Betten legen. Die Kinder tun das. Unterdessen geben sich draussen Erwachsene mit dem Elefanten ab. Mir kommt es in den Sinn, dass Werner mit Sandalen an den Füssen auch draussen ist. Ich will ihn hereinrufen. In diesem Moment drückt der Elefant seinen massigen Körper gegen das einzige Fenster im Zimmer. Das Fenster springt auf. Es gelingt mir nicht, das Fenster wieder zu schliessen. Ich bin nicht sicher, ob der Elefant durchs Fenster einsteigen kann. Jetzt nehme ich wahr, dass das Zimmer auf einem wackeligen Gerüst steht. Ich befürchte, dass das Gerüst unter dem Gewicht des Elefanten zusammenbrechen könnte. Nach längeren Zeit kommt endlich eine Dompteuse vom Zoo. Sie spricht mit dem Elefanten und führt ihn weg. Im Zimmer, wo ich mit den Kindern bin, finde ich auf dem Boden zwei Eheringe in verschiedener Form. Einer ist derjenige, den mir Werner am Hochzeitstag an den Finger gesteckt hatte. Den anderen Ring habe ich noch nie gesehen.
Erika kleidete sich an wie in Trance. Der Traum ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie telefonierte Marti und erzählte ihr den Traum. Und die verzweifelte Stimmung, in der sie sich befinde. Marti meinte, diese Geschichte könnte aus Tausendundeine Nacht stammen. Marti wollte wissen, ob Sascha nochmals zu Besuch komme.
"Ja, am nächsten Mittwoch. Am Nachmittag. Ich habe nochmals ein Gespräch ohne Werner gewünscht, weil ich befürchte, dass die Männer nur über Technik und Ethik philosophieren würden. Dass ich einmal mehr mit meinem Herzanliegen übergangen würde."
"Damit hast du recht", versicherte Marti, "wir müssen für unser Recht einstehen. Und Diesen legendären Sascha möchte ich endlich auch kennenlernen. Hat er was von einem Elefanten?"
"Nein, er hat etwas von einem Künstler, und er weiss, was sich ziemt." Erstaunlicherweise waren die Bedenken wegen der Skitour allein mit Sascha unversehens verflogen. Sie schlug Marti vor, mit Fritz auf den Skiausflug mitzukommen. Marti sagte, dass Fritz wieder jeden Sonntag den ganzen Tag beim Training sei und deshalb nicht mitkommen könne.
"Aber ich würde gerne mit dir, Werner und Sascha Ski fahren. Dann könnte ich endlich diesen Sascha kennenlernen. Ich bin echt neugierig. Übrigens, hast du gefragt,  weshalb er einen jüdischen Namen hat?"
"Sicher nicht, das fragt man doch nicht einfach so!"
"Kann man schon, mit etwas Mut!"
"Macht man nicht, mit etwas Anstand!"
Die Freundinnen begannen am Telefon darüber zu streiten, was sich in diesem Fall ziemt und was nicht. Nach einer Weile mussten sie über ihre Rechthaberei lachen. Marti nahm Erika das Versprechen ab, Sascha in die Skitour-Pläne zu dritt einzuweihen.
Vor dem nächsten Treffen mit Sascha war Erika weniger wegen der Fortsetzung des Gesprächs zum Thema Kinderlosigkeit aufgeregt, es war vielmehr die geplante Skitour, die ihr zu schaffen machte: Für Mama wäre es unverzeihlich, dass ich als verheiratete Frau mit einer Freundin und einem fremden Mann einen Skitag verbringe. Was würden die Leute sagen? Aber was, wenn der vertrauensselige Werner meinen Eltern davon erzählt? Eine Katastrophe wäre das. Aber ich hab auch ein Recht auf mein eigenes Leben! Was immer ich tue, es stimmt einfach nicht.
Eine Traumdeutung
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30.  Eine Traumdeutung
Am Mittwoch bereitete Erika nach dem Mittag einen Tee vor. Stellte den Teekrug zum Warmhalten unter eine wattierte Stoffhülle auf den Salontisch im Wohnzimmer, daneben zwei Tassen und die Zuckerdose. Die Türglocke läutete. Erika öffnete und Sascha kam mit einem von der Kälte gerötetem Gesicht herein. Die beiden begrüssten sich herzlich.
Im Wohnzimmer schenkte Erika Tee ein. Sascha erzählte, dass er am Morgen in der Bibliothek zum Thema Brauchtum geforscht habe, um herauszufinden, welche Bewandtnis der heutige St. Martins Tag, der 11. November, habe. "An vielen Orten wird der Tag mit Laternenumzügen und Martinigänsen gefeiert, im Städtchen Sursee mit der Gansabhauet. Ich liebe Legenden und Märchen wegen ihrer tiefen Weisheit. Sie können uns helfen, uns in der Welt zu orientieren. Oberflächlich finden wir Vorstellungen von Gut und Böse; in der Tiefe aber sprechen ihre Symbole vom Weg des Menschen zur geistigen Reife. Dieses Seelenwissen verbindet uns mit der ganzen Menschheit. Mein Lehrer, Carl Gustav Jung, nannte Märchen und Träume einen Spiegel, in dem wir uns selber in unseren verschiedenen Situationen mit unseren Wünschen und unseren Kämpfen betrachten können."
Erika hörte gebannt zu. Die Erinnerung an ihren Traum vom Elefanten und den beiden Eheringen war wieder ganz lebendig da. "Leider ist es sehr schwierig, die eigenen Träume zu verstehen."
"Warum sagst du das? Gibt es einen Traum, den du nicht deuten kannst?"
Selber verwundert über ihren unerwarteten Mut vertraute sie Sascha den Elefantentraum an. Sascha stellte ihr einige Fragen zu den Traumfiguren und zu ihrer eigenen Befindlichkeit im Traum. Erika beantwortete alle Fragen ohne Scheu. Sascha meinte, dass es in ihr wahrscheinlich eine grosse Kraft gebe, die Einlass in ihr Bewusstsein suche. Schelmisch lächelnd gab er ihr den Rat, solide Schuhe anzuziehen, einen Spaziergang zu machen und mit der roten Dompteuse samt dem Elefanten freundlich zu reden.
Erika musste lachen. "Und was ist mit den beiden Eheringen gemeint?"
Sascha sagte, dass es sich wahrscheinlich um einen Konflikt zwischen Vertrautem und Unbekanntem handle und schlug vor, dass man sich beim nächsten Treffen, wenn auch Werner dabei sei, mäher darüber unterhalten könne. "Mach vorerst einen Schneespaziergang und schau, ob du den Elefanten triffst!"
Als Erika Schneespaziergang hörte, kam ihr die Skitour in den Sinn; und dass sie Sascha fragen sollte, ob er mit ihr und Marti mitkäme. Sie wusste nicht, wie damit beginnen und begann unbeholfen: "Es hat schon recht viel Schnee gegeben."
"Ja, durchaus! Auch darum braucht es gute Schuhe!" fuhr Sascha fröhlich weiter.
"Skischuhe braucht es für Skitouren!"
Beide schauten einander zuerst perplex an und brachen dann in schallendes Gelächter aus. So fiel es Erika leicht, Sascha in den Plan einzuweihen, Marti auf die Skitour mitzunehmen. Sascha klatschte in die Hände und zeigte auf diese Weise seine Freude über den Vorschlag. Erika klärte Sascha auch darüber auf, dass Hans wegen seines Schlittschuh-Trainings nicht mitkommen könne, und Werner wegen des Abgabetermins seines Fernsteuerungs-Projektes ebenfalls nicht.
"Hoffentlich kann ich den sportlichen Damen beim Aufstieg folgen", witzelte Sascha und steckte Erika mit seinem Übermut an. Sie einigten sich zuerst auf die Klewenalp als zu fahren. Von dort aus sollte es weiter zum Brisenhaus hinauf gehen. Beide kannten diese Tour schon und wussten, was sie erwartete. "Wie praktisch sind diese Seehundfelle, die man an die Skier schnallt! Sag' deiner Freundin, sie soll die Felle für den Aufstieg zum Brisenhaus nicht vergessen." Sascha wurde auf einmal nachdenklich: "In Russland handelte mein Grossvater mit Pelzen, ich hab’s auch versucht – wir haben beide viel Geld verloren. Dafür gewinne ich jetzt einen Ausflug in die Schweizer Berge in Begleitung von zwei charmanten Damen!"
Für Marti wäre das jetzt der Moment, Sascha über seine Herkunft und seinen Namen auszufragen, überlegte sich Erika, getraute sich selbst aber nicht zu fragen. Stattdessen fragte sie Sascha, ob sie Tee nachschenken dürfe.
"Ja gerne", sagte er, "leider ist es aber schon fast wieder Zeit zum Gehen für mich. Danke Erika, dass du mir deinen Traum erzählt hast. Träume weiter und schreibe deine Träume auf! So kannst du dich in deinen eigenen Zauberspiegel erkennen!" Gut gelaunt trank Sascha seinen Tee aus und verabschiedete sich.
Erika fühlte sich nach Saschas Besuch ausgelassen und heiter. Dass das Thema Kinderlosigkeit überhaupt nicht zum Zug kam, wurde ihr erst jetzt bewusst. Sie lächelte in sich hinein. Dieser Mann steckt voller Überraschungen! Und er benimmt sich gar nicht wie ein Schweizer. Ob das 'sklavische Eleganz' ist?
Am Abend berichtete sie Werner von Saschas Besuch. "Das nächste Mal treffen wir uns zu dritt", sagte Erika froh und fragte, ob er wisse, was eine Gansabhauet sei."
"Irgendwas barbarisch Katholisches, vielleicht?"
"Fast getroffen", lachte Eri, "falls das St. Martin’s Fest barbarisch ist."
"St. Martin? Ist das heute? In der Bibel steht, dass Martin seinen Mantel einem Bettler aus Nächstenliebe gab. Eine schöne Legende", kommentierte Werner, und fragte nachdenklich, "hätte Martin seinen Mantel auch geteilt, wenn der Bettler ein Jude gewesen wäre?"
"Sprichst du von den jüdischen Flüchtlingen, die jetzt zu uns in die Schweiz kommen? Bei uns werden doch diese vertriebenen Menschen gut aufgenommen, auch wenn sie Juden sind, oder nicht?"
"Das wollen wir hoffen", sagte Werner nachdenklich. Wer ihn kannte, ahnte, dass da eine grosse Geschichte unausgesprochen blieb. Werner war kein Mensch vieler Worte.
Am nächsten Morgen nahm Erika sich vor, für sich selbst einen neuen Skipulli zu stricken, besuchte sogleich das Wollestübli und wählte drei Stränge weiche Schafwolle aus.  Im Esszimmer stülpte sie eine Strange Wolle über die Stuhllehne und wand die Fäden zu einem Knäuel auf. Dabei erinnerte sie sich, dass ihre Mama jeweils zwei oder drei Haselnüsse, dazu ein Zwanzigrappenstück in den Wollknäuel mit eingewickelt hatte. Als Belohnung für das fleissige Strickmädchen.
Die Tage kamen und gingen. Werner war ständig in seine Arbeit vertieft und Erikas Skipullover nahm Gestalt an. Während des Strickens liess Erika ihrer Fantasie freien Lauf. Immer wieder verlor sie sich in aufregenden Tagträumen, in denen Sascha vorkam. Wenn sie sich dessen gewahr wurde, fühlte sie sich schuldig, tröstete sich aber damit, dass es ja nur Träume seien. Ein ungutes Gefühl blieb trotzdem.
Mittwoch, 2. Dezember. Erika hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Ich glaube, ich habe Lampenfieber, weil Sascha heute Abend zu uns kommt. Am späteren Nachmittag läutete es. Erika erschrak. Du meine Güte, Sascha kommt jetzt schon! Das Blut stieg ihr in den Kopf. Sie sprang auf und öffnete die Wohnungstüre. Draussen stand ihre Mama. "Guten Tag, Erika, weshalb bist du so rot? Bist du am Putzen? Ich bringe eine Überraschung!" Zielstrebig ging Emma an ihrer Tochter vorbei in die Küche, stellte ihre schwarze Einkaufstasche auf den Tisch und hob acht sorgfältig in ein Küchentuch eingewickelte Eier heraus. die Eier einer Bäuerin ab. Die Hälfte davon legten wir selber ein und diese 8 Eier sind für euch."
Erika freute sich und dachte sogleich an die Mailänderli, die sie mit den Eiern fürs Weihnachtsfest backen würde. "Mama, hilfst du mir, das Wasserglas aufzuschlagen?" Erika und holte das graue Gefäss aus Steingut mit einer blauen, unregelmässigen Wellenlinie verziert, aus dem Küchenkasten. Aus dem Putzkästchen im Badezimmer brachte sie das Wasserglaspulver. Emma goss Wasser ins Gefäss und gab eine gewisse Menge der Alkali-Silikat-Lösung dazu. Erika schlug die Mischung mit einem Schwingbesen auf bis das halbfeste, gallertartige Wasserglas bereit war. Die Frauen legten die nun haltbar gemachten Eier sorgfältig in die klare Lösung.
Erika freute sich und dachte sogleich an die Mailänderli, die sie mit den Eiern fürs Weihnachtsfest backen würde. "Mama, hilfst du mir, das Wasserglas aufzuschlagen?" Erika und stellte das graue Gefäss aus Steingut, das mit einer blauen Wellenlinie verziert war, auf den Küchentisch. Aus dem Putzkästchen im Badezimmer holte sie das Wasserglaspulver. Emma goss Wasser ins Gefäss und gab eine gewisse Menge der Alkali-Silikat-Lösung dazu. Erika schlug die Mischung mit einem Schwingbesen auf bis das halbfeste, gallertartige Wasserglas bereit war. Die Frauen legten ein Ei nach dem anderen sorgfältig in die klare Lösung.
Erika machte einen Tee. Mutter und Tochter hielten ihren Schwatz ab. Mit den Eiern im Topf begleitete Erika ihre Mutter zur Haustüre, verabschiedete sie und stieg in den Keller hinunter. Dort stellte sie den Eiertopf aufs Gestell. Befriedigt begutachtete sie ihre Wintervorräte: Eier im Wasserglas, den oben spitz zulaufende, in dickes, blaues Papier eingepackte Zuckerstock, einige Gläser mit Konfitüre aus Früchten vom Pfarrhausgarten in Utzenstorf, vier Gläser mit sterilisierten Birnenhälften. Auf der Holz-Hurde lagerten Kartoffeln und Äpfel, daneben Zwiebeln.
Werner kam nach Hause. Am Esstisch, bei Makronen mit Zwiebelschweize, plapperte Erika vor lauter Aufregung wegen des bevorstehenden Treffens mit Sascha wild drauflos. Sie erzählte von Mamas Besuch, den geschenkten Eiern und vom Weihnachtsgebäck. Nach einer Weile gab Werner einmal mehr die Geschichte von seiner Geburt zum besten: Meine mit mir schwangere Mama schob am 31. Mai im Jahr 1900 ein Blech voller Kleingebäck in den Backofen. Es verbreitete sich ein derart angenehmer Geruch, dass ich mich entschloss, noch am selben Tag auf die Welt zu kommen! Ich wurde auf den Namen Fritz getauft, aber alle nannten mich Werner, bei meinem zweiten Namen.
Erika und Werner lachten. Unvermittelt fragte Werner: "Weiss man eigentlich, wieso Sascha einen jüdischen Familiennamen hat? Auch sein Vorname kommt selten vor!" Erika schüttelte den Kopf und bereute es, dass sie Sascha nicht danach gefragt hatte.
Denkwürdige Zusammenkunft
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31.  Denkwürdige Zusammenkunft
Der Esstisch war ab- und die Küche aufgeräumt. Nachdem Erika ein zweites Mal mit Sascha unter vier Augen gesprochen hatte, erwarteten ihn heute Abend Werner und Erika, beide zusammen. Sascha kam mit einer kleinen Ledermappe unter dem Arm herein. Alle drei plauderten im Wohnzimmer ein wenig über das Wetter und den frühen Schnee. Sascha öffnete seine Mappe und zog ein Buch heraus. "Das ist Der Zauberberg von Thomas Mann. Heute war ich in der Flora-Buchhandlung an der Pilatusstrasse und wählte dieses Buch als Gastgeschenk für euch aus. Der Buchhändler hatte neben der Kasse Bücher von Thomas Mann aufgelegt. Allen, die es hören wollten, erzählte er vom traurigen Schicksal des Schriftstellers. Der in Küsnacht bei Zürich lebende deutsche Schriftsteller sei mit seiner Familie vom nationalsozialistischen Regime ausgebürgert worden. Der ihm 1919 verliehene Ehrendoktor hätte man ihm entzogen, weil er die Bürger und die sozialistischen Kräfte dazu aufrief, mit vereinten Kräften den faschistischen Fanatismus abzuwehren. Man sollte Thomas Mann gerade jetzt lesen! Ich glaube, das Buch steht noch nicht in eurem Bücherschrank."
"Die Buddenbrooks ist das einzige Buch, das wir von Thomas Mann haben", sagte Erika.
Ein Lächeln huschte über Werners Gesicht. Feierlich sagte er: "Mit dem Zauberberg ist heute der Grundstein für unsere neue Freundschaft gelegt worden!"
Sascha reagierte sichtlich erfreut. "So wollen wir als Freunde zusammen über das Problem reden, dass ihr keine Kinder bekommen könnt!"
Beide, Erika und Werner, kamen zum Zug und berichteten, was die Tatsache der Kinderlosigkeit für sie bedeutete. Ein Wort gab das nächste und Sascha war ganz der aufmerksame Zuhörer. Endlich war alles ausgesprochen.
Sascha eröffnete Erika und Werner dann seine Idee: "Ich habe mir alles ganz gut überlegt. Ich bin auf einen zugegeben etwas aussergewöhnlichen Vorschlag zur Lösung dieser Schwierigkeit gekommen. Es ist eine ziemlich verrückte Idee. Es ist nicht etwas, das man üblicherweise tut, aber aus meiner Sicht ist es ethisch vertretbar – und nach einer Pause – ich befürchte jedoch, dass ich euch damit erschrecke."
Bemüht, sich möglichst unbeschwert zu geben, forderte Werner Sascha auf: "Heraus mit der Sprache! Sage uns, was du dir überlegt hast!"
Sascha schaute Erika in die Augen und fragte sie, ob auch sie einverstanden sei, wenn er den ungewöhnlichen Plan erläutere. Sie wurde rot und nickte zustimmend.
Sascha blieb eine Weile lang still, dann schaute er Werner eindringlich an. "Also gut, Werner, mein Vorschlag ist, dass ich mit deinem Einverständnis an deiner Stelle mit Erika ein Kind zeuge. Ihr beide wärt selbstverständlich die Eltern des Kindes und das Kind würde euren Familiennamen tragen. Wir müssten zusammen einen Vertrag machen, den wir alle drei unterschreiben. Darin würden wir festhalten, dass die Beziehung zwischen Erika und mir nur so lange dauern soll, bis ein Kind gezeugt ist. Wenn wir alle mit diesem Vertrag unser gegenseitiges Einverständnis bezeugen, sehe ich ethisch und moralisch kein Hindernis."
Erikas Herz klopfte wie wild. Ihr wurde abwechselnd heiss und kalt. So etwas darf man doch nicht machen, war ihr erster Gedanke dazu. Sogleich wurde sie von wilden Gefühlen überrollt. Das geht doch nicht; es ist unmöglich, was würden die Leute sagen, wenn das meine Mutter wüsste, aber schön wäre es schon. Ich bekäme ein Kind und hätte mit Sascha eine intime Beziehung. Und Werner! Werner ist ganz sicher nie und nimmer damit einverstanden.
Werner runzelte die Stirne und dachte seinerseits lange nach: Wenn Erika dank Saschas Einspringen endlich schwanger würde, hätte sie ihre Freuden und Pflichten als Mutter und eine Aufgabe. Und ich könnte ungestört arbeiten. Aber Erika wird mit diesem Plan wohl kaum einverstanden sein.
Sascha dachte, mir wäre eine intime Beziehung mit Erika, dieser attraktiven, intelligenten Frau willkommen, sehr sogar, doch nur wenn Werner sein volles Einverständnis gibt. Meine Freiheit ist nicht gefährdet und trotzdem hätte ich die Freuden der Liebe; aber ohne lästige Verpflichtungen.
Erika schaute auf ihre Fussspitzen.
Werner lehnte sich zurück.
Sascha wartete.
Als Erster sprach Werner: "Was du uns eben eröffnet hast, Sascha, trifft uns natürlich unvorbereitet. Mir selber wäre diese Lösung nicht in den Sinn gekommen. Wenn ich es mir aber recht bedenke, sehe ich auch kein Hindernis dabei. Dein ungewöhnlicher Vorschlag ist originell und klug. Uns wäre sehr geholfen damit."
Beide Männer schauten Erika an. Sie spürte ein Kribbeln im Bauch, weil sie sich vorstellte, eng umschlungen neben Sascha zu liegen. Sie erschrak. Auf gar keinen Fall gebe ich diese Gefühle zu! Sie atmete tief ein und aus und sagte mit zitternder Stimme: "Als verheiratete Frau und überhaupt kann ich das nicht machen. Es geziemt sich einfach nicht. Was würden die Leute von mir denken, wenn es bekannt würde!" Kaum hatte sie das ausgesprochen, füllte eine Welle von Traurigkeit ihre Augen mit Tränen.
Sascha antwortete: "Was sich moralisch geziemt oder nicht, was die Leute denken oder sagen, das ist nie die Frage. Sitte und Moral ändern sich sowieso von Land zu Land. Allein entscheidend ist die Frage, ob unser Tun ethisch richtig ist. Und die müssen wir selber beantworten. Unser eigenes Gewissen entscheidet. Dafür ist der Vertrag zwischen uns vorgesehen. Mit dieser Abmachung können wir unser Handeln ethisch verantworten."
Erika fiel ein Stein vom Herzen. Sie dachte sofort: Also steht einer intimen Beziehung mit Sascha vielleicht doch nichts im Weg! Werde ich möglicherweise doch noch Mutter?
Werners Hauptanliegen war, dass man absolut dafür besorgt sein müsse, dass nie jemand etwas davon erfahre. Vor allem das Kind dürfe es nie wissen. Alles andere ergebe sich wohl von selbst.
Alle waren eine Zeitlang in ihre Gedanken versunken. Als erster sprach Werner wieder: "Ich finde Saschas Vorschlag gut. Und du, Eri, siehst du es auch so?"
"Ja, ich auch", sagte Erika leise. Sie spürte, dass sie hemmungslos weinen müsste, wenn sie nur ein Wort mehr dazu sagen müsste. Während Erika mit ihren Tränen kämpfte, verhandelten die beiden Männer über den Inhalt des Vertrags. Erika hörte kaum zu. Sie war völlig durcheinander und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie ein lange aufgestauter Bach flossen sie und tropften auf ihr Kleid. Werner war das peinlich. Man sah es ihm an. Sascha überlegte sich, wie er der Situation die Schärfe nehmen könnte. "Erika, wenn ich deine Tränen sehe, kommt mir ein jüdischer Witz in den Sinn. Wollt ihr ihn hören?"
"Ja, erzähl!" forderte ihn Werner auf.
"Der Schüler spricht zu Melamed: Wie entsteht eigentlich der Regen? – Weisst du, die Wolken sind eine Art von riesigen nassen Schwämmen. Wenn sie nun bei Wind aneinander stossen, dann ist es, wie wenn Schwämme ausgepresst werden, und dann kommt das Wasser heraus. – Wirklich? Und könnt Ihr es beweisen? – Nu, du siehst doch, es regnet!"
Der Bann war gebrochen. Zuerst lachte Werner, dann stimmte Sascha ein, und Erika kicherte unter Tränen.
"Woher hast du eigentlich deinen jüdischen Namen", fragte Werner.
Sascha räusperte sich. "Mein Vater heiratete meine jüdische Mutter aus dem russischen Reich. Meine Mutter starb früh, als ich noch sehr klein war. Mein Vater brachte mich in die Schweiz zu Verwandten im Kanton Aargau. Ich wuchs bei meiner Tante und meinem Onkel auf, wie ihr bereits wisst." Es war das erste Mal, dass Sascha über seine Herkunft erzählte.
Während Erika und Werner noch der eben gehörten Überraschung nachsannen, holte Sascha die beiden aus ihren Gedanken heraus: "Ich habe einen Vertrag aufgesetzt. Wir sollten ihn freilich noch einem guten Freund von mir, einem Juristen in Zürich, zur Begutachtung vorlegen". Erika und Werner waren damit einverstanden. Beide stimmten zu. Danach legte sich eine gedankenschwere Stille über die drei Verschworenen.
Endlich sagte Werner: "Ja, lass das Schriftstück vom Juristen begutachten, natürlich unter allergrösster Diskretion!"
Ein geheimer Beobachter hätte sehen und fühlen können, wie die Nachricht von diesem Vertrag nicht bloss bei drei verschiedenen Personen, sondern auch in drei völlig unterschiedlichen Welten angekommen war. Sascha sinnierte, ob diese Abmachung tatsächlich eine Frage der Ethik sei. Werner dachte daran, dass er bald wieder nach Holland reisen wird, darauf freue ich mich! Und Erika schwamm in einem schwarzen Loch, was werden die Leute bloss denken?
Feierliches Versprechen
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32.  Feierliches Versprechen
Alles begann mit Saschas verrücktem Vorschlag. Ein paar Tage später brachte er den Vertragsentwurf vorbei. Die Drei besprachen jeden Punkt eingehend und brachten wenige kleine Änderungen an bis alle sicher waren, dass sie dahinter stehen konnten. Schlussendlich unterschrieben Erika, Werner und Sascha den Vertrag.
Mit der Abmachung wurde festgehalten, dass Erika und Sascha mit Werners Einverständnis so lange eine intime Beziehung haben sollten, bis Erika schwanger würde. Nachher solle die Beziehung beendet werden. Es gelte lebenslang ein absolutes Stillschweigen darüber. Ein aus dieser Beziehung entstandenes Kind trage den Familiennamen seiner Eltern, Werner und Erika König-Wickart. Die Vertragspartner versprachen sich, dem Kind nie etwas von diesem Vertrag zu verraten und das Dokument sofort nach seiner Geburt zu vernichten.
Werner stellte eine Flasche Wein auf, und das Terzett begoss den Vertragsabschluss als die gute Idee und ideale Lösung für alle drei Beteiligten.
Nein, nein, ich bin nicht verliebt in Sascha, redete sich Erika ein, Sascha hegt absolut sicher keine besonderen Gefühle für mich. Es geht nur darum, dass ich schwanger werde und dass Werner und ich ein Kind haben. Unter diesen vernünftigen Gedanken spürte sie ein Kribbeln, Ziehen und Drängen, welches nicht zur Ruhe kommen wollte. Werner und Sascha waren beide überzeugt, dass der Vertrag ethisch und moralisch vertretbar sei, da man das Richtige und das Falsche sorgfältig abgewogen habe. Erikas Gefühle waren nicht so eindeutig. Immer wieder musste sie sich selber bestätigen: Kein Mensch erfährt je etwas von dieser Abmachung, von unserem Vertrag. Das haben wir uns gegenseitig versprochen. Damit beruhigte sie sich für eine Weile. Ihr Denken drehte sich mehr und mehr um Sascha. Einerseits freute sie sich, dass dieser Vertrag zu Stande gekommen war, andererseits bedrückte sie die Aussicht auf die besondere Beziehung mit Sascha immer mehr, besonders die Vorstellung davon, dass ihre Mutter dahinter kommen könnte. Erika war vollends durcheinander, als sie sich bald eingestehen musste, dass sie sich trotz allem mehr und mehr auf das Zusammensein mit Sascha freute, ja, dass sie es bald nicht mehr erwarten konnte.
Am 19. Dezember war der letzte Vortragsabend im Volkshaus. Viele Zuhörer bedauerten das Ende der Vortragsreihe und äusserten sich dementsprechend. Sascha versprach, abzuklären, ob im Frühling weitere Vorlesungen angeboten werden könnten. Werner und Erika stellten sich vor, dass man nachher wie gewohnt ins Wirtshaus Zur Schmtte gehen würde. Sascha sagte aber, er möchte Erika und Werner nach Hause begleiten, um etwas Wichtiges zu besprechen.
Im Wohnzimmer an der Bundesstrasse packte Sascha den Vertrag aus. Mein Freund in Zürich, der Rechtsanwalt, hat unseren Vertrag durchgelesen. Er hat mich mit allem Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass das, was wir vorhaben, strafbar sei. Es handle sich um Urkundenfälschung, wenn das Kind den Familiennamen König erhalte.
Mitternacht war schon vorbei, als Werner, Sascha und Erika sich darauf einigten, dass nichts passieren könne, wenn alle drei absolutes Stillschweigen bewahrten. Die Sache dürfe nie auskommen. Damit sei die Gefahr wegen Urkundenfälschung entdeckt zu werden gebannt. Werner, Sascha und Erika gaben sich noch einmal feierlich das Versprechen, nie und niemandem je etwas von diesem Abkommen zu verraten.
Der Druck und Erikas schlechtes Gewissen nahmen nach diesem besonderen Tag zu, aber auch die Vorfreude und das Verlangen, endlich die vertraglich abgesegnete Beziehung aufzunehmen. In der Erkenntnis vergisst man Für und Wider, wenn das Herz richtig ist. Dieser Satz, der in Erikas Notizbuch stand, ging ihr kaum mehr aus dem Kopf und beruhigte sie immer wieder eine Zeit lang. Bald werde ich wissen, wie es ist, dachte sie. Erika bürstete ihr lockiges Haar jeden Morgen ausgiebiger und schaute sich länger im Spiegel an. Haben meine Freundinnen vielleicht Recht, wenn sie meinen, ich sähe gut aus? Erika kleidete sich mit besonderer Sorgfalt und bat ihre Mutter, ihr ein neues Wollkleid zu nähen. Mama, die Schneiderin fand, etwas Dunkelrotes passe gut. Es sei eine gute Idee, fürs bevorstehende Weihnachtsfest ein schönes Kleid zu haben. Erika hätte aber mit diesem Wunsch etwas früher kommen sollen. Emma fing am selben Tag mit Nähen an.
Erika und Marti telefonierten häufiger. Einmal besuchte Marti Erika in Luzern und ein anderes Mal reiste Erika nach Zürich-Seebach. Wie gut, dass es Marti gibt, ihr kann ich alles anvertrauen - fast alles - sie hat immer praktische Ideen bereit! Auch mit Renée telefonierte Erika mehrmals. Während der Weihnachtsferien besuchte Renée die Königs in Luzern.
Erika überlegte hin und her, was im Falle einer Schwangerschaft zu tun wäre, da Marti und Renée beide wussten, dass Werner kein Kind zeugen konnte. Ich muss mich unbedingt an die mit Werner und Sascha vereinbarte Schweigepflicht halten. Was wäre aber, wenn ich wirklich schwanger würde? Erika grübelte tagelang darüber nach, ob sie eigentlich bald ein Kind erwarten möchte oder ob es ihr doch nicht so eile damit. Würde ich schwanger, wäre ich den Freundinnen eine Erklärung schuldig. Und wenn ich schwanger würde, bedeutete das, dass die Beziehung zu Sascha beendet würde. Ich verstehe mich selber nicht mehr, ich weiss nicht mehr, was ich eigentlich möchte! Monatelang wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Kind und jetzt habe ich Angst davor.
Das Kaffeekränzchen mit Marili und Lilly in Lillys Wohnung im gemütlichen Holzhaus an der Keramikstrasse in Ebikon war ganz unbeschwert. Die Freundinnen erzählten einander, was sie alles erlebt und erreicht hatten. Erika behauptete, sie habe nicht viel zu erzählen, denn ihr Hausfrauenleben sei eher eintönig. Stattdessen erzählte sie von Werners bevorstehender Geschäftsreise in die Niederlande und von ihrem neuen dunkelroten Wollkleid. Wieder zuhause, hatte Erika das Gefühl, ihre Freundinnen belogen zu haben. Ich habe doch überhaupt nichts Unwahres gesagt, dachte sie immer wieder. Das mulmige Gefühl hielt länger an.
Sascha verbrachte jeden Sonntag mit Erika und Werner an der Bundesstrasse. Die Männer diskutierten über die Welt und Gott, Ethik und Technik und alles, was dazu gehört, natürlich auch über Politik. Erika kochte jeweils ein feines Sonntagsessen. Die Stimmung war familiär und harmonisch. Sascha kündigte an, dass er während der Festtage bei seiner Tante und seinem Onkel in Zürich wohne und erst wieder am 8. Januar anlässlich der Wiederaufnahme der Vortragstätigkeit nach Luzern zurück komme. Erika war enttäuscht, Sascha eine längere Zeit nicht mehr sehen zu können, verbot sich dieses Gefühl aber sofort.
Werner erkundigte sich nach Saschas Eltern. Entgegen seiner Gewohnheit war Sascha mit seiner Antwort eher wortkarg. "Wie schon gesagt, ist mein Vater gestorben. Meine Mutter starb später. Darum sind die Tante und der Onkel am Zürichberg oben wie Eltern für mich."
Erika hätte gerne mehr über Saschas Familie und seine Herkunft erfahren, aber sie scheute sich, danach zu fragen und auch Werner fragte nichts weiter. Sascha wechselte das Thema. "Der Druck auf die Juden im deutschen Reich nimmt drastisch zu. Mit Ausgrenzung und Hetzjagden sollen die Juden zur Auswanderung bewegt werden."
Erika hörte regelmässig die Nachrichten am Radio und las die Berichte in der Zeitung. Sie war bestens im Bild über die politische Situation, aber sie wollte nichts zur Diskussion beitragen. Sie befürchtete, die beiden Männer, welche siebzehn und elf Jahr älter als sie waren, würde ihre Meinung als Frau nicht interessieren.
Nachdem die Vereinbarung mit Sascha geregelt war, wirkte auch Werner ausgeglichener und zufriedener. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich auf die sonntäglichen Besuche Saschas sehr freute und versicherte Erika mehrmals, welch interessanter, liebenswürdiger Mensch dieser Fraenkel sei. «In Sascha haben wir einen ganz feinen Freund gewonnen. Er ist offen, ehrlich und meint es auf jeden Fall gut. Zudem ist er ein sehr anregender Gesprächspartner, meinst du nicht auch?» Werner fing an vom Projekt Leiden zu sprechen, dass er es im Januar mit zwei Kollegen aus seiner Abteilung in den Niederlanden vorstellen werde. Er schmunzelte. "Ich habe mit den Niederländern am Telefon ein paar Worte in Niederländisch gewechselt. Sie haben mich sogar verstanden!"
Erika nickte. Für mich ist Sascha vielleicht noch viel mehr als ein interessanter liebenswürdiger Mensch und ein guter Gesprächspartner. Und sofort waren die Schuldgefühle wieder da. Nein, so etwas darf ich nicht denken! Ich bin mit Werner verheiratet und seit das Thema Kind vom Tisch ist, haben wir es richtig gut zusammen.
Viktors Brautschau - Erika zieht Marti ins Vertrauen
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33.  Viktors Brautschau - Erika zieht Marti ins Vertrauen
Die freien Tage vergingen rasch mit Besuchen der Freundinnen, der Weihnachtsfeier bei Erikas Eltern und mit der zur Tradition gewordenen Reise nach Utzenstorf zu den Schwiegereltern, wo sich die ganze Familie König traf. Max wagte nach dem Konkurs seines Geschäfts einen Neustart mit Haushaltartikeln. Gegenstände zum Kochen und Putzen brauchen die Leute immer, egal ob Krise oder nicht, meinte er zuversichtlich. Seither lief sein Laden in Zofingen zufriedenstellend, der Dezember sei sogar sehr gut gewesen.
Kurz nach Neujahr läutete eines Abends das Telefon bei den Königs. Erika hörte Werner erstaunt rufen: "Bist du es wirklich? So eine Überraschung!"
Werner telefonierte länger. Offenbar erzählte ihm jemand eine lange Geschichte. Seinen Zwischenrufen entnahm Erika, dass ihn die Erzählung gleichermassen erstaunte wie auch erheiterte. Werner berichtete Erika nachher, dass ihm sein Freund, Viktor Weber, welcher mit ihm in Amerika war und dort blieb, eine fast unglaubliche Geschichte enthüllt habe.
"Ich möchte die Geschichte auch hören!" bat Erika und Werner erzählte ihr, was er von Viktor vernommen hatte.
Viktor wollte nach fünf Jahren in Amerika nicht wie Werner wieder in die Schweiz zurückkehren, sondern sich für immer im Land der unbegrenzten Möglichkeiten niederlassen. Er wurde Amerikaner und verdiente als Ingenieur bald recht viel Geld. Sein dreissigster Geburtstag war schon eine ganze Weile vorbei. Er fand es an der Zeit zu heiraten und eine Familie zu gründen. Er traf verschiedene junge Amerikanerinnen, fand aber immer wieder, diese könnten es nicht mit den Schweizerinnen aufnehmen. Während der Weihnachts- und Neujahrstage nahm Viktor zwei Wochen frei mit der festen Absicht, in der Schweiz auf Brautschau zu gehen. Von diesen zwei Wochen nahmen die Hin- und Rückreise mit dem Schiff je vier Tage in Anspruch. Viktor blieben also noch acht Tage für sein Vorhaben. Er wohnte in Zürich bei seinen Eltern. Täglich ging er in die Stadt um seine zukünftige Frau zu finden. Am fünften Tag schlenderte er dem Limmatquai entlang. Er bewunderte viele Frauen, grosse und kleine, elegante und interessante. Ein Schaufenster voller Uhren fesselte seine Aufmerksamkeit. Eine gute Gelegenheit, neben einer Braut auch noch eine Schweizer Uhr mit nach Amerika zu nehmen, dachte er und überlegte sich eben, ob er eine Omega oder eine Tissot kaufen sollte, als eine kleine Gestalt, das Gesicht tief im Pelzkragen ihres Mantels versteckt, einen modischen Hut auf dem Kopf anhielt und neben ihm ebenfalls die Uhren betrachtete. Viktor konnte sich nicht erklären, was in diesem Moment mit ihm geschah. Er wusste: Das ist sie! Und dies, bevor die beiden sich angeschaut oder nur ein Wort gewechselt hatten. Viktor überlegte nervös, wie er die Dame ansprechen könnte. Es war ihm klar, dass er nicht zögern durfte, sonst würde sie weitergehen und verschwinden. Weil ihm nichts Besseres in den Sinn kam, frage er sie: „Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie viel Uhr es ist?“ _
Die elegante Dame blickte ihn ziemlich forsch an: Wie kommen Sie dazu, mir diese Frage zu stellen? Das Schaufenster ist voll mit Uhren, welche alle die Zeit anzeigen. Und würden Sie sich umdrehen, könnten Sie das grosse Zifferblatt des Fraumünsters sehen und wüssten, dass es genau 14 Uhr und 15 Minuten ist.
Beide mussten plötzlich lachen. Viktor lud die Frau ins Café Odéon ein. Sie plauderten bis Anna – er wusste bereits ihren Vornamen – zurück nach St. Gallen musste. Die beiden verabredeten sich für den nächsten Tag am selben Ort. Viktor blieb nur noch ein Tag in Zürich übrig, er musste rasch und entschlossen handeln. Am nächsten Tag erklärte er Anna seine Lage und Absicht. Er gestand ihr, dass sie ihm sehr sympathisch sei. Anna erzählte, dass sie seit einiger Zeit intensiv Englisch lerne, sie habe vor, nach England zu gehen, um die Sprache zu vertiefen. Aber Amerika sei noch viel besser, und mit einem so charmanten Reiseleiter sowieso! Die beiden vereinbarten, dass Viktor an Ostern nochmals in die Schweiz komme, dass man sich dann verloben und zusammen nach Amerika zurückreisen wolle.
Erika und Werner freuten sich beide aufrichtig über Viktors gelungene Brautschau.
Sascha schickte Werner und Erika eine Neujahrskarte mit guten Wünschen für das Jahr 1937 und mit seinem Dank für die Freundschaft. Er schlug vor, Erika am 13. Januar zu besuchen. Wenn er nichts mehr höre, nehme er an, dass beide einverstanden seien.
Von Tag zu Tag wurde Erika nervöser.
An einem kalten Januartag war es soweit. Als er kam, bat Erika den Gast, sich schon mal ins Wohnzimmer zu setzen. Sie holte den vorbereiteten Tee aus der Küche. Erika spürte gleichzeitig eine beklemmende Angst und eine erwartungsvolle Freude. Sascha strich das Tischtuch auf dem Tisch glatt, obwohl es keine Falten warf. Er hob seine Teetasse auf und stellte sie, ohne daraus zu trinken, wieder zurück. Dann rückte er seinen Stuhl näher an Erikas Sessel und begann fein und sachte ihre Hand zu streicheln.
Nach Saschas Besuch glühte die glückliche Erika. So ist es also, so fühlt man sich als Frau! Das hätte ich mir nie vorstellen können! Und die Aussicht auf gemeinsame Skitage ist wunderbar! Erika rief sich Saschas Fragen ins Gedächtnis: Wann fährt Werner nach Leiden? Meinst du, dass wir während dieser Zeit ein paar Tage in die Skiferien verreisen könnten? Sie solle Werner fragen, ob er damit einverstanden sei!
Als Werner am Abend heimkam, erzählte ihm Erika, dass Sascha wie vereinbart da gewesen sei. "Ja, ja, heute kam Sascha vorbei!", sagte Werner, ich hab gar nicht daran gedacht. Der Tag war so strub. Es gab Probleme mit den Plänen für Holland. "Sascha kam also heute zu dir."
Wie kann Werner nur so etwas Einschneidendes einfach vergessen! Aber die Vorstellung, dass er in die Arbeit vertieft war und mit seinen Gedanken nicht bei ihr und Sascha, fühlte sich eigentlich besser an. Sie nahm allen Mut zusammen und berichtete Werner von den beabsichtigten Ferientage mit Sascha im Schnee. Und stammelte: "Weisst du, ich habe ein ganz schlechtes Gewissen dir gegenüber."
"Das ist doch eine abgemachte Sache. Wenn ich nicht einverstanden wäre, hätte ich doch den Vertrag nicht unterschrieben. Die Hauptsache ist, dass niemand davon erfährt. Ich mache eine Reise nach Leiden und du eine mit Sascha in den Schnee. Für mich ist es in Ordnung."
Erika freute sich und fragte sich, warum sie zugleich enttäuscht war. Die Seele ist schon ein rätselhaftes Wesen.
Anfang Woche rief Marti an und fragte, ob sie bald wieder einmal zu ihr nach Zürich komme. Erika sagte zu und freute sich auf die Abwechslung. Die Freundinnen einigten sich auf den nächsten Mittwoch.
In Martis warmer Küche tauschten sie allerlei Neuigkeiten aus. Marti fragte Erika, ob sie und Werner vom Samstagabend bis Sonntag mit ihr und Hans zum Skifahren mitkommen wollten: "Als Mitglieder des schweizerischen Alpenclubs können wir günstig in einem Bauernhaus mit Zimmervermietung auf der Wasserwendi wohnen".
Sofort stellte sich Erika vor, dass die Wasserwendi ein guter Ort für die Ferien mit Sascha wäre. "Leider können wir jetzt keine Ferien machen, weil Werner wegen seiner Geschäftsreise so viel zu tun hat, aber gib mir bitte die Adresse dieses Hauses für ein anderes Mal!"
"Wie schade!" Marti gab Erika Adresse und die Telefonnummer.
Marti dachte: Erika ist ganz komisch, überhaupt nicht wie sonst. Sie beobachtete Erika, wie sie mit zitternden Händen das Papier mit der Adresse in ihre Tasche schob. "Was hast du eigentlich? Du benimmst dich so eigenartig!"
"Gar nichts habe ich! Was fragst du mich so seltsame Dinge!" rief Erika und fing unvermittelt hemmungslos zu schluchzen an.
Marti legte ihren Arm um Erika und bat sie, ihr alles zu erzählen, was ihr ganz offenbar auf der Seele lag.
Erika fühlte sich erleichtert. "Marti, du musst mir hoch und heilig versprechen, dass du gar keinem Menschen etwas von dem, was ich dir jetzt erzähle, weitersagst!"
"Ich bin doch keine Tratschtante", sagte Marti liebevoll.
Erika erzählte ihrer guten Freundin alles, vom Vertrag, von der Schweigepflicht, von Werners Reaktion, von ihren Gefühlen. Als sie fertig war, fühlte sich wie von einer riesengrossen Last befreit.
Ferien mit Hindernissen - Erika redet mit ihrem Vater
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34.  Ferien mit Hindernissen - Erika redet mit ihrem Vater

Auf den Namen König mieteten Erika und Sascha für zehn Tage ein Zimmer im Bauernhaus auf der Wasserwendi. Neben aller Vorfreude auf dieses Zusammensein zweifelte sie doch ständig, ob das, was sie tat, auch richtig war. Sie war ganz und gar verunsichert. Am Abend vor der Abreise besuchte Erika ihre Eltern und plante, gleich am Tag nach der Rückkehr wieder an der Sälistrasse aufzutauchen. Sie hoffte, dass ihren Eltern so ihre Abwesenheit nicht auffallen würde.

Im Februar 1937 trafen Erika und Sascha mit den Skiern und den Rucksäcken auf Wasserwendi ein. Sie waren der Meinung, die Zimmervermieter wären Bauern. Es stellte sich heraus, dass der Vermieter der Gemeindepräsident vom Hasliberg war. Abends luden der Hausherr und seine Frau Erika und Sascha wiederholt zu sich in die gute Stube ein. Man führte inspirierte Gespräche und plauderte über dies und das. Erika wurde dabei ganz ungeduldig. Sie wollte mit Sascha allein sein. War es endlich so weit, hatte sie Bedenken, dass die Hausbesitzer hören und merken könnten, dass etwas Unlauteres vor sich ging. Der Gemeindepräsident und seine Frau waren ja der Meinung, sie hätten das Zimmer an das Ehepaar König vermietet. Erika verkrampfte sich immer mehr. Kaum war sie wieder etwas gelöster, spürte sie den Druck, schwanger werden zu müssen. Sascha war jederzeit sehr rücksichtsvoll und zärtlich. Dass sie sich ineinander verliebt hatten, liess sich nicht mehr verbergen. Wie hat sich das Leben verändert! Unbekümmert, wie Sascha sein konnte, liess er seine Post auf den Hasliberg nachsenden ohne daran zu denken, dass diese natürlich mit Fraenkel angeschrieben war.



(1) Erika 1934
Erika 1934

Der Vermieter fragte Sascha, weshalb auf seinen Briefen der Namen Fraenkel stehe, wo er doch König heisse. Sascha gab schlagfertig zur Antwort, dass er ein Buch veröffentlicht habe und Fraenkel sein Autorname sei. Erika schien es, als ob der Vermieter ziemlich ungläubig schaute.

Einmal hörte Erika im Bauernhaus durch die Holzwand hindurch, wie die Vermieterin am Telefon sagte: "Wir vermieten zwei Zimmer, eins ist vermietet, das andere können Sie ab morgen haben. Danke, auf Wiedersehen, Frau Lienert."
Erika erschrak. Sie dachte an die Lienerts, welche sie und ihre Eltern kannten. Erikas Vater hatte in Einsiedeln dieselbe Schule besucht wie der Schriftsteller Meinrad Lienert. In einem seiner Bücher kam Christian Wickart sogar vor. Erika erstarrte. Wenn das die Nichte des Schriftstellers ist, die das Zimmer mieten will! Erika überzeugte Sascha, dass sie sofort abreisen müssten. Sascha fuhr hinunter nach Meiringen und sandte von dort aus eine Depesche.
Erika sofort nach Hause kommen – stopp – dringend – stopp. Auf dem Hasliberg wurde das Telegramm vom Gemeindepräsidenten in Empfang genommen. Er händigte es Sascha aus. Sascha öffnete es sofort und zeigte es dem Vermieter. Unverzüglich packten Sascha und Erika ihre Rucksäcke und verabschiedeten sich. Das Wetter war wunderbar. Auf keinen Fall wollten sie schon nach Hause zurückkehren.


 

m Dorfladen wurden Essvorräte für die restlichen Ferientage eingekauft. Sascha und Erika stopften ihre Rucksäcke voll und stiegen mit den Fellen an den Skiern zur SAC-Hütte auf der Käserstatt hinauf. Kein Mensch war in der Hütte. Als sich Erika und Sascha eben im Massenlager einrichteten, klopfte am Abend ein weiterer Hüttenbesucher an die Türe. Zu dritt verbrachten sie einen gemütlichen, aber leider nicht einsamen Abend. Anderntags schien die Sonne erneut vom wolkenlosen Himmel, was den zu ihnen gestossenen Gast veranlasste, gleich ein paar Tage Ferien in der Hütte zu machen. Man hatte es gut und lustig zusammen, aber das gestörte Liebespaar konnte nicht das tun, wonach das Verlangen so gross war.



(2) Erika fährt Ski

 

Erika fährt Ski

 

Erika bestand darauf, vorsichtshalber in zwei verschiedenen Bahnwagen nach Hause zu fahren. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, zusammen mit Sascha irgendwelchen Bekannten zu begegnen. Allein im Zug wurde ihr bewusst, wie kompliziert ihr Leben geworden war, sie fühlte die Anspannung, ständig auf der Hut zu sein zu müssen. So hatte sie es sich nicht vorgestellt.

Fast gleichzeitig mit Erika kehrte Werner zufrieden von seiner Geschäftsreise zurück. Alles entwickelte sich wie erhofft, aber der gewichtige Auftrag würde weiterhin viel zusätzlichen Einsatz von ihm erfordern. Erika schilderte Werner die sonnigen Tage mit Sascha auf dem Hasliberg. Die Flucht aus dem Hause des Gemeindepräsidenten erwähnte sie mit keinem Wort. Werner und Erika waren beide zufrieden. Wenigstens zuhause ist das Leben einfacher geworden, dachte Erika. Sie war von der Sonne immer noch braun gebrannt, als sie am anderen Tag ihre Eltern besuchte. "Wo hast du diesen Teint aufgelesen?" wollte Mama sofort wissen. "Bist du stundenlang an der Sonne gelegen?" Erika fühlte sich ertappt, faselte etwas verwirrt von Skiausflügen mit Freundinnen. Misstrauisch geworden, fragte Emma, ob denn alle ihre Freundinnen keiner Arbeit nachgingen und jeden Tag unbeschränkt Zeit zum Skifahren hätten. Erika fühlte sich in die Enge getrieben. "Ich habe auch eine Skitour mit dem mit Werner und mir befreundeten Dr. Fraenkel gemacht."
"Was du nicht sagst, sieh mal an", brauste Emma empört auf, "du gehst mit einem Herrn Ski fahren! Sowas macht man nicht! Das schickt sich nicht!" An Emmas Hals erschienen rote Flecken.

Christian stand ruhig dabei. Vielleicht bemerkte der Vater, dass Erika unter der Sonnenbräune im Gesicht rot geworden war. Auf jeden Fall sagte er nichts und schaute Erika mit seinen gütigen Augen ruhig an. In diesem Moment wurde Erika klar: Ich will mit Papa reden und ihm alles sagen. Er versteht mich. Erika versuchte, ihre Mutter vom unsäglichen Skiausflug abzulenken und erkundigte sich, wann die nächste Vorstandssitzung mit der Leitung des Kinderheims Hubelmatt stattfinde. Emma wunderte sich, sie hat doch ihre Mitarbeit in diesem Gremium abgesagt. Antwortete aber doch, dass sie sich am 5. Februar mit den Damen des Vorstandes treffe. Dieses Datum merke ich mir, nahm sich Erika vor, und verabschiedete sich. Ich habe mich mit Schuld beladen, dachte sie auf dem Heimweg. Was immer ich tue, ich mache mich schuldig. Am nächsten Morgen erwachte Erika schweissgebadet aus einem Traum. Noch im Bett schrieb sie ihn auf.

Ich schaue aus dem Fenster meiner Wohnung und sehe auf einen Schulhausplatz hinunter. Es schneit ununterbrochen. Ein junger Mann kommt und fällt plötzlich hin. Er bleibt liegen. Im Nu deckt Schnee den Mann zu. Ich bin in einem Dilemma. Gehe ich hinunter, könnte man meinen, dass ich für das Hinfallen des jungen Mannes verantwortlich bin. Lasse ich den Mann liegen, dann trage ich die Schuld an seinem Erfrierungstod. Was immer ich tue, ich kann nicht anders, als mir Schuld aufzuladen. Dann sehe ich eine Mutter mit einem kleinen Kind an der Hand über den Platz kommen. Ich bin froh, dass sie spürt, dass unter dem Schneehügel ein Körper liegt. Ich beobachte, wie die Frau den Schneehügel mit dem Fuss anstösst und denkt, bei diesen tiefen Temperaturen sei der Mann wohl schon tot. Einerseits erleichtert und andererseits erschreckt wegen meiner Schuldgefühle, sehe ich, dass die Frau mit dem Kind einen Polizisten geholt hat. Ich weiss nicht, welche Abklärungen der Polizist jetzt trifft. Ich weiss nicht, ob ich verhört werde. Ich fühle mich bedrückt, weil der Mann unter dem Schnee wahrscheinlich erfroren ist.

Beim nächsten Treffen mit Sascha erzählte ihm Erika den Traum. Er meinte, sie solle darauf achten, dass sie ihre vitalen Kräfte leben lasse. „Solange keine Menschen dabei zu Schaden kommen, ist das nicht nur in Ordnung, sondern sogar lebenswichtig. Wie die Mutter mit dem kleinen Kind im Traum für die Zukunft des Kindes Verantwortung trägt, so bist auch du, Erika, für deine Zukunft selbst verantwortlich. Die Frau hat den Polizisten als Helfer gerufen, und nicht, damit er dich verhört oder verurteilt. Vertraue deiner inneren, göttlichen Führung!“ Erika fragte nach der Bedeutung des Schnees, welcher den hingefallenen Mann sofort unter sich begraben hatte.
„Der junge Mann fällt wie tot hin, weil er seine Kraft nicht genutzt hat. Er hätte unter dem Schneehügel ersticken oder erfrieren können. Aber wahrscheinlich ist nichts dergleichen geschehen, weil sich der herbeigerufene Polizist um ihn gesorgt hat. Nach alter jüdischer Überlieferung bedeutet vom Himmel fallender Schnee im Traum Gott will dir
genahen, also Gnade erweisen. Vertrau' deiner Kraft, dann erhältst du die Unterstützung, die du brauchst.“

Dieser von Sascha gedeutete Traum bekam für Erika eine grosse Bedeutung. Immer, wenn sie sich schuldig oder verurteilt fühlte, dachte sie daran, dass sie sich auf die innere Führung verlassen könne. Zaghaft erwachte das Vertrauen ins Leben und sie wurde selbstsicherer. Die Furcht, entdeckt zu werden, verflog jedoch nicht. Und schwanger wurde sie auch nicht.

Erika wusste ihre Mutter an der Vorstandssitzung und ging zu ihrem Vater. In der ihr vertrauten Umgebung ihres Elternhauses sass sie ihrem Papa gegenüber und sagte, dass sie ihm etwas unter vier Augen gestehen wolle. Christian forderte sie liebevoll auf, zu erzählen, was ihr auf dem Herzen liege. Ohne auch nur das kleinste Detail auszulassen, berichtete Erika ihrem Vater die ganze Geschichte: Von der Unmöglichkeit, mit Werner ein Kind zu haben, von ihrem drängenden Wunsch, Mutter zu werden, von den Vorträgen und Gesprächen mit Sascha und vom gemeinsamen Vertrag, von dem kein Mensch etwas wissen dürfe. Christian hörte mit grosser Anteilnahme zu und nahm alles wunderbar gelassen auf. Er fragte nichts, urteilte über nichts und niemanden. Er sagte nur: „Es ist beeindruckend, welche Wege das Leben nimmt, um uns dahin zu bringen, wofür wir gemeint sind.“ Erika fiel ein Stein vom Herzen. Ihr Papa verstand sie. Als sie sich verabschiedete, sagte Christian ernst: "Mama darf das nie erfahren."


 

Sascha in Zürich, Werner in Leiden, Erika in Genf
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35.  Sascha in Zürich, Werner in Leiden, Erika in Genf

Wieder besuchte Sascha an einem Sonntag Werner und Erika an der Bundesstrasse. Die beiden Männer, inzwischen echte Freunde, disputierten über Goethes Farbenlehre. Sie wurden sich nicht einig darüber, ob das Licht gemäss dem englischen Physiker, Mathematiker und Philosophen Newton ein zusammengesetztes Phänomen sei, dessen verschiedene Qualitäten sich ja in einem Prisma in den Regenbogenfarben offenbarten; oder ob Licht eine unteilbare Ganzheit sei, wie Goethe es vertrat. Sascha zitierte aus dem Gedächtnis:

Wär nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt es nie erblicken,
Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
wie könnt uns Göttliches entzücken?

Werner meinte, das Subjektive müsse sich, um vernünftig zu sein, nach den objektiven Erkenntnissen richten. Sascha widersprach, weil jeder Mensch seelisch etwas Ganzes sei, müsse man eben darum die ganzheitliche Wahrnehmung anerkennen. Wahrnehmen und zergliederndes Erkennen seien für den Philosophen nicht dasselbe. Erika sass dabei und strickte eine Skimütze aus bunter Wolle. Sie hörte den beiden Männern schweigend zu und machte sich ihre eigenen Gedanken zu Farben. Farben hängen doch offensichtlich von der Gemütsstimmung ab, mit der man sie wahrnimmt. Wird nicht mit Sascha zusammen die Welt viel farbiger, und grauer, mit Werner zusammen. Ob Grau eine Farbe ist?

An seinen spärlichen freien Nachmittagen kam Sascha regelmässig zu Erika. Für ihn waren diese Besuche völlig in Ordnung. Es gab den Vertrag und Werner war informiert. Es geschah nichts hinter Werners Rücken. Erika jedoch hatte dauernd ein schlechtes Gewissen. Nur ein einziges Mal hatte sie Sascha in seinem Zimmer an der Bruchmattstrasse besucht. Dabei war sie ständig in Sorge gewesen, dass die Vermieterin die beiden Verliebten hören könnte. Inzwischen war Sascha dort ausgezogen und hatte im Liberalen Heim an der Voltastrasse ein neues Zimmer bezogen. Der Neubau gehörte einer Genossenschaft. Die Verliebten trafen sich nur noch dort. Erika fühlte sich sehr wohl in Saschas geräumigem und sonnigem Zimmer. Es gab eine praktische Küchenecke und ein modernes Bad. Erika und Sascha hatten es schön und gut zusammen. Wenn Sascha nicht zu Besuch kam, arbeitete Werner sonntags zu Hause. Währenddessen gingen Sascha und Erika Ski fahren, so lange es noch genug Schnee hatte. Einmal war auch Marti mitgekommen.

Heimlich beobachtete Erika Werner und stellte, erst etwas ungläubig, bald aber mit Gewissheit fest, dass ihr Zusammensein mit Sascha Werner nichts ausmachte. Jedenfalls liess er sich nie irgendetwas anmerken. Auf die Dauer liess sich aber nicht vermeiden, dass Erikas Eltern auffiel, dass Werner am Sonntag zu Hause arbeitete, während Erika mit ihren Skiern in die Berge fuhr.

Als dann Werner und Erika bei den Eltern waren, stieg Christian in den Keller hinunter, um eine Flasche Wein heraufzuholen. Erika war in der Küche, um bei den Vorbereitungen fürs Mittagessen zu helfen. Emma ging in die Stube und fragte Werner geradeaus, mit wem Erika sich am Sonntag vergnüge, während er arbeite. Werner sagte emotionslos, dass sie mit ihrem gemeinsamen Freund, Dr. Sascha Fraenkel, Skitouren mache. Emma wurde äusserst wütend auf Erika. "Womöglich haben sie sogar aus demselben Rucksack gegessen! Du meine Güte, nein, nein, mit einem fremden Mann aus demselben Rucksack essen, das ist unmöglich! Was würden wohl die Leute sagen!"
Erika hörte in der Küche Werners leise Stimme und die laute von Emma. Sie erinnerte sich an ihren Traum und wünschte sich den Traumpolizisten als Helfer herbei. Es gelang ihr, ruhig zu bleiben und sich nicht über die Vorwürfe ihrer Mutter aufzuregen. Und sie bewunderte Werner, wie er die aussergewöhnliche Sache mit so selbstverständlicher Ruhe vermitteln konnte, dass Emma das Thema fallen liess.

Werners Fernsteuerung für die Niederlande nahm Gestalt an. Er wurde beauftragt, zusammen mit zwei seiner Mitarbeiter im April nochmals für eine Woche nach Leiden zu fahren. "Herr Nobel, der Direktor des Leidener Elektrizitätswerkes, hat mich nach der Arbeitswoche für die Ostertage in sein Landhaus in Vierhouten eingeladen. Er will mit mir ans Ijsselmeer fahren." Werner erklärte Erika mit Begeisterung dieses Meisterwerk des Wasserbaus. "Die flache, zwischen 4 und 5 m tiefe Meeresbucht der Nordsee, reichte früher ungefähr hundert Kilometer landeinwärts und bedeckte eine Fläche von 5000 km². Ein künstlicher Damm, der Afsluitdijk, wurde errichtet. Im Mai 1932 wurde das letzte Tor des Deiches geschlossen. Es entstand ein Binnengewässer, eben das Ijsselmeer."
Werner bat Erika um ihre Meinung zu seinem verlängerten Aufenthalt während der Ostertage in Vierhouten.
"Ich finde es schön und gut, dass dich der Direktor eingeladen hat. Marili und Lilly haben freie Tage. Ich kann mich mit ihnen verabreden."

Vor und nach Ostern fand kein Ethikunterricht statt. Sascha teilte Erika schon frühzeitig mit, dass er während der Osterferien bei seiner Tante und dem Onkel in deren Jugendstil-Haus in Zürich wohnen würde. Der Onkel sei ein reicher Sozialist und Besitzer einer mittelgrossen Fabrik, erklärte Sascha. Er erledige für ihn die Buchhaltung und die Lohnabrechnungen und werde dafür bezahlt. Darum werde ich die zwei Ferienwochen am Zürichberg verbringen. Mit Werner in Holland und Sascha in Zürich fühlte sich Erika frei, die beiden Wochen nach ihrem Geschmack zu verbringen. Sie telefonierte Renée: „Ich komm dich über Ostern besuchen! Einverstanden?“ Renée hatte ebenfalls freie Tage und war sehr erfreut über die Aussicht, diese zusammen mit Erika zu gestalten.

Erika überlegte: Papa weiss es, auch Marti kennt meine Situation, ebenso gut kann ich Renée alles erzählen. Auch auf sie kann ich mich absolut verlassen. Erika blieb eine Woche in Genf. Sie erzählte Renée haargenau, was sich seit dem zweiten Dezember Dramatisches und Aufregendes ereignet hatte. Sie liess weder ihre Schuldgefühle noch die verliebten Höhenflüge aus; sie erzählte ihre Träume und den atemraubenden Schrecken auf dem Hasliberg, die anschliessende Flucht in die Alphütte, mit dem netten, aber leider störenden Mitbewohner. Auch philosophische Gespräche mit Sascha versuchte sie zu rekonstruieren, kam aber zum Schluss, dass sie sich besser an emotionale Aufregungen erinnere als an die Logik ethischer Schlussfolgerungen. Sie verriet Renée auch, wie sie aus lauter Angst, ertappt zu werden, unter einer ständigen Anspannung lebe, wie sie ihr Handeln und Reden ständig unter Kontrolle halten müsse. Und dass die Zusammenkünfte mit Sascha immer so schwierig seien. „J’ai une idée!“, rief Renée freudenstrahlend und führte gleich ein kleines Tänzchen auf. „Hier in meiner Wohnung könnt ihr unbeschwert und ausgiebig zusammen sein; ich kann unterdessen ohne weiteres zu einer Freundin ziehen.“ Erika war ganz gerührt und dankbar über dieses Angebot: „Ma chère Renée, ich kann dich doch nicht aus deiner schönen Wohnung vertreiben! Stell dir vor, wie wir uns da fühlen würden, wie Räuber oder Einbrecher, comme des brigands amoureux.

Die Freundinnen genossen die gemeinsame Ferienwoche sehr. Erika freute sich, ihr Französisch zu verfeinern. Französisch parlierend fühlte sie sich wie eine andere Person, leichter, unbeschwert... In Genève verliebt zu sein, wie viel einfacher wäre das! Renée machte Faxen und versuchte es mit ihrem charmanten Akzent auf Deutsch: "Ich dir verspreche immer zu lieben dich und deine – amitié – deine Freundschaft éternelle."  So führten sie stundenlange Gespräche, stiegen auf den Mont Salève, fuhren mit dem Dampfer auf dem Genfersee und besuchten Renées Eltern in Lausanne.

Wieder zurück in Luzern traf sich Erika mit ihren ehemaligen Schulfreundinnen Lilly und Marili. Marili erzählte begeistert von einer Vorstellung des Schweizer Cabarets Cornichon. Sie schwärmte für einen der Mitbegründer, den Schauspieler Emil Hegetschwiler, Sohn eines Zuckerbäckers und selber Konditor in der väterlichen Konditorei. "Darum ist dieser Emil so süss! Das Tea-Room Helmhaus in Zürich sei nicht umsonst zum Treffpunkt der Künstler geworden. Mein verehrter Emil spielt im Schweizer Dialekt-Film von 1933: Wie d'Warret würkt. Muss man gesehen haben! Er läuft im Flora, lasst uns hingehen!"
Die drei Frauen sahen den Film im Kino Flora. Der Film zeigte anständige, kleinbürgerliche, gutmütige, treu sorgende und naturverbundene Schweizer Familien – und die Stadt als Sündenpfuhl, wo anständige Mädchen in Gefahr geraten und wo Betrüger, Verführer und Halsabschneider lauern. Alle amüsierten sich bestens. Die kleinbürgerliche Moral erinnerte Erika jedoch an den Mutterspruch:
Was wördid au d'Lüüt säge. Und schon war ihre gute Laune weg, ein Gefühl der Enge in der Brust erinnerte sie, wie schwierig das reale Leben doch ist.

Freundinnen
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36.  Freundinnen

Es war Herbst geworden, Samstag, 2. Oktober 1937. Erika und Werner verliessen am Morgen zusammen das Haus am Bundesplatz. Sie gingen zügigen Schrittes auf der Zentralstrasse unter den Baumreihen entlang zum Bahnhof, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Werner fuhr zur Arbeit und Erika wollte Marti vor dem Zurgilgenhaus an der Reuss treffen.
"Grüsse Marti von mir und geniesst euren Frauentag", rief Werner Erika nach und verschwand in der Bahnhofshalle. Erika winkte ihrem Gatten zum Abschied und überquerte den Bahnhofplatz. Viele Leute bummelten schon gut gelaunt und in festlicher Stimmung über die Seebrücke. In der Stadt Luzern war Feiertag, das Fest des Heiligen Leodegar, Patron der Hofkirche. Erika schloss sich dem Menschenstrom über die Brücke an. Auf der Nordseite der Brücke zogen Kinder ihre Mütter aufgeregt an den Röcken zum Rathausquai hinüber, die Väter folgten mit dem obligaten Hut auf dem Kopf und den Händen in den Hosentaschen. Unter der Egg, der Reuss entlang, war wie jedes Jahr am Leodegar-Fest reger
Chilbi-Betrieb, Marktständen, beladen mit Luzerner Lebkuchen, Birnenweggen, Magenbrot, Schenkeli und Zigerkrapfen. Dazwischen boten Marktschreier ihre Ware an. Schaut her! Ein neues Kaffeezeitalter ist angebrochen! Der Melittafilter aus Porzellan ist da! Kommt her, kommt her, Leute, schaut und kauft! Dieser Gemüseschneider für die faule Hausfrau: Er schält die Karotten von selbst, nur an der Kurbel drehen! Glücksräder mit den verlockenden Gewinnzahlen rattern. Der Duft von gerösteten Mandeln. Die Augen der Kinder und auch die der Erwachsenen glänzten.

Erika blieb vor dem Zurgilgenhaus, dem vereinbarten Treffpunkt mit Marti, stehen und wartete auf sie. Bald kam Marti auf Erika zu und die Freundinnen begrüssten einander herzlich. Sie mischten sich unter das Chilbi-Volk. Erika kaufte Schenkeli für Werner. "Möchtest du auch für Sascha ein Säckchen mit der Chilbi-Spezialität erstehen", fragte Marti augenzwinkernd. Erika wurde rot. "Sascha ist in Zürich bei Tante und Onkel. Er arbeitet dort die Buchhaltung auf und bereitet das Wintersemester vor. Wer weiss, wann wir uns das nächste Mal sehen können!" Neben ihnen spielte ein Mann auf einer Drehorgel. Marti und Erika blieben eine Weile stehen und machten sich dann auf den Heimweg zum Bundesplatz, denn es gab ausserordentlich viel zu erzählen.

Zuhause setzen sich die Freundinnen an den Küchentisch und Erika kochte Teewasser auf. "Zur Feier des Tages wird etwas serviert, das du garantiert noch nicht kennst, schmunzelte sie geheimnisvoll, das Ding heisst Ovo-Sport und ist eben erst zu den Spielen der Fussballnationalmannschaften unter die Leute gebracht worden." Marti sagte: "Zeig' diesen Stängel! Das ist ja harte Ovomaltine! Oh, das schmeckt aber gut!" Die Freundinnen schleckten den Ovomaltine-Stängel. "Zürich-Seebach ist ein ländlich gebliebenes Quartier. Ich bin nicht sicher, ob man auch bei uns im Kolonialwarenladen Ovo-Sport kaufen kann", meinte Marti. "In letzter Zeit sprechen sich sogar Leute im Laden oder auf der Strasse an, auch wenn sie sich nicht kennen, und geben einander ihre Bedenken wegen der wachsenden Kriegsgefahr preis. Es ist eine ganz und gar unsichere Zeit. Nun Erika, erzähle mir aber alles von dir, all das, was ich noch nicht weiss!"

Erika war erleichtert, Marti alles anvertraut zu haben. „Werners niederländisches Projekt macht gute Fortschritte. Er hat es mit seinen holländischen Sprachkenntnissen schon weit gebracht, so weit, dass er mit den Geschäftskollegen über alltägliche Dinge holländisch sprechen kann. Sobald sie über Geschäftliches sprechen, oder - wie in letzter Zeit vermehrt - über einen möglichen Krieg, wechseln sie zur deutschen Sprache, welche die meisten Niederländer recht gut meistern. Mehr und mehr kommt es mir vor, als ob Werner total in seiner Arbeit aufgehen würde. Seine Arbeit ist das, wofür er mit Leib und Seele lebt.“ Neugierig wollte Marti wissen, wie es mit Sascha stehe. „Seht ihr euch immer noch regelmässig?“
"Anfang September telefonierte Renée und sagte, dass sie mit Kolleginnen und Kollegen eine Woche lang nach Chamonix ginge, dass ihr Angebot für mich und Sascha immer noch gelte. Wir könnten unterdessen ungestört in ihrer Wohnung hausen. Am selben Abend informierte ich Werner über Renées Angebot. Ich bin sicher, dass es Werner tatsächlich nichts ausmacht, wenn ich mit Sascha zusammen bin, ja sogar mit Sascha in die Ferien gehe. Sein einziger Kommentar war: Geh’ nur mit Sascha nach Genf, im Spätherbst steht wieder eine Geschäftsreise in die Niederlande an, mir ist es recht, wenn ich mich in Ruhe darauf vorbereiten und abends länger im Geschäft bleiben kann." Marti meinte, da sei es nicht verwunderlich, wenn Werner mit Leib und Seele für seine Arbeit und seine Projekte lebe. „Sei du doch froh darum! Erzähl’ bitte, wie es in Genf war!“

Es waren immer noch Semesterferien. Sascha freute sich sehr auf die Ferienwoche. In der Calvin-Stadt begann alles unbeschwert. Tagsüber machten wir Ausflüge in der Umgebung. Die Abende gingen mit anregenden Gesprächen, aber auch mit gegenseitigen Neckereien und ausgelassenem Lachen nur zu schnell vorbei und alles gipfelte jeweils im beglückenden intimen Zusammensein.“ Marti sah, dass Erika ganz rot wurde, als sie das verriet und flüsterte: „Bist du schwanger geworden?“
„Nein, nein, ich bin nicht schwanger. Ich war zu sehr verkrampft. Trotz der Leichtigkeit dieser Ferientage beschlich mich nach den ersten drei Tagen ein schlechtes Gewissen. Obwohl Werner einverstanden war und Sascha immer gut gelaunt, fröhlich, aufmerksam und zärtlich, hatte ich ständig das Gefühl, dass das, was ich tat, nicht richtig war. Ich verkrampfte mich zusehends und bekam heftige Kopfschmerzen. Ich verbot mir, die Tage mit Sascha einfach zu geniessen, machte mir ständig Vorwürfe und verdarb damit uns beiden die Stimmung. Als Sascha mich darauf ansprach, fehlte mir der Mut, ihm zu sagen, dass mich das schlechte Gewissen bedrückte. Stattdessen schob ich die Kopfschmerzen vor. Schlussendlich war ich sogar froh, als die Ferienwoche vorbei war. Von den Tagen mit Sascha in Genf ist bleibt mir ein schales Gefühl.“
„O wie schade, wie jammerschade!“ Marti ergriff voller Mitgefühl Erikas Hand. Erika musste weinen und Marti versuchte ihre Freundin zu trösten. "Nimm doch noch ein Ovo-Sport, das gibt Kraft!" Marti lachte und Erika noch unter Tränen bald auch. „Marti, du bist eine wundervolle Freundin. Ich bin so froh, dass ich dich habe. Danke. Danke.“ Die Freundinnen umarmten sich. In den folgenden Tagen dachte Erika dankbar immer wieder: Welch ein Geschenk ist Martis Freundschaft, ihr Mitgefühl und ihr Verständnis für mich!

Unterdessen war es November geworden. Das bald zu Ende gehende Jahr 1937, welches die Welt mit angehaltenem Atem durchlebte, trug nicht gerade zu einer besseren Stimmung bei. Vor allem in den europäischen Ländern beobachteten die Menschen mit Besorgnis die weltpolitische Entwicklung. Die Angst vor einem sich zusammenbrauenden Krieg machte auch nicht vor der Wohnungstüre der Königs Halt.

Sascha unterrichtete in Zürich und besuchte bei seinem Mentor, Carl Gustav Jung, weiterhin Vorlesungen. Erika und Sascha sahen sich eher selten. Doch am Sonntag, am 28. November 1937 kam Sascha zu den Königs auf Besuch. Die drei Freunde sprachen über die Weltlage. Werner berichtete, dass sich seine Geschäftspartner in Leiden über einen Krieg in Europa Sorgen machten. Sascha erwähnte die deutsche Legion Condor, welche auf der Seite des Faschistenführers Franco in den seit Juli 1936 tobenden, spanischen Bürgerkrieg eingegriffen und die Stadt Guernica dem Erdboden gleichgemacht hatte. „Die nationalsozialistische Führung im Deutschen Reich offenbart mit diesem Terrorakt ihre ganze Brutalität, Skrupellosigkeit und ihren Zynismus. Das NS-Regime ist nach wie vor darauf bedacht, sich auf der internationalen Bühne als gesprächs- und verhandlungsbereite Regierung zu präsentieren, aber wahrscheinlich ist alles nur Lug und Trug.“ Werner und Sascha analysierten zusammen Europas politische Lage und fragten sich, ob sogar eine mögliche Gefahr von Japan, das seit kurzem gegen China im Krieg stand, ausgehen könnte. Erika ängstigten diese Diskussionen mehr und mehr. Schaudernd dachte sie, vielleicht ist es besser, in diesen unsicheren Zeiten kein Kind zu haben. Wenn Krieg wäre und Werners Projekt in Holland aufgegeben werden müsste, würde er vielleicht seine Stelle verlieren. Wir hätten kein Geld. Wie könnten wir für ein Kind sorgen? Ich darf kein Kind bekommen. Erika brach in Tränen aus und schniefte: „Ihr macht mir Angst mit eurem Gerede vom Krieg.“
Werner und Sascha schauten ratlos drein und beteuerten, dass sie ihr mit diesen Kriegstheorien keine Angst hätten einjagen wollen. Um Erika zu beschwichtigen, sagte Werner: „Du weisst doch, dass ich wegen meiner als Kind durchgemachten Tuberkulose als dienstuntauglich erklärt worden bin. Im Kriegsfall würde ich bei dir sein und dich nicht verlassen.“ Und Sascha erzählte Erika und Werner, dass auch er für dienstuntauglich befunden worden sei, da er bei seiner Einbürgerung im Alter von 15 Jahren im Jahr 1909 schon eine Brille tragen musste. Erika tröstete es ein wenig, dass ihre beiden Männer im Kriegsfall nicht sofort einrücken müssten. Nur zu bald meldete sich trotz allem ihr Wunsch nach einem Kind wieder heftig. Sie redete sich selber ein, dass es einfach nicht gehe: Ich bin so traurig. Ich kann nie ein Kind haben! Erika schluchzte noch eine geraume Weile weiter.

Aus Schweizer Zeitungen: Hitlers Regime heizt durch massive Rüstungsproduktion und Kriegsvorbereitung die Konjunktur an. Viele Menschen, die noch vor wenigen Jahren ohne Arbeit und Perspektive waren, haben nun einen Arbeitsplatz in der Rüstungsproduktion. Der Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht ist eben zurückgetreten. Im Deutschen Reich finden Luftschutzübungen und Grossmanöver mit Tausenden von Parteigenossen statt, Männer des Arbeitsdienstes sowie Hitlerjungen und -mädchen machen mit. Die Jagd auf politisch Andersdenkende und Juden ist im laufenden Jahr intensiviert worden. Immer mehr Gemeinschaftseinrichtungen, von der Parkbank bis zum Schwimmbad, sind für Juden gesperrt worden. Erklärtes Ziel der Nationalsozialisten ist es, die Juden durch Diskriminierung und Terror zur Auswanderung zu bewegen. Die aus dem Deutschen Reich ins Exil getriebenen Schriftsteller, Musiker und Maler, welche zu uns in die Schweiz gekommen sind, sind wegen der Machtzunahme des NS-Regimes besorgt. 
Werner und Erika, auch Sascha standen Zeitungsmeldungen kritisch gegenüber. Sie waren es sich gewohnt, sich ihre eigenen Gedanken dazu zu machen, ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. Den Schweizer Zeitungen konnte man jedoch glauben. Es war aber auch bekannt, dass eine grosse Anzahl Schweizer Bürger vom einfachen Arbeiter bis hinauf zum Bundesrat eine gewisse Bewunderung für das NS-Regime hegten. Auf Empfehlung von Erikas Vater, dem die Verbindung der Völker immer ein grosses Anliegen war, hatten Werner und Erika auch die seit September 1933 erscheinende Zeitung
Die Nation einmal pro Woche im Briefkasten. Das vorrangige Anliegen der Nation war es, den Widerspruch zwischen der Sozialdemokratie und dem Bürgerblock zu entschärfen, alle freiheitlich gesinnten Menschen über Parteien und Klassen hinweg für das gemeinsame Werk, die Verteidigung der demokratischen Rechte und für den Einsatz für die wahre Volksgemeinschaft zu gewinnen. Werner und Erika lasen Die Nation von Woche zu Woche sehr genau. Sie fanden darin immer wieder Anregungen für Gesprächsstoff.

Saschas Herkunft
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37.  Saschas Herkunft
Einmal mehr sassen Werner und Sascha im Wohnzimmer an der Bundesstrasse, tauchten in eine lebhafte Diskussion über soziale und bürgerliche Kräfte ein und schienen alles um sich herum vergessen zu haben. Erika sass dabei und hörte zu. Sascha erklärte, man müsse den Begriff Widerspruch weiter fassen. Es gehe um sich polar gegenüberstehende Gegensätze, wie Widersprüche von Erscheinungen, Begriffen, Ideen und Widersprüche von historischen Kräften und Entwicklungen. Als Student befasste ich mich eingehend mit den beiden Philosophen Hegel und Marx und ihrer Verwendung des Begriffs Widerspruch.
Werner erwähnte, dass auch das Alte Testament nur so von Widersprüchen strotze, und dass die moderne Technik nicht von Widersprüchen ausgenommen sei.
Nach Erikas Gefühl verstiegen sich die beiden Männer in ungeahnte Höhen philosophischer, theologischer, politischer und wirtschaftlicher Art. Erika liess die Männer allein weiter debattieren und ging in die Küche.
Als sie mit drei Tassen und der Teekanne zurück ins Wohnzimmer kam, gab Werner seine Überzeugung kund, dass für ihn als Elektroingenieur die Beherrschbarkeit der Natur durch den Menschen mit der sich rasant entwickelnde Technik schlussendlich zu Eintracht und Frieden führen werde. Gerade weil die politische Lage angespannt ist, glaube ich an den Nutzen des technischen Fortschritts für das friedliche Zusammenleben der Menschheit. Mit der Katastrophe von Lakehurst, wo das Luftschiff Hindenburg am 6. Mai kurz vor der Landung auf US-amerikanischem Boden in Brand geriet und explodierte, ist eine wichtige Epoche der Technikgeschichte zu Ende gegangen. Im Deutschen Reich ist die Entwicklung weiterer Zeppeline eingestellt worden. Das langsame und schwerfällige Luftschiff, das nur über begrenzte Transportkapazitäten verfügt, wird jetzt vom Flugzeug abgelöst. Dieses taugt besser für die Anforderungen des modernen Luftverkehrs. Stellt euch das vor: Auf 611 km pro Stunde bringt es die Messerschmitt-Maschine! Die Technik wird immer weiter entwickelt und hat ein riesiges Potenzial in sich. Der Wille des Menschen beherrscht das Reich der Luft!
Erika mischte sich ins Gespräch ein. Meine Eltern waren dabei, als das Zeppelin-Luftschiff in Luzern frenetisch begrüsst und gefeiert worden war. Sie erhaschten das Schauspiel in der Weggisgasse und berichteten, dass ein sonderbares Sausen hörbar war als das weisse, majestätische Gefährt, diese Riesenzigarre, über ihren Köpfen Richtung See schwebte.
In den letzten 30 Jahren ereignete sich technisch Unerhörtes, steuerte  Sascha bei. Die Schnelligkeit der neuen deutschen Militärflugzeuge erstaunt mich, macht mich aber auch misstrauisch. Diese technischen Errungenschaften der Menschheit sind grossartig. Aber für mich verblassen sie angesichts der gegenwärtigen Judenverfolgung, die mir natürlich unter die Haut geht. Meine Mutter war Jüdin. Ich wuchs bei Tante und Onkel, die ihr Judentum nicht mehr praktizierten, im Kanton Aargau auf. Sie liessen mich als Kind in der reformierten Kirche taufen und gaben mir zu meinem russischen Vornamen, Sascha, einen zweiten, christlichen Namen, Maria. Ohne mein Zutun wurde ich Sascha Maria Fraenkel, ein protestantischer Christ. Sascha ist die Kurzform von Georgij. Meine Mutter und meine Vorfahren aus Russland waren Juden. Also bin ich ebenso ein Jude.
Werner und Erika schwiegen betreten, denn sie wussten nicht, wie sie Sascha gegenüber auf diese Nachricht regieren sollten.
Nachdem sich Sascha verabschiedet hatte, sprachen Werner und Erika noch lange über den Umstand, dass Sascha im Grunde genommen ein Jude sei. Zum ersten Mal wurde es den beiden bewusst, was das in dieser Zeit und im Zusammenhang der Judenverfolgung im Nachbarland eigentlich bedeutete. Das könnte für uns alle ungemütlich werden. Das Ehepaar König kam überein, dass man nie irgendwo erwähnen dürfe, dass Sascha von seiner Herkunft her eigentlich ein Jude sei. Auch Schweizer Nachbarn oder die Gemüsehändlerin und der Metzger von nebenan könnten im Geheimen mit der Judenverfolgung sympathisieren.
Die Telefonklingel riss die Königs aus ihren düsteren Gedanken. Werner nahm den Hörer auf. Es war sein gut gelaunter Schwiegervater. Habt ihr das Abstimmungsresultat in den Abendnachrichten am Radio gehört?
Werner musste eingestehen, dass er und Erika keine Nachrichten gehört hätten. Erst jetzt erinnerte er sich wieder, dass an diesem Sonntag die Volksabstimmung über die eidgenössische Volksinitiative Für ein Verbot der Freimaurerei stattfand. Er war am Morgen selber im Sälischulhaus gewesen, wo in einem Schulzimmer für die Stimmbürger sechs mit Zwischenwänden voneinander abgetrennte Kabinen aufgestellt waren. Am Stehpult in der Kabine hatte Werner ein überzeugtes Nein auf seinen Stimmzettel geschrieben und diesen einem Stimmenzähler an einem langen Tisch gegeben. Christian Wickart als Freimaurer freute sich über das gute Resultat. Die Schweizer Eidgenossen haben sich von dieser Initiative nicht ins Bockshorn jagen lassen, meinte der Vater erleichtert, kommt doch auf einen Sprung bei uns vorbei, wir wollen das zusammen feiern!
Werner und Erika waren froh, dass sie sich auf den Weg zu den Eltern machen konnten und dort auf andere Gedanken als die um den jüdischen Sascha kamen. Man soll solange feiern, als es etwas zu feiern gibt, sagte Erika, die gegenwärtige Zeit ist schwierig genug. Werner war ganz ihrer Meinung.
Aufregende Zeit
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38.  Aufregende Zeit
Am Freitagnachmittag, am 18. Februar kam Erika vom Einkauf vom Migros-Laden an der Moosstrasse heim. In der Küche hob sie eine Büchse Eimalzin, das günstige Waschpulver Ohä und Zucker aus ihrem Einkaufskorb heraus, als sich plötzlich die Wohnungstüre öffnete und Werner viel früher als gewohnt heimkam. Hast du mich erschreckt, warum bist du schon da?
Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen, sagte Werner und gestand ihr, dass er seit einiger Zeit Schmerzen im linken Unterbauch spüre und jetzt ein Knoten tastbar sei. Darum habe ich am Morgen vom Büro aus gleich mit dem Arzt telefoniert.
Sofort spürte Erika ein heftiges Angstgefühl aufsteigen. Um Gottes Willen, ist es etwas Schlimmes? Jetzt erschreckst du mich aber wirklich!
Werner beruhigte sie. "Ich komme eben vom Untersuch in der Arztpraxis. Es ist nichts Schlimmes, nur ein Leistenbruch. Am Montag Morgen früh kann ich ins Spital eintreten. Der Leistenbruch wird operiert und nach ein paar Tagen ist alles wieder in Ordnung." Er fügte gleich an, dass er deshalb am Samstagnachmittag und am Sonntag arbeiten müsse, damit die Vorbereitungen für die Leidener Fernsteuerung während seiner Abwesenheit reibungslos weiterlaufen.
"Du meine Güte, das trifft mich jetzt völlig unvorbereitet!" Erika setzte sich an den Küchentisch.
Werner überlegte rasch, wie er seine Frau beruhigen könnte. "Das Wetter wird gut, in der Höhe hat es noch viel Schnee. Du könntest am Sonntag mit Sascha Ski fahren gehen."
Sich am Tag vor Werners Operation mit Sascha im Schnee zu vergnügen, nein, das wollte Erika nicht. Aber offenbar war es Werner wichtig, dass er ungestört und so lange er wollte zu Hause arbeiten konnte. Er selber war es, der am Abend Sascha telefonierte und ihm die Geschichte vom Leistenbruch und der bevorstehenden Operation erzählte. Zum Schluss bat er den Freund, sich am Sonntag Erika anzunehmen und mit ihr Ski fahren zu gehen. Sascha war einverstanden und wünschte Werner viel Glück.
So fuhren Erika und Sascha am Sonntag mit den Skiern und mit einem Pick-Nick in den Rucksäcken auf die Klewenalp. Es war ein schöner, sonniger Tag, und der Schnee auf 1600 m Höhe war immer noch recht gut. Oben schnallten sie die Felle an die Skier und machten sich auf zum Brisenhaus.
Unterwegs wurde Erika immer einsilbiger. Sie machte sich Sorgen, dass irgend etwas mit Werners Operation nicht nach Plan verlaufen könnte. Nach einer Weile blieb Sascha stehen, stützte sich auf seine Skistöcke und schaute Erika an. "Warum bist du so wortkarg? Machst du dir Sorgen wegen Werners Operation?"
Erika war froh, darüber reden zu können und platzte heraus: "Und ob ich mir Sorgen mache! Werner könnte verbluten, seine Operationsnarbe könnte sich entzünden und sich mit Eiter füllen oder es könnte sein, dass er gar nicht mehr aus der Narkose erwacht."
Lange schaute Sascha Erika an, dann fing er plötzlich an zu lachen. Das machte Erika schrecklich wütend. "Wie kannst du nur so blöd lachen? Weshalb machst du dich über mich lustig? Du verstehst überhaupt nichts! Die Lage ist ernst!"
"Ja, ja, die Lage ist ernst, in der sich Frau Erika König-Wickart befindet", skandierte Sascha theatralisch. "Du stellst dir alles mögliche vor, ein regelrechtes Katastrophendenken ist das! Du steigerst dich immer mehr in frei erfundene Schreckenszenarien hinein, so lange, bis du selber daran glaubst. Du bauscht das alles auf!"
Erika war entrüstet. Sascha redete ernst weiter: "Eine Leistenbruch-Operation wird häufig gemacht. Es ist zu erwarten, dass für Werner alles gut abläuft. Höre auf mit diesem Gedanken-Karussell, geniesse die Sonne, schicke deine negativen Vorstellungen den Berg hinunter und glaube an einen guten Ausgang!"
Sascha ging viel rascher als vorher voraus, so dass Erika hinter ihm fast ausser Atem geriet und sich vor lauter Anstrengung nicht mehr auf ihre schlimmen Vorstellungen konzentrieren konnte. Ihre Wut auf Sascha verflog mehr und mehr. Sie kam zur Einsicht, dass der Psychologe und Lebensberater, Dr. Sascha Fraenkel, vielleicht sogar Recht haben könnte!
Nach der Mittagsrast im Brisenhaus machten sich die beiden bereit für die Abfahrt. Wie immer fuhr Sascha voraus, und Erika folgte ihm. Hie und da fuhren noch schnellere Skifahrer vorbei und riefen Juhui! Erika freute sich, auch dabei zu sein und flitzte auf den Skiern den Berg hinunter. Ihre Stimmung besserte sich merklich.
Erika und Sascha schnallten hinter dem Kloster der Benediktinerinnen, Maria Rickenbach, ihre Skier ab. Wie so oft, hatte Sascha eine spontane Idee, die er sofort umsetzen wollte. Er schlug vor, in die Klosterkapelle hineinzugehen und um einen guten Verlauf von Werners Operation zu bitten.
"Wen sollen wir denn dort drin bitten?", fragte Erika ihren protestantisch-jüdischen Freund provokativ. Sie dachte an den Priester, der ihr die Nachricht ihres Ausschlusses aus der katholischen Kirche überbrachte, weil sie und Werner in der protestantischen Kirche in Weggis geheiratet hatten. Sie wollte nicht in eine katholische Kapelle hinein gehen.
"Komm, wir lesen auf der Tafel beim Eingang des Gotteshauses, wer hier wohnt und wen man dort drin ansprechen kann!", forderte sie Sascha lachend auf. Dass Sascha auf die Idee kam, in der Kapelle wohne jemand, belustigte Erika und sie gab ihren Widerstand auf.
Erika und Sascha setzten sich in der Kapelle nebeneinander auf eine hölzerne Bank. Als sich Erikas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fiel ihr Blick vorne links auf das Gnadenbild der Mutter Maria. Mit einem Seitenblick auf Sascha, der konzentriert auf den Hochaltar schaute, sagte Erika schnell und ganz leise: "Bitte mache, dass Werners Operation gut geht! Und bitte mache, dass ich Mutter werde, wie du!"
Sascha nahm Erikas Hand in die seine und so blieben sie eine Weile lang sitzen. Beim Hinausgehen schauten sie die zahlreichen Votivbilder an, welche Menschen als Dank für den Beistand Mariens in der Wallfahrtskapelle aufhängen liessen. Wieder draussen an der Sonne sagte Sascha: "Unserer Seele wohnt eine grosse Imaginationskraft inne. Wir alle tragen das Urbild der Mutter mit dem Kind in uns. Es spielt keine Rolle, ob man ein Jude, ein Muselmane oder ein katholischer oder protestantischer Christ ist oder ob man überhaupt einer Religionsgemeinschaft angehört oder nicht. Die Mythen, Sagen, Märchen und Träume aller Völker sind voll von Göttinnen, weisen Frauen und hilfreichen Hexen, von geheimnisvollen Höhlen und Brunnen. Es sind Urbilder, Archetypen, die wir immer mit mütterlicher Fürsorge, mit Hilfe in schwierigen Situationen und Geborgenheit zusammenbringen. Deshalb kann jeder Mensch, der sich davor nicht verschliesst, seine innere Mutter, die Anima, um Hilfe bitten."
Erika und Sascha nahmen ihre Skier auf und fuhren mit dem Luftseilbähnchen nach Dallenwil hinunter und von dort aus mit der elektrischen Stansstad-Engelberg-Bahn bis Stansstad. Das letzte Stück der Reise musste mit dem Schiff zurückgelegt werden.
Am späteren Nachmittag legte das Dampfschiff Uri mit Sascha und Erika an Bord am Schiffssteg in Luzern an. Der Kapitän stand bei der Landungsbrücke und verabschiedete alle Schiffspassagiere mit einem freundlichen Of wederluege! Sascha rief Auf Wiedersehen und winkte dem Kapitän mit seinen Skistöcken in der Hand zu, schwankte und glitt auf der metallenen Schiffsbrücke aus. Seine Skier schlitterten zur Seite. Erika schrie laut auf. Der Kapitän und andere Passagiere eilten herbei. Sascha blieb sitzen, umklammerte sein Knie und stöhnte. Er krempelte seine Skihose hoch und stellte fest, dass das Knie ziemlich rasch anschwoll. Jemand schlug vor, einen Doktor zu rufen. Aber Sascha sagte bestimmt, er wolle nur nach Hause gehen. Er zurrte sein wollenes Halstuch um sein Knie und liess sich auf das gesunde Bein helfen. Auf die Skistöcke auf der einen und auf Erika mit den vier geschulterten Skiern auf der anderen Seite gestützt, humpelte die beiden zum Tram. Vom Paulusplatz aus hüpfte Sascha mit Erikas Hilfe auf einem Bein bis zu seinem Haus an der Voltastrasse.
Zuhause angekommen, meinte Sascha, wahrscheinlich müsse man doch einen Arzt holen. Er bat Erika, Werner zu telefonieren und von ihm die Telefonnummer seines Doktors zu verlangen. Erika schilderte Werner kurz, was geschehen war und Werner anerbot sich, vorbeizukommen. Sascha liess aber Werner ausrichten, dass er von Erika mehr als gut betreut werde, Werner solle ruhig weiterarbeiten.
Erika telefonierte dem Arzt. Nach einer halben Stunde war der Doktor da, untersuchte Saschas Knie und stellte eine Knieverdrehung fest. Er umwickelte Saschas Bein mit Bandagen, führte ihn hinunter zu seinem Auto und fuhr mit ihm zu seiner Praxis an der Morgartenstrasse, damit er ihm im Ordinationszimmer eine Schiene und einen Gips anlegen konnte. Erika wünschte viel Glück und bat die Heilige Mutter in Niederrickenbach oben nochmals um Hilfe, diesmal auch für Sascha. Dann ging sie aufgewühlt nach Hause.
Verwirrung mit Ärzten, Hoffnung auf die Freiwirtschaft
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39.  Verwirrung mit Ärzten, Hoffnung auf die Freiwirtschaft

An einem Montagmorgen im März öffnete Erika das Fenster im Wohnzimmer. Nach einigen nebligen Tagen stand endlich wieder einmal die Sonne am blauen Himmel, Frühlingsanfang, 21. März 1938. In knapp vier Wochen wird das Osterfest gefeiert, dachte die bald 27-jährige Erika. Es schien ihr, als ob draussen über Nacht etwas Neues hervorgebrochen sei, etwas, das mit der frischen Luft ins Wohnzimmer strömte und die ganze Wohnung durchflutete. Erika machte einen tiefen Atemzug, hielt die eingeatmete Frühlingsluft kurz an und blies sie wieder aus, hob beide Arme hoch, streckte sich. Heute fühle ich mich seit langem wieder einmal frisch, frei und fröhlich. Das wird wohl deshalb so sein, weil der Schnee jetzt weg ist und die Tage langsam wieder freundlicher, heller und länger werden. Guten Morgen, schöne Welt draussen! Erika blickte auf den Bundesplatz hinunter und malte sich aus, wie sie ihr Kind, wenn sie eines hätte, in den Kinderwagen setzen und mit ihm ins nahe gelegene Vögeligärtli unter die noch kahlen, aber von der Sonne beschienenen Bäume ginge, wie sie zusammen dem ersten Frühlingsgesang der kleinen Vögel lauschten. Sie seufzte. Ich sollte aufhören, mich als Mutter vorzustellen. Es bleibt ja doch alles beim Alten. Es wäre aber so schön, wenn ich heute mit Sascha einen Spaziergang an der Frühlingssonne machen könnte! Erika löste sich von ihren Fantasien und ging ins Schlafzimmer, um die Betten zu machen. Dabei wanderten ihre Gedanken zurück zu zwei grässlichen Aufregungen. Während einer ganzen Woche Ende Februar schlief ich allein im ehelichen Schlafzimmer. War das eine Aufregung! Ich wusste mir fast nicht mehr zu helfen, so grässliche Angst hatte ich die ganze Zeit! Erika setzte sich aufs Bett und liess die nervenaufreibende Zeit noch einmal vor ihr vorbeiziehen. Nach dem Skiausflug mit Saschas und seiner Knieverletzung sass ich abends mit Werner am Tisch hinter einem Teller Erbsensuppe und Brot. Ständig musste ich an Sascha denken und an Werners bevorstehende Operation. Appetit hatten wir beide keine. Wir waren erleichtert, als Sascha am späten Abend noch telefonierte und mitteilte, dass der Arzt sein Knie fixiert und ihn anschliessend zur Bahn nach Zürich gebracht habe. Mein Onkel holte mich am Zürcher Bahnhof mit dem Auto ab, berichtete er den Königs. Ich lasse mich jetzt von meiner Tante am Zürichberg nach Noten verwöhnen. Werner, ich wünsche dir viel Glück für die Operation und Erika baldige Erholung vom Schrecken!

Werners Leistenbruch-Operation verlief gut. Er musste eine Woche im Spital bleiben. Erika besuchte Werner jeden Tag. Im Krankenzimmer bat er seinen Arzt, nochmals einen Spermien-Untersuch zu machen. Der Befund war derselbe: keine Spermien. Erika schüttelte den Kopf. Ich verstehe nicht, weshalb Werner diesen Untersuch ein weiteres Mal machen liess. Erikas Gedanken wanderten immer noch zurück. Als ihre Erinnerungen an das Vorkommnis im Spital zurückkamen, wurde sie dabei über und über rot. Schon kam der nächste Schrecken.

Ich war bei Werner am Bett im Spital, als sein Arzt und Operateur ins Krankenzimmer kam. Es war derselbe Arzt, der Saschas Knieverletzung behandelt hatte. Wir schauten einander verdutzt an, mir wurde ganz heiss. Es war mir ausserordentlich peinlich, dass mich dieser Doktor bei Sascha gesehen hatte und mich dann im Spital als Werners Ehefrau antraf. Nach einer mir endlos vorkommenden Weile lächelte der Doktor und bat mich, das Zimmer einen Moment lang zu verlassen, damit er sich Werner zuwenden könne. Völlig aufgeregt sagte ich mir draussen ununterbrochen: Es war in Ordnung, Werner hat mich auf den Skiausflug mit Sascha geschickt. Werner war einverstanden. Trotzdem schämte ich mich fürchterlich. Auch Mama und Papa besuchten Werner und sie luden mich mehrmals zum Essen an die Sälistrasse ein. Zum Glück ist das alles Vergangenheit, Werner ist wieder ganz gesund und geht zur Arbeit, aber es ist schade, dass Sascha immer noch seine Knieverletzung in Zürich auskurieren muss. Wir haben uns so lange nicht mehr treffen können! Erika sass immer noch auf dem Bett, löste sich nur langsam von ihren Erinnerungen und kam wieder in die Gegenwart zurück. Sie stand auf, strich Werners Kopfkissen glatt und deckte die Betten mit dem dunkelroten Überwurf aus Chintz zu.

Während seiner Genesungszeit hatte Werner Zeit, sich allen gesammelten und noch nicht gelesenen Zeitungsausschnitten zum Thema Freiwirtschaft zu widmen. Eines Abends gestand er Erika, dass ihn dieses Thema nicht mehr loslasse, seit er im Jahr 32, mitten in der grossen Wirtschaftskrise, eine Vortragsreihe von Professor Hans Bernoulli über Silvio Gesells Vorstellungen einer Natürlichen Wirtschaftsordnung gehört hatte. Die Natürliche Wirtschaftsordnung ist die Antwort auf die Fragen, die mir schon in Amerika keine Ruhe gelassen hatten.

Die freiwirtschaftliche Bewegung gründet auf den Lehren des 1930 verstorbenen Kaufmanns und Sozialreformers Silvio Gesell. Er strebte die Vollbeschäftigung aller in einer stabilen liberalen Marktwirtschaft an und war der Überzeugung, dass Bodenspekulation und Kapitalzins der Grund für soziale Ungleichheit und konjunkturelle Schwankungen sind. Diese Meinung teile ich, denn Luft und Licht gehören allen Menschen. Die Lösung wäre, dass der Staat es in Besitz nimmt und zur privaten Nutzung verpachtet. Dabei sollte ein Teil des Ertrags der Gemeinschaft zu Gute kommen. Zudem sollte das 'Freigeld' immer in Umlauf bleiben. Wer es hortet, sollte mit Negativzinsen bestraft werden. 

Werner führte in letzter Zeit lange Telefongespräche mit seinen Gesinnungsgenossen der Freiwirtschaft, Rolf Meyerhans und Hans Brodbeck. Erika und Werner waren schon einmal bei den Brodbecks auf dem Luzerner Wesemlin eingeladen. Die beiden Frauen langweilten die passionierten wirtschaftlichen Theorien ihrer Männer, und sie beschlossen, zusammen einen Spaziergang im Wesemlinwald zu machen. Auf dem Weg erzählte Frau Brodbeck, dass sie ihren Hans oft am liebsten im Ehebett zertrampeln möchte, wenn er ihr bis spät in die Nacht hinein seine freiwirtschaftlichen Theorien und Ideale erklären will. Die Frauen fühlten sich als Verbündete. Als Werner ein paar Tage später wieder mit der Freiwirtschaft anfing, rief Erika: „Noch ein Wort, und ich zertrample dich!“ Werner musste lachen, und Erika erzählte ihm von Frau Brodbecks Fantasien. Seit diesem Vorkommnis liess Werner seine Frau in Ruhe damit. Während sich Werner und seine Gesinnungsgenossen in der Schweiz im Herzen Europas Gedanken zu einer gerechteren Wirtschaftsordnung machten, braute sich im Ausland immer mehr die Gefahr eines Krieges zusammen. Alle Nachrichten drehten sich nur noch darum.
Der Führer und Reichskanzler, seit bald fünf Jahren an der Macht, feierte diesen Frühling einen aussenpolitischen Triumph: Im März verleibte er Österreich dem Deutschen Reich ein. Er bezeichnete den Einmarsch der deutschen Wehrmacht-, SS- und Polizeieinheiten in Österreich als 'Anschluss', welcher offiziell durch das am 13. März 1938 verabschiedete 'Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich' vollzogen worden war. In der Schweiz verursacht der Zustrom von Flüchtlingen aus Österreich eine scharfe Reaktion. Trotz der getroffenen Massnahmen überqueren Juden weiterhin die Schweizer Grenze. Der Verein 'Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen' kümmert sich um sie.

Saschas Überraschungsbesuch und ein mechanisches Baby
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40.  Saschas Überraschungsbesuch und ein mechanisches Baby

Erika hatte Sascha sechs Wochen lang nicht mehr gesehen. Am ersten Sonntag im April, vierzehn Tage vor Ostern, tauchte Sascha unerwartet auf und überraschte die Freunde an der Bundesstrasse. Er erzählte von den letzten Wochen, die er wegen seiner Knieverletzung bei Tante und Onkel am Zürichberg verbracht hatte. Vor kurzem wurde der Gipsverband weggenommen. „Stellt euch das vor, jeden Tag muss ich für mein Knie bestimmte Leibesübungen absolvieren.“ Bei dieser Vorstellung mussten Erika und Werner laut lachen. Und grossartig fuhr Sascha weiter. „Ich bin jetzt stolzer Besitzer einer eigenen Schreibmaschine, einer Hermes-Baby. Nicht nur die Buchhaltungsblätter für das Geschäft meines Onkels werden damit viel übersichtlicher, auch meine Vorlesungen schreibe ich viel schneller. Und kann’s nachher noch lesen! Das Gute an meiner Immobilität war, dass ich viel Zeit zur Verfügung hatte, um meine Freunde, die Beurers und Margret Sachs zu treffen. Margret Sachs erkundigte sich übrigens mehrmals nach euch. Können wir vielleicht einmal alle zusammen einen Sonntag verbringen, an anregendem Gesprächsstoff würde es uns sicher nicht mangeln.“

Nach der langen Zeit der Trennung hätte Erika Sascha lieber unter vier Augen getroffen. So fand sie seinen Vorschlag einerseits verdriesslich, andererseits freute sie sich über ein Treffen mit dieser interessanten Frau Sachs. Und sie beneidete Sascha um dessen Hermes-Baby. Allein das Wort Baby war verlockend. Sascha versprach, dass man sich nach den Osterferien wieder sehen würde. Zu wissen, dass sie erst nach Ostern wieder mit Sascha zusammen sein konnte, gab Erika einen Dämpfer. Um ihre Enttäuschung zu verbergen, ging sie in die Küche ginge, um Kaffee zu machen.

Als sie mit einem Krug dampfender Ovomaltine zurückkam, erzählte Sascha von der Eranos-Tagung, welche 1936 zum ersten Mal in der Nähe von Ascona stattgefunden hatte. Er erzählte begeistert, dass Carl Gustav Jung dort vor bald zwei Jahren einen Vortrag über die Erlösungsvorstellungen in der Alchemie gehalten und erstmals Einblick in seine eingehenden alchemistischen Forschungen gegeben habe. „Denk dir, Werner, diese weise Voraussicht meines Mentors und Meisters! Er deutete die Ereignisse in Deutschland als Ausbruch eines schlummernden Archetyps. Wir hätten geglaubt, in einer rationalen und vernünftigen Zeit zu leben; aber nun sei der Kriegsgott aufgewacht. Er sei ein Sturm- und Brausegott, ein Entfessler der Leidenschaften und der Kampfbegier. Niemand könne vorauswissen, wohin uns dieser Aufruhr, der ganz Europa erfasst habe, führen werde. Wie Recht hatte er!“ Und schon waren die beiden Männer wieder mitten in politischen und weltanschaulichen Diskussionen. Werner voll Vertrauen auf den Sieg der Vernunft, Sascha im Bann des Mythos. Dann sagte Sascha etwas Unerwartetes. „Wie ihr wisst, gibt es die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums mit den Autoren und Titeln von Büchern, welche von den Nationalsozialisten verboten worden sind. Mein Buch, Die seelische Situation der Gegenwart, welches 1935 im Rotapfel-Verlag erschien, steht auch auf dieser Liste. Eine Auszeichnung, nicht wahr?“
Werner und Erika waren perplex. Ungläubig starrten sie Sascha an. „Nein, das kann doch nicht sein“, rief Werner entrüstet, „welche Zumutung, eine Frechheit sondergleichen!“ Sascha beschwichtigte. Das Buch könne man ja in der Schweiz weiterhin kaufen – und nach einigem Nachsinnen: Es sei freilich kompliziert, nicht einmal der Vatikan hätte es verbieten müssen. Sascha brach in ein glucksendes Lachen aus. Erika schüttelte unmerklich den Kopf. Wie kann man nur so leichtfertig über so etwas Einschneidendes hinweg gehen? Und Werner sagte: „Kannst du uns ein Exemplar deines Werkes ausleihen? Ich möchte es gerne lesen, auch wenn ich nicht zur Gilde der Philosophen gehöre.“
„Das nächste Mal bringe ich euch ein Exemplar mit. Mit einer Widmung. Lies es auch, Erika. Wer über Philosophie schreibt, schreibt auch über sich selbst!“
Werner begann über die
Freiwirtschaft zu dozieren und fand in seinem Freund einen interessierten Zuhörer. Erika verzog sich mit Lesestoff ins Esszimmer. Nach einiger Zeit rief Werner. „Erika, komm! Zu uns herüber! Ich will dir etwas verraten.“ Die beiden Männer schauten sie verschmitzt an, wie Buben, die etwas ausgeheckt haben. Werner begann feierlich: „Ich habe eben den Entschluss gefasst, für uns eine Schreibmaschine zu kaufen, dieselbe wie Sascha, eine Hermes-Baby.“ Aus seinen Notizen zum Thema Technik las Werner vor: Ein Italiener namens Giuseppe Prezioso entwickelte diese nur sechs Zentimeter hohe und bloss vier Kilo schwere Schreibmaschine mit 42 Typen im Jahr 1935. Die Schweizer Firma Paillard im Waadtländer Jura vermarktet sie. Die Hermes-Baby kostet 160 Franken. Du kannst ja mit zehn Fingern schreiben! Ich habe vor, Zeitungsartikel zum Thema Freiwirtschaft zu verfassen. Würdest du sie dann für mich auf der Hermes-Baby tippen?" Statt zu antworten sah sich Erika an der Schreibmaschine ein Blatt Papier einspannen, mit der rechten Hand am glänzenden Hebel neben der Walze drei Schaltungen machen, die schwarzen Bakelit-Typen mit den weissen Buchstaben- und Zahlensymbolen drücken und schreiben. Meine liebe Freundin Ruth. Du bist so weit weg in Belgien, aber jetzt kann ich dir alles schreiben, was hier passiert. Wie du siehst, haben wir jetzt eine Schreibmaschine zu Hause…
Wirst du meine Artikel auf der Hermes-Baby schreiben?“
„Ja, ja, das will ich gerne tun! Ich habe allerdings seit gut drei Jahren nicht mehr mit einer Schreibmaschine geschrieben.“
„Das verlernt man nicht, sowenig wie das Skifahren, “ meinte Sascha. Aber man muss lernen, nach dem Skifahren nicht hinzufallen und das Knie zu verletzen!"

Mamas Geburtstag
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41.  Mamas Geburtstag
Der 22. April 1938 war der sechzigste Geburtstag von Erikas Mutter. Am Morgen besuchte Erika ihre Eltern. Emma zeigte ihr einige Briefe von Freunden und liess sie an einem herrlich duftenden Fliederstrauss riechen, das Geschenk ihres Mannes. Während ihre Eltern Teetassen auftischten, öffnete Erika das Fenster und schaute auf die beiden Schulhäuser und den grossen Pausenplatz hinunter. Die Kinder trollten lärmend und lachend herum. Ihre Lehrer und Lehrerinnen kamen aus dem Schulhaus heraus und führten die Kinder in ordentlichen Zweierreihen in ihre Schulzimmer zurück. Auf einen Schlag wurde es mäuschenstill. Erika sinnierte: ob mein Kind auch einmal hier zur Schule geht? Ohne es zu merken, stellte sie sich stets ein Mädchen vor. Jäh wurde sie von ihrem Papa aus ihren Träumereien herausgerissen: "Erika, komm setz dich zu uns. Lass uns unsere liebe Mama feiern!"
Christian und Emma schwelgten in ihren Ferienerinnerungen am Genfersee. "In Caux hatte man einen wunderbaren Ausblich auf die Französischen und Schweizer Alpen". Emma beschrieb die beiden imposanten Hotels, das Grand Hotel und das Hotel Caux Palace aus der Belle Epoque, wo Sissi von Österreich-Ungarn zu den prominenten Gästen gehört hatte. "Und wie geht's Werners Verwandten?" "Es geht allen seinen Verwandten gut. Max hat sich nach dem Konkurs wieder aufgefangen und sein neues Eisenwaren-Geschäft läuft recht gut. Wie überall machen sie sich aber Sorgen wegen eines möglichen Krieges. Die Kinder von Max und von Eugen werden schnell grösser.
Erika nahm einen Schluck aus der zierlichen Teetasse mit japanischem Motiv und schwärmte von der neuen Schreibmaschine: "In weniger als einer halben Stunde schrieb ich Ruth einen zweiseitigen Brief. Ich tippte auch schon einen Zeitungsartikel für Werner. Für letzteren brauchte ich aber länger als Werner für seinen Entwurf von Hand. Ständig wollte er Verbesserungen und Änderungen. Also musste ich immer wieder ein neues Blatt Papier einspannen und von vorne beginnen. Ich glaube, wir brauchen schon bald ein neues Farbband, damit die Buchstaben wieder gestochen scharf herauskommen!"
"Was, so viel Papier braucht man?", fragte Emma ungläubig. Und wie kann man bloss einem Menschen auf diese mechanische Weise seine echten Gefühlen schreiben! Der arme Gentleman, der seiner Angebeteten die Einladung zu einem romantischen tête-à-tête so prosaisch schreibt. Die erscheint dann in Bergschuhen…! Und wer bezahlt das viele Papier, das man mit dieser Maschine verbraucht?" Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Rocktasche. "Christian besitzt eine wunderbare Handschrift, schau, was Papa mir heute Morgen zu meinem 60. Geburtstag geschrieben hat!"
Mit Freuden bringen wir heut zum fünfzigsten Jahr,
Der lieben Mama die herzlichsten Glückwünsche dar.
Wir wünschen Gesundheit dir, Glauben und frohen Mut,
Denn diese drei Perlen, die bergen das köstliche Gut.


(1) Zum 60. Geburtstag der lieben Mamma
Zum 60. Geburtstag der lieben Mamma

 Es klingelte an der Türglocke: der Postbote, der ein Telegramm für Emma brachte. Ungeduldig riss Emma den Umschlag auf. Es kam von Werner, der ihr von Zug aus zum Geburtstag gratulierte. Erika war stolz auf Werners gute Manieren. Auch Emma und Christian waren voll des Lobes für ihren Schwiegersohn. Erika war überzeugt, dass Papa Recht hatte: Nie darf Mama von meinem Verhältnis mit Sascha etwas erfahren! Sie war froh, Emma in die Küche folgen zu können, um gemeinsam das Mittagessen vorzubereiten. Beim Rüsten der Karotten und Kartoffeln erzählte Erika aufgekratzt, dass sie am Tag zuvor mit ihren Freundinnen Marili und Lilly in Lillys Haus in Ebikon eingeladen war. "Lilly hat von ihrer Schwester das neue Kartenspiel, Canasta, gelernt und es uns beigebracht. Das Spiel hat uns alle auf Anhieb begeistert, wir haben gleich unseren Canasta-Club gegründet."
Emma schüttelte den Kopf: "Ich weiss nicht, ob es sich geziemt, dass junge Frauen ihre Freizeit mit Kartenspielen vertun. Zu guter Letzt kommt ihr sogar auf die Idee, um Geld zu spielen!"
"Ach, Mama, was du dir einbildest, du hast ein richtiges Katastrophendenken!“
"Wie kannst du deiner Mutter nur ein solches Schimpfwort an den Kopf werfen", rief Emma erbost: "Katastrophendenken! Katastrophendenken! Woher hast du das, wie kommt dieses Wort nur in deinen Wortschatz!"
Christian wusste aus Erfahrung, dass es wenig brauchte, dass Mutter und Tochter aneinander gerieten. Er kam in die Küche und anerbot sich, den Tisch zu decken. Unter Protest der Frauen wühlte er so lange in der Schublade mit dem Besteck, öffnete etliche Male alle Küchenkästchen, um drei Teller zu finden bis er sicher war, dass sich der Sturm gelegt hatte. Um einen möglichen neuen Sturm zu verhindern, kam er bald in die Küche zurück und erkundigte sich listig, auf welche Seite denn die Servietten gehören.
Am Tisch erzählte Erika von einer neuen Erfindung, einem Faden mit dem Namen Nylon, welcher in Amerika hergestellt werde. Bekanntlich ist ja meine Freundin Lilly Schneiderin. Sie schilderte uns ausführlich, was man mit diesem künstlichen Faden alles fabrizieren kann, ganz leichte Stoffe zum Beispiel, die nicht knittern und die man nicht bügeln muss. In Amerika werden sogar Zahnbürsten mit Nylonborsten hergestellt. Und es soll schon noble Damen geben, die durchsichtige Strümpfe aus diesem Nylon tragen. Vielleicht werden darum die Röcke immer kürzer! 

Unterschütterliche Gewissheit
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42.  Unterschütterliche Gewissheit
Frühling 1938. Das Gras der Grünanlage vor Erikas Haus am Bundesplatz fing kräftig an zu wachsen. Die Knospen an den Bäumen auf dem Helvetia-Platz platzten auf. Ein leichter Frühlingswind bewegte die jungen, hellgrünen Blättchen an den Ästen unter dem blauen Himmel. Spatzen und Meisen zwitscherten ihre Frühlingsmelodien. Leute flanierten ohne Eile durch die Strassen und genossen die Frühlingssonne an diesem ersten richtig warmen Tag des Jahres. Alle Fenster der Wohnung standen offen. Vom See her hörte man das langgezogene Hornen eines Dampfschiffes. Aus dem Innenhof drang fröhliches Kinderlachen zu Erika herauf. Eine erdig-duftende Frühlingsluft zog an diesem zwölften Mai durch die Wohnung und die Seele.
Erika stand vor der hohen Spiegelkommode und hielt das neue Frühlingskleid mit den kurzen Puffärmeln vor sich hoch. Lilly ist eine gute Schneiderin. Sie hat mich hervorragend beraten. Gut macht sich die betonte Taille mit dem Gurt aus demselben Stoff! Eigentlich sehe ich richtig gut aus! Oder etwa nicht? Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. Eine dunkelbraune Strähne löste sich aus ihrem kurz geschnittenen, naturgewellten Haar und fiel ihr in die Stirn. Mit der rechten Hand strich sie sorgfältig über den Baumwollstoff des Kleides. Die Grundfarbe war schwarz, der Stoff übersät mit Hunderten von kleinen weissen Gänseblümchen mit einem gelben Auge in der Mitte. Gezackte, dunkelgrüne Blättchen umranken die wie kleine Sonnen leuchtenden Blumen. Überall Frühlingserwachen!


(1) Erika im neuen Frühlingskleid, 1936
Erika im neuen Frühlingskleid, 1936

 Erika legte das neue Frühlingskleid mit einem zufriedenen Lächeln auf das Bett und holte die neuen Schuhe aus dem Kasten im Korridor. Sie setzte sich auf die Bettkante, zog die Hausschuhe von den Füssen und stieg in die schwarzen Schuhe mit dem eleganten Absatz. Sie band die Schuhe zu, stelzte in den Korridor hinaus und wieder zurück und drehte sich wie ein Mannequin. Sie zog die Schuhe wieder aus, schnupperte den feinen Lederduft ein und stellte das Schuhpaar neben das Bett. Wieder schaute sie in den Spiegel und sprach mit ihrem Spiegelbild: Das Blumenkleid und die neuen Schuhe ziehe ich heute an. Heute ist ein Feiertag! Endlich können Sascha und ich wieder ungestört und allein zusammen sein. So lange musste ich darauf warten! Wenn nur schon Mittag wäre. Nach dem Mittag holt mich Sascha ab. Juhui!
Aber es war erst 10 Uhr am Morgen. Damit ihr das Warten nicht zu lange wurde, nahm Erika den Besen zur Hand und kehrte die ganze Wohnung, sie nahm die Böden in der Küche und im Badezimmer feucht auf und polierte das Lavabo. Dann war es 11 Uhr. Erika zog eine Schublade aus dem Schreibtisch heraus und stellte sie auf den Esstisch. Zuerst fiel ihr der lange Brief ihrer Freundin Ruth aus Belgien in die Hände. Ruth schrieb, dass ihre kleine Tochter schon Schweizerdeutsch und Französisch spreche, dass das Zementwerk ihres Gatten trotz der allgegenwärtigen Kriegsangst gut laufe und dass sie ein zweites Kind erwarte. Neben dem Brief lag eine Ansichtskarte. Erika nahm das Bild des Berner Münsters auf. Auf der Rückseite hatte Marili ihre neue Berner Adresse und die Telefonnummer aufgeschrieben. Sie werde für ein Jahr in der Bundeshauptstadt in einem Zimmer wohnen. Zur Untermiete bei einer alleinstehenden Frau. Sie werde als Zahnarzt-Assistentin in der Kinderklinik von Bern arbeiten. Sie freue sich, mich und Lilly während der Ostertage zu treffen! Weiter kamen zwei alte Bahnbillette nach Utzenstorf zum Vorschein. Erika warf sie in den Papierkorb. Sie versorgte alle Papiere wieder fein säuberlich und brachte die Schublade zurück an ihren Platz. Über dem Papierkorb spitzte sie Werners Bleistifte mit einem scharfen Messer, legte sie zurück neben die glänzende Metallhülle, welche Werner stets über seine Bleistifte stülpt, um die Spitzen zu schonen. Er ist so genau mit allem, was er macht, dachte Erika und strich über den Papiervorrat für die Schreibmaschine, begutachtete ihr hellblaues Schreibpapier mit den passenden Briefumschlägen. Sie erlaubte sich ein bisschen zu träumen.
Erika versorgte alles wieder fein säuberlich und schob die Schublade zurück an ihren Platz. Über dem Papierkorb spitzte sie Werners Bleistifte mit einem scharfen Messer, legte sie zurück neben die glänzende Metallhülle, welche Werner über seine Bleistifte stülpt, um die Spitzen zu schonen. Er ist so genau mit allem, was er macht. Erika strich über den Papiervorrat für die Schreibmaschine und begutachtete ihr hellblaues Schreibpapier mit den passenden Briefumschlägen. Sie erlaubte sich ein bisschen zu träumen.
Endlich war es Mittag. Die Glocken der Lukaskirche und die der Pauluskirche läuteten fünf Minuten lang. Erika trank eine Tasse heisse Ovomaltine und ass ein Stück Brot mit etwas Käse und zwei rohen Rüebli. Nachher räumte sie die Küche auf. Jetzt war es Zeit sich anzukleiden. Sie zog das Gänseblümchen-Kleid an und die neuen Schuhe. Chic!
Endlich stand Sascha, gut gelaunt und erwartungsvoll vor der Türe. Erika bat ihn herein und schloss die Türe zu. Sie umarmten sich, erst ein wenig scheu, aber dann drückte Sascha Erika fest an sich. Erika wurde es über und über heiss. Als sich die beiden aus der Umarmung lösten, musterte Sascha Erika ausgiebig und liebevoll. Etwas ungeschickt fuhr er mit der Hand durch sein Kraushaar, rückte seine Brille zurecht und sagte anerkennend: "Liebe Erika, dieses Kleid steht dir ausgezeichnet! Du wirst immer schöner!" Erika wurde purpurrot.
Angesichts des milden, frühlingshaften Wetters schlug Sascha vor, auf dem Weg zu seinem Zimmer einen kleinen Umweg durch das Eichwädli zu machen. Von dort sei es ja nicht mehr weit bis zur Voltastrasse. Erika nahm ihre Wolljacke von der Garderobe und die beiden verliessen das Haus. An der Moosegg wollte Sascha unbedingt in die Kolonialwaren-Handlung: "Ich will eine Überraschung kaufen, etwas, das seit kurzem im Haushalt meiner Tante und meines Onkels in Zürich auf den Tisch kommt!" Voller Neugier folgte ihm Erika in den Laden. Drinnen roch es süsslich nach Kakao, vermischt mit dem herben Geruch von Kaffee und dem frischen Duft von Seife. Sascha bat die Verkäuferin im blauen Kleid und der weissen Trägerschürze mit einem weissen Häubchen um eine Büchse Nescafé. Die junge Frau holte eine dunkelbraune Eisendose aus einem Gestell heraus, stellte sie vor Erika und Sascha hin: "Der neuartige Kaffee löst bei unserer Kundschaft grosse Begeisterung aus!" Erika nahm die Büchse auf und las: Extrait de café pur en poudre.
Wieder draussen schwärmte Sascha von diesem Kaffee: "Es braucht keine Kaffeemühle mehr. Das Pulver wird einfach mit heissem Wasser übergossen und verwandelt sich sofort auf wundersame Weise in echten Kaffee mit natürlichem Duft und Geschmack. Ich werde dir an der Voltastrasse diesen Zaubertrunk vorsetzten." Erika freute sich und dachte einmal mehr: Sascha ist doch immer für eine Überraschung gut! Aber ist er sich eigentlich bewusst, dass dieses Kaffeepulver sündhaft teuer ist?
Im Eichwäldli bei der Luzerner Allmend pflückte Erika ein paar junge hellgrüne Kleeblätter, kostete davon und reichte ein paar Sascha. Beide spürten den frischen, säuerlichen Geschmack auf der Zunge.
"Jetzt ist es so richtig Frühling", rief Erika übermütig und tanzte um eine Eiche herum.
Sascha fing sie ein und legte seinen Arm um sie - und so durchschritten sie, erstmals ein richtiges Liebespaar, schweigend den Wald. Erika kam sich wie verzaubert vor. Alle Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges waren verflogen. Sie fühlte sich Sascha so nahe wie nie zuvor.

Bald stiegen die beiden im genossenschaftlichen Neubau an der Voltastrasse die Treppen hoch und traten in Saschas helles Zimmer ein. Die Sonne schien durchs Fenster und tauchte den Tisch und das Bett und die kleine Ku%u0308chenecke in goldenes Licht. Sascha setzte Wasser auf, o%u0308ffnete die Kaffeebu%u0308chse und verteilte je einen Teelo%u0308ffel Pulver in die beiden Tassen. Erika beobachtete ihren Freund beim Hantieren und dachte: Welch scho%u0308ne, rotblonde Farbe die Sonnenstrahlen in Saschas Haar zaubert! Sie wa%u0308re am liebsten mit beiden Ha%u0308nden durch Saschas Haar gefahren und ha%u0308tte ihn sanft aufs Bett gezogen. Sascha nahm die Wasserpfanne auf und deklamierte einen Zauberspruch: „Hokuspokusfidibee! Wasser wird zu Kaffee!" Erika konnte nicht aufho%u0308ren, das Spiel der Sonne in Saschas wildem Haar zu betrachten. Sie liess alle Bedenken fallen, streckte die Hand aus und begann Saschas Haar zu kraulen. Er ergriff sie sanft um die Taille und zusammen liessen sie sich aufs sonnenwarme Bett fallen.

Unterdessen war die Sonne untergegangen. Es wurde da%u0308mmerig und ku%u0308hler. Sascha zog die Bettdecke u%u0308ber beide, drehte sich Erika zu und streichelte ihren Hals und die sanfte Schulter. Er schaute ihr tief in die Augen: "Jetzt ist es da. Jetzt ist es passiert. Ich weiss es ganz genau." Erika wurde nicht klug aus diesem Ra%u0308tselwort: „Was denn? Was ist passiert? Es war doch scho%u0308n, oder nicht!" Sascha nahm Erikas Ha%u0308nde zwischen die seinen: „Das Kind ist da. Es ist gekommen.“

„Wie willst du das bloss wissen?“

„Ich weiss es einfach.“
Sascha schien keinen Moment lang zu zweifeln, er wusste es einfach. Und Erika glaubte ihm – und war glu%u0308cklich wie noch nie.

Endlich schwanger
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43.  Endlich schwanger
Ende Mai 1938. Erika ging zum Frauenarzt. Er bestätigte ihr ihre Schwangerschaft: "Ich gratuliere Ihnen, Frau König. Der Geburtstermin Ihres Kindes wird um den zwanzigsten Januar herum sein. Tragen Sie sich Sorge! Machen Sie jeden Tag einen Spaziergang an der frischen Luft und essen Sie viel Gemüse, meiden Sie aber den Kaffee! Kommen Sie in sechs Wochen wieder!" Der Doktor begleitete Erika hinaus und gab ihr die Hand zum Abschied.
Erika eilte so rasch sie konnte nach Hause. Werner war noch für eine weitere Woche in Holland. Sofort schrieb sie Werner die gute Nachricht auf hellblaues Büttenpapier, eilte damit zur Post an der Bundesstrasse und schickte den Brief nach Leiden.
Wieder daheim telefonierte sie Sascha in Zürich und erzählte ihm von ihrem Besuch beim Gynäkologen. Sascha sagte, er freue sich für Erika: "Wie schön und gut ist es, dass das Kind da ist!"
"Ja, das ist wunderschön", antwortete Erika; aber so richtig glücklich war sie nicht. Darauf schwiegen beide. Es gab nichts mehr zu sagen. Und Wichtiges blieb unausgesprochen.
"Auf Wiedersehen, Sascha."
"Auf Wiedersehen, Erika."
Beide legen ihre Telefonhörer wieder auf. Aber es schien, als wäre die Verbindung noch offen, als müsste etwas noch ausgesprochen werden.
In seinem Zimmer in der Villa am Zürichberg sass Sascha an seinem Arbeitstisch. Eine Weile starrte er noch abwesend auf den schwarzen Telefonapparat auf dem Tisch. Ein Zitat kam ihm in den Sinn: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Energisch schüttelte er den Kopf, stand auf und tigerte umher. Er fragte sich, woher das Zitat stammte. Er sah seinen Literaturprofessor im Gymnasium vor der Klasse stehen und dozieren:
Der Mohr tritt in Friedrich Schillers 'Verschwörung des Fiesco zu Genua' auf. Er sollte einen Auftragsmord ausführen. Doch er verbündet sich mit dem vorgesehenen Opfer und wird tiefer in die Intrigen hingezogen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen!
Er ging im Zimmer auf und ab. Wir haben einen Vertrag. Ich soll ein Kind zeugen. Wir unterschrieben in gegenseitigem Einverständnis, alle drei. Ich habe meine Pflicht erfüllt. Zugegeben, es war eine verführerisch schöne Pflicht. Ich habe Erika und Werner zu einem Kind verholfen. Ich hoffe sehr, dass wir alle in Freundschaft verbunden bleiben, auch wenn wir uns in Zukunft leider nicht mehr so oft sehen. Habe ich nicht alles, was ich brauche? Allem voran meine Freiheit. Es hat etwas Verlockendes, ungebunden zu leben, ohne festes Heim, ohne regelmässige Verpflichtungen, keine Kinder grossziehen zu müssen, ohne festgeschriebene Rolle und Stellung in der Gesellschaft – und es gibt noch viele schöne Frauen im Land! Ich passe in kein gutbürgerliches Schema. Ja, das bin ich, ein Freigeist! - Flüsterte da nicht eine leise Stimme: und ein Feigling?
In Holland überreichte der örtliche Chef der Landis & Gyr Werner Erikas Brief. Werner steckte das hellblaue Kuvert in seine Mappe. Am Abend erst öffnete er den Umschlag in seinem Hotelzimmer. Er sass auf dem Bett und las, dass Erika in Erwartung ist. Lange hielt er den Brief nachdenklich in den Händen. So, Erika, jetzt hast du endlich Ruhe. Du hast eine Aufgabe mit dem Kind und bist mit ihm beschäftigt. Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Ein Kind bringt auch Unruhe ins Haus. So ein Schreihals stört mich, wenn ich denken will. Und es kostet Geld. Ist es überhaupt vertretbar, in diesen unsicheren Zeiten ein Kind in die Welt zu setzen? Wo doch Krieg droht. Und es ist nicht einmal mein Kind. Ja, wir haben diesen Vertrag geschlossen, ich habe mich verpflichtet, diesem Menschenwesen ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Kleidung zu geben. Das will ich so halten, auch wenn mich die ganze Nachwuchsgeschichte nicht gerade freut. Aber Sascha, der ist schon in Ordnung. Werner setzte sich an den kleinen Tisch im Hotelzimmer, zog seine Ordner aus der Mappe und machte sich hinter das Studium seiner technischen Pläne. Ich liebe lösbare Probleme. Würden die Menschen mehr der Vernunft trauen, hätten wir eine bessere Welt.
Kurz nach seinem 38. Geburtstag kam Werner wieder nach Hause. In seinem Koffer brachte er winzige, feuerrote Pantöffelchen heim, streckte sie Erika entgegen und sagte, er freue sich, dass ihr sehnlichster Wunsch, Mutter zu werden, in Erfüllung gehe. Er stellte eine Flache Genever auf den Tisch: „Mit diesem Wacholderschnaps stossen wir an!“
Im Schlafzimmer stellte sich Erika vor den grossen Spiegel und schaute sich lange prüfend an. Endlich sagte sie ihrem Spiegelbild laut und deutlich drei Worte: Ich bin schwanger.
Erikas Rückschau
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44.  Erikas Rückschau


(1) Erika König-Wickart, 1995
Erika König-Wickart, 1995

Fünfundfünfzig Jahre sind ins Land gegangen, seitdem sich die hübsche, am Anfang ihrer Schwangerschaft noch schlanke 26-jährige Erika im Spiegel betrachtet hatte.

Ende Februar 93 sass Erika König-Wickart in ihrem Lehnstuhl in ihrem modernen und gemütlichen Wohnzimmer an der Birkenstrasse 12 in Luzern. Die bald 82-jährige Grossmutter blickte auf ihr langes Leben zurück: Ist mein Leben geglückt oder nicht? Ich weiss es nicht. Es ist kaum zu glauben, was ich während all dieser Jahre alles erlebt hatte. Der zweite Weltkrieg erschütterte die Menschen und Völker. Ich erinnere mich an den 26. Juni 1945, der Tag vor meinem 34. Geburtstag, als die UNO gegründet wurde. In der Nachkriegszeit dann der Wiederaufbau der kriegsversehrten Länder. Durch die Teilung in einen West- und Ostblock entstand eine neue Weltordnung. Die kapitalistische USA und die kommunistische Sowjetunion stehen einander feindlich gesinnt gegenüber. Während des Krieges wurde ich Mutter zweier Kinder. Zu Viert erlebten wir die Zeit des Kalten Krieges. Er beeinflusste unser aller Leben bis in die 1980er Jahre hinein. Erika rief sich den Prager Frühling, die Kubakrise und den Vietnamkrieg ins Gedächtnis. Krieg – immer wieder Krieg! Wer ist verantwortlich? Das ist schwer zu sagen. Jetzt schweifte sie ab und erinnerte sich an die 60er Jahre. Die Hippies: Make Love, Not War. Das war die Reaktion auf das einseitige Streben nach Geld und Wohlstand in jener Zeit. Ja, ja die Liebe, sie verwirrt mich immer noch. Als junge Frau versuchte ich es allen richtig zu machen. Ist es mir gelungen? Wer weiss. Sie lächelte und schüttelte ungläubig den Kopf, als sie an die turbulenten Jahre als junge Ehefrau und Geliebte eines russischen Juden dachte.

Sie zog den Hocker heran, lagerte ihre Beine hoch und lehnte sich zurück. Ihre Züge verfinsterten sich. Die Aufregungen der letzten Wochen und Tage tauchten vor ihr auf: Alles wäre nach Wunsch gegangen, hätte Walter mit seinen schamanischen Lehrern und ihren seltsamen Zeremonien nur nicht herausgefunden, dass Sascha der leibliche Vater ist. Wie war das nur möglich! Ein Rätsel. Und er hätte seiner Schwester diesen Brief keinesfalls schreiben dürfen! Noch ein Verrat! So wurde ich gezwungen, mein Jahrzehnte lang gehütetes Lebensgeheimnis preiszugeben. Wenn es nur nicht noch mehr Menschen erfahren.

4 Februar 1993
Liebe Brigit
Ich danke dir für deinen Gruss zu meinem 50. Geburtstag. Ich habe gelernt, dass die Wahrheit nie verletzt. Was jedoch verletzend ist, sind die Lügen und Intrigen, das, was wir einander verheimlichen. Wahrheit ist jedem Menschen zumutbar. Das ist der Grund, weshalb ich mich nicht an das Versprechen halte, auf das mich Mami verpflichten wollte, und dir diesen Brief schreibe. Alles kam so: Im Rahmen meiner Ausbildung für Schamanisches Heilen habe ich eine Zeremonie gemacht und - ich kann es noch kaum glauben - herausgefunden, dass unser Vater, Werner König, während einem halben Jahrhundert für uns unser Vati, nicht unser leiblicher Vater ist, sondern Sascha Fraenkel, der Freund unserer Eltern, an den ich mich nur vage erinnere. Ich weiss, dass die inneren Bilder, welche im Rahmen und Schutz der Jahrtausende alten Zeremonien kommen, nicht lügen. Die Ahnengeister sagen immer die Wahrheit. Sascha ist demnach ohne Zweifel mein Erzeuger. Und deiner auch. Vor zwei Wochen, am Morgen nach der Entdeckung, habe ich Mami angerufen: "Du, ich hab einen Traum gehabt. Dass Sascha unser richtiger Vater ist." – "Ach, was für komische Träume du hast!" – Das klang so überzeugend, dass ich wieder Zweifel hatte und darum mit Freunden eine zweite Zeremonie inszenierte, die endgültig Klarheit brachte. Darauf rief ich Mami in Luzern wieder an: "Ich komme morgen zu dir. Ich hab etwas zu besprechen." – Schon unter der Wohnungstüre war klar, dass Mami wusste, dass ich es weiss! Nach einigen Floskeln kam ich zur Sache: "Die Ahnen lügen nicht. Sascha hatte gesagt: Ja, ich bin dein richtiger Vater – aber jetzt will ich davon nichts mehr wissen. Und Werner sagte: Es stimmt, ich bin nicht dein richtiger Vater – aber ich möchte, dass du mich trotzdem als Vater betrachtest. Die Ahnengeister haben gesprochen. Mami konnte nicht weiter leugnen. Sie begann zu erzählen: Von der medizinischen Untersuchung, von ihrem Kinderwunsch, von Saschas gewagter Idee und dann der gemeinsame Vertrag. Dass es Jahre dauerte, bis sie mit dir schwanger wurde... Die Grundzüge dieser verrückten Geschichte eben. Ich war erleichtert, auf einmal fielen die Dinge an den rechten Ort.


In einer Art und Weise, die keine Widerrede duldete, sagte mir meine Tochter: "Walters Entdeckung war ein grosser Schock für mich. Ich konnte mich lange nicht davon erholen. Aber diese Wahrheit hat auf einmal viel Rätselhaftes in meinem Leben erklärt. Meine konfusen Gefühle, meine unerklärlichen Entscheide. Aber dieses verrückte Leben, das ihr zu dritt gewählt habt, das ist auch eine spannende Geschichte, ein Stück Zeitgeschichte. Ich möchte sie für unsere Nachkommen aufschreiben. Du musst mir jetzt alles genau berichten."

So kam es, dass Brigit und ich einen ganzen Sonntag lang zusammensassen. Ich erzählte und sie schrieb alles auf. Als ich ans Ende der Geschichte kam, wusste ich nicht, ob ich erleichtert, wütend, enttäuscht oder traurig sein soll, oder einfach alles zusammen.

Am Ende sagte ich: "So, nun kennst du die Geschichte, Brigit, die Ereignisse bis ich mit dir schwanger geworden bin. Begreifst du, weshalb ich sie dir und Walter nie erzählen konnte? Verstehst du, weshalb Werner und ich kein Wörtchen davon verraten wollten? Werner, Sascha und ich hatten einander Stillschweigen über die Vaterschaft versprochen. Wir hatten alle drei unsere Unterschrift unter den Vertrag gesetzt. Wir, ich musste mich daran halten. Wir waren uns bewusst, dass wir illegal handelten; aber was sollten wir tun? Verzichten? Leiden? Uns trennen – mitten in der Wirtschaftskrise? Wir versprachen uns auch, den Vertrag, alle Fotos und alle Dokumente mit dem Tod eines von uns dreien zu vernichten. Das haben wir getan."

Die Kriegszeit scheint mir heute so weit weg, und doch erinnere ich mich an gewisse Vorkommnisse, als ob sie erst vor kurzem geschehen wären. Noch heute ist es unvorstellbar, dass im Zweiten Weltkrieg über 55 Millionen Menschen umkamen. Mit der Nachricht: Seit 05.45 Uhr wird zurückgeschossen verkündete der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler am 1. September 1939 dem Reichstag in Berlin und der ganzen Welt den Einmarsch der deutschen Truppen in Polen. Wir wussten: Jetzt ist Krieg! Zwei Tage später gab der englische Premier Chamberlain bekannt: England ist im Krieg mit Deutschland. Frankreich schloss sich wegen seiner Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen den Engländern an. So begann der Zweite Weltkrieg. Schon 1942 gab es erste Judentransporte nach Auschwitz und Theresienstadt. Jüdische Menschen wurden in Gaskammern umgebracht. Im Februar 1943 wurde den Juden die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Sie waren ohne Rechtsschutz und unterstanden der Polizei.

In der Schweiz ging es den Menschen vergleichsweise gut. Wir hatten immer genug zu essen, auch wenn die Nahrungsmittel rationiert waren. Freilich, die meisten arbeitsfähigen Männer waren im Aktivdienst. So arbeiteten die Frauen und Kinder, besonders auf dem Lande, oft über ihre Kräfte. Viele Grünflächen in der Stadt dienten als Kartoffelacker, so auch diejenige vor unserem damaligen Haus am Bundesplatz. Uns fehlte es an nichts Lebensnotwendigem. Niemand wusste aber, wie sich das Kriegsgeschehen um uns herum entwickeln würde. Wir lebten mehr oder weniger ständig in unterschwelliger Angst. Und niemand wusste, was mit den Juden in der Schweiz passieren würde. Weil Sascha Jude war, war ich sehr besorgt. Und ich bekam einen gewaltigen Schrecken, als ich 1943 mit dem etwa acht Monate alten Walterli im Lindengarten spazierte. Eine Frau guckte entzückt in den Kinderwagen und rief: Schau mal her, so ein hübsches Judebüebli! In Deutschland hätte das in den Vierzigerjahren unseren Untergang bedeuten können.

Werner war der Vati von Brigit und Walter. Dank ihm hatten wir während der Kriegsjahre alle ein Dach über dem Kopf, zuerst am Bundesplatz bis 1941, nachher an der Taubenhausstrasse 6 in einem Neubau mit grossen Fenstern und einem Südbalkon mit Blick auf den Pilatus bis zum Umzug an die Reckenbühlstrasse 7 im Jahr 1954. Wir konnten immer alles Nötige kaufen, wir hatten während des ganzen Krieges genug Essen auf dem Teller. Aber wir lernten alle zu sparen, die alltäglichen Dinge und eine erzwungene Bescheidenheit wertzuschätzen.

Im Mai 1940 erklärte die deutsche Reichsregierung den Niederlanden den Krieg und griff das Land aus der Luft an. Der Kontakt zu Leiden brach ab. Werners Projekt verschwand vorerst in der Schublade. Werner hatte mit der Entwicklung der Fernsteuerungsanlagen sein Können und sein grosses Wissen als Elektro-Ingenieur im Forschungs- und Entwicklungsbereich unter Beweis gestellt. Aber wir hatten Glück. Werner wurde während der Kriegsjahre von der Firma Landis & Gyr mit inländischen Entwicklungsarbeiten beauftragt. Er hatte immer genug Arbeit und war im Vergleich recht gut bezahlt. Nach dem Krieg wurden die Fernsteuerungsanlagen in Leiden und in anderen Städten in Holland dann doch noch in Betrieb genommen. Werner wurde geehrt und erhielt den Titel Oberingenieur.



(2) Werner, 1954
Werner, 1954

Mein Vater, Christian Wickart, starb 1943. Nur ihn und meine beiden Freundinnen, Marti in Zürich, und Renée in Genf, hatte ich in mein Verhältnis mit Sascha und unseren Vertrag eingeweiht. Sie alle behielten das Geheimnis das ganze Leben lang für sich. Weder meiner besten Freundin Marili, die fast zu unserer Familie gehörte, noch Lilly verriet ich unser Geheimnis. Heute gilt eine andere Moral als in den 30er- und 40er-Jahren. Trotzdem dürfen diese Freundinnen ‹meine Geschichte› auf keinen Fall erfahren! Wir kommen immer noch alle zwei Wochen zum Canasta-Spiel zusammen und reisen ein bisschen in der Welt herum! Ich müsste sterben vor Scham, wenn bekannt würde, dass ich nicht Werners treue Gattin war, als die meine Freundinnen mich sehen. Wieso nur musste Walter mein Lebensgeheimnis auffliegen lassen! Ich bin richtig zornig auf ihn!


(3) Erika und Dr. med. dent. Marili Jung, 1986

Erika und Dr. med. dent. Marili Jung, 1986

Erika erinnerte sich an die Zeit während ihrer ersten Schwangerschaft. Ich fühlte mich selten gut. Jeden Morgen war es mir übel. Werner arbeitete viel, oft auch am Sonntag. Saschas Ethik-Zyklus war beendet. Er gab sein schönes Zimmer an der Voltastrasse auf und zog wieder bei Tante und Onkel in Zürich ein. Während der Schwangerschaft sahen wir uns selten.

Im Sommer verbrachten Werner und ich angenehme Ferien in Arosa. Wir machten Wanderungen und leichte Bergtouren. Man sah mir lange nicht an, dass ich ein Kind erwartete. Erst nach den Ferien erzählten wir meinen Eltern, dass ein Kind unterwegs sei. Mama freute sich riesig und Papa auch. Papa wusste natürlich, wer der Vater des Kindes war, aber er verriet es keinem Menschen.

Noch heute schäme ich mich, wenn ich an die verhängnisvolle Begegnung kurz vor dem Geburtstermin denke! In der Stadt kam mir Werners Arzt entgegen, der Doktor, der Werner operiert und derselbe der Arzt, der Sascha Knieverletzung behandelt hatte. Der Doktor kannte daher das Resultat des Labor-Tests; er wusste, dass Werner keine Kinder zeugen konnte. Zudem hatte mich der Arzt damals bei Sascha gesehen. Der Doktor grüsste mich, sah, dass ich schwanger war, und fragte mich: „Wie geht‘s diesem Herrn Professor?“ Ich lief einfach weg und hätte vor Scham in den Boden versinken mögen. Zum Glück hielt sich der Arzt an sein Berufsgeheimnis.

Einen weiteren Schrecken erlebte ich, als ich hochschwanger war. Kurz vor Weihnachten ging ich mit meiner Tasche am Arm einkaufen. Schneematsch lag auf den Strassen. An einem Haus an der Habsburgerstrasse waren Bauleute auf einem Baugerüst an der Arbeit. Plötzlich hörte ich einen durchdringenden Schrei. Ein Bauarbeiter stürzte vor mir vom Gerüst. Sein Körper prallte auf der Strasse auf. Ich erschrak furchtbar und lief sofort nach Hause. Ich zitterte und es wurde mir übel. Ich telefonierte meiner Mutter. Sie kam sogleich zu mir. Ich schilderte ihr den Vorfall immer wieder. Mama blieb bei mir, bis Werner am Abend nach Hause kam. Am nächsten Tag lasen wir in der Zeitung von diesem Unfall und dass der Bauarbeiter an seinen Verletzungen am selben Abend gestorben sei. Ich konnte mich kaum mehr von diesem Schrecken erholen. Vielleicht gab dieses Erlebnis den Ausschlag, dass Brigittli fast einen Monat zu früh, schon am 22. Dezember 1938, in der Klinik St. Anna auf die Welt kam.

In dieser Klinik hatte ich ein schönes Zimmer für mich allein. Die liebenswürdigen St. Anna-Schwestern stellten ein kleines Weihnachtsbäumchen mit weissen Kerzen und glitzernden Kugeln neben mein Bett. Sie brachten mir meine kleine Tochter zum Stillen. Ich hielt das Bébé lange in meinen Armen und empfand eine tiefe Freude darüber, dass mein Kind endlich da war.



(4) Erika mit Brigittli in der Klinik St. Anna, Luzern, 25. Dezember 1938
Erika mit Brigittli in der Klinik St. Anna, Luzern, 25. Dezember 1938

Trotzdem waren die ersten Tage als Mutter für mich auch überaus traurig. Werner hatte Weihnachtsferien und kam uns jeden Tag besuchen. Auch meine Eltern kamen oft zu Besuch. Auch Sascha wollte unbedingt in die Klinik kommen. Weil wir aber nie wussten, wann meine Eltern auftauchten und wir ein Zusammentreffen zwischen Sascha und ihnen unbedingt vermeiden wollten, telefonierte Werner mit Sascha, erklärte ihm die Situation und bat ihn, nicht ins Geburtshaus zu kommen. Sascha beharrte aber darauf, uns zu besuchen. Er wollte seine kleine Tochter doch sehen! Er könne ja abends kommen, sagte er Werner. Am Abend waren aber nur Besuche von Angehörigen erlaubt – und Sacha war doch der Vater! Werner machte bei den St. Anna-Schwestern geltend, dass uns der Götti unseres Kindes abends besuchen wolle. So wurde eine Ausnahme genehmigt. Sascha brachte mir einen riesigen Strauss aus weissem, wohlduftendem Flieder mit. Als meine Eltern am nächsten Tag den Flieder sahen, meinte meine Mama, Werner sei von allen guten Geistern verlassen, mir mitten im Winter derart teure Blumen zu kaufen.

Jenen Abend, als wir alle, Werner, Sascha, ich und Brigittli zusammen im Klinikzimmer waren, habe ich als sehr traurig in Erinnerung. Sascha, den ich liebte, war der Vater meines Kindes, aber nicht mein Ehemann. Und Werner, mit dem ich mich zwar freundschaftlich tief verbunden fühlte, ist mein Gatte, aber nicht der Vater. Es stimmte einfach nichts.



(5) Werner und Erika mit Brigittli, Januar 1939
Werner und Erika mit Brigittli, Januar 1939

Erika seufzte. Heute bin ich klüger als vor einem halben Jahrhundert. Ich glaube, Sascha wäre kein Mann zum Heiraten gewesen. Er hielt sich an keine Konventionen und machte selten etwas Angefangenes fertig. Er brauchte wenig und lebte anspruchslos, fuhr immer mit dem Fahrrad und verdiente wenig Geld. Er lebte vom Vermögen seiner Tante und seines Onkels. Sascha war auch kein Mann, der hätte treu sein können. Ob er während der Jahre unseres Zusammenseins andere Frauen hatte, weiss ich nicht, aber vorher und nachher schon. Er war nie verheiratet. Sascha war ein ganz freier, aussergewöhnlicher und intelligenter Mensch.


(6) Erika und Freundin Marti an Brigittes Taufe

Erika und Freundin Marti an Brigittes Taufe

Nach Brigits Geburt hatten wir nicht mehr viel Kontakt. Wenn Sascha hie und da kam, disputierten er und Werner über Philosophie, über Politik und Wirtschaft und immer wieder über Goethes Farbenlehre, über die sie sich nie einigen konnten.



(7) Erika mit Brigittli an der Bundesstrasse, 1941

Erika mit Brigittli an der Bundesstrasse, 1941

Mit der Zeit wuchs der Wunsch, ein zweites Kind zu haben. Lange wagte ich nicht, diese Sehnsucht auszusprechen, ich nahm an, die beiden Männer wären sowieso nicht für ein zweites Kind zu haben. Als Brigittli drei Jahre alt war, eröffnete ich zuerst Werner, dass ich gerne ein zweites Kind bekäme. Lakonisch sagte er: "Wenn du meinst, das wäre gut, soll es sein." Darauf sprach ich mit Sascha. Er willigte sofort ein. Sascha und ich kamen nur ein einziges Mal an der Taubenhausstrasse zusammen – und schon war ich mit Walter schwanger.

Erika lächelte. Am 6. Februar 1943, mitten im Krieg, wurde Walterli geboren. Nun waren wir für alle die vierköpfige Familie König: Mutter, Vater und zwei Kinder. Aber es stimmte einfach nichts! Sascha besuchte weiter unsere Familie, aber seltener. Er machte Fotos von den Kindern und brachte jedes Mal Spielsachen und Geschenke mit. Sascha war mit dem Ehepaar Beurer in Zürich gut befreundet. Herr und Frau Beurer kannten Saschas Tante sehr gut. Ziemlich sicher wussten die Beurers aber nichts von Saschas Beziehung zu mir. 1950 schrieb Sascha sein Testament. Darin überschrieb er zwei Drittel des 6-Familien-Hauses in Neuhausen am Rheinfall, welches er von seiner Tante geerbt hatte, auf mich; das andere Drittel auf seine Freunde, die Beurers. Es war mir nicht wohl dabei und ich fand es nicht richtig, dass zwei Drittel des Hauses in meinen Besitz übergehen sollten. Ich teilte meine Bedenken Sascha mit. So ganz auf seine Art und Weise bohrte er mit Fragen nach. Auf diese Weise fand er heraus, dass ich die grössten Bedenken hatte, dass wegen des Vermächtnisses die Wahrheit über unser Geheimnis ans Licht kommen könnte. Mit meinem und Werners Einverständnis einigten wir uns dann, dass Sascha zwei Drittel des Hauses auf Werners Namen überschrieb. Eigentlich war das Erbe ja für die Kinder gedacht. Sascha hatte auch die Villa am noblen Zürichberg geerbt. Er verkaufte sie und erhielt 350'000 Franken dafür. Damals, in den 50er-Jahren, war das sehr viel Geld. Sascha aber war überhaupt kein Geschäftsmann. Er erkundigte sich manchmal bei Werner nach dessen Meinung zu diesem oder jenem vielversprechenden Geschäft, das er tätigen wollte. Werner riet ihm meistens davon ab. Sascha investierte trotzdem und verlor viel Geld. Er lebte in einer Wohnung im geerbten Haus in Neuhausen. Weitere Wohnungen im Haus möblierte er mit den Möbeln aus der Villa am Zürichberg und vermietete diese. Werner und ich waren nie in Saschas Haus in Neuhausen gewesen.

Im Oktober 1953 kamen wir alle, die ganze Familie König, von den Ferien in Vierhouten in Holland nach Hause zurück. Werners niederländischer Geschäftsfreund, Herr Libourel, den wir gut kannten und der schon oft bei uns war, reiste mit uns und kam zu uns an die Taubenhausstrasse zum Abendessen. Als wir auf unser Haus zukamen, kam eben Sascha zur Haustüre heraus. Er schien aufgeregt und verstört zu sein. Wir waren erstaunt und erschrocken, als er aufgebracht ausrief: "Ich habe euch drei Tage lang gesucht und nicht gefunden!" Werner antwortete: "Sascha, du hast doch gewusst, dass wir ferienhalber nach Holland gefahren sind. Das habe ich dir selber gesagt." Sascha hatte es offenbar vergessen – und das war überhaupt nicht seine Art. Wir gingen mit Sascha in unsere Wohnung hinauf. Alle waren im Wohnzimmer. Nur ich war in der Küche und bereitete etwas zum Essen zu. Nach einer Weile kam Werner in die Küche und sagte, Sascha habe nicht zum Essen bleiben wollen. Er sei plötzlich überstürzt weggegangen. Als wir alle am Tisch sassen, wollte Herr Libourel wissen, was mit diesem Herrn los gewesen sei, dieser habe einen so nervösen und verwirrten Eindruck gemacht.

Erika sank etwas tiefer in den Lehnstuhl hinein: Das war das letzte Mal, dass Sascha und ich einander gesehen hatten. Und Sascha hatte sich nicht einmal von mir verabschiedet! Er ging einfach fort, ohne Abschiedsgruss! Er wusste doch, dass ich in der Küche war. Noch heute, Jahrzehnte später, kann ich es nicht fassen, dass Sascha sich einfach so weggeschlichen hatte. Das schmerzt mich immer noch ausserordentlich. Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Was hat ihn bloss derart aus der Balance gebracht?

Erika war aufgewühlt. Die Bilder jener schweren Tage zogen an ihr vorbei. Am 24. Oktober 1953 telefonierten zuerst Frau Beurer aus Zürich und kurz danach Frau Sachs aus dem Tessin. Beide teilten uns mit, dass sich Sascha mit einer Pistole das Leben genommen habe. Er habe es im Garten der Gärtnerfamilie in Uster getan, welche das Land seiner Tante auf dem Zürichberg besorgte. Sascha war immer im Kontakt mit diesen Leuten gestanden und hatte sie oft besuchte. Niemand konnte sich einen Grund für Saschas Freitod vorstellen. Ich wagte es nicht, an der Beerdigung teilzunehmen. Ich wusste ja nicht, wen ich dort antreffen würde. Als es passierte, war Werner mit Herrn Libourel bereits wieder nach Holland abgereist. Ich erwartete Werner am nächsten Tag zurück. Ich sandte ihm die Nachricht von Saschas Tod per Eilpost zu. So wusste Werner, dass am Tag seiner Ankunft in Zürich Saschas Beerdigung stattfinden würde. Ich nannte ihm die Zeit und schrieb alle Einzelheiten auf und bat Werner, zur Beerdigung zu gehen, auch wenn ich nicht dabei sein mochte. Werner war ob Saschas Freitod erschüttert. Er ging allerdings nicht an die Beerdigung, sondern kam sogleich zu mir nach Hause.

Am nächsten Tag vernichteten wir zusammen alle Dokumente von und über unseren Freund Sascha. Wir glaubten, alle Spuren ausgelöscht zu haben. Die weisshaarige Erika lächelte wehmütig: Sascha, Alexander Maria Fraenkel, Lebensberater, Psychologe und Philosoph war ein Lebenskünstler. Er war in jeder Beziehung ein aussergewöhnlicher Mensch. Und dieser Mensch bringt sich um! Was mag nur in ihm vorgegangen sein? Die Frage, welchen Anteil wir möglicherweise an seinem Selbstmord hatten, wagten wir nicht zu stellen.

Grossmutters Fotoalbum
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45.  Grossmutters Fotoalbum

Hin und wieder zog Erika das eine oder andere Fotoalbum aus dem Bücherschrank hervor und betrachtete ihre Fotosammlung. Viele Erinnerungen kamen dabei hoch. Vor Erikas Augen fingen die Menschen auf den Fotos an zu leben und erzählten ihre Geschichten.


(1)
Die älteste noch vorhandene Fotografie ist aus dem im Jahr 1913. Man sieht meine Eltern und mich als Zweijährige. Wie wunderbar schöne Kleider wir trugen wir frühe! Ein berührendes Familienbild!


(2)
Auf diesem Bild bin ich mit dem kleinen, vier Wochen alten Brigittli. Ich war eine hübsche junge Mutter mit dem schönen, gewellten Naturhaar, dem schlichten Kleid und der dekorativen Halskette. Wir sind vor dem Bücherschrank, der mir so viel bedeutete.


(3)
Hier sitze ich mit Walterli und Brigittli auf unserem Balkon an der Taubenhausstrasse 6. Brigittli trägt ein handgestricktes Kleidchen und einen Kranz aus Filzblumen im blonden Lockenhaar. Ich trage ein Frühlingskleid und modische schwarz- weisse Schuhe. Walterli in meinen Armen ist etwa vier Monate alt. Er schaut schon ganz interessiert in die Welt hinaus. Wer hätte damals erahnen können, dass er später zuerst den Beruf des Elektrozeichners lernen, dann die Matura machen und anschliessend Philosophie und Literatur studieren würde - die Berufe der beiden Väter! Und jetzt lehrt er im Thurgau zusammen mit seiner Lebensgefährtin in einem grossen, umgebauten Bauernhaus Seminare zur Praxis und Weisheit des Schamanismus. Seine Welt ist mir fremd. Er hat mit einer Zeremonie das Geheimnis der Väter entdeckt. Und damit meinen Zorn geweckt. Wie sowas möglich ist, übersteigt meinen Verstand!


(4)
Das sind meine Eltern im Garten an der Sonne vor ihrem Haus an der Sälistrasse. Ich stehe neben ihnen und vor uns tanzt die kleine, gut zweijährige Brigittli herum und hat einen Blumenstrauss für ihren Grossvater Christian in der Hand. Es war der 2. März 1941, der 67. Geburtstag meines Vaters.
An Sylvester 1945 öffnete mein Papa kurz vor Mitternacht das Fenster und hörte dem Läuten der Kirchenglocken zu, welche das Jahr 1946 einläuteten. Da kalte Luft herein kam, bat ihn Mama, das Fenster wieder zu schliessen. Papa sagte, am 8. Mai des zu Ende gehenden Jahres hätten alle Kirchenglocken zum Kriegsende geläutet. Jetzt wolle er bei offenem Fenster so lange den Glocken zuhören, bis auch die letzte verklungen ist. Man wisse ja nie, ob es nicht das letzte Mal sei. Mama ärgerte sich ob dieser Bemerkung und entgegnete barsch, er solle nicht so dummes Zeug reden. Mein Papa starb drei Monate später nach kurzer Krankheit, am 29. März 1946. Meine Mama starb 14 Jahre später an Papas Geburtstag, am 2. März 1960.


(5)
Das ist mein Lieblingsbild meiner Eltern aus dem Jahr 1938. Christian und Emma füttern ein Eichhörnchen in Arosa. Sie sitzen auf einer Bank und sind der damaligen Zeit gemäss sportlich gekleidet. Meine Eltern wanderten fürs Leben gern. Sie besuchten viele SAC-Hütten.


(6) Dieses Bild mit unseren Eltern nahm Werner 1944 mit dem Selbstauslöser seiner Leica auf. Es war der 70. Geburtstag meines Vaters Christian.


(7)
Hier sieht man Renée und mich 1948 auf der Ruhebank. Neben uns turnt der kleine Walterli herum. Renée arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Sozialarbeiterin in Genf. Sie hatte sich auf die Begleitung von Alkoholkranken spezialisiert. Geheiratet hat sie nie. Ich habe sie das ganze Leben lang nie missgelaunt erlebt, sie hatte ein helles Gemüt. Renée ist jetzt auch eine alte Frau, meine wundervolle Freundin mit ihrem feinen welschen Humor!


(8)
Auf dieser lustigen Fotografie sieht man Marili und mich im Frühling 1950, angelehnt an Marilis neuen Volkswagen. Wegen seiner grünen Farbe nannten wir ihn Frosch.
Meine Freundin Marili arbeitete nach ihrem Doktorat als Assistentin in Winterthur und eröffnete nach Kriegsende ihre eigene Zahnarztpraxis an der Falkengasse in Luzern. Als erst wenige Leute ein Auto hatten - Frauen schon gar nicht - kaufte sie 1949 diesen VW-Käfer. Bis ins hohe Alter von 80 Jahren fuhr Marili immer einen Volkswagen. Mit Marili spulten wir Tausende von Kilometern ab. Davon zeugen die fünf Bände unseres Auto-Tagebuches. Wir erkundeten Städte und Dörfer in der Schweiz und im nahen, auch ferneren Ausland. Wir fuhren im Frosch bergauf und bergab und entlang unzähliger Seen. Man könnte ein Buch schreiben über unsere Autoabenteuer. Marili pflegte später neben ihrer Arbeit als Zahnärztin ihre beiden Eltern bis zu deren Tod. Nachher war auch sie viel unterwegs, kam mit mir und Werner auf Reisen und besuchte ihre Freundinnen und Bekannten in ganz Europa. In den 50-er Jahren baute Marili ein Ferienhaus, auf der Rigi, das Bergfinkli.
Ich kann nicht sagen, wie viele Tage und Wochen Marili und ich zusammen auf der Rigi verbrachten. Marili ist eine ganz unabhängige Frau. Auch sie heiratete nie. Wir verstehen uns ausserordentlich gut, wir sind wie Schwestern. Marili gehört einfach zu unserer Familie. Sie weiss aber nicht, dass Sascha der biologische Vater von Brigit und Walter ist. Ich will auf gar keinen Fall, dass sie es erfährt. Es gibt zwei Dinge, über die Marili und ich immer wieder streiten: Marili findet alles gut, was der Papst in Rom sagt. Ich aber habe nichts übrig für Dogmen; und die Frauenfeindlichkeit der katholischen Kirche finde ich abscheulich. Meiner Gesinnung nach stehe ich politisch eher links, Marili konservativ rechts. In solchen politischen und weltanschaulichen Fragen können wir uns nie einigen. Wir sollten diese Themen einfach nicht mehr anschneiden! Das gelingt uns aber nicht. Ein bisschen Streiten ist bekanntlich anregend, oder?


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Diese Fotografie knipste Sascha im Jahr 1949. Brigit und Walter stehen an die Gartenmauer gelehnt vor unserem Haus an der Taubenhausstrasse 6. Sie halten einander umschlungen. Sicher hatte sie Sascha dazu aufgefordert. Brigit und Walter hatten als Kinder viel gestritten. Ziemlich sicher umarmten sich nicht freiwillig!


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Das ist die Familie König im Jahr 1951. Wir machten einen Ausflug auf Schwendi-Kaltbad. Brigit war zwölf- und Walter achtjährig.


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1957. Die streng in die Welt blickenden Männer sind Vater und Sohn König. Links Pfarrer Fritz König und rechts Werner. Vater König mit seinem weissen Haar, dem weissen Spitzbart, dem schneeweissen Vatermörder, wie dieser gestärkte weisse Hemdkragen damals hiess, und dem schwarzen Schlips, dem Zweireiher - Frack nannte man dieses Kleidungsstück - den er jahraus und jahrein trug, war eine eindrückliche Erscheinung. Nach seiner Pensionierung liess er sich mit seiner Frau Anna in Zofingen nieder. Anna Frikart wuchs in Zofingen mit zwei Schwestern in einem herrschaftlichen Haus auf. Meine Schwiegermutter starb bald danach. Werners Vater wurde über 90 Jahre alt. Immer an Weihnachten wünschte sich der Vater König von uns eine Flasche guten Zuger Kirsch. Kamen wir im Februar oder März zu ihm auf Besuch, zeigte er uns jeweils die schon leere Kirschflasche. Das ging etwa drei Jahre lang so. Werner fragte seinen Vater dann doch einmal, Papa, weshalb trinkst du in so kurzer Zeit so viel hochprozentigen Kirsch? Erstaunt antwortete der Herr Pfarrer, dass er den Zuger Kirsch nicht trinke, sondern damit sein Herz einreibe. Daraufhin schenkten wir ihm weniger teuren Kirsch. Bis zu seinem Tode übersetzte er Texte in die lateinische Sprache oder lateinische ins Deutsche. Dazu rauchte er vom Morgen bis am Abend die Pfeife.


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Auf dieser Fotografie sieht man Werner und mich im Jahr 1988. Wir tragen beide eine Brille mit grossen Gläsern. Werner hat jetzt schlohweisses Haar! Das Bild wurde wenige Monate vor seinem Tod aufgenommen. Wir sitzen am Tisch und schauen einen Atlas und Reisefotos in einem Album an. Um welche Reise es sich handelte, kann ich nicht mehr sagen. Wir reisten derart viel, dass ich den Überblick verloren habe.

Die Geschichten bleiben
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46.  Die Geschichten bleiben

Die Schriftführerin bin ich, Brigit König, Erikas Tochter und Tochter von zwei Vätern, Werner und Sascha. Nun mögen die Geschichten, die von der Grossmutter über die Mutter zu mir kamen, an meine Enkel und Enkelkinder weitergehen. Leben heisst Geschichten erzählen. Und vielleicht fühlt sich nur das echt gelebt an, dem wir die Form einer Geschichte geben können.

Unsere drei erwachsenen Enkel fühlten sich bereichert, dass sie plötzlich drei Grossväter hatten, einen aus der Innerschweiz, der ihnen ihren Familiennamen gab, einen aus dem Bernbiet, der zu Mapi gehörte und den sie Pati nannten und dazu einen unbekannten, geheimnisvollen, jüdischen Psychologen und Lebenskünstler aus Russland. Der Familienrat beschloss, dem Wunsch unserer Mutter nachzukommen, und so lange sie noch lebte, keine weiteren Personen in die Vätergeschichte einzuweihen. Erst nachdem sie dieses Versprechen hatte, gestand sie, dass sie und Werner im Jahr 1961 – hinter meinem Rücken – ihren zukünftigen Schwiegersohn und möglichen Vater ihrer Enkel über die biologische Ahnenlinie informiert hätten. Sie hätten sich verpflichtet gefühlt, den wahren Stammbaum nicht zu verheimlichen. Auch ihm nahmen sie das Versprechen des Schweigens ab. Alle die Jahre lang hielt er sich ebenfalls daran.

Mit der Zeit nahm unsere Mutter die Rolle des Sündenbocks, die sie ihrem Sohn Walter zugeschrieben hatte, zurück. Die Beziehungen in der Familie entspannten sich. Auch wenn sie es lange nicht zugeben wollte, spürten wir alle ihre Erleichterung, dass dieses derart lange gehütete Geheimnis endlich ans Licht gekommen war.

Im Sommer überraschte uns die bald 82-jährige Mutter mit der Ankündigung, dass sie und ihre gleichaltrige Freundin Marili eine Schiffsreise von Moskau nach St. Petersburg gebucht hätten. Dazu die Flüge nach Moskau und zurück von St. Petersburg. Sie sei ja früher schon mit Werner im Orient-Express durch Russland gefahren, bis zum Baikalsee. Jetzt möchte sie einen anderen Teil dieses grossen Landes kennenlernen.

Weil ich in den 60er-Jahren bei der Swissair arbeitete, profitierten unsere Eltern vom Angebot reduzierter Flugtarife für Angehörige. Mit der Zeit entstand in ihren Büchergestellen eine imposante Sammlung von Fotoalben mit Erinnerungsbildern und Kommentaren. Zeugen von abenteuerlichen Reisen in der Mongolei, nach Indien, Russland, Japan, Thailand, Mexico und in nordafrikanische Länder. In den 60er- und 70er-Jahren brauchte es für diese Länder noch ein Visum – und Mut! So gehörten sie zur ersten Reisegruppe, die quer durch Sumatra fuhr, sie konnten mit den Einheimischen holländisch sprechen, Sumatra war ja mal eine niederländische Kolonie. Sie fuhren weiter nach Bali, wo es in Denpasar nur ein einziges grösseres Hotel gab.


(1) Viktor und Anna Weber, Erika und Werner König in Florida, 1964

Viktor und Anna Weber, Erika und Werner König in Florida, 1964

Die beiden Globetrotter sandten Ansichtskarten von Reisen in osteuropäischen Ländern hinter dem damals noch geltenden Eisernen Vorhang und von solchen nordwärts bis zum Nordkap und südwärts bis Apulien, Sizilien, Andalusien und Portugal. Als wir eine Zeit lang in New York wohnten, besuchten sie uns und reisten anschliessend weiter nach Pittsburgh und nach Florida, um dort Werners alten Freund, Viktor Weber und seine Frau zu besuchen. Da Erika immer alle Reiseliteratur der Länder, welche sie und Werner bereisten, aufs genaueste studierte, versetzte sie jedermann in Erstaunen über ihr unglaubliches Wissen über Länder und Völker. Wo immer sie war, schaffte sie augenblicklich Kontakt zu einheimischen Menschen und zu Mitreisenden. Werner oblag es, die Landkarten genau zu studieren und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten eines jeden Reiselandes unter die Lupe zu nehmen. Diesem Auftrag kam er bis ins hohe Alter mit Begeisterung und Akribie nach.


(2) Erika und Werner auf dem Sonnenberg, 1957

Erika und Werner auf dem Sonnenberg, 1957

Nicht nur ihre gemeinsame Begeisterung fürs Reisen brachten Erika und Werner mehr und mehr zusammen, auch ihre Aufgabe als Grosseltern waren ihnen Anstoss für viele gemeinsame Spiele, Unternehmungen und Ausflüge mit den Buben. Solange die Kinder Primarschüler waren, verbrachten sie mindestens einen Tag pro Woche bei den Grosseltern. Alle drei freuten sich immer auf den Mapi-Pati-Tag. Die Buben durften auf Pati herum turnen und sich mit ihm auf dem Boden wälzen, das Verkehrshaus in Luzern besuchen, wo sie ihr technisch begeisterter Grossvater in die Geheimnisse von Lokomotiven, Automotoren und Flugmaschinen einweihte. Mapi bastelte mit den Kindern und erzählte den Enkeln stundenlang selbsterfundene Geschichten und solche aus ihrem langen Leben und andere aus Bilderbüchern. Bald wurde H.U. Stegers Bilderbuch, Die Reise nach Tripiti zum Lieblingsbuch aller erkoren. Es sprach die Fantasie der Kinder gleichermassen an wie die Reiselust ihrer Grossmutter. An Familienfesten verblüffte sie alle mit witzigen Schnitzelbänken und poetischen Gedichten aus ihrer Feder.

In diese Zeit fiel auch der mit dem Ehepaar Beurer gemeinsam in die Wege geleitete Verkauf des von Sascha Fraenkel geerbten 6-Familienhauses an der Lerchenstrasse 30 in Neuhausen. Lediglich ein kleiner Teil des Erlöses floss in die Reisekasse unserer Eltern. Sie waren darauf bedacht, Saschas Erbschaft nicht weiter anzutasten, weil sie diese nicht als ihr Eigentum betrachteten, sondern für mich und meinen Bruder aufheben wollten.



(3) Erika mit Walter und dem Ehepaar Beurer vor Saschas Haus, 1956

Erika mit Walter und dem Ehepaar Beurer vor Saschas Haus, 1956

Je älter unsere Mutter wurde, umso gelassener wurde sie. Sie gab ihre lange kultivierten Kontrollmechanismen mehr und mehr auf. Nur eine Sache versicherte sie uns immer und immer wieder: "Auf keinen Fall will und werde ich in ein Alters- oder Pflegeheim einziehen. Ich gedenke vorher zu sterben." Eines Tages rief mich meine Mutter an und sagte, sie habe eben das Tibetanische Totenbuch gelesen. Die Berichte über Sterben und Tod hätten sie sehr aufgewühlt und in Angst versetzt. Das Tibetanische Totenbuch wurde daraufhin zum Anlass für viele Gespräche über das Sterben und den Tod. Erst jetzt konnte Erika auch über ihre Gefühle, Ängste und Hoffnungen während ihren und Werners durchgemachten Krankheiten sprechen: Werners Herzinfarkt 1950, ihre Brustkrebs-Operation 1963 und die Polyarthritis sechs Jahre später mit allen Ängsten und Unsicherheiten. Alle diese Herausforderungen hatten unsere Eltern mit viel Glück überwunden.

Werner setzte sich bis ins hohe Alter unverdrossen für eine humanere Welt ein. Sein Engagement im Kreise seiner Gesinnungsgenossen für die Freiwirtschaft, für eine Wirtschaft ohne störende Konjunkturschwankungen und eine gerechte soziale Ordnung, blieben ihm immer wichtig. Er schrieb fleissig Zeitungsartikel, sogar ein Traktat über die Notwendigkeit freier Wechselkurse, der Aufhebung der Golddeckung und der Einführung einer internationalen Währung mit Umlaufsicherung. Erika tippte alles brav in die Schreibmaschine, auch wenn sie aus ihrer Hassliebe zur Freiwirtschaft und Werners Engagement, welches ab und zu auch etwas sektiererische Züge annahm, keinen Hehl machte.

1987 bekam Werner einen Herzschrittmacher. Von diesem Eingriff hatte er sich nie wieder richtig erholt. Seine Geisteskraft liess merklich nach. Eine Zeit lang nahm er noch an den Bibellesungen im Gemeindehaus der Lukas-Kirche teil, die er seit seiner Pensionierung regelmässig besuchte. Schon als Maturand war er zum Schluss gekommen, dass er gerne Theologie studieren würde, um den letzten Fragen des Menschseins näher zu kommen. Entschied aber, dass ihm ein technischer Beruf eher die Freiheit lassen würde, sein Weltbild eigenständig zu formen und seine Vorliebe für Religion und Spiritualität zu leben, ohne sich in ein enges Konzept zwängen zu müssen. Seine Neigung zum Religiösen hielt sein ganzes Leben lang an. Er hinterliess uns nicht nur seine mit Randbemerkungen vollgeschriebene Zwingli Bibel und ein mit Goldschnitt versehenes Kirchengesangbuch, das ihm Erika zum 55. Geburtstag geschenkt hatte, sondern auch viele Impulse, welche weit über die Grenze jeder Konfession oder Religion hinausgingen.



(4) Erika und Werner, 1985

Erika und Werner, 1985

Die Mamoschka, wie Werner seine Gattin seit der Russlandreise nannte, stand im Zentrum seines sich rasch verengenden Lebenskreises. Der Umgang der Eheleute miteinander wurde liebevoller. In Werners letztem Lebensjahr halfen Nachbarn und sorgte dafür, dass die elf Jahre jüngere, lebenslustige Erika neben der intensiven Pflege ihres Gatten mindestens einen Tag und eine Nacht pro Woche das Haus verlassen konnte. Erika traf dann ihre Freundinnen, spielte in ihrem Canasta- Club Karten, besuchte Renée in Genf oder reiste zu Walter in die Ostschweiz. Nach anfänglichem Widerstand liess sie sich in den 60er-Jahren als Mitglied der Betriebskommission der Kinderstube Hubelmatt wählen und nahm lange aktiv an den Sitzungen teil. Sie liess keinen Samichlaus-Besuch im Kinderheim aus.

Am Freitagmorgen, am 27. Januar 1989, starb Werner König, unser Vater und Ziehvater, im Pflegeheim Steinhof, wo er seine letzten fünf Lebenstage verbrachte. Nach dem Morgenessen schlief er friedlich ein. Als ich ihn zwei Tage zuvor im Heim besucht hatte, sagte er friedlich lächelnd: "Jetzt kannst du mir den Sonnenuntergang bestellen!"



(5) Werner König, 1900-1989

Werner König, 1900-1989

Erst nach Werners Tod gestand uns Erika, dass sie sich in den 30er- und 40er-Jahren am liebsten von Werner hätte scheiden lassen. Aber als verheiratete Frau, welche während der Wirtschaftskrise jener Jahre und des darauf folgenden Krieges keiner bezahlten Arbeit nachgehen durfte, hätte sie keine Chance gehabt, diesen Schritt zu tun. Das sei auch der Grund dafür gewesen, weshalb meine Scheidung im Jahr 1983 sie derart in Wut versetzt habe.

Nach Werners Tod war unsere Mutter viel unterwegs. Mit ihren ebenfalls noch rüstigen Freundinnen machte sie Ausflüge, besuchte Lesungen und Gedächtnistrainings-Kurse. Sie und Marili besassen jahrelang jede Saison Konzertkarten für die Abonnementskonzerte. Die beiden Freundinnen verbrachten hunderte Stunden in Marilis Ferienhaus auf der Rigi.

Kontaktfreudig, wie sie war, meldete sich Erika bei der Dopo Scuola als Aufgabenhilfe für Schulkinder an. Sie betreute regelmässig Kinder, besonders solche mit italienischer Muttersprache, welche nach der Schule zu ihr nach Hause kamen, und erledigte mit ihnen die Schulaufgaben. Nachdem die Pflicht getan war, gab es jedes Mal eine Geschichte, meistens eine von Erika selbst erfundene.

Die über 80 Jahre alte Erika war immer noch Vielleserin. Sie hielt sich auf dem Laufenden über Neuerscheinungen und reservierte diese für sich in der Stadtbibliothek. Als einer ihrer Enkel mit seiner Frau in London wohnte und studierte, hörte sie davon, dass man sich über den Kanal hinweg rasch per Fax schreiben könne. Sie war Feuer und Flamme für diese neue Kommunikationstechnik. Schon bald diskutierte sie mit den Enkeln und ihren Lebensgefährtinnen über die Möglichkeiten und Grenzen der modernen Computer. Sie liess sich von ihnen ins Computerspiel Myst einführen und war zum Entzücken ihrer Nachfahren fasziniert von den virtuellen Welten. Meine Mutter kam auf die Idee, dass man in Zukunft bequem zu Hause am Bildschirm reisen könne. Bedachte aber bald, dass beim virtuellen Reisen die Töne und Düfte der fernen Länder fehlen würden, die viel gepriesene Computertechnik sei noch lange nicht das Gelbe vom Ei!

Die vielen Treppenstufen von der Strasse zum herrschaftlichen Haus und weiter hinauf bis in ihre grosse Wohnung im 3. Stock wurden unserer Mutter mit der Zeit zu anstrengend. Wir schätzten ihre Initiative bei der Wohnungssuche und Planung des Umzugs von der Reckenbühlstrasse in eine Dreizimmerwohnung in einem Neubau mit Lift an die Birkenstrasse 12. Wir bewunderten ihren Schritt ins Neue, den sie mit bald zweiundachtzig Jahren wagte. Kaum eingezogen, nahm sie Kontakt mit ihren neuen Nachbarn zur Linken und zur Rechten auf und diskutierte mit ihnen über die Tagespolitik und erkundigte sich nach ihren Lieblingsbüchern.

Als ich meine Mutter bald einmal in der neuen Wohnung besuchte, zog sie mich ins Wohnzimmer, um mir ihre neuen Vorhänge zu zeigen und erzählte: „Ich bestellte einen Innendekorateur mit seiner Stoffmustersammlung für Vorhänge her. Ich wusste, dass ich frühlingsgrüne Vorhänge wollte! Der Vorhangspezialist hielt einige Stoffmuster vor dieses grosse, bis zum Boden reichende Fenster. Ich nahm zwei Stoffe in die engere Wahl. Einer gefiel mir besser als der andere. Ich entschied mich für diesen. Der Innendekorateur schlug mir vor, den billigeren zu nehmen. In Ihrem Alter brauchen Sie doch keine so teuren Vorhänge mehr, meinte dieser Besserwisser. Was denken Sie eigentlich von mir, habe ich den jungen Mann forsch gefragt, auch wenn ich nur noch einen Tag lang leben sollte, so wähle ich genau den Vorhangstoff aus, der mir am besten gefällt!" Ein triumphierendes Lächeln erschien auf Erikas Gesicht. Sie schob die frühlingsgrünen Vorhänge auseinander, das gab den Blick frei auf den mit Neuschnee gepuderten Pilatus.

An einem schönen Sonntagnachmittag im Sommer 1995 kam meine Mutter die Stufen von der Mariahilfgasse zu meinem Haus herauf. Das Treppensteigen war für sie mühsam geworden. Hie und da legte sie eine Pause ein. Endlich kam sie oben an, klingelte und trat ein. Wir setzten uns auf die Terrasse und freuten uns an der herrlichen Aussicht auf die Altstadt und in die Berge. Erika erzählte lebhaft von den schönen Ferientagen, welche sie kurz vorher mit Marti in der Lenk verbracht hatte. Sie machte eine lange Pause und blickte in die Ferne. Niedergeschlagen teilte sie mir dann mit, dass Marti, ihre alte, treue Freundin, am Tag zuvor gestorben sei. "Stell dir das vor, erst waren wir zusammen in der Lenk und jetzt ist Marti tot! Meine liebe, liebe Marti! Marti, kannte die wahre Geschichte mit Sascha. Sie trug alles mit und stand jederzeit voll und ganz zu mir."

Später am selben Tag bat sie mich, mit ihr Tarot-Karten zu legen. Bis dahin hatte sie dieses 'esoterische Zeug', wie sie es nannte, stets abgelehnt. Aber nach Martis Tod interessierte sie sich mehr und mehr für das, was hinter der mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Welt sein könnte. Sie stellte viele Fragen zu Leben und Tod. Das Tarot-Spiel ermöglichte zwischen uns ein gutes, offenes Gespräch über die letzten Dinge.

Erika versuchte, ihre Angst und Abneigung vor dem Alters- und Pflegeheim zu überwinden und meldete sich mutig als freiwillige Helferin im Alters- und Pflege- heim Eichhof. Zweimal pro Woche half sie beim Essen mit und gab ihren Schützlingen das Mittagessen ein. Sie ertrug die Atmosphäre im Altersheim aber schlecht. Sie gab die sich selbst auferlegte Aufgabe nach einiger Zeit wieder auf. Einmal mehr verkündete sie bestimmt: "Ich werde nie in ein Alters- oder Pflegeheim gehen!"

Nach ein paar Wochen, vertraute mir meine Mutter ein wenig verlegen und zugleich verschmitzt an, dass sie sich mit Martis Bruder, Willi Hirt, der mittlerweile Witwer war und in ihrer Nähe wohnte, näher angefreundet habe. Die beiden alten Leute verbrachten viel Zeit zusammen, tauschten Erinnerungen aus, kochten gemeinsam und assen abwechslungsweise bei Willi zu Hause oder in Erikas Küche.

Im Herbst 1995 versagte Erikas altes Knie von einem Tag zum nächsten. Ihr Arzt riet ihr, sich ein künstliches Kniegelenk einsetzen zu lassen. Der Eingriff verlief gut. Ihr neuer Freund Willi besuchte sie oft im Spital und begleitete sie in die Rehabilitations-Klinik Haslibergerhof, wo sie nach der Operation zwei Wochen kurte. Dort besuchte ich meine Mutter. Wir sassen auf dem sonnigen Balkon im Haslibergerhof auf Hohfluh. Erika schaute lange auf die nahe Bergkette, zeigte auf den gegenüberliegenden Rosenlaui-Gletscher. "Milliarden Menschen sind vor mir gestorben. Alle konnten das; Sterben kann wirklich nicht so schwierig sein! Darum glaube ich, dass es auch mir gelingen wird."

Fast auf den Tag genau drei Jahre nachdem die Vätergeschichte ans Licht gekommen war, rief ich meine Mutter eines Abends an. Sie antwortete nicht. Ich war beunruhigt und machte mich auf den Weg zu ihr. Die Wohnungstüre war abgeschlossen. Ich öffnete die Türe mit meinem Ersatzschlüssel. In der Wohnung war es dunkel. Niemand war da. Das erstaunte mich. Weil Mutters Augenlicht schwächer geworden war, pflegte sie bei Dunkelheit seit längerer Zeit nicht mehr auszugehen. Ich schrieb auf einen Zettel, sie möge mich sofort anrufen, sobald sie zurück sei. Kaum war ich bei mir zu Hause angekommen, läutete das Telefon. Meine Mutter erzählte gut gelaunt, dass sie und Willi Hirt jetzt auch am Abend zusammen kochen und essen würden. Wir waren in ein anregendes Gespräch vertieft. Darum bin ich etwas spät heimgekommen. Leicht vorwurfsvoll meinte sie noch, du sagst mir schliesslich auch nicht immer, wo hingehst! Warum willst du überhaupt wissen, wo ich war? Ich bin gesund und munter.

Nur ein paar Tage später telefonierte mir gegen Abend eine Nachbarin meiner Mutter. Sie liess mich wissen, dass Erika ihren Briefkasten nicht geleert hätte, was ganz gegen ihre Gewohnheit war. Ich rief meine Mutter an. Sie antwortete nicht. Ich malte mir aus, wie sie wahrscheinlich wieder bei Willi sei und dort erneut die Zeit vergessen hätte. Sonderbarerweise hatte ich aber Angst und ein ganz ungutes Gefühl. So machte ich mich wieder auf den Weg zur Birkenstrasse. Je näher ich dem Haus kam, umso mehr klopfte mein Herz. Dieses Mal war die Wohnungstüre offen. Kaum war ich eingetreten, erschrak ich. Aus dem Schlafzimmer hörte ich keuchende Atemgeräusche. Ich fand meine Mutter auf ihrem Bett liegend. Als ich sie ansprach, versuchte sie mir zu sagen, dass sie aufstehen möchte, aber nicht aus dem Bett könne. Ihre Sprache war undeutlich. Mit aller verbleibenden Kraft versuchte sie, sich zu erheben. Ich rief die Nachbarin zu Hilfe, die Frau, die mich benachrichtigt hatte. Sie blieb bei meiner Mutter, während ich den Arzt rief. Die Sanitäter brachten Erika ins Ambulanz-Fahrzeug, ich fuhr mit ins Spital. Die Ärztin, welche Erika auf dem Weg ins Spital betreute, sagte, dass unsere Mutter einen Hirnschlag erlitten habe.

Am anderen Tag kam ich ins Spital zurück. Ihr Sprechen war ein wenig deutlicher. Immer wieder wollte sie wissen, was mit ihr geschehen sei. Sie bezweifelte, einen Hirnschlag erlitten zu haben. Mühsam kommunizierte sie, dass sie das hätte spüren müssen. Ich würde Schmerzen haben, habe aber keine. Erst im Verlauf des Tages realisierte sie, dass sie halbseitig gelähmt war.

Am nächsten Tag wurde uns allen und auch meiner Mutter selber klar, dass ihre geistigen Fähigkeiten in keiner Weise vom Hirnschlag betroffen waren. Sie wollte diese Tatsache sich selber und uns allen unter Beweis stellen und Renée in Genf anrufen. Ich will herausfinden, ob ich noch einwandfrei Französisch sprechen kann. Tatsächlich erklärte sie ihrer alten, treuen Freundin in perfektem Französisch, etwas lallend allerdings, was vorgefallen war. Sie nahm Renées Anteilnahme und Trost sichtlich gerührt entgegen.

Erika realisierte, dass sie einen Rollstuhl brauchte und ein paar Tage später willigte sie ein, ins Heim im Bergli einzuziehen, in ihrem vertrauten Wohnquartier, in das Heim, in dem auch ihre Mutter einige Zeit lang verbracht hatte. Kaum dort, schaute sich Erika überrascht und überwältigt um. Sie erkannte, dass das Zimmer mit Möbeln ihrer Eltern ausgestattet war. Unsere Mutter selber hatte sie nach Emmas Auszug dem Heim geschenkt. Am darauf folgenden Wochenende war die ganze Familie bei ihr. Später kamen noch Marili und Lilly und auch Nachbarn vorbei. Mein Bruder Walter musste arbeiten und versprach, am Dienstag nach Luzern zu kommen, um unsere Mutter zu besuchen.

Unsere Mutter verweigerte das Essen, weil ihr das Schlucken schwer fiel. Sie erzählte mir, dass sie drei Mal einen lebhaften Traum gehabt habe: Durch meinen Bauchnabel bin ich heraus und in einen Tunnel gelangt. Jedes Mal war dieser Durchgang für mich aber zu eng und ich bin wieder rückwärts in meinen Körper hinein gezogen worden.

Gegen Abend wünschte sie, im Rollstuhl an das grosse Fenster geschoben zu werden. Still schaute sie hinunter auf Luzern, auf die Museggmauer mit den Türmen und die vielen Lichter der Stadt und sagte: "Diese schöne Aussicht! Hier ist es gut!"

Auch am nächsten Tag verweigerte sie das Essen. Ihrer Pflegerin gelang es mit grosser Überredungskunst, sie dazu zu bringen, mit dem Trinkhalm ein wenig Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Es gelang der Pflegerin wahrscheinlich allein deshalb, weil sie Portugiesin war und die beiden Frauen zusammen italienisch radebrechten. Als ich mich nach meinem Besuch am Abend verabschieden wollte, bat mich meine Mutter, eine leere Seite aus dem Adressbüchlein herauszureissen und sie ihr zusammen mit einem Bleistift zu geben. Dass man sich über weite Distanzen etwas schreiben konnte, das beim Empfänger sofort aus einer Wundermaschine, dem Fax, herauskam, faszinierte unsere Mutter sehr. Mit zitternder Hand schrieb sie für mich:


(6)
Sie überreichte mir den Zettel mit einem schiefen Lächeln. Ich war sehr gerührt.

Am Dienstag, am 12. März 1996, traf Walter um die Mittagszeit bei unserer Mutter ein. Müde, aber wach und gegenwärtig lag sie im Bett. Viel reden mochte sie nicht, musste dann, begleitet vom Sohn, auf die Toilette. Dort brach sie zusammen. Walter legte sie zurück ins Bett, sie hatte das Bewusstsein verloren. Sie rang nach Atem, bekam ein gequältes Gesicht, als ob alle Schmerzen des Lebens sie nochmals überfallen wollten. Ihr Atem machte immer längere Pausen. Walter sang ihr indianische Lieder und hielt ihre Hand. Auf einmal löste sich die Verkrampfung, über das alte Gesicht zog etwas ausserordentlich Schönes, sie war zugleich uralt und ganz jung. Der Atem wurde immer langsamer, es dauerte immer länger, bis wieder ein Einatmen kam. Und dann war es das letzte Ausatmen. Walter sass sehr lange neben der toten Mutter, informierte dann das Heim und rief mich an: "Mami ist gestorben." Wir sassen lange an ihrem Bett und flüsterten, Mami, du bist schön und leicht gestorben, so wie du es dir ausgemalt hattest. Das erleichtert uns den Abschied von dir. Walter und ich tauschten an ihrem Totenbett Erinnerungen aus ihrem Leben aus, schöne und traurige, angenehme und unerfreuliche. Erst nach einer Stunde öffneten wir die Fenster und baten nun die Heimleitung um Unterstützung. Zusammen mit der Pflegerin beschlossen wir, den Körper unserer Mutter mit ihrem feuerroten Lieblingspullover zu kleiden. Am späteren Nachmittag stiessen Erikas Enkel dazu und nahmen von ihrer Grossmutter Abschied.

Als Erinnerung an Erikas Begeisterung für ferne Länder und Völker, beschlossen wir, am Abend gemeinsam im Thai-Garden in einem Luzerner Hotel zu essen. Die Farben, der Duft, der Geschmack und die Klänge des Thailändischen Xylophons, gespielt von einer jungen Frau im farbenprächtigen Kostüm, boten einen stimmigen Rahmen für den Austausch von Geschichten von der Mutter und Grossmutter, Episoden aus Erikas langem und erfülltem Leben. Beim köstlichen thailändischen Dessert brachten wir es auf den Punkt: Mit dem Tod sterben auch alle nicht erzählten Geschichten. Lasst uns immer wieder die Geschichten unserer Vorfahren erzählen! Die Geschichten sollen bleiben. Ohne sie wären wir nicht da, wo wir sind, und wir wären nicht die, die wir sind.



(7) Erika König-Wickart, 1911-1996

Erika König-Wickart, 1911-1996
Das Geheimnis kommt ans Licht
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47.  Das Geheimnis kommt ans Licht
Beim Räumen von Erikas Wohnung kam, gut versteckt zwischen einer zusammengefalteten festlichen Bluse, in einer Schublade ihrer Biedermeier-Kommode ihr Poesiealbum zum Vorschein. Es hatte gepolsterte Buchdeckel, war mit hellgrünem, glänzendem Stoff überzogen und mit einem kleinen Messing-Schloss verschlossen. Der kleine Schlüssel dazu lag zwischen Erikas Halsketten und anderen Schmuckstücken in ihrem Schmuckkästlein. Wir öffneten das Poesiealbum. Es fielen zwei Fotografien heraus.


(1)
Eine Fotografie zeigt Sascha Fraenkel im Jahr 1939, verheissungsvoll lächelnd vor einer Haustüre in der Sonne stehend.


(2)
Das andere Bild zeigt Werner und Erika 1956 an ihrem 22. Hochzeitstag in einem Ruderboot auf dem Vierwaldstättersee schaukelnd. Werner hat seinen Arm um Erika gelegt. Beide lächeln und halten je ein Ruder in der Hand. Im Hintergrund ist die reformierte Kirche von Weggis sichtbar, in der Pfarrer Fritz König aus Utzenstorf am 29. September 1934 Werner König und Erika Wickart mit Gottes Segen zusammengab.

Hier liegt es jetzt vor uns: Erikas Leben mit zwei Männern, ihr Geheimnis im Poesiealbum.

Nachwort von Walter König
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48.  Nachwort von Walter König
"Wir alle wissen, wie launisch das Gedächtnis ist; unsere Geschichten verändern sich ständig, weil sie revidiert und aktualisiert werden. Wenn ich mit meinen Brüdern und Schwestern über Ereignisse aus unserer gemeinsamen Kindheit rede, haben wir am Ende jedesmal das Gefühl, in verschiedenen Familien aufgewachsen zu sein, weil so viele unserer Erinnerungen einfach nicht übereinstimmen. Solche auto- biographischen Erinnerungen sind keine präzisen Spiegelungen der Realität, sondern Geschichten, die wir erzählen, um unsere persönliche Sicht dessen, was wir er- lebt haben, darzustellen." Bessel van der Kolk, Verkörperte Schrecken, Seite 212
Meine Schwester Brigit hat die Geschichte unserer Mutter aufgeschrieben. Ihre Geschichte! Es ist unglaublich, wie oft und manchmal krass sich diese von meinen Erinnerungen unterscheidet. Wenn wir es nicht schon längst gewusst hätten, jetzt wäre es offenkundig: Wir erinnern nicht die Wirklichkeit, wir erzählen uns eine Geschichte, die Sinn macht! Wir sind alle Geschichtenerzähler. Und so freut mich das Anliegen – und die grosse Arbeit – meiner Schwester sehr, dass die Geschichten unserer Ahnen erhalten bleiben und wieder und wieder erzählt werden sollen. Diese Einsicht besitzt noch eine tiefere Schicht. Um uns Kinder – eigentlich vor allem um sich selbst zu schützen – haben unsere Eltern ein raffiniertes Lügengespinst gesponnen. Niemand hatte daran gedacht, dass wir Kinder trotzdem „wussten“, dass etwas Essenzielles in unserer Familie nicht stimmte. Ein sprachloses, gefühltes inneres Wissen. Die innere Wahrheit der Gefühle und die erzählte äussere „Wahrheit“ passten einfach nicht zusammen. Um in dieser verrückten Familie überleben zu können, habe ich gelernt, allein auf die vernünftige Sprache zu hören – und habe gleichzeitig mein inneres Wissen verleugnen müssen. Wer der richtige Vater ist, scheint mir heute ganz unwichtig; die schmerzhafte und folgenreiche Verletzung war aber diese Unterdrückung des Fühlens und meine virtuose Fertigkeit, alle wichtigen Erinnerungen zu verdrängen, einfach um überleben zu können. Das Resultat war eine unglaubliche Verwirrung und ein massivere Rückzug nach innen, in die Welt meiner Fantasie und Träumereien. Als ich mit fünfzig Jahren in jener Zeremonie die Väter-Wahrheit entdeckte, rückten völlig überraschend die getrennten Seelenteile zusammen und ergaben endlich ein sinnvolles Ganzes. Heute ist mir bewusst, dass ich erst mit der Auflösung dieses seelischen Widerspruchs wieder ganz wurde und mir selbst endlich eine sinnvolle Geschichte erzählen konnte. Die Erzählung, wer ich bin. Die Konturen meines Selbst. Nicht die „wahre“ Geschichte, aber eine Erzählung, die in sich stimmig ist und Sinn ergibt. Wir erzählen uns Geschichten, um unser Selbst zu fassen und Sinn zu finden. Nicht um eine objektive Wahrheit zu beschreiben. Nicht, wie es war, sondern wer wir sind. Darum ist es notwendig, dass sich die Geschichte meiner Schwester und meine eigene sich in wesentlichen Färbungen und Klängen unterscheiden. Sogar in dem, was wir beide für unerschütterliche Tatsachen halten. Was habe ich daraus gelernt? Was würde ich gerne weitergeben? Dass Lügen zum Schutz der Kinder ein Verbrechen sind. Wenn den Eltern der Mut fehlt, zu ihrem eigenen Leben zu stehen, dann vererbt sich diese Angst an die nächste Generation. Gelernt habe ich auch, dass die Wahrheit jedem Menschen, auch einem Kind, zumutbar ist. Damit wir unser eigenes Schicksal auf uns nehmen können, müssen wir bereit sein, den mit unserem Herzen verbundenen Menschen ihr eigenes Schicksal zuzumuten. Damit auch sie sich ihre 'wahre Geschichte' erzählen können. Wir Menschen sind Geschichtenerzähler! So erfinden wir uns selbst – und die Welt, die dazu gehört. Unsere Mutter war, um überzeugend lügen zu können, eine virtuose Sprachkünstlerin geworden. Diese Liebe zur Sprache habe ich von ihr übernommen, das hat mein Leben bereichert. Um mein Lebensrätsel – wer ist der Vater? – zu lösen, habe ich Philosophie studiert. Als das nicht weiterhalf, habe ich fünfzehn Jahre lang von einem nordamerikanischen Schamanen gelernt. Und die längste Zeit meines Lebens dieses schamanische Wissen unterrichtet. Dass eine dieser Zeremonien die verborgene Väterwahrheit ans Licht gebracht hatte, gab mir die unerschütterliche Gewissheit, dass diese uralten Zeremonien tatsächlich funktionieren. Dass man mit den Ahnen kommunizieren kann! Dass die 'Seele' mehr weiss als der rationale Verstand. Dass es zwischen Himmel und Erde andere Wirklichkeiten gibt... So ist das letzte Wort: Ich wurde von der ebenso mutig-feigen wie abenteuerlichen Geschichte von Erika, Werner und Sascha reich beschenkt. Ende gut – alles gut!

Walter König
Mai 2019
UNSERE FÖRDERER
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Über diese Buttons kannst du verschiedene Funktionen aufrufen: Speichern deines Textes, Drucken und Fotos oder Dokumente einfügen, die Kommentare deiner Leser anschauen und entscheiden, wie du mit ihnen verfahren willst. Oder die für dich angenehmste Schriftgrösse zum Schreiben einstellen. Über die Funktion Drucken kannst du deinen Text kapitelweise oder gesamthaft ausdrucken oder auf deinem PC zusätzlich in Word speichern (Befehl Export), was du regelmässig machen solltest. In den FAQ findest du Antworten auf Fragen, die dich vielleicht noch beschäftigen.
Mit diesen Buttons kannst du zwischen verschiedenen Ansichten wechseln. Schreiben, Lesen des aktuellen Kapitels, Lesen des ganzen Textes. Über Vorversionen erhältst du Zugang zur Backup Funktion. Damit kannst du für jede Frage einzeln auf frühere Versionen zurückgreifen oder diejenigen Versionen selbst speichern, die du vorerst behalten möchtest.
Schreibfenster
Klicke links im Scrollbalken auf eine Frage und schreibe in diesem Fenster was dir dazu einfällt, wie du das von "Word" kennst. Dein Text wird jeweils automatisch gespeichert, wenn du auf eine neue Frage wechselst.
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